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Partizipative Methoden kirchlicher Arbeit Impulse zur Gestaltung und Veränderung der Armutssituation benachteiligter Kinder und Jugendlicher in Burundi Masterthesis An der Hochschule RheinMain, Wiesbaden Fachbereich Sozialwesen Masterstudiengang: Sozialraumentwicklung und -organisation Verfasst von Stefan Hoffmann B.P. 6300 Bujumbura Burundi Matrikel Nummer: 655718 Vorgelegt am: 15. Juli 2010 Prüfer Erstprüfer: Prof. Dr. Michael May Zweitprüfer: Prof. Dr. Monika Alisch
Inhaltsverzeichnis 2 Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen 5 Einleitung und Fragestellung 6 TEIL 1 GRUNDLAGEN 1. Armutsdefinitionen 8 1.1. Der Armutsbegriff im westlichen Kontext 8 1.2. Der Armutsbegriff im Kontext „Dritte Welt“ 9 1.2.1. Chambers 9 1.2.2. Friedmann 9 1.2.3. Jayakaran 12 2. Lösungen innerhalb der Kirche 13 2.1. Befreiungstheologie und Radikale Evangelikale 13 2.2. Freire als ein Vertreter der Befreiungstheologie 15 2.3. Afrikanische Theologie 16 2.4. Situationsbeschreibung zum Verhältnis Kirche und Armut in Deutschland 19 2.4.1. Grundlagen 19 2.4.2. Grundlegendes Problem 20 2.4.3. Gesellschaftsrelevanter Gemeindebau 21 3. Bewältigungsstrategien 22 3.1. Individuelle Bewältigungsstrategien 22 3.2. Gemeinschaftliche Bewältigungsstrategien 23 TEIL 2 ANWENDUNG 1. Das Projekt BAHO 28 1.1. Sozialpolitische Vorraussetzungen in Burundi 28 1.2. Das Projekt 29 2. Die Rolle der Kirche in Burundi 31 2.1. Die Stellung der Diözese Bujumbura 31 2.2. Die Rolle von Religion und Kirche in Burundi 31 2
3. Dokumentation des Forschungsprozesses 33 3.1. Hintergründe und empirische Basis 33 3.2. Datenerhebung 1: Die Methode der Zukunftswerkstatt 35 3.2.1. Zukunftswerkstatt: Übertragung in den burundischen Kontext 36 3.2.2. Ergebnisse der Zukunftswerkstatt 38 3.2.2.1. Inhaltsbereiche 39 3.2.2.2. Antwortverhalten und Antwortstile 40 3.3. Erster Anknüpfungspunkt für die künftige BAHO-Arbeit 43 3.4. Datenerhebung 2: Die Methode der Gruppendiskussion 43 3.4.1. Durchführung und Ergebnisse der Gruppendiskussion „Ehrenamtliche“ 44 3.4.2. Durchführung und Ergebnisse der Gruppendiskussion „BAHO-Kinder“ 46 4. Retrospektive Reflexionen zum Forschungsprozess 48 5. Diskussion der Ergebnisse: Konzeptionelle Ansätze der Veränderung und Armutsbekämpfung in Bezug auf Gruppen 52 5.1. Aneignung 52 5.2. Aneignung Jugendlicher im Sozialraum 54 5.3. Aneignende Bildungsarbeit in Bezug auf BAHO 56 5.3.1. Situationsanalyse: Kirchliche Jugendarbeit in Burundi 56 5.3.2. Gemeinschaftliche Erziehungsarbeit – Spagat zwischen Individuum und Gemeinwesen 57 5.4. Theoretischer Bezug: aneignungsorientierte Befreiungspädagogik 63 5.5. Praxis 68 5.5.1. BAHO-Clubs 68 5.5.2. Die Rolle des Lehrers 69 6. Zusammenfassung: Armutsbekämpfung durch BAHO-Clubs 71 6.1. Bewusstsein bringt soziale Macht 71 6.2. Die Rolle der Kirche 72 6.3. Die Rolle des Empowernden 73 7. Schlussbetrachtung und Ausblick 73 3
Literaturverzeichnis 77 Anhang 82 Anhang 1: Beispiel einer Auswertungstabelle der Antworten der 26 Kinder in Musaga bezogen auf den Lebensbereich Familie. 82 Anhang 2: Verdichtete Darstellung der Ergebnisse in Musaga, die Grundlage der Diskussionsrunden mit den Betreuern und Kindern war. 84 Erklärung der eigenständigen Erarbeitung 85 4
Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen Abbildung 1: Lebensraum eines Haushalts und die vier Bereiche sozialer Praxis 9 Tabelle 1: Aufschlüsselung der an der Zukunftswerkstatt beteiligten BAHO-Kinder nach Alter, Herkunft und Geschlecht. 33 Tabelle 2: Verteilung der „erwachsenen“ Antwortstile während der Utopiephase in Bezug auf den Lebensbereich Schule. 39 Tabelle 3: „Kirchlich-sozialisierte“ Antwortstile während der Utopiephase in Bezug auf Gruppenpräsentationen in allen Lebensbereichen. 40 Tabelle 4: Teilnehmende BetreueInnen an der Gruppendiskussion aufgeschlüsselt nach Herkunft und Geschlecht. 43 Abbildung 2: Reflexions-Zyklus Handlungsforschung 48 Abbildung 3: Verhältnis „Reflexion – Aktion – Wort“ 65 5
Einleitung und Fragestellung Ausgangslage für diese Masterarbeit war mein Arbeitsaufenthalt in Burundi. Ich arbeitete seit 2008 im Auftrag der Liebenzeller Mission als Berater im BAHO-Projekt1, einem Projekt für benachteiligte Kinder und Jugendliche der Anglikanischen Kirche in Burundi. Durch Fragen der Entwicklungs- und Armenarbeit wurde ich in dieser Zeit immer wieder herausgefordert, mein praktisches Handeln theoretisch zu unterfüttern. Daher war es der ideale Zeitpunkt, um den Masterstudiengang Gemeinwesenarbeit zu belegen und sowohl Fragen der Praxis an die Theorie nachzugehen, als auch umgekehrt. Im Laufe meiner praktischen Arbeit konnte ich einerseits in zunehmendem Maße die immensen Herausforderungen erkennen, vor die sich die Kirche in Burundi gestellt sieht: Als größte flächendeckende soziale Organisation hat sie nicht nur den größten ethisch- moralischen Einfluss auf die Bevölkerung des ostafrikanischen Landes, sondern im Gegenzug auch eine hohe Verantwortung, ihren Gläubigen zu dienen und deren soziale Macht zu entwickeln oder zu vertreten. Auf der anderen Seite begegneten mir viele benachteiligte Kinder und Jugendliche in dem Projekt, für das ich mitverantwortlich war, so dass ich immer wieder herausgefordert wurde, mich zu fragen: „Wie kann ich helfen?“ „Wie kann ich Not lindern?“ Schnell wurde mir klar, dass ich kein „Entwicklungshilfe-Nikolaus“, also ein Helfer in der Rolle des immer Verteilenden, sein wollte – schon allein aus Budgetgründen nicht, geschweige denn aus Gründen der Nachhaltigkeit oder pädagogischer Verantwortung. In meiner praktischen und theoretischen Arbeit befasste ich mich deshalb maßgeblich mit zwei Fragen: „Welche Rolle spielt die Kirche?“ und „Wie kann armen Kindern und Jugendlichen geholfen werden?“. Diese Fragen betrafen mich nicht nur als praktizierenden Christen, sondern auch als Mitverantwortlichen des BAHO-Projekts. Zu ihrer Beantwortung im Rahmen dieser Arbeit gliedert sie sich in einen Grundlagenteil und einen Anwendungsteil. Im ersten Teil beleuchte ich Armutstheorien sowohl für den westlichen als auch den Kontext „Dritte Welt“. Im Anschluss daran beschreibe ich Lösungen, wie sie die Kirche in verschiedenen Kontexten in Auseinandersetzung mit der Frage der Armut in dieser Welt gefunden hat. Abschließende Überlegungen in diesem Kapitel beziehen sich auf Bewältigungsstrategien, also die Frage, wie Menschen mit Armut umgehen und welche Lösungen diskutiert werden, um Armut zu bekämpfen. Im zweiten Teil widme ich mich der Anwendung. Nach der Vorstellung des Projekts BAHO, eingebettet in den sozialpolitischen Rahmen des Landes Burundi, beschreibe ich 1 Baho ist Kirundi und bedeutet: „Leben ermöglichen“. Die Projektleitung hat entschieden, das Wort in Majuskeln zu schreiben. 6
