Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 63. Jahrgang August 2019 - Alt-Katholische Kirche

 
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Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 63. Jahrgang August 2019 - Alt-Katholische Kirche
Christen heute 2019/08

                         Di e A lt-K at hol i sc h e Z e i tsc h r i f t i n Deu tsc h l a n d + 63. Ja h rg a ng · Augus t 2 019

                         3   Demokratie ist (k)eine Lösung       10 Demokratie ist,                23 Synodalität und Demokratie
                             von Harald Klein                       wenn man trotzdem lacht           von Thomas Mayer
                                                                    von Francine Schwertfeger
                         6   Demokratie –                                                          25 Wie tickten die frühen Christen?
                             die christlichste Regierungsform?   11   Mitbestimmung monastisch        von Gregor Bauer
                             von Gerhard Ruisch                       von Hermann Josef Roth
                                                                                                   27 Aloisia im Himmel
                         8   Vox Populi – Vox Dei?               14 Gedanken zur Demokratie…          von Heidi Herborn
                             von Christian Flügel                   von Kerstin Teichert-Möller
                                                                                                   28 Auf dem Gipfel
                                                                 15   Beredsamkeit ist eine Zier      von Jutta Respondek
                                                                      von Francine Schwertfeger
Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 63. Jahrgang August 2019 - Alt-Katholische Kirche
Probleme mit Enthaltsamkeit               Aus Angst liegen                           Bedeutungslose Alt-Katholiken?
                             Nach Einschätzung des Ber-                Nigerias Felder brach                      Der Wiener Pastoraltheologe
                             liner Therapeuten Joachim Reich,          Im Nordosten Nigerias liegen               Paul M. Zulehner hat in einem Inter-
                             der viele Priester berät, haben fast      aufgrund der Terrorgefahr durch die        view gefordert, dass die Römisch-Ka-
       Namen & Nachrichten
                             alle katholischen Priester Probleme       Miliz Boko Haram und die Splitter-         tholische Kirche auf ihrem Reform-
                             mit sexueller Enthaltsamkeit. „Ich        gruppe ISWAP – Islamischer Staat           weg auch Abspaltungen riskieren
                             würde sagen: 95 Prozent halten sich       in der westafrikanischen Provinz –         müsse. Das sei der notwendige Preis,
                             nicht lebenslang an den Zölibat.          viele Felder schon seit Jahren brach.      um Stagnation und damit in Europa
                             Zu welchem Grad und in welchen            Militäroffensiven haben zwar in der        und Nordamerika den Verlust der
                             Phasen sie sexuell aktiv sind, ist aber   Provinzhauptstadt Maiduguri und            kommenden Generationen zu verhin-
                             unterschiedlich.“ Manche hätten Affä-     verschiedenen Kreisstädten mehr            dern. Außerdem seien die Abspaltun-
                             ren oder im Urlaub Sex und lebten         Sicherheit gebracht, nicht jedoch in       gen nicht weiter schlimm: „Es haben
                             dann wieder lange Zeit enthaltsam.        ländlichen Regionen, in die sich die       sich die Alt-Katholiken abgespalten,
                             „Andere führen konsequent ein Dop-        Terroristen oft zurückziehen. Nach         und die sind jetzt dabei, in der Bedeu-
                             pelleben.“ Viele Priester seien „mit      Schätzungen der nigerianischen Far-        tungslosigkeit zu verschwinden. Es
                             viel Idealismus“ in ihr Amt gestar-       mer-Organisation AFAN könnte die           haben sich die Lefèbvrianer abgespal-
                             tet, sagte Reich. Dass sie Probleme       Produktion von Lebensmitteln um 50         ten, die jetzt die Hardcore-Katholiken
                             mit dem Zölibat bekämen, dauere           Prozent zurückgehen. „Entführungen         am rechten Flügel sammeln. Und so
                             mitunter mehrere Jahre. Wer keine         sind eine Gefahr für unsere Existenz“,     wird es immer wieder solche Abspal-
                             Beeinträchtigung erfahre, sei „zöliba-    sagte auch Landwirtschaftsminister         tungen geben“, sagte er. „Wenn wir
                             tär hochbegabt“. Das sei eine „ganz       Audu Ogbeh. „Wenn wir das Ernäh-           so weitermachen wie bisher, dann
                             kleine“ Minderheit. Probleme mit der      rungsproblem nicht lösen können,           werden wir als Katholische Kir-
                             verpflichtenden Ehelosigkeit würden       dann können wir auch kein anderes          che in Europa und Nordamerika zu
                             individualisiert: „Die Kirche lässt       lösen.“ Bis heute ist etwa jedes dritte    einer völlig bedeutungslosen Sekte
                             diese Menschen letztlich im Stich“,       Kind im Land mangelernährt.                schrumpfen.“
                             kritisierte Reich.
                                                                       Fortschritte im Kampf                      HuK kritisiert Vatikandokument
                             Farben riechen                            gegen Menschenhandel                       Heftig kritisiert hat die Öku-
                             Wer nicht sehen kann, darf                Die Expertengruppe gegen Men-              menische Arbeitsgruppe Homose-
                             riechen: Der 13-jährige Lars Reif aus     schenhandel des Europarats (Greta)         xuelle und Kirche (HuK) das Doku-
                             Neustadt an der Weinstraße habe           sieht Fortschritte. Im Vergleich zu 2015   ment „Männlich und weiblich schuf
                             durch wissenschaftliche Recherche         werde die Europaratskonvention gegen       er sie“ der Bildungskongregation
                             und Befragungen herausgefunden,           Menschenhandel nun besser im deut-         des Vatikans. Die Verfasser hätten
                             welche Farben mit welchen Düf-            schen Recht widergespiegelt, heißt es.     weder mit transidenten Menschen
                             ten verbunden werden, teilte die          Dennoch erhöhte sich nach Angaben          gesprochen noch wissenschaftliche
                             Christoffel-Blindenmission (CBM)          des Bundeskriminalamts die Zahl der        Erkenntnisse berücksichtigt; verwie-
                             mit. Rosen riechen demnach nach           Opfer von Menschenhandel von 536           sen werde nur auf eigene Stellung-
                             rot, Vanille nach weiß, Minze nach        im Jahr 2016 auf 671 im darauffolgen-      nahmen, so dass der Anspruch eines
                             grün und Zitrone nach gelb. Um die        den Jahr.                                  „Gesprächs“ nicht haltbar sei. „Hätten
                             Grundfarben zu komplettieren, habe                                                   die Kurialen z. B. mit transidenten
                             der Schüler noch Eukalyptus für blau                                                 Gläubigen gesprochen, dann hätten
                             ausgewählt. Mit diesen Kenntnissen                                                   sie unweigerlich merken müssen, dass
                                                                         Kirche im Radio
                             baute der Schüler eine Maske, an der                                                 ihre Kritik an der Geschlechtsiden-
                             ein Farbsensor die Farbe erkennt. Eine      „Positionen“                             tität als ‚Wahl‘ oder einer beliebigen
                             eigens programmierte Software sorge         Bayern 2 Radio                           Willensentscheidung an der psychi-
                             dann dafür, dass der entsprechende          18. August, 6:45 Uhr                     schen Situation von Trans-Personen
                             Geruch mit einer Pumpe vor die Nase         Pfarrer Hans-Jürgen Pöschl               völlig vorbeigeht“, heißt es. „Der
                             gesprüht werde. So rieche etwa eine         Weidenberg                               absolute Tiefpunkt“ sei allerdings
                             gelbe Wand nach Zitrone und mache                                                    die Forderung, Kinder mit nicht ein-
                             die Farbe auch für Blinde erlebbar.         „Anker werfen –                          deutig männlichen oder weiblichen
                             Lars Reif erhalte dafür im Rahmen           Anker lichten“                           Geschlechtsmerkmalen durch Opera-
                             des „Jugend forscht“-Landeswettbe-          Deutschlandfunk                          tion einem der beiden Geschlechter
                             werbs Rheinland-Pfalz den Sonder-           11. August, 10 Uhr                       anzupassen; das sei Körperverletzung
                             preis der Christoffel-Blindenmission        Nordstrand                               und Genitalverstümmelung.
Titelfoto: pixelio.de