die von mir beobachtete Rolle der Anglikanischen Kirche in Burundi und allgemein die Rolle von Religion und Kirche in diesem Land. Daran anschließend folgt die Beschreibung des Forschungsdesigns und der einzelnen Forschungsschritte. Im darauf folgenden Kapitel beschreibe ich die Lösung, wie sie sich mir darstellt – eine Lösung, die ein aneignungsorientiertes Bildungskonzept vorsieht und die Implementierung eines BAHO- Clubs beinhaltet. Im vorletzten Kapitel stelle ich den Beitrag dieser BAHO-Clubs in Bezug auf die Armutsbekämpfung dar, bevor ich mit weiteren Ausblicken und Entwicklungspotentialen schließe. 7
TEIL 1 GRUNDLAGEN 1. Armutsdefinitionen Da die Arbeit sich wesentlich mit der Bekämpfung von Armut befasst, möchte ich mich im ersten Kapitel mit Armutstheorien auseinandersetzen. 1.1. Der Armutsbegriff im westlichen Kontext Wie Diez nachweist, ist Armut nicht die Abwesenheit von Dingen wie Essen, Kleidung oder Geld. Armut ist somit nicht nur materiell mess- und beseitigbar (Diez 1997: 83). Im Folgenden beziehe mich auf die Definition von Alisch, die schreibt: „Nachdem durch die ökonomische Entwicklung im westlich orientierten Europa und in Nordamerika das Ziel als dauerhaft gesichert erschien, ein physisches Existenzminimum für alle EinwohnerInnen zu gewährleisten, ging man in der Wissenschaft von einem absoluten zu einem relativen Armutsbegriff über.“ (Alisch 2008: 86, Hervorhebung im Original). Relative Ansätze ließen sich, so Alisch weiter, in Ressourcen- und Lebenslagenansätze aufteilen. Im Mittelpunkt steht bei jenen die Differenz zwischen Ressourcen unterhalb des Existenzminimums gemessen am sozial-kulturellen Standard einer konkreten Gesellschaft. Der Ressourcenansatz habe Einkommensarmut als Gegenstand: „Zur Bestimmung des Ausmaßes der Armutsbevölkerung wird ein nach der Haushaltsgröße und der Zusammensetzung der Haushalte gewichtetes monatliches Haushalts-Netto-Einkommen - Äquivalenzeinkommen - gebildet.“ (ebd., Hervorhebung im Original) Demgegenüber sei der Lebenslagenansatz eher ein sozialwissenschaftlicher, da er auch soziale Armut messen und darstellen wolle. Dieser Ansatz leite sich nicht nur aus einer Hierarchie sozialer Ungleichheit ab, sondern umfasse auch Systeme multipler sozialer Deprivation. „Neben den materiellen Dimensionen [Arbeit, Einkommen Vermögen, (Aus-) Bildung, Wohnen, Konsumniveau] umfasst dieses Konzept auch die Lebensbereiche Ernährung, Umwelt, Gesundheit und Erholung sowie immaterielle Aspekte wie soziale, kulturelle und politische Partizipation, Rechtsgleichheit und Integration.“ (a.a.O.: 87) Klocke deutet für den Lebenslagenansatz an, dass er die Begrenzung der Definition von Armut auf Einkommensarmut überwinde. Kritisch bemerkt er: „Keineswegs geklärt ist aber die Frage, welche Lebensbereiche in die Analyse einbezogen werden sollen und wie die Schwellenwerte zu bestimmen sind.“ (Klocke 2000: 317) Trotz dieser Kritik am Lebenslagenansatz würde, so wiederum Kronauer, durch diesen aber erst deutlich, „warum Armut für die von ihr Betroffenen nicht nur Mangel bedeutet, sondern ein soziales Ausgrenzungsverhältnis begründen kann.“ (Kronauer 2002: 176) 8
1.2. Der Armutsbegriff im Kontext „Dritte Welt“ Wie Myers beschreibt, wurde auch die Entwicklungshilfe zu Beginn vom Gedanken beherrscht, dass Armut die bloße Abwesenheit von Essen, Kleidung oder Bildung sei (vgl. Myers 2008: 65). Allerdings schreibt Myers weiter: „If poverty is the abscence of things, then the solution is to provide them. This often leads to the outsider becoming the development „Santa Claus”, bringing all the good things […].” (a.a.O.: 66) Myers weist darauf hin, dass Arme dadurch aber zu bloßen Leistungsempfängern würden und erst durch die Hilfe der Geber komplette Menschen werden könnten. (ebd.) Bald jedoch setzte ein Wandel im Armutsbegriff der Entwicklungshilfe ein, den ich im Folgenden nachzeichnen möchte: 1.2.1. Chambers Ursprung des von mir verwendeten Armutsbegriffs in der Entwicklungshilfe ist die Idee von Robert Chambers in den 1980er Jahren, der Armut auf einen Haushalt bezog und diesen in einer Armutsfalle sah, die aus sechs Eckpunkten bestand: • materielle Armut (wenig Tiere, kaum Land, kein Wasser etc.), • Verletzlichkeit (kaum Wahlmöglichkeiten, kein Puffer bei Katastrophen etc.), • Machtlosigkeit (Systeme, in denen die Mitglieder des Haushalts leben, können von diesen nicht beeinflusst werden), • spirituelle Armut (keine gesunden Beziehungen zu Gott, den Nachbarn oder dem Sozialwesen, in dem die Haushaltsmitglieder leben), • Isolierung (weit weg von Zentren, wenig Zugang zu Informationen etc.), • physische Schwäche (Gesundheit, Ernährung etc.). Myers deutet darauf hin, dass diese Eckpunkte miteinander verwoben seien und der Mangel in einem Bereich einen anderen mit beträfe (vgl. a.a.O.: 66ff.). Besonders der Eckpunkt „Machtlosigkeit“ sei bedeutsam, da er der Ausgangspunkt für Ausbeutung sei (ebd.). 1.2.2. Friedmann Dieses Modell von Chambers wurde von Friedmann weiterentwickelt. Auch er stellt den Haushalt als die soziale Einheit der Armen und als elementare Einheit von Zivilgesellschaft (Friedmann 1998: 32) in das Zentrum seines Interesses und setzt ihn dann in Bezug zu vier sich überlappenden Bereichen. Friedmann beschreibt Armut als 9
Machtlosigkeit und fehlenden Zugang zu sozialer Macht. Arme Haushalte sind ausgeschlossen von Macht und bedürfen des Empowerment (vgl. Myers 2008: 69ff.). Laut Friedmann ist ein Haushalt von vier sozialen Praxen umgeben, die jeweils ihre eigene Macht haben und verleihen und die einen zentralen Punkt haben, den ich in Klammern angebe (ebd.): • Soziale Macht (Zivilgesellschaft) • Ökonomische Macht (Genossenschaften, Zusammenschlüsse) • Politische Macht (politische Organisationen) • Staatliche Macht (Exekutive und Judikative) Lebensraum Staat Exekutive/Judikative Kirchen, Legislative, Freiwilligen - regulierende Organisationen Behörden Politik Zivilge- politische sellschaft Organisationen Haushalt, Gemein- wesen Protestbewe- gungen, Parteien informeller Sektor Ökonomie Finanzielle Institutionen, Kooperationen Abbildung 1: Lebensraum eines Haushalts und die vier Bereiche sozialer Praxis, nach Myers 2008: 70 Das wirtschaftliche Handeln eines Haushalts setzt Friedmann (Friedmann 1998: 66f.) in das Zentrum eines Feldes sozialer Macht, das dieser Haushalt besitzt. Die (Zustands-)Beschreibung dieses Feldes führt zu Indikatoren sowohl hinsichtlich der Haushaltsökonomie als auch im Blick auf Zugänge zu sozialer Macht, weshalb sich in Konsequenz zugleich Entwicklungspotentiale aufzeigen lassen (a.a.O.: 70). Soziale Macht 10
hat ihren Anknüpfungspunkt in der Zivilgesellschaft und wird von den anderen Mächten (staatlich, politisch und ökonomisch) begrenzt bzw. ergänzt. Friedmann beschreibt weiterhin acht sich gegenseitig beeinflussende Basispunkte, die zugleich die Grenzen eines armen Haushalts darstellen. Um soziale Macht zu gewinnen, müsse mit den Haushalten gearbeitet werden. Ziel sei dabei, den Raum und Einfluss in den folgenden Punkten zu vergrößern, denn wenn in all diesen Bereichen die Werte, um selbst aus der Armut zu kommen, zu gering seien, dann herrsche absolute Armut (a.a.O.: 67f.): • Soziale Netzwerke (horizontale und vertikale Netzwerke können dem Haushalt helfen, sich zu verbessern oder Abhängigkeiten zu schaffen [vgl. Kapitel 3.2. „Soziales Kapital“]) • Informationen zur Entwicklung (jegliches Wissen, das dazu dient, sein Leben zu verbessern: Hygieneschulungen, Kindererziehung, öffentliche Angebote etc.) • Übrige Zeit (jegliche Zeit, die nicht in die Sicherung des unmittelbaren Überlebens investiert wird) • Arbeitsinstrumente (alles, was der Produktivität des Haushalts dient: Wasser, Geräte, körperliche Gesundheit) • Soziale Organisationen (formelle und informelle Organisationen wie Kirchen, Clubs, Sportvereine etc. – sie helfen, relevante Informationen zu erhalten, gemeinschaftliche Aktionen zu organisieren und sich gegenseitig zu unterstützen) • Wissen und Fertigkeiten (Ausbildungen und Gaben, die einem Haushalt zur Verfügung stehen, um sich ökonomisch zu entwickeln) • Verteidigbarer Lebensraum (unmittelbarer Raum, in dem sich das Leben abspielt – eigenes Heim und Nachbarschaft) • Finanzielle Ressourcen (Geldverleiher, Einkommen etc.) Prinzipiell gilt laut Friedmann, dass soziale Netzwerke und soziale Organisationen der Ausgangspunkt zur Bekämpfung von Armut sind. Wenn jene sich entwickelten und gleichzeitig die Armen empowern, fände Entwicklung statt. Zu sozialen Organisationen zählt Friedmann Vereinigungen wie Kirchen, lokale Organisationen oder Nachbarschaftsinitiativen; oft sei zur Initiierung dieser Prozesse aber ein „Agent“, der von außen kommt, nötig (vgl. a.a.O.: 71). Sie sind es, die soziale Macht mit den Armen zusammen schaffen können, und in zweiter Linie kann sich dann politische Macht2 2 Politische Macht bei Friedmann heißt nicht nur das Recht zu wählen, sondern seine Stimme zu erheben und kollektive Aktionen zu initiieren. Das Stimme-Erheben wird laut Friedmann verstärkt, je mehr es an politische und soziale Organisationen angeknüpft ist (vgl. Friedmann 1998: 33f.). 11
entwickeln. Weiterhin ist für Friedmann Empowerment der Schlüssel zur Änderung bestehender Verhältnisse. Er versteht unter Empowerment, dass die Armen lokale Entscheidungsgewalt suchen und erhalten und dass partizipatorische Demokratie durch- und umgesetzt wird; des Weiteren ist soziales Lernen ein Teil dieses Empowermentprozesses (Myers 2008: 99f.). Wie oben schon erwähnt, ist Ziel dieses Prozesses, die Grenzen eines Haushalts zu erweitern und somit Armut zu bekämpfen. Als Hintergrund seiner Theorie sieht Friedmann eine weltweite Veränderung der Gesellschaft. Er stellt fest, dass die staatliche Macht insgesamt zurückgehe zu Gunsten einer sich ausweitenden ökonomischen Macht, die in globale Wirtschaftsprozesse eingebettet sei (a.a.O.: 100f). Im Zuge dieser Veränderung würden politische und soziale Macht im Leben eines jeden zurückgedrängt. Friedmann sieht hier den Ansatz der „alternativen Entwicklung“. Zivilgesellschaft und politische Gesellschaft müssten im Leben der Armen entwickelt und gestärkt werden, um ihnen mehr Lebensraum zu schaffen (a.a.O.: 101). Um diese zivilgesellschaftliche Teilhabe in Bezug auf staatliche Macht zu entwickeln, sei „expanding household participation in democratic processes“ nötig (ebd.), wohingegen es bei zivilgesellschaftlicher Teilhabe in Bezug auf die Wirtschaft darum gehe, durch „increasing household participation as productive citiziens with a stake in society“ (ebd.) die Haushalte zu entwickeln. Insgesamt glaubt Friedmann an ein bottom-up-System. Die Armen müssten ihre eigenen Bedürfnisse erkennen und politisch durchsetzen. Dazu sei es aber nötig, nicht nur auf lokaler Ebene zu handeln, sondern auch auf der Makroebene einer Gesellschaft zu intervenieren, indem kleine Projekte verlinkt und große Projekte mit verschiedenen Institutionen zusammen angegangen würden. Dies sei ein weiterer Weg, wie Arme soziale und politische Macht zurückgewinnen könnten (a.a.O.: 99ff.). 1.2.3. Jayakaran Dieses Konzept Friedmanns möchte ich um eines ergänzen, das von dem Inder Ravi Jayakaran Mitte der 1990er Jahre eingebracht wurde. Er beschreibt Armut als die Abwesenheit der Freiheit zu Wachstum, die sich im Leben der Armen in den folgenden vier Wachstumsbereichen auswirke: • physisch • mental • sozial • spirituell 12
Jayakaran sieht hinter diesen Wachstumsbegrenzungen das Anliegen von Menschen, die von ihnen profitierten und somit ein Interesse daran hätten, dass Wachstum nicht stattfinde. Auf lokaler Ebene würden die Armen begrenzt durch Menschen wie: • Geldleiher • Polizei • Behörden • Priester, Schamanen Auf der Makroebene seien die Menschen, die dieses Interesse des Aufrechterhaltens der Begrenzungen haben, schwerer zu identifizieren, aber oft kontrollierten sie die lokale Ebene und profitierten dadurch ihrerseits. Die Vorzüge dieses Konzepts sind, dass Jayakaran Armut in Menschen verortet. Das heißt, Menschen machen andere Menschen arm oder halten sie arm, weil sie ein Interesse daran haben. Weiterhin macht er deutlich, dass die, die lokale Entwicklung verhindern, oft selbst in einem System stecken, das sie bindet und in ihre Rollen zwängt. Somit ist die Beteiligung an diesem System der Unterdrückung bis in nationale und globale Ebenen hinein zu verfolgen. Gleichzeitig wird deutlich, dass für ein Aufbrechen dieser Situation eine Veränderung der Armen und der Nicht-Armen nötig ist, anstatt sich auf die Beeinflussung von Systemen, Märkten oder Korruption, die nicht direkt verändert werden können, zu konzentrieren (vgl. dazu a.a.O.: 80ff.). 2. Lösungen innerhalb der Kirche Nach diesen Einblicken in Konzepte aus der Entwicklungshilfepraxis sollen nachfolgend und unter unter besonderer Berücksichtigung kirchlicher Strukturen Lösungsvorschläge und Hintergründe dargestellt werden, wie sie auf Seiten der Kirchen zu finden sind. 2.1. Befreiungstheologie und radikale Evangelikale Eine kirchlich orientierte Antwort auf Fragen der Armut im Kontext „Dritte Welt“ lieferte die Befreiungstheologie. Hervorgehend aus den sozialen Fragen in Lateinamerika und den für die befreiungstheologischen Vertreter wenig befriedigenden Antworten seitens der Kirche bezüglich ihrer sozialen Verantwortung, erarbeiteten sie eine „Volkstheologie“ (Beyerhaus 1986: 17), die die aktuellen Lebensbezüge der Armen berücksichtigt und zugleich „unerbittlich nach der sozial-ethischen Relevanz des christlichen Glaubens und damit auch der christlichen Theologie“ fragt (a.a.O.: 44). 13