                             „Innovationen für Menschen mit
                             Behinderungen“.

                                                                                                                  fortgesetzt auf Seite 31            5

   2                                                                                                                              Christen heute
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Demokratie ist (k)eine Lösung
                                                                im Bereich Schule: wenn Eltern solo entscheiden wollen,
                                                                auf welche weiterführende Schule ihr Kind geht.

                                                                Demokratie ist die schlechteste Staatsform,
                                                                abgesehen von allen anderen (Winston Churchill)
                                                                      Was ist eigentlich „Demokratie“? Erfunden wurde
                                                                sie wohl im alten Griechenland. Die freien Städte damals
                                                                erlaubten sich eine Regierungsform, in der viele mitreden
                                                                und mitwählen durften. Wenn allerdings von „Herrschaft
                                                                des Volkes“ (=Demokratie) gesprochen wird, muss klar               Dekan i. R.
Vo n H ar ald K lein                                            sein, wer denn damals das „Volk“ war. Die Frauen zum Bei-          Harald Klein
                                                                spiel nicht, auch Sklaven nicht, noch nicht einmal Hand-           ist Mitglied

K
                                                                                                                                   der Gemeinde
         ürzlich suchte ich einen Facharzt, weil                werker oder Gehaltsempfänger. Und im Kern ist es so                Rosenheim
         meine bisherige Ärztin in den Ruhestand gegan-         geblieben: Das „Volk“ in der Demokratie umfasst nie alle.
         gen ist. Im Internet schaute ich also nach Ärzten in   Wie lange hat es gedauert, bis in Europa auch die Frauen
der Umgebung. Aber ich fand bei dieser Gelegenheit etwas        mitabstimmen durften? Wie lange hat es gedauert, bis
ganz Anderes, nämlich Ärzte-Bewertungen: Internetseiten,        in Amerika auch die Farbigen abstimmen durften? Auch
auf denen Patienten Noten verteilen und also empfehlen          heutzutage bei uns in Deutschland dürfen Jugendliche
oder verurteilen. „Super, dem Mann kann man vertrauen.“         nicht abstimmen, Gefängnisinsassen, Gastarbeiter, Flücht-
„Bitte Vorsicht, diese Ärztin wirkt unprofessionell.“ „Ich      linge. Ist das nicht ungerecht?
kann nur warnen; die Medizin hab‘ ich gar nicht erst ein-             Ja, allerdings nur, wenn mit Gerechtigkeit „allgemeine
genommen.“ Natürlich könnte man sagen: Das ist wirkli-          Gleichheit“ gemeint ist. Mit „Gerechtigkeit“ könnte aber
che „Demokratie“; da ist der Arzt nicht mehr „Halbgott in       auch das allgemeine Wohlergehen gemeint sein, gleiche
Weiß“, sondern ein Dienstleister, der sich die Abstimmung       Chancen für eine gute Zukunft. Wenn das das Staatsziel
                                                                                                                               Bild: Henry de Groux, „Zola aux outrages“, 1898.

des Volkes gefallen lassen muss.                                ist, dann ist noch lange nicht gesagt, dass dem mit einer
     Aber ich frage mich, wo das hinführt. Müssen sich          unterschiedslosen Wahl- und Mitbestimmungsmöglich-
Ärzte in Zukunft in erster Linie darum sorgen, gute Bewer-      keit für alle Bürger am besten gedient wäre. Niemand kann
tungen zu bekommen? Müssen Sie Medikamente mit                  belegen, dass „parlamentarische Demokratie“ die beste
Blitzwirkungen verschreiben, um als Wunderdoktor bewer-         Regierungsform eines Staates ist. Keiner kann belegen,
tet zu werden? Tut das unserer Gesellschaft gut? Sollte es      dass eine Kirche, in der alle abstimmen dürften, die getauft
nicht ein Angebot von geprüften Fachleuten geben ohne           sind (und rechts und links unterscheiden können), tatsäch-
                                                                                                                               Aus Wikimedia Commons

Absegnung der Allgemeinheit?                                    lich eine bessere, heilere oder gar christusgemäßere Kirche
     Die Frage nach der Demokratie, sie stellt sich heute       wäre. Würde bei einem Musikkonzert der Dirigent alle
auf vielen Ebenen. Zum Beispiel im Bereich der Politik:         Anwesenden im Saal einladen mitzumusizieren, dann hätte
wenn unter Inanspruchnahme demokratischer Rechte für            das zwar eine scheinbar größere Gleichberechtigung zur
nichtdemokratische Ziele demonstriert wird. Zum Beispiel        Folge, aber ob der Abend wohltuender verliefe, ist sicher
im Bereich der Kirche: wenn Christen sich ihre Religion         die Frage. Die Mehrheit hat nicht automatisch Recht, die
und Spiritualität selbst zusammenstricken. Zum Beispiel         Mehrheit ist nicht automatisch gut.