Dass diese Bewegung nicht einheitlich ist, stellt Helfenstein deutlich heraus (vgl. Helfenstein 1991: 23), in dem er in Anlehnung an Frieling drei befreiungstheologische Typen aufzählt: • der sozial-populistische • der marxistische • der evangelisatorische. Helfenstein, der das Thema theologisch diskutiert, stellt diesen drei Typen die Bewegung der „Fraternidad Teologica Lationamerica (FTL)“ gegenüber. Diese kirchliche Bewegung ist abhängig von der Befreiungstheologie, „will aber als befreiende Theologie bewusst evangelikal3 bleiben“ (ebd.). Diese theologische Unterscheidung verschiedener Strömungen innerhalb der Befreiungsbewegung zu erwähnen ist an dieser Stelle wichtig, da eine Quelle der so genannten radikalen Evangelikalen die Befreiungstheologie ist (vgl. Hardmeier 2006: 9). Das Wesen der radikalen Evangelikalen ist es, nicht nur kontextuelle Theologie, also eine an den lokalen Lebensumständen orientierte Theologie zu betreiben, sondern auch eine transformatorische Theologie zu leben und zu fordern, die neben der persönlichen Transformation der Gläubigen eine Veränderung der Gesellschaft im Blick hat (a.a.O.: 118). Allerdings sehen die radikalen Evangelikalen an den verschiedenen Befreiungstheologien kritisch, dass sie dem Marxismus einen besonderen Platz eingeräumt hätten, den sie der Bibel verweigerten (Costas in Hardmeier: 48). Ein weiterer Kritikpunkt an der Befreiungstheologie ist, dass der biblische Text nur noch eine vergleichende bzw. beschreibende Funktion habe, und somit verliere er sein normatives Element (ebd.). Wie ich später darstelle (vgl. Kapitel 3.2.2.), akzeptieren viele der von uns betreuten Kinder und Jugendliche in der Anglikanischen Kirche in Burundi diese biblische Autorität und reflektieren ihre soziale Realität aber weitgehend unkritisch, daher dieser kleine Exkurs in die Theologie. 3 Das Wort evangelikal wird von Hardmeier wie folgt beschrieben: „Der Begriff „evangelical“ taucht erstmals in England als Bezeichnung der Anhänger der Reformation sowohl lutherischer als auch calvinistischer Prägung auf. In den folgenden zweihundert Jahren wurde er vom Ausdruck „protestant“ zurückgedrängt. Im 18. Jahrhundert trat der Begriff „evangelical“ in Zusammenhang mit der englischen Erweckungsbewegung wieder in Erscheinung. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde mit dem Begriff „evangelical“ die Christen bezeichnet, die innerhalb der Kirche Englands die Erweckungsbewegung vertraten. Trotz denominationeller Zersplitterung nahmen die Evangelicals eine Verbundenheit unter sich wahr, die sich vor allem im Bibelbekenntnis ausdrückte. […] Die evangelikale Bewegung ist ein vielschichtiges Phänomen und entsprechend gibt es keine einheitliche Definition der heutigen evangelikalen Typen.“ (Hardmeier 2006: 2). Es werde zwischen reformierter, pfingstlicher und radikaler Frömmigkeit unterschieden, wobei letztere auf die angewandt würde, die sich sozial-politisch einsetzen (vgl. ebd.). 14
2.2. Freire als ein Vertreter der Befreiungstheologie Da ich später (v.a. Kapitel 5.4.) auf die Ideen Freires zurückkomme, möchte ich hier einige Grundlinien seines Arbeitens und Denkens skizzieren. Paolo Freire (1921 bis 1997) wurde in Brasilien geboren und verbrachte dort einen großen Teil seiner Kindheit. Frühe Hungererfahrungen brachten den Elfjährigen dazu, sich dem Kampf gegen Hunger zu verschreiben (vgl. Lange in Freire 1973: 10). Für Freire war Bildung der Schlüssel zu Entwicklung. Somit wandte er ab 1947 ein Alphabetisierungsverfahren an, wurde aber nach einem Staatsstreich in Brasilien 1964 des Landes verwiesen und arbeitete fortan als Professor und Sonderbeauftragter des Ökumenischen Kirchenrates in verschiedenen Ländern. Das Werk Freires zusammenzufassen fällt schwer, weshalb ich mich im Folgenden auf die für den Diskussionskontext vorliegender Arbeit relevanten Punkte und Rahmenbedingungen konzentriere. Für Freire war es zeitlebens eine Frage, wie den Unterdrückten geholfen werden könnte. Freire geht davon aus, dass die Unterdrückten sich in einem Netz von Lügen befinden (Freire nennt in diesem Zusammenhang den Begriff „Mythos“), das zu ihrer Nichtigkeit und ihrem geringen Selbstwertgefühl beiträgt und das von den Herrschenden dazu benutzt wird, aktuelle Machtverhältnisse zu stabilisieren, indem die Herrschenden behaupten, dass die Armen aufgrund ihrer Nichtigkeit von jenen geführt oder entwickelt werden müssen (a.a.O.: 10). Er sieht somit strukturelle Gründe für Armut, sie ist für ihn „als Folge jahrhundertelanger und gegenwärtiger sozio-ökonomischer Unterdrückung bzw. politischer, ökonomischer, kommunikativer und kultureller Abhängigkeit“ (www.freire.de/theologie) zu sehen. Freire fand heraus, dass die Armen in Reaktion auf diese Strukturen eine Kultur des Schweigens entwickeln, wobei die sie umgebenden Organisationen, wie zum Beispiel die Kirchen, über diesen Zustand des Hungers und des Elends ebenso in ein Schweigen verfallen (vgl. Ndabiseruyie 2009: 255). „Die Armen können sich nicht wehren, weil ihnen die „Sprache: die Waffe der Freiheit“ geraubt wird.“ (a.a.O.: 255) Für Freire ist daher Bildung einerseits der Weg zur Befreiung aus dieser Situation und andererseits kann sie – sofern sie nicht fruchtbar genutzt wird und zu einem eigenständigen und kritischen Denken befähigt – dazu dienen, bestehende Macht- und Unterdrückungsverhältnisse zu stützen. Freire führt hier den Begriff der Bankiersbildung ein (vgl. Freire 1973: 57ff.), in dem er deutlich macht, dass Wissen Macht ist. „Die Möglichkeit der Bankiers-Erziehung, die kreative Kraft der Schüler zu minimalisieren oder zu vernichten und ihre Leichtgläubigkeit zu stimulieren, dient den Interessen der Unterdrücker, denen es darum geht, daß die Welt weder erkannt noch verändert wird“ (a.a.O.: 59). Dieses Verhindern von Erkennen und 15
Verändern geschieht dadurch, dass der Lehrer seinen Schüler als Container ansieht, in den er Wissen zu packen hat. Lernen wird als Stapeln dieses Wissens im Container gesehen. Die Rollen sind dabei klar verteilt: der Lehrende weiß, der Lernende hat zu reproduzieren (vgl. a.a.O.: 57ff.). Ergebnis eines solchen Lernprozesses ist laut Freire: „der angepaßte Mensch, denn er paßt besser in die Welt“ (a.a.O.: 61) und sorgt dadurch für weniger Unruhe, was im Interesse des Unterdrückers liegt. Freire warnt aber davor, dass die die Freiheit zu ihrer Sache machen, in genau dieselbe Richtung gehen, indem sie dieses „Deposit“ (a.a.O.: 64) in die zu Befreienden einlagern: „Befreiung ist ein Vorgang der Praxis: die Aktion und Reflexion von Menschen auf ihre Welt, um sie zu verwandeln“ (ebd.). Freire sieht einen bewusstseinsbildenden Befreiungsprozess als Mittel an, diese Zustände zu ändern. Dem Lehrer kommt hierbei eine tragende Rolle zu. Denn dieser muss nicht nur anerkennen, dass Lehren ideologisch ist, sondern er muss sich gleichzeitig mit den Lernenden zusammen auf einen Lernprozess einlassen, bei dem beide Seiten lernen (vgl. dazu Freire 2008: 23ff bzw. 85ff). Neben dieser veränderten Lehrerhaltung ist für Freire entscheidend, dass es einen Dialog gibt, der die Unterdrückten einschließt. Durch das Bankiers-Konzept und die Kultur des Schweigens werden der Dialog unterdrückt und die Passivität der Unterdrückten gefördert (vgl. Freire 1973: 78ff). Doch für Freire bedeutet menschlich existieren: „[…] die Welt benennen, sie verändern. […]. Menschen wachsen nicht im Schweigen, sondern im Wort, in der Arbeit, in der Aktion-Reflexion“ (a.a.O.: 71). Dieses Benennen-Können ist Grundlage für Dialog und somit für Befreiung. Für Freire ist Bildung, also Alphabetisierung und In-Dialog-treten-können, eine „Praxis der Freiheit“, die im Gegensatz zur „Bankiers-Erziehung“ oder einer „Praxis der Herrschaft“ steht. Allerdings ist abschließend anzumerken, dass dieses Bildungs- und Befreiungskonzept als Erwachsenenbildungskonzept entstanden ist. Es schließt jedoch nicht aus, dass diese Denklinien auf Jugendarbeit übertragen werden können (vgl. dazu Kapitel 5.4.). 2.3. Afrikanische Theologie Nachdem ich jetzt einiges über prinzipielle Entwicklungen in der Theologie in Bezug auf Armut und den Umgang mit ihr geschrieben und mit dem Beispiel Fall Freires vertieft habe, möchte ich auf den theologischen Kontext zu sprechen kommen, in dem diese Arbeit verankert ist – dem afrikanischen. Welche Ansätze in der afrikanischen Theologie gibt es, und wie verhält sie sich gegenüber Armut? Einleitend sei geschrieben, dass der afrikanische Kontinent nicht ohne Religion zu denken ist. Egal ob es animistische Religionen sind, die das Denken und Handeln der Menschen 16
bestimmen, der Islam oder das durch Missionare importierte Christentum. Religion ist aus Afrika nicht weg zu denken.4 Übrigens muss an dieser Stelle deutlich gesagt werden, dass es DAS Afrika5 nicht gibt und somit schon der Versuch, EINE afrikanische Theologie zu benennen, schwer fällt. Daher beziehen sich alle weiteren Aussagen, die die afrikanische Theologie betreffen, erst einmal auf das zentralafrikanische Umfeld, in dem Burundi liegt. Bezüglich christlich-afrikanische Theologie wird im Buch des kongolesischen Bischofs Bimwenyi-Kweshi deutlich, wie schwierig es für afrikanische Theologen war, eine eigenständige Theologie zu finden, die sich von kolonialistischen Zügen befreit und zu einer genuin afrikanischen Anwendung gelangen kann (vgl. Bimwenyi- Kweshi 1982). Es fiel dieser Theologie schwer, wie Bimweny-Kweshi es schreibt, von diesen „kulturellen“ Fragen des Ablösens wegzukommen und sich auf aktuelle sozio-ökonomische Fragen zu konzentrieren (a.a.O.:71). Der burundische Theologe Ndabiseruye macht dagegen deutlich, dass es schon in den 1970er Jahren eine von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie inspirierte Theologie in Afrika gab, die forderte, sich weniger an einer, wie der Kameruner Metogo es nannte, „statischen Sicht von Kultur und Geschichte“ zu orientieren (Ndabiseruye 2009: 200). Ndabiseruye erklärt, dass es im Suchen nach einer eigenständigen Theologie anfänglich eine Art „black is beautiful“ Bewegung gab, die dann in den 1950er Jahren versuchte, eine in den afrikanischen Traditionen verwurzelte, also indigene, Theologie zu entwerfen (a.a.O.: 195ff.). Nach einer Findungsphase in den 1960er Jahren entstanden in den 1970er Jahren Arbeiten, die versuchten, „die christliche Botschaft im Hinblick auf die afrikanische Tradition und mit Hilfe von Humanwissenschaften fachgemäß und systematisch neu zu durchdenken“ (a.a.O.: 200). Daraus resultierend gab es dann erste Äußerungen, die vorsahen, dass Unterdrückung nicht nur im Kulturbereich stattfand, sondern es eine Ausbeutung des Volkes auf verschiedenen Ebenen durch Medien oder multinationale Gesellschaften gab (a.a.O.: 201). Der Kameruner Soziologie- und Theologieprofessor Jean-Marc Ela setzt in diesem Zusammenhang auf einen umfassend befreienden Gott, macht aber gleichzeitig deutlich, dass es wichtig sei, „christliche Botschaft von ihrem 4 Wie Ellis/Ter Haar schreiben, durchzieht Religion viele afrikanische Gesellschaften und oft ist demokratische und politische Macht nicht von Religion zu trennen. Sie beschreiben, wie politische Macht sich immer wieder charismatischer religiöser Führer bedient, um von deren Glanz zu profitieren (Ellis/Ter Haar 2004: 99ff.). Im Umkehrschluss kann man sagen, dass Religion somit zum Erhalt des Status quo beiträgt, wenn sie sich in dieser Weise instrumentalisieren lässt und somit, wie Freire sagen würde, zur Unterdrückung beiträgt. 5 „Il n‘y a pas une Afrique, mais bien des Afriques.“ (adpf: 35) Daraus kann man folgern, dass es auch nicht DIE afrikanische Gesellschaft gibt, oder DIE afrikanische Theologie, denn es ist notwendig „de reconnaître l‘ enorme diversité de l‘ Afrique […] qui représente une extraordinaire varieté de peuples, de cultures, d‘économies, d’histoires et de géographies.“ (a.a.O.: 34f.) 17
Eurozentrismus zu lösen, damit sie im afrikanischen Kontext wirksam wird“ (a.a.O.: 202). Für Ela ist klar, dass die christliche Botschaft auf die Strasse muss und sich an den Lebensumständen der Gläubigen reiben muss.6 Allerdings bleibt es für die afrikanische Theologie eine Spannung, wie Kultur, Mission und Befreiung miteinander vereinbar sind (a.a.O.: 203ff.). Deutlich wird, dass in der afrikanischen Theologie der Befreiung keine marxistischen Bezüge und Grundlagen vorhanden sind, wie sie in der lateinamerikanischen Ausprägung zu finden sind – und oft als Kritikpunkt verstanden wurden (vgl. Punkt 2 a). Ela macht in diesem Zusammenhang sehr deutlich: „How could one make the blanket assertion, with the nineteenth century in full swing, that religion is the opium of the people, when in Africa, in the age of empires, the religious element was the locus of the combat for the liberation of the oppressed?” (Ela 1986: 46) Nachdem er die Wichtigkeit der „religiösen Bewegungen“ im kulturellen, politischen und sozialen Zusammenhang deutlich gemacht hat, resümiert Ela: „When all is said and done, it is the sphere of the religious in the history of modern Africa that appears as the locus par excellence of the cultural confrontation and political combat.“ (a.a.O.: 47) Im afrikanischen Kontext geht es also vielmehr um eine „Befreiung von einer Armut, die radikaler und schlimmer ist als die materielle Armut, nämlich der kulturellen und anthropologischen Armut.“ (Ndabiseruye 2009: 206) Diese Armut ist die Folge der Kolonialisierung, die Identität und kulturelle Verwurzelung geraubt hat (vgl. ebd.). Ndabiseruye schreibt weiter: „Darin liegt der Unterschied zur lateinamerikanischen Befreiungstheologie, die den Akzent v.a. auf die sozialökonomische Armut setzt.