6 3 . J a h r g a n g + A u g u s t 2 0 1 9 3
Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 63. Jahrgang August 2019 - Alt-Katholische Kirche
Von Mehrheiten und Minderheiten                                perfekte Lösung für Politik, Gesellschaft, Kirche; es geht
     wird mehr verlangt, als zählen zu können                       nur darum, dass die Kinder des Dädalus nicht zu hoch flie-
     Richard v. Weizsäcker                                          gen, nicht abheben und das ganze Projekt zum Scheitern
          Demokratie darf sich nicht dem Verzicht auf Kom-          bringen. Schnell verlieben sich Menschen in Höhenrausch.
     petenz und Werte ausliefern. Nicht umsonst bauen viele         Dem einen Riegel vorzuschieben, dient die demokratische
     Verfassungen Sicherungen ein: eine Gruppierung im Staat,       Wahl und Mitbestimmung.
     die auch parlamentarischen oder wahlbezogenen Mehrhei-              Auch die christliche Tradition kennt genau dieses
     ten noch Paroli bieten kann. In vielen Staaten ist das zum     Anliegen. In der Bibel finden wir eine ganze Reihe von
     Beispiel eine unabhängige Justiz, in anderen ein unabhän-      Themengeschichten, die sich dem widmen. Zum Beispiel
     giges Militärwesen (siehe Türkei, Ägypten etc.), auch wenn     die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Da reibt sich sogar
     die „Unabhängigkeit“ oft minimal ist. Die Staatsform der       Gott die Augen und stellt fest: Die bauen doch tatsächlich
     Demokratie ist keine Geniallösung und auch kein Selbst-        einen Turm bis in himmlische Sphären. Und er sorgt dafür,
     läufer. Gerade im Augenblick erfahren wir, wie fragwür-        dass alles zerschlagen wird. Andere Geschichten drücken
     dig die Mitbestimmung durch allgemeine Wahlen ist. Wie         Ähnliches aus: Mose, der am Ende noch nicht einmal das
     beeinflussbar, korrumpierbar sind Wähler! Wie angreifbar       Gelobte Land mit eigenen Augen sehen darf. Goliath, der
     und wie gefährdet durch Terror ist der faire Ablauf eines      von einem Hirtenjungen aus seinen Machtträumen geholt
     Wahlkampfes! Kann nicht auch ein ganzes Volk sich töd-         wird. Nebukadnezzar, dessen Reich zusammenbricht
     lich irren, wie Deutschland 1933?                              wegen Selbstüberschätzung. Luzifer, der vom Himmel
          Auch in der Kirche gibt es Ansätze der Demokratie,        stürzt. Und dann die ganz alte Fabel von der Königswahl
     wir rühmen uns der Existenz von Wahlen zum Kirchenvor-         der Bäume im Richter-Buch des Alten Testaments (Kap
     stand, zu Synoden, für Pfarrer- und Bischofsämter. Aber        9,7-15a): Es geht um eine politische Wahl, um mögliche
     von da zur wirklichen Mitbestimmung ist noch ein weiter        Kandidaten und die bittere Wirklichkeit.
     Weg, und manche Abstimmungen sind doch deutlich „vor-
     geschient“ und ohne ausgearbeitete Alternativen. Auch in           Einst kamen die Bäume zusammen, um einen
     der Kirche ist Demokratie kein Selbstläufer und hat noch           König zu wählen. Sie sagten zum Ölbaum: „Sei du
     manche Hürden zu bewältigen, sogar in der Alt-Katholi-             unser König!“ Aber der Ölbaum erwiderte: „Soll
     schen Kirche. Aber soll sie überhaupt zum Charakteristi-           ich vielleicht aufhören, kostbares Öl zu spenden, mit
     kum einer Kirche werden? Hat das einen Sinn? Worin liegt           dem man Götter und Menschen ehrt, und dafür
     das Kernanliegen von Wahlen und sonstigen demokrati-               hoch über den Bäumen schweben (schwanken)?“
     schen Vorgängen?
                                                                        Da sagten die Bäume zum Feigenbaum:
     Was die Alten schon wussten                                        „Sei du es!“ Doch der Feigenbaum erwiderte: „Soll ich
          Wenden wir uns wieder an die alten Griechen: Es gibt          vielleicht aufhören, süße Feigen zu tragen, und dafür
     eine sehr erhellende Sage aus griechischer Vorzeit, die des        hoch über den Bäumen schweben (schwanken)?“
     Ikarus. Er war der Sohn des genialen Erfinders Dädalus
     und hatte von seinem Vater sogar das Fliegen beigebracht           Da sagten sie zum Weinstock: „Sei du es!“
     bekommen. Als sie sich einmal auf der Flucht von Kreta             Doch der erwiderte: „Soll ich aufhören, Wein zu
     aus in die Luft erhoben, kam der tollkühne Ikarus mit sei-         spenden, der Götter und Menschen erfreut, und dafür
     nen Flügeln und dem verwendeten Wachs der Sonne zu                 hoch über den Bäumen schweben (schwanken)?“
     nahe, er flog so hoch, dass die Flügel sich auflösten und er
     jäh abstürzte und vom trauernden Dädalus begraben wer-             Schließlich sagten sie zum Dornstrauch: „Sei du
     den musste.                                                        unser König!“ Und der Dornbusch erwiderte: „Da
          Dass Einzelne der Sonne nicht zu nahe kommen, son-            ihr mich wirklich zu eurem König macht, kommt her,
     dern die Nähe zum Boden des Irdischen bewahren, das ist            bückt euch und sucht Schutz in meinem Schatten!“
     Auftrag und Sinn der Demokratie. Es geht nicht um die
                                                                    Demokratie heißt Entscheidung durch die Betroffenen
                                                                    Richard v. Weizsäcker
                                                                         So kommt es, wenn einer zum Höhenflug ansetzt,
                                                                    wenn andere meinen, eine Wahl würde schon alles in Ord-
                                                                    nung bringen: Der da oben verliert jede realistische Selbst-
                                                                    einschätzung, meint, als dürrer und dorniger Strauch allen
                                                                    Bäumen des Waldes Schatten spenden zu können. Es ist
                                                                    eine ironische, scharfe Warnung, die mit dieser alten bib-
                                                                    lischen Fabel ausgedrückt wird: vor dem Königtum insge-
                                                                    samt und der Illusion freiheitsbewahrender Wahlen.
                                                                         Das Prinzip einer Wahl ist nur dann wertvoll, wenn
                                                                    die Wählenden sich mit der Wahl nicht selber ausliefern.
                                                                    Wahlen bis zur Altersgrenze oder auf Lebenszeit wie bei
                                                                    einem König sind nur Mitbestimmungs-Getöse, aber keine
                                                                    gerechte Verteilung von Macht. Jedenfalls schwebt dem