“ (ebd.) Dennoch möchte diese Theologie dafür kämpfen, „dass Männer und Frauen unserer Zeit zu den Architekten ihrer eigenen Zukunft werden“ (a.a.O.: 207), indem sie „das Volk auf der Suche nach Würde, Lebenssinn und erfülltem Menschsein“ (ebd.) begleiten.7 An dieser Stelle sei noch ein Wort zu den anderen „Schwarzen Theologien“ erlaubt. In Nordamerika und Südafrika hatte sich vor allem als Reaktion auf die Unterdrückung der 6 „One thing is clear: We can no longer understand and live our faith apart from a context of liberation of the oppressed. It is here, that we must reinterpret the whole of the revealed message, here that we must rethink the church and its mission, here that we must redefine the lifestyle of our evangelical communities in society.” (Ela 1986: 94) 7 Eine in den Jahren 2009 und 2010 vom Autor mündlich durchgeführte Befragung von rund 30 ehren- und hauptamtlichen Mitarbeitern verschiedener Kirchen Burundis zeigt allerdings, dass diese Armut vollkommen anders sehen. Auf die Fragen „Was ist Armut?“ und „Warum existiert sie?“ antwortete kein einziger in eine Richtung, die auf solch eine strukturalistische Antwort wie den durch die Kolonialisierung herbeigeführten Identitätsverlust hindeutet. Alle Befragten verorteten das Wesen von Armut im sozio-ökonomischen Bereich. Die Frage nach der Herkunft wurde verschieden gesehen – neben Armut als Folge von Krieg werden Klimaänderung und auch individuell-strukturelle Gründe wie zu niedrige Bildung und Mangel an modernen Arbeitstechniken genannt. Nichtsdestotrotz macht diese Aussage Ndabiseruyes deutlich, auf welcher Ebene afrikanische Theologen Befreiung konzeptionell denken und sehen. 18
schwarzen Hautfarbe eine „Black Theology“ herausgebildet. Diese „Schwarzen Theologien“ sind somit auch kontextuelle Theologien, jedoch vor allem gegen Rassendiskriminierung ausgerichtet (Ndabiseruye 2009: 201). In Südafrika fand die gegen die Apartheid gerichtete Theologie 1985 ihren Höhepunkt in der Erstellung des „Kairos-Dokuments“, das in den Schwarzen Townships Südafrikas mit Freuden aufgenommen wurde: „They [ordinary Christians in the Black Townships of South Africa, d.Verf.] are saying that the Kairos document gives articulate expression to what they believe as Christians about the present struggle for liberation in South Africa.“ (Kairos 1986: o. Seitenangabe). 152 Theologen aus verschiedensten Kirchen hatten dieses Dokument erarbeitet, um sich gegen eine Kirche zu stellen, die Unterdrückung stützt und somit Machtverhältnisse stabilisiert. 2.4. Situationsbeschreibung zum Verhältnis Kirche und Armut in Deutschland8 „Johannes Warmbrunn, Sprecher des Diözesanrats, warnte vor einer Armutsspirale, die junge Menschen in einen „verhängnisvollen Sog ins soziale Abseits“ ziehe. Zur Gegenwehr brauche es bürgerschaftliches Engagement und neue Formen der Solidarökonomie, beispielsweise in Genossenschaften, Tauschringen und Bürgerstiftungen.“ (epd 2009: 1308) Warmbrunn nannte diese Interventionsmöglichkeiten bei der Vorstellung einer sozialwissenschaftlichen Studie über arme Kinder und ihre Familien in Baden-Württemberg. Kirche, in diesem Fall die katholische Kirche, sieht also nicht nur die Notwendigkeit von Interventionen bezüglich Armut, sondern nennt auch neue Organisationsformen. Auch die evangelische Kirche in Württemberg beschäftigt sich mit diesem Thema und stellt dabei nicht nur fest, dass oft eigene Mitglieder von Armut betroffen seien, sondern dass Initiativen wie die Tafeln nötig seien: „Keiner kann sie wollen und doch sind sie nötig“, so Landesbischof July (epd 2009: 1339). Welche Grundlagen und Probleme kann es in dieser kirchlichen Arbeit gegen Armut geben? 2.4.1. Grundlagen „Da die verschiedenen Gruppen der Armenbevölkerung auch in Zukunft nicht in der Lage sein werden, eine wirksame Lobby zu entwickeln, brauchen sie Bündnispartner, die sie in diesem Prozess aktiv unterstützen. Neben Selbsthilfeinitiativen der Betroffenen im engeren Sinne sind daher nicht zuletzt die Verbände und Träger ebenso wie die Fachkräfte der 8 Diese Situationsbeschreibungen stammt auszugsweise aus einer Modulabschlussarbeit des Autors „Kirche und gemeinschaftliche Bewältigungsstrategien zur Bekämpfung von Armut“, Juli 2009. 19
sozialen Arbeit gefordert, als Partner und als Stimme der Armen sich öffentlich zu Wort zu melden und sich für eine solidarische Bewältigung der aktuellen Strukturprobleme und für die Überwindung von Armut einzusetzen.“ (Hanesch 2001: 39). Die Notwendigkeit zu kirchlichem Engagement in Bezug auf Gemeinwesen und Arme wird aber nicht nur sozialwissenschaftlich angemahnt, sondern ist auch theologisch gegeben. Die EKD argumentiert dazu negativ, in dem sie beschreibt: „Eine Kirche, die auf das Einfordern von Gerechtigkeit verzichtet, deren Mitglieder keine Barmherzigkeit üben und die sich nicht mehr den Armen öffnet oder ihnen gar Teilhabemöglichkeiten verwehrt, ist […] nicht die Kirche Jesu Christi.“ (EKD 2006: 15) Eine tiefere biblisch-theologische Reflexion passt nicht in das Konzept dieser Arbeit, gleichwohl sei dem/der interessierten Leser/in die eben zitierte Denkschrift empfohlen, hier vor allem ab Seite 46. Die Argumentation der EKD mündet in die Feststellung: „Die enge Verbindung von sozialer Frage und Gottesfrage hat in der Kirche durch die Jahrhunderte hindurch bis heute immer zu einem besonderen Eintreten für die Armen geführt.“ (a.a.O.: 46) Der Auftrag zur Hilfe scheint klar und von den Kirchen auch anerkannt zu sein, aber welches Problem gibt es bei der Umsetzung dieses Auftrages? 2.4.2. Grundlegendes Problem Das wohl wichtigste und von vielen Seiten genannte Problem ist, dass Kirche keinen Zugang zu Armen hat. Schulz, die an der Erstellung der Studie, die die Grundlage für die Gedenkschrift der EKD bildet, beteiligt war, schreibt dazu: „Jenseits des klassischen Bildes einer helfenden Kirche mit Gratis-Mahlzeiten für Obdachlose und Almosen zeigt die Studie, dass die klassische Kirchengemeinde in vielerlei Hinsicht nicht auf von Armut betroffene Menschen eingerichtet ist: In Gottesdienst und Bibelkreis bleibe die „bildungsbürgerliche Kerngemeinde“ unter sich – wie in der Gesellschaft, so auch in der Kirchengemeinde blieben Arme unsichtbar.“ (Schulz 2007, Hervorhebung im Original) Die EKD nimmt dies auf und schreibt „Ärmere Menschen sind in vielen christlichen Gemeinden in Deutschland wenig oder gar nicht sichtbar“ (EKD 2006: 75). Das Diakonische Werk beschreibt es so: „Oft haben sie [die Kirchengemeinden, d. Verf.] längst ein Selbstverständnis der „Kirche für andere“ (Proexistenz) entwickelt und sind mit diakonischen Angeboten präsent (Hausaufgabenhilfe, Sprachkurse, Tafeln, Kleiderkammern etc.). Gemeinwesendiakonie9 entwickelt dieses Verständnis weiter zu 9 Gemeinwesendiakonie bedeutet, dass lokale Kirchengemeinde und lokale diakonische Einrichtung sich in ihrem Engagement gegenseitig unterstützen, in dem „gemeinsames Handeln von diakonischer Gemeinde und gemeinwesenorientierter Diakonie vor Ort sichtbar wird.“ (vgl. Diakonisches Werk 2007: 6) 20
einer „Kirche mit anderen“ (Konvivenz), in der die Zielgruppen zur Hilfe zum eigenen Handeln ermutigt und bei der Organisation von Selbsthilfe unterstützt werden.“ (Diakonisches Werk 2007: 26f.) Als Kritikpunkt wird deutlich: Kirche hat einen Schwerpunkt auf das Kümmern um die Armen gelegt, aber diese weniger motiviert (oder: empowert), sich selbst zu organisieren und mit ihnen gemeinsam Kirche zu bauen. 2.4.3. Gesellschaftsrelevanter Gemeindebau An dieser Stelle möchte ich auf die Haltung der radikalen Evangelikalen zurückkommen. Ich beziehe mich dabei auf Johannes Reimer, der für die westliche Welt eine Theologie des gesellschaftsrelevanten Gemeindebaus entwickelt hat. Reimer hat, neben diesen Erfahrungen in der westlichen Welt, Erfahrungen im gesellschaftsrelevanten Gemeindebau in den Slums Amerikas und Afrikas sammeln können (vgl. Reimer 2009: 7f.). Für ihn ist es wichtig, dass Gemeinden, da sie lokal verortet sind10, sich um Menschen ihres Umfelds kümmern, sich für sie einsetzen und gemeinsam Glauben leben. Um herauszufinden, welche Fragen diese Menschen beschäftigt, sieht er unter anderem sozialwissenschaftliche Analysen als eine Möglichkeit, kontextuelle Theologie auf lokaler Ebene zu betreiben (a.a.O.: 244f). Für ihn ist es wichtig, dass Gemeinde eine Vision entwickelt, die sich am Konzept der integralen oder holistischen Mission11 einer Gemeinde oder Kirche orientiert (vgl. a.a.O.: 235f.). Reimer baut sein Konzept weniger auf eine Befreiung der Armen oder Unterdrückten auf, macht aber deutlich, dass je nach Kontext, in der sich die Gemeinde befindet, dies ein Auftrag für eine lokale Gemeinde sei. Für den westlichen Kontext kann dies bedeuten, Sprachkurse für Migranten anzubieten (ebd.), Häuser ärmerer Menschen zu renovieren (a.a.O.: 262) oder Kontaktbüros aufzubauen (a.a.O.: 264). Ausgangspunkt all dieser Initiativen ist, dass Gemeinde sich den Bedürfnissen der Menschen an dem Ort, an dem sie sich befindet, stellt (a.a.O.: 235). Somit wird eine Kirche, die in ihrem sozialen Umfeld viele Arme hat, sich diesen auch widmen und mit ihnen gemeinsam nach Lösungen suchen. Dieses Konzept kann theologisch und praktisch auch in Burundi angewandt werden, doch dazu später mehr (vgl. Kapitel 5.3.). 10 Der lateinische Begriff Kirche ist „ecclesia“ und bedeutet im wörtlichen Sinn „Versammlung“. Da Versammlungen von Menschen einen Ort brauchen, hat Kirche im Sinne Reimers immer und zuerst einen lokalen Aspekt (vgl. Reimer 2009: 36ff.). 11 Holistische oder ganzheitliche oder integrale Mission bedeutet, dass Gemeinde oder Kirche ihren diakonischen Auftrag mit ihrem wortverkündenden Auftrag verknüpft. Beide Aufträge müssen Hand in Hand in ein Konzept einfließen, damit Gesellschaft verändert wird (vgl. Myers 2008: 134ff. oder Reimer 2009: 171ff.). 21
3. Bewältigungsstrategien 3.1. Individuelle Bewältigungsstrategien Genauso unterschiedlich wie die Gründe für Armut sind die individuellen Bewältigungsstrategien, die Menschen finden und anwenden, um mit ihrer Lebenslage zurechtzukommen. Hanesch nennt für den westlichen Kontext hierzu nicht nur fünf zeitliche Typen, in die kategorisiert werden kann, sondern er nennt auch Kategorien, die das individuelle Verhalten und Erleben widerspiegeln. (vgl. Hanesch 2001: 31). Hierzu führt er verschiedene individuelle Bewältigungsstrategien an: „Sie reichen vom Typus des „ewigen Verlierers“ (passives Erleiden) über den „notgedrungenen Verwalter“ (mit neutraler Überbrückerhaltung), den „pragmatischen Gestalter“ (der aus der Misere das Beste zu machen versucht), den „strategischen Nutzer“ (mit übergreifender subjektiver Perspektive) bis zum „aktiven Gestalter der aktuellen Lebenssituation“.“ (ebd.) Hanesch unterstreicht weiter, dass die Kenntnis dieser Bewältigungsstrategien wichtig sei, denn sie relativiere „das gängige Bild einer quasi-automatisch verfestigten Armutskarriere mit begleitenden psycho-sozialen Deformationen“ (ebd.). Auch dürfe nicht gefolgert werden, dass Zufriedenheit mit Sozialhilfebezug eine Lösung des Armutsproblems sei (ebd.). Die Untersuchungen von Meier et al., die allerdings eine andere Typologisierung zugrunde legen12, zeigen unter anderem, wie kreativ Lösungen sein können und wie sich die Menschen keineswegs mit ihrer Lage und den von den Ämtern vorgegebenen Lösungen abgeben, sondern mit starkem Willen und Kreativität ihr Leben selbst in die Hand nehmen und somit ihre Lage ändern können (vgl. dazu vor allem den Typ des vernetzten Aktiven in Meier et al. 2003: 296ff.). Leibfried und Leisering, die wiederum eine eigene Typologie entwickeln,13 kommen zum Schluss, dass Sozialhilfe (oder eine Lebenssituation in Armut) von den Beziehern unterschiedlich genutzt würde und die Bezieher unterschiedlich handelten. „„Handeln“ oder „Gestalten“ heißt nicht, daß sich die Betroffenen über einengende äußere Bedingungen oder über Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit schlicht hinwegsetzen könnten. Es bedeutet aber, daß Personen unter vergleichbaren Bedingungen ganz unterschiedliche Wege einschlagen können.“ (Leibfried/Leisering 1995: 185f., Hervorhebung im Original) Für den afrikanischen Kontext sind diese Aussagen sicher nicht in gänzlicher Analogie übertragbar. Dennoch wird deutlich, dass es auch in diesem Umfeld ein unterschiedliches Erleben von und einen unterschiedlichen Umgang mit Armut gibt. Dieses Phänomen wäre 12 Typ 1: Die verwalteten Armen, Typ 2: Die erschöpften EinzelkämpferInnen, Typ 3: Die ambivalenten JongleurInnen, Typ 4: Die vernetzten Aktiven (vgl. Meier et al. 2003: 296). 13 Sie unterscheiden: „Opfer“, „Problemverwalter“, „pragmatische Gestalter“ und „aktive Gestalter“ sowie „strategische Nutzer“. (Leibfried/Leisering 1995: 178). 22
sicher eine eingehendere Untersuchung wert, helfen solche Typologisierungen doch nicht nur Außenstehenden und Helfern, differenziert zu sehen, sondern auch den Betroffenen selbst, zu erkennen, dass es unterschiedliche Qualitäten und Umgangsweisen mit einer solchen Lebenssituation gibt. Kann diese Einsicht doch bewirken, dass das Netz der Lügen, das die Armen umgibt und durch das ihre Nichtigkeit und Abhängigkeit unterstrichen wird (vgl. dazu Freire 1973: 59ff.), durch praktische Beispiele aus dem eigenen Lebensumfeld zerrissen wird.14 Cremer-Schäfer macht deutlich, dass hierzu Ressourcen nötig sind, wenn sie unter Bezug auf den Wohlfahrtsstaat schreibt: „„Wohlfahrt“ heißt danach auf der gesellschaftlichen Ebene einfach das Bereitstellen von Ressourcen, mit denen soziale Akteure schwierige Situationen bewerkstelligen können.