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Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 63. Jahrgang August 2019 - Alt-Katholische Kirche
Schreiber der alttestamentlichen Fabel wohl statt einer          Wir sind keinem Aufpasser mehr unterstellt.
Königswahl eher so ein zeitweiliges Führungssystem wie in        Denn zuerst mal seid Ihr alle Söhne und Töchter Gottes
der alten Zeit der „Richter“ vor. Auch in der Kirche wäre es     Paulus im Galaterbrief 3,25
möglich, dass ein Bischof oder Pfarrer auf bestimmte Zeit             Dazu wäre es wichtig, dass Amtsinhaber geschult wer-
gewählt wird, evtl. mit kürzerer Verlängerungsmöglich-           den und kontrolliert werden, andere offen in Verantwor-
keit. Es geht nicht darum, denen da oben schlechte Absicht       tung und Kreativität einzubeziehen. Es muss Ereignisfelder
nachzusagen, sondern nur darum, noch etwas Anderes zu            und Planungsfelder geben, die auch mal ohne die Amtsin-
ermöglichen, eben mehr als nur formale Demokratie.               haber stattfinden: Klausuren des Kirchenvorstands, Syn-
      Was in der Jotam-Fabel die drei ersten Bäume sagen, ist    oden der Standortbestimmung und der Kreativität. Und
das Entscheidende: dass die Mitglieder der Gemeinschaft in       genau diese „Zusammenkünfte“ dürfen nicht von „oben“
erster Linie die Bestimmung haben, ihre Fähigkeiten, ihre        vorsortiert sein. Kirche wird erst da lebendig, wo ein einfa-
Früchte beizutragen. Ich will nicht zuerst regieren, sondern     cher Ölbaum sein Öl dazugibt, ein einfacher Mensch seine
Öl beitragen; ich will Feigen beitragen, ich will zu Wein ver-   Fragen und Fähigkeiten, die ihm Gott gegeben hat. Es geht
helfen. Nahrung, Süße, Freude, das sind die Fruchtbilder für     nicht um abwertende Meinungsmache (siehe Ärzte-No-
das, woraus Gemeinschaft dauerhaft lebt. Dieser lebendige        ten) oder abkapselnde Eigenbrötlerei, sondern um Mittun
Austausch muss möglich gemacht werden, dann dürfen auch          gerade um des Ganzen willen.
einzelne (demokratisch) leiten und führen. Ohne dass sich             Von Jesus sind Gleichnisse überliefert, die in diese
alle eingeladen fühlen, beizutragen und mitzugestalten, ver-     Richtung zielen, zum Beispiel das Gleichnis der Talente,
kommt Gemeinschaft zur inhaltsleeren Gängelei.                   die ein Gutsbesitzer den Dienern anvertraut. Nicht ein

     Und deshalb ist nach meinem Empfinden der Begriff           fremdes System oder Vermögen steht im Mittelpunkt, son-
„Synodalität“ (= Zusammenkommen, Weggemeinschaft)                dern das fruchttragende Einbringen der eigenen Talente
eine bessere Bezeichnung für das Angestrebte als „Demo-          (Lk 19,13ff.). Oder das Gleichnis von der Festeinladung, in
kratie“. Es geht nicht um „Herrschaft“ des Volkes, son-          dem am Ende viele einfache Leute von Hecken und Zäu-
dern um Einfluss, Einfließen, am Wesentlichen auf Dauer          nen in die Mitte des Festes geholt werden statt der vorge-
Beteiligtsein. Dass auch Nichtamtsinhaber, Nichtgewählte         sehenen Auswahl (Lk 14,16ff.). Auch bei der Geschichte
sich entscheidend miteinbringen können. Gerade seitens           von den fünf törichten und fünf klugen Brautjungfern
römisch-katholischer Kreise, die in letzter Zeit gern den        wird nicht vom Eintrittsrecht eines Amtes gesprochen,
Begriff propagieren, wird Synodalität viel zu sehr als Good-     sondern nur vom Öl, das jede einzelne junge Frau einbrin-
will-Veranstaltung gedeutet ohne verbindliche Festlegung.        gen wird. Und zuletzt: Wozu hat Jesus gerade an einfachen
Aber auch in der Alt-Katholischen Kirche kann noch viel          Menschen Wunder gewirkt? Nicht um sich selbst zu ver-
an tatsächlicher Synodalität dazugelernt werden.                 herrlichen, sondern um diese fähig zu machen, froh und
                                                                 verantwortlich mitzuwirken an der Gemeinschaft.           ■

6 3 . J a h r g a n g + A u g u s t 2 0 1 9 5
Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 63. Jahrgang August 2019 - Alt-Katholische Kirche
durch die Herrschenden fast schon als
                                                                                                       Selbstverständlichkeit ansieht. Klar,
                                                                                                       auch die Kleinfürsten von Roms Gna-
                                                                                                       den vor Ort wie die Söhne von Hero-
                                                                                                       des dem Großen sind nicht geeignet,
                                                                                                       ein besseres Bild vom Monarchen zu
                                                                                                       vermitteln.
                                                                                                            Doch obwohl Jesus und viele
                                                                                                       andere in der Bibel die Machtaus-
                                                                                                       übung der Monarchen kritisieren,
                                                                                                       finden sich in der Bibel keine Stellen,
                                                                                                       die die Monarchie selbst in Frage stel-
                                                                                                       len. Stattdessen gibt es gerade bei den
                                                                                                       alten Königen Israels schon die Vor-
                                                                                                       stellung vom Gottesgnadentum. Dass
                                                                                                       es auch andere Regierungsformen
                                                                                                       geben könnte, lag wohl außerhalb des
                                                                                                       Vorstellbaren; selbst Jesus sagt in allen
                                                                                                       drei synoptischen Evangelien: „Gebt
                                                                                                       dem Kaiser, was dem Kaiser gehört,
                                                                                                       und Gott, was Gott gehört“ (z. B.
                                                                                                       Matthäus 22,21).
                                                                                                            Wir müssen also feststellen: Es
                                                                                                       gibt keinen biblischen Anhaltspunkt,
                                                                                                       durch den sich unmittelbar belegen
                                                                                                       ließe, dass die Demokratie christlicher
                                                                                                       wäre als andere Staatsverfassungen.