“ (Cremer-Schäfer 2005: 20f.) Da diese staatliche Intervention in Burundi nicht existiert, bleibt die Frage: Wer ist derjenige (in Friedmanns Terminologie: wo sind die sozialen Organisationen), der diese Ressourcen bereitstellt? In unserem Fall wird aus dem bisher Dargestellten deutlich, dass die Kirche eine solche Institution sein kann und muss. 3.2. Gemeinschaftliche Bewältigungsstrategien Neben den individuellen Bewältigungsstrategien gibt es im westlichen Kontext auch gemeinschaftliche Bewältigungsstrategien. Ich möchte betonen, dass die Lösung individueller Armut – neben dem Angehen und Anmahnen der strukturellen Ursachen durch sozialpolitische Maßnahmen – auch durch sozialpädagogische Intervention im individuellen Bereich liegen müssen. Diese individuellen Lösungen und Bewältigungen zu bündeln und in eine gemeinschaftliche Bewältigungsstrategie zu führen, kann eine weitere Aufgabe Sozialer Arbeit sein. Ich teile die Auffassung Kunstreichs, dass Gemeinwesenarbeit bei der Mobilisierung und Begleitung der Betroffenen eine wichtige Rolle spielt, indem Gemeinwesenarbeit definiert wird „als Arbeitsprinzip, das Partizipation der Akteure an ihren eigenen Angelegenheiten unterstützt und so zur Praxis der Aneignung des Sozialen wird“ (Kunstreich 2005: 106). Kunstreich fordert dann „die Vermittlung von analytischer Perspektive mit der des kooperativen Handelns“ (ebd.) und benennt als mögliche kooperative Maßnahme zur Bekämpfung von Armut Sozialgenossenschaften. Weitere gemeinschaftliche Maßnahmen, die gegenwärtig in der westlichen Welt diskutiert 14 Ein aktuelles Armutskonzept baut auf diesem Gedanken des Lügennetzes auf. Der Inder Jayakumar Chritsian schrieb in den 90er Jahren, dass eine Vorraussetzung für Empowerment sei, dass dieses Lügennetz durchrissen würde (vgl. dazu Myers 2008: 76f.f). 23
und praktiziert werden, sind unter anderem das System der Tauschringe15 und der Tafeln. Letzteres ist meines Erachtens für die Betroffenen selbst allerdings nur selten ein partizipatives System, sondern eher eine gesellschaftlich-kooperativ organisierte „Zusatzversorgung“ Armer, da in dieser achtenswerten Initiative gerade das Moment der Selbstorganisation der Betroffenen oft fehlt. Die Zugangsvoraussetzung zu einer Tafel ist in der Regel eine Hartz IV-Bescheinigung, also ein Element aus dem Ressourcen-Ansatz der Armutstheorien. Ziel gemeinschaftlicher Maßnahmen ist es hingegen, den Betroffenen zu helfen, sich zusammenzuschließen und mit ihren Kräften und Gaben eine Lösung ihrer aktuellen Lage zu suchen – sei es entweder auf ökonomischer oder auf sozialer Ebene. Wichtig ist, dass in diesen gemeinschaftlichen Bewältigungsstrategien deutlich wird, „dass es immer der aktuelle Zusammenhang von Not und Selbstorganisation ist, der Inhalt und Ausprägung solidarischer Aktionen erklärt, dass es jeweils die aktuellen sozialen Konflikte sind, die Selbstorganisationen der Machtunterworfenen oder Ohnmächtigen hervorbringen – wenn sie Hoffnung auf Veränderung haben. Hunger allein führt zum Verhungern, nicht zur Selbstorganisation. Es sind vielmehr existenziell wichtige, bewegende Fragen, die Menschen dann dazu bringen sich zusammenzuschließen, wenn sie eine gemeinsame Option haben.“ (a.a.O.: 108) Für den Dritte-Welt-Kontext nennt Myers einige Methoden, die dazu dienen, community zu entwickeln (vgl. Myers 2008: 168-182).16 Für Myers ist klar: Da der Bezugspunkt der Armutstheorie ein Haushalt ist, müssen Bewältigungsstrategien auch auf dieser Ebene ansetzen (a.a.O.: 58f.). Der Einzelne ist bei existentieller Armut zu schwach, sie zu bekämpfen, vor allem, wenn sie eben in Bezug zur Deprivation von Rechten gesetzt wird. Auch Anthropologisch scheint es einfacher zu sein, für gemeinschaftliche Bewältigungsstrategien zu plädieren, da der Begriff des Gemeinwesens und der erweiterten 15 Zur Vertiefung der Maßnahmen vgl. Kunstreich zu Sozialgenossenschaften, Hinz/Wagner zu Tauschringen und www.tafel.de zu den Tafeln. Interessant ist, dass 2009 rund 25% aller Tafeln sich in kirchlicher Trägerschaft befanden auch unter Namen wie Vesperkirche bekannt. 16 Für eine detaillierte Darstellung der entsprechenden Techniken sei auf das genannte Kapitel in Myers Buch verwiesen. 24
sozialen Umgangsform in den Kulturen17 der Dritten Welt ganz anders verankert ist, als in unserem individualisierten westlichen Kontext.18 Ein weiteres, sowohl für den westlichen als auch für den Kontext der Dritten Welt fruchtbar gemachtes System, ist die Theorie des sozialen Kapitals. Vereinfacht gesagt, ist soziales Kapital das Netzwerk, das jeder Mensch hat. Ein Netzwerk, das ihm dann hilft, wenn es Schwierigkeiten und Situationen gibt, mit denen der Einzelne nicht zurechtkommt und alleine nicht fertig wird (vgl. Koob 2007: 15). Kapital ist unter dieser Prämisse in erster Linie nicht monetär zu sehen (wie es zum Beispiel in gemeinsamen Kapitalformen wie Genossenschaften gemacht wird), sondern es äußert sich in den Erscheinungsformen Vertrauen, Normen, Beziehungen und Nimmkraft nieder (vgl. dazu Früchtel et al. 2007: 88f.). Dass es bei der Bewältigung von persönlichen ökonomischen Krisen sich aber auch finanziell bemerkbar machen kann, ist hier unbelassen. Ein weiterer Effekt sozialen Kapitals zeigt sich dort, wo es dazu beiträgt, kollektive Probleme zu lösen oder Zusammenhang und Integration zu schaffen (ebd.). Ein Phänomen, das in diesem Zusammenhang zu nennen ist, ist die Beziehungsqualität, die ein Individuum hat. Es werden zwei Typen unterschieden: starke Beziehungen (bonding = tragende Beziehungen) und schwache Beziehungen (bridging = Brücken bauende). Starke Beziehungen entstehen in der Regel im engsten sozialen Umfeld mit Menschen, die einen ähnlichen sozialen Status haben oder zur Verwandtschaft gehören. Schwache Beziehungen sind die, die man über andere Bekannte hat oder die in einer Gruppe oder Gemeinschaft entstehen und deshalb Brücken in andere soziale Schichten bauen (vgl. Vervisch 2008: 45f.). Kirchen können unter anderem auch ein Ort sein, an dem sich ein solches Brücken bauendes soziales Kapital bilden kann, da sich in ihr normalerweise Menschen mit unterschiedlichem sozialem Status und mit einer gemeinsamen Basis (Glauben zu leben) versammeln. Hinsichtlich des Zwecks von sozialem Kapital gibt es in der Soziologie unterschiedliche Auffassungen. Während James Coleman soziales Kapital eher als ausgleichendes Instrument für Fehler des Markts (kapitalistischen Systems) und als Erklärung für 17 Wenn ich in dieser Arbeit den Begriff Kultur verwende, dann gehe ich vom Kulturbegriff Käsers aus: „Kulturen sind Strategien des Menschen, sein Dasein zu gestalten und zu bewältigen.“ (vgl. Käser 2005: 9) Ohne in eine Diskussion des Begriffs einzusteigen, möchte ich diese Wahl begründen: Diese Definition erlaubt dem Menschen eine je nach geographischer, geschichtlicher und individueller Situation eigene Lösung zu finden, die nicht statisch ist. 18 Der Ethnologe Käser argumentiert, dass Gruppen das Überleben des Einzelnen sichern und ihnen daher eine besondere Rolle zukommt (vgl. Käser 2007: 87f.); der Anthropologe Hiebert beschreibt, wie der westliche Individualismus im Kontrast zu vielen gemeinschaftlichen Lebensentwürfen steht und welche Auswirkungen das etwa auf Eigentum oder Selbst-Wahrnehmung hat (Hiebert 2005: 124-127). 25
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