                                                                                                       Und in der Kirche?
                                                                                                             Ganz anders sieht es in der
        Gerhard                                                                                        Kirche aus. Selbstverständlich ist

                    Demokratie               –
       Ruisch ist                                                                                      nirgends in der Bibel von einer demo-
verantwortlicher                                                                                       kratischen oder synodalen Kirchen-
  Redakteur von
   Christen heute                                                                                      verfassung die Rede. Und die Frage:

                    die christlichste Regierungsform?
   und Pfarrer in                                                                                      „Wie hat Jesus Gemeinde gewollt?“,
        Freiburg                                                                                       die Gerhard Lohfink vor vielen Jah-
                                                                                                       ren in einem Buch untersucht hat,
                    Von Gerh a r d Ruisch                                                              lässt sich nach meiner Auffassung (im
                                                                                                       Gegensatz zu Lohfink) nur mit „gar

                    I
                        ch vermute, heute neigt die           Keine Monarchiekritik in der Bibel       nicht!“ beantworten. Denn schließ-
                        Mehrheit der Christen dazu, diese          Viele Menschen der Bibel sehen      lich ging Jesus nach vielen biblischen
                        Frage mit Ja zu beantworten. Das      deutlich die Probleme, die es mit        Zeugnissen davon aus, dass das Welt­
                    war einmal ganz anders. Zu Zeiten, als    Monarchen gibt. Die Propheten im         ende unmittelbar bevorsteht – er
                    man die Königssalbung als Sakrament       Alten Testament etwa geißeln mit         kam also wohl kaum auf die Idee, sich
                    ansah und vom Gottesgnadentum             harten Worten die Könige Israels,        Gemeinde- und Kirchenverfassungen
                    überzeugt war, also davon, dass die       wenn sie ungerechte Strukturen stüt-     auszudenken, schon gar nicht solche,
                    Herrschenden von Gott selbst einge-       zen, sich selbst bereichern, Menschen    die über Jahrhunderte Bestand haben
                    setzt sind, hätte man die Monarchie       unterdrücken, Fremde ausbeuten und       sollten.
                    als die christlichste Regierungsform      Götzendienst fördern. An etlichen              Folglich gab es in der frühen Kir-
                    angesehen – und diese Zeit war alle-      Stellen im Neuen Testament wird der      che auch keine vorgegebene Gemein-
                    mal länger als die kurze demokratische    Kaiser in Rom als Fremdherrscher         deordnung. Jede Gemeinde musste
                    Epoche. Zur Zeit des 3. Reichs waren      kritisch gesehen. Auch wenn Jesus        sich ihre eigene Ordnung erst suchen,
                    selbst in unserem Land viele Christen     im Matthäusevangelium (20,25) sagt:      so dass wir im Neuen Testament viele
                    und sogar Kirchenleitungen geneigt,       „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre      unterschiedliche Gemeindeformen
                    die Führerherrschaft als konform mit      Völker unterdrücken und die Großen       finden. Es hat über 150 Jahre gedauert,
                    dem Christentum anzusehen. Aber           ihre Vollmacht gegen sie gebrauchen“,    bis sich die spätere einheitliche Ord-
                    wie ist es denn nun wirklich? Hilft der   zeigt das, dass er, wohl geprägt durch   nung mit einer Hierarchie von einem
                    Blick in die Bibel weiter?                die Erfahrungen mit der römischen        Bischof, Priester/Diakon und Volk
                                                              Besatzung wie alle seine Zeitgenos-      überall durchgesetzt hatte!
                                                              sen in Israel, den Machtmissbrauch

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Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 63. Jahrgang August 2019 - Alt-Katholische Kirche
Das heißt aber nicht, dass Jesus       aber seid Geschwister“ (Mt 23,8), das      Aussagen der Evangelien ja keine mit­
uns keine Hinweise gegeben hätte.           ist der Kirche von Jesus für alle Zeiten   stenografierten Protokolle sind, son-
Es gibt nämlich sehr wohl klare Hin-        ins Stammbuch geschrieben! Zwei-           dern Ausdruck der Überzeugung der
weise aus seinem Mund – die selbst          tausend Jahre Erfahrung zeigen, dass       Evangelisten. Matthäus und Johannes
dann bedeutsam sind, wenn sie ihm           es eine schwere Daueraufgabe für alle      sehen Jesus als Herrn und Meister –
teilweise aus der konkreten späteren        mit einer Leitungsfunktion Betrauten       ob Jesus sich selbst so gesehen hat,
Situation heraus von den Evangelisten       ist, sich das immer wieder bewusst zu      wissen wir deshalb noch nicht.
hineingelegt worden sein sollten –,         machen und zu verhindern, dass ihnen             Mir scheint es naheliegend, zu
wie er sich zwar nicht eine Kirchen-        die Position an der Spitze zu Kopf         vermuten, dass Jesus für sich keine
verfassung, aber das Zusammenleben          steigt.                                    andere Stellung beansprucht, als er
seines Jüngerkreises vorstellt. In ihm             Der Blick in die Schriften des      den anderen Leitenden im Jünger-
sollen ja die Spielregeln des Reiches       Neuen Testaments zeigt, dass die frü-      kreis zugesteht: Ja, er ist der Lehrer,
Gottes gelten, nicht das, was sonst         hen Christengemeinden es bei allen         er ist der Anführer seiner Anhänger,
üblich ist. Und dafür ist grundlegend,      unterschiedlichen Strukturen, mit          aber, wie die Fußwaschung zeigt, er
wie der oben zitierte Satz aus dem          denen sie experimentiert haben, für        sieht sich als einer, der seine besondere
Matthäusevangelium weitergeht:              angebracht fanden, dass die Trägerin-      Aufgabe, seine Einsicht in das, was
                                            nen und Träger von Leitungsfunktio-        Gott möchte, seine Fähigkeit, andere
    Ihr wisst, dass die Herrscher ihre      nen von allen gewählt wurden. Es lässt     zu begeistern, ganz als Dienst an den
    Völker unterdrücken und die             sich also wohl sagen, dass sie synodale    anderen und am Reich Gottes sieht.
    Großen ihre Vollmacht gegen sie         und demokratische Elemente als die         Es gibt Stellen, die Jesus fast schon
    gebrauchen. Bei euch soll es nicht      angemessene Weise der Umsetzung            überheblich klingen lassen („Ich
    so sein, sondern wer bei euch groß      von Jesu klarer Vorgabe angesehen          bin ein König. Ich bin dazu geboren
    sein will, der soll euer Diener         haben. Vom Neuen Testament her             und dazu in die Welt gekommen!“ –
    sein, und wer bei euch der Erste        gesehen, scheint mir also durchaus der     Johannes 18,37), aber dieser Ton passt
    sein will, soll euer Sklave sein.       Schluss angebracht, dass eine Form         so wenig zum sonstigen Jesus, dass ich
                                            von Demokratie zumindest für die           da mehr Johannes als Jesus sprechen
Zwei Dinge schließe ich aus dieser          Kirche die angemessene Regierungs-         höre.
Aussage:                                    form ist.                                        Ich glaube, er wusste um seine
      Einmal: Es braucht auch unter                (Ich habe mich mit dieser Frage     besondere Aufgabe, die aus seiner
den Jüngerinnen und Jüngern Jesu            vor Jahren ausführlich in meiner           außerordentlichen Nähe zu Gott ent-
Menschen, die die Gemeinschaft              Pfarrexamensarbeit befasst. Wer sich       sprang. Er hat seine Einsichten an
leiten. In den kleinen Hausgemein-          dafür interessiert, kann sie gerne         andere Menschen weitergegeben und
den des Anfangs war das noch nicht          als PDF-Datei erhalten – Mail an           die Gemeinschaft, die daraus ent-
so wichtig, aber später, als eine           redaktion@christen-heute.de.)              sprang, geleitet. Er hat sich aber von
große Kirche entstanden war, ganz                                                      Anfang an Menschen gesucht, die ihn
bestimmt. Es ist also legitim, dass es in   War Jesus Demokrat?                        dabei unterstützen. Und es gehörte
Kirche und Gemeinde Menschen gibt,               Was den Staat angeht, wurde die       zum Kern seiner Botschaft, dass alle
die Leitungsfunktionen übernehmen.          Frage eingangs schon beantwortet:          gleichermaßen Kinder Gottes sind und
      Aber: Die Leitungsfunktion            Es gibt keinen Hinweis, dass Jesus         damit gleichberechtigte Geschwister.
ist als Dienst zu verstehen, nicht als      überhaupt auf die Idee kam, dass ein             Theoretische Überlegungen über
Herrschaft, auch nicht als „Heilige         Staat auch demokratisch verfasst sein      die ideale Staats- oder Kirchenverfas-
Herrschaft“, griechisch „Hierarchie“.       könnte. Auch die Frage, wie es in der      sung sind von ihm nicht bekannt. In
Wichtig ist, dass das nicht nur als         Gemeinschaft seiner Jüngerinnen            diesem Sinne wäre es weit hergeholt
Etikett draufgeklebt, sondern zutiefst      und Jünger aussieht, ist beantwortet:      zu sagen, er sei Demokrat gewesen.
verinnerlicht wird. Als Gregor der          Ja, da sind ihm die Gleichheit und         Wohl scheint es mir aber legitim zu
Große sich als Servus Servorum Dei,         Geschwisterlichkeit aller wichtig.         behaupten, angesichts seiner Beto-
„Diener der Diener Gottes“ bezeich-              Doch wie ordnet er sich selbst        nung der Geschwisterlichkeit aller
nete, war das vielleicht noch ein Zei-      ein in diese Gemeinschaft? Das ist         Kinder Gottes ist ein demokratisches
chen, dass er die Botschaft des Neuen       nur scheinbar leicht zu beantworten.       System seinem Denken näher als jede
Testaments verstanden hatte, aber dass      Aussagen wie „Einer ist euer Meis-         Form von Monarchie oder Diktatur.
auch die machthungrigsten Päpste in         ter“ bei Matthäus oder „Wenn nun           Oder um es mit dem bekannten Pau-
späteren Jahrhunderten sich so nann-        ich, der Herr und Meister, euch die        luswort zu sagen:
ten, ist ein Hohn!                          Füße gewaschen habe“ und „Glaubt
      Die Leitungsaufgabe ist ein           an Gott und glaubt an mich!“ im                Es gibt nicht mehr Juden und
Dienst unter anderen Diensten, er           Johannesevangelium (13,14 und 14,1)            Griechen, nicht Sklaven und Freie,
erhebt diejenigen, die sie ausüben,         legen nahe, dass Jesus sich als von            nicht männlich und weiblich;
nicht über andere, er macht sie nicht       Gott gesandt und deshalb als Lehrer            denn ihr alle seid einer
zu besseren oder wichtigeren Chris-         und überlegenen Chef sieht. Da ist es          in Christus Jesus.
ten. „Einer ist euer Meister, ihr alle      wichtig, nicht zu vergessen, dass diese        Galaterbrief 3,28              ■

6 3 . J a h r g a n g + A u g u s t 2 0 1 9 7
Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 63. Jahrgang August 2019 - Alt-Katholische Kirche
Von Chr ist i a n Flügel                                       AfD noch, bürgerliche Sympathisanten schonen zu müs-
                                                                                  sen. Im französischen Präsidentschaftswahlkampf des-

                   „D             ie Gefahr, die von der Partei und
                                  ihren Anhängern für unsere freiheitliche
                                  Demokratie ausgeht, wird so überdeutlich
                   und zeigt nur noch mehr, dass die Demokraten in unserem
                                                                                  selben Jahres erscheint es inopportun, vorbehaltlos die
                                                                                  französische Rechtsextremistin Le Pen zu unterstützen;
                                                                                  ausgerechnet AfD-Frontmann Alexander Gauland bekun-
                                                                                  det öffentlich „auch Sympathien“ für den Präsidentschafts-
                   Land gegen sie zusammenstehen müssen.“ 75 Jahre nach           kandidaten der Konservativen, François Fillon. Als Björn
                   dem Holocaust wird Charlotte Knobloch, die ehemalige           Höcke 2017 das Berliner Holocaust-Mahnmal als „Denk-
                   Präsidentin des Zentralrates der Juden, bedroht und belei-     mal der Schande“ verunglimpft, prüft die Partei damals
                   digt, weil sie in einer Gedenkfeier für die Opfer des NS-Re-   nominell, ob ein nazistischer Tabubruch vorliegt.
                   gimes im bayrischen Landtag 2018 den Mut hat, die AfD               Mittlerweile sind solche Vorsichtsmaßnahmen obso-
                   herauszustellen als Partei, die „auf Hass und Ausgrenzung“     let: Die AfD kooperiert zur Europawahl offen mit den
                   gründet. Knoblochs Verdienst liegt nicht darin, etwas          genannten rechtspopulistischen Parteien, ohne Einbußen
                   Offenkundiges zu äußern, sondern dass sie es tut, obwohl       befürchten zu müssen. Gauland selbst übertrumpft Höckes
                   die Rechtspopulisten erfolgreich sind und ihre menschen-       NS-Verharmlosungen: „Hitler und die Nazis sind nur ein
                   verachtende Polemik von einer großen Bevölkerungs-             Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher
                   gruppe durch demokratische Wahlen legitimiert wird. Zu         Geschichte“. Trotz (oder gerade wegen) dieser unverhohle-
                   Recht nennt sie nicht nur die Parteifunktionäre, sondern       nen Geschichtsrelativierungen holt die AfD 11 Prozent bei
                   ausdrücklich auch die „Anhänger“ jener Partei, die im          der Europawahl.
                   Bundestag und mittlerweile in allen
                   16 Landtagen vertreten ist. Es gilt als
                   demokratischer Konsens, „keine Wäh-
                   lerschelte“ zu betreiben.
                        Die Kritik an den Ergebnissen
                   „allgemeiner, unmittelbarer, freier,
                   gleicher und geheimer Wahlen“ (GG
                   Art 38) rührt an den Grundfesten der
                   demokratischen Idee. Der israelische

                                                                                  Vox Populi – Vo
                   Historiker Yuval Harari stellt in sei-
                   nem Beststeller „Homo Deus“ heraus:
  Dr. Christian    „Doch die Biowissenschaften verwei-
      Flügel ist   sen darauf, dass ich mich im Wahllo-
   Facharzt für    kal nicht wirklich an das erinnere, was
Psychiatrie und
Psychotherapie     ich in den Jahren seit der letzten Wahl
und Diakon im      gefühlt und gedacht habe. Zudem
   Ehrenamt in     werde ich von einer ganzen Salve an
 der Gemeinde      Wahlkampfwerbung, Meinungsma-
    Düsseldorf     che und zufälligen Erinnerungen
                   bombardiert.“
                        Allan Frances, ein US-amerikani-
                   scher Psychiater, analysiert in seinem
                   Buch „Amerika auf der Couch“: „Indem wir Trump für                   Frances sieht mehrere Gründe für den Erfolg rechts-
                   verrückt erklären, können wir vermeiden, uns dem Wahn-         populistischer Propaganda. Das politische Ringen um
                   sinn in unserer Gesellschaft zu stellen – wenn wir geistig     Sachfragen wird von einer konsumorientierten Gesellschaft
                   gesund werden wollen, müssen wir uns zunächst selbst           als langweilig und unspektakulär erlebt. „Trump bekämpft
                   erkennen. Einfach ausgedrückt: Nicht Trump ist verrückt,       die Medien nicht nur, er beutet sie clever aus. … Er ist ein
                   sondern unsere Gesellschaft.“ In Bezug auf Trump lässt         unterhaltsamer und pervers fesselnder Darsteller. Doch für
                   sich feststellen, dass er keineswegs sein Wahlvolk betrogen    diejenigen, die ihn mögen, haben Trumps tägliche Pos-
                   hat. Selbst unerbittliche Gegner müssen zugeben, dass er       sen und groteske Hirngespinste wieder Spaß in die Politik
                   im Wahlkampf genau das vertreten hat, was er heute als         gebracht.“ Auch in Deutschland wächst nach der Entpola-
                   US-Präsident auch tatsächlich umsetzt.                         risierung durch die Große Koalition eine Sehnsucht nach
                        In Deutschland sind selbst AfD-Funktionäre über-          „Aufmischen“. Die Verrohung der Debattensprache durch
                   rascht, wie offen sie ihr rassistisches Gesicht zeigen kön-    den AfD-Stil führt einerseits zur Belebung des Politbe-
                   nen, ohne dass dies Wählerstimmen kostet. Vorsichtig wird      triebes, andererseits werden die Opfer staatlicher Gewalt
                   zunächst getestet, wie die Grenze des Anstandes ständig        (sowohl Holocaustopfer und ihre Angehörigen als auch
                   weiter verschoben werden kann. Nach dem „Gipfeltref-           Menschen, die vor Staatsterror nach Deutschland geflohen
                   fen europäischer Rechtspopulisten“ in Kassel im Januar         sind) rücksichtslos verängstigt und erneut traumatisiert.
                   2017, wo Frauke Petry (damals noch AfD), Marine Le Pen               Diese „Spaltung“ funktioniert: AfD-Wähler fühlen
                   (Frankreich), Geert Wilders (Niederlande) und Matteo           sich selbst als Opfer, die im eigenen Land schikaniert und
                   Salvini (Italien) den Schulterschluss vollziehen, glaubt die   kriminalisiert würden. „Demagogen mögen unaufrichtig

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Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 63. Jahrgang August 2019 - Alt-Katholische Kirche
sein, doch die Probleme, die sie ausnutzen, sind nur allzu   Inszenierungen für die eigene PR genutzt, zugleich wird
   real und alltäglich. Volksnahe Bewegungen entstehen aus      die freie Presse als „Volksfeind“ diffamiert und bekämpft.
   einem Gefühl geteilten Leides unter ganz normalen Leuten     Die Gleichschaltung der öffentlichen Medien in Ungarn
   gegen die Regierung“, sagt Frances. In einer gespaltenen     macht Viktor Orban zur Gallionsfigur der Rechten. „Das
   Gesellschaft büßen demokratische Wahlen ihre Legitima-       Problem ist, dass viele Wähler ihre Nachrichten nicht mehr
   tion ein. Gauland akzeptiert den Sieg Angela Merkels bei     aus den Zeitungen beziehen, sondern stattdessen stark von
   der Bundestagswahl keineswegs, sondern er ruft auf zur       Tweets, Radiotiraden, Verschwörungs-Webseiten und den
   „Jagd“ auf sie. Die Europawahl zeigt die Spaltung Deutsch-   sozialen Medien beeinflusst werden, die niemand vorher
   lands in den Westen mit starkem Stimmenanteil für die        einem Faktencheck unterzieht“, kommentiert Frances.
   GRÜNEN und die AfD-Hochburgen im Osten. Prompt                     Der Optimismus, dass durch Bildung und Informa-
   erklärt Gauland die GRÜNEN zum „Hauptfeind“.                 tionen „reifere“ BürgerInnen einer Demokratie heran-
        Harari erklärt: „Menschen fühlen sich durch demo-       wachsen, wird durch das Erstarken des Rechtspopulismus
   kratische Wahlen nur dann gebunden, wenn sie mit den         widerlegt. Im sogenannten Ibiza-Video reißen sich die
   meisten anderen Wählern eine grundlegende Beziehung          österreichischen Rechtspopulisten der FPÖ unfreiwillig die
   verbindet. Ist mir die Erfahrung anderer Wähler fremd        „demokratische Maske“ herunter. Ungehemmt bekennt
   und glaube ich, dass sie meine Gefühle nicht verstehen und   sich der Ex-Vizekanzler Hans-Christian Strache zu kri-
   ihnen meine vitalen Interessen egal sind, dann habe ich,     minellen Methoden der Parteifinanzierung. Unverblümt
   selbst wenn ich um das Hundertfache überstimmt werde,        skizziert er im heimlich gefilmten Gespräch Pläne zur
   absolut keinen Grund, die Entscheidung zu akzeptieren.“      Bekämpfung des freien Journalismus. Jede Wählerin weiß
                                                                unmissverständlich um die antidemokratische Ausrichtung
                                                                dieser Partei; bei der Europawahl eine Woche nach Veröf-
                                                                fentlichung des Videos erringt die FPÖ quasi unbehelligt
                                                                über 17 Prozent der Stimmen. Harari erklärt das Festhal-
                                                                ten an Scharlatanen wie folgt: „Paradoxerweise ist es so:
                                                                Je mehr Opfer wir für eine erfundene Geschichte bringen,
                                                                desto stärker wird die Geschichte, weil wir diesen Opfern
                                                                und dem Leid, das wir verursacht haben, um jeden Preis
                                                                einen Sinn geben wollen.“

ox Dei?                                                               Klammern nicht auch wir Alt-Katholikinnen uns im
                                                                Sinne Gernys an das idealisierte Selbstbild, wonach Tole-
                                                                ranz und Liberalität quasi von selbst eine menschenfreund-
                                                                liche Gesellschaft bewirken? Im Schuldbekenntnis über
                                                                die NS-Vergangenheit unseres Bistums von Bad Herrenalb
                                                                aus dem Jahr 2000 heißt es: „Aus Angst oder auch blin-
                                                                der Begeisterung, oft genug wider besseren Wissens, wurde
                                                                Unrecht nicht Unrecht, Terror nicht Terror und Mord
                                                                nicht Mord genannt.“ Dies fordert uns heraus, heute Wahr-
                                                                heiten unmissverständlich auszusprechen. Hier können wir
                                                                viel von Charlotte Knobloch lernen.                       ■

        Rechte Verschwörungstheoretiker sehen ein volks-
   feindliches Komplott aus „Alt-Parteien“, Wissenschaft-
   lerinnen, demokratischer Presse und Kirchen am Werk.
   Selbstkritisch können wir Alt-Katholikinnen fragen, ob
   nicht unser Harmoniebedürfnis und das Image als „tole-
   rante Kirche“ beitragen, dem Rechtspopulismus Raum
   inmitten der Gesellschaft zu überlassen. Schon zu Beginn
   des Jahrtausends betont der emeritierte christkatholische
   Bischof Hans Gerny in Prag: „Ich bin überzeugt, dass
   unsere überbordende Nachsicht und Geduld uns frieren
   macht. Wo jeder jeden gewähren lässt, wo es keine Tabus
   und Grenzen mehr gibt – da kann es auch keine Wärme
   und Geborgenheit geben.“
        Unsere Kirchenzeitung will zur Aufklärung über
   theologische und gesellschaftliche Fragen beitragen,
   gelegentlich provozieren und zur Streitkultur anregen.
   Die rechtspopulistische Haltung zur Pressefreiheit ist
   doppelzüngig: Medien werden durch skandalträchtige

   6 3 . J a h r g a n g + A u g u s t 2 0 1 9 9
Die Alt-Katholische Zeitschrift in Deutschland + 63. Jahrgang August 2019 - Alt-Katholische Kirche
Demokratie ist,
                                                           wenn man trotzdem lacht

                                                           Von Fr a n cin e                            die Möglichkeit haben zu wählen         verziert sein.“ O-Ton Henry Mencken,
                                                           Sc hw ert feger                             (auch wenn immer weniger sie nut-       ein amerikanischer Satiriker, eben-
                                                                                                       zen); dass wir unsere Meinung frei      falls auf der Internetseite watson.ch

                                                           W
                                                                         ir in Deutschland             äußern dürfen (auch wenn niemand        wiedergegeben.
                                                                         haben eine Demokratie.        zuhört); dass wir auf der Straße              Dazu kommt natürlich noch die
                                                                         Gelobt sei’s und gepriesen.   demonstrieren dürfen (auch wenn es      unliebsame Eigenart mancher Staats-
                                                           Oder doch nicht? Ein gewisser Wins-         keinen interessiert) – das alles sind   männer, den Begriff der Demokra-
                                                           ton Churchill meinte seinerzeit: „Das       Bestandteile einer Volksherrschaft.     tie zu verwässern: So soll Russland
                                                           beste Argument gegen die Demokra-           Doch wird nicht allmählich auch die     eine „lupenreine Demokratie“ sein,
      Francine                                             tie ist ein fünfminütiges Gespräch mit      Demokratie in Deutschland ziemlich      wie Altkanzler Gerhard Schröder als
 Schwertfeger                                              einem durchschnittlichen Wähler.“           ausgehöhlt?                             Putinkumpel glauben machen will.
  ist Mitglied                                                   Das ist natürlich all jenen Wäh-           Wähler und Wählerinnen geben       Oder wenn wir an die „Deutsche
der Gemeinde
    Hannover                                               lerInnen aus der Seele gesprochen,          mehrheitlich Partei A ihre Stimme.      Demokratische Republik“ DDR den-
                                                           deren Devise ist: Demokratie ist,           Dann kommt nach der Wahl Partei B,      ken, wo Kritiker wie in Russland und
                                                           wenn alle machen, was ich will. Ich         tut sich mit Partei C zusammen und      China auf Nimmerwiedersehen von
                                                           weiß am besten, was du brauchst/wir         übertrumpft Partei A (selbst wenn sie   der Bildfläche verschwanden bzw.
                                                           alle brauchen. Ich mein’s ja nur gut! –     noch mit Partei D koalieren sollte),    noch verschwinden.
                                                           Sätze, die wir aus vielen Familien-         und die A-Wähler fühlen sich ver-             „Demokratie ist die schlechteste
                                                           konstellationen zur Genüge kennen.          eimert. Demokratie ist, wenn man        aller Staatsformen, abgesehen von
  Foto: Marco Verch, „Donald der ‚langsame‘ Walzer Trump

                                                           Dem hielt der schottische Philosoph         trotzdem lacht.                         allen anderen.“ Er war schon ein klei-
  beim Rosenmontagszug - Kölner Karneval 2018“, Flickr

                                                           Thomas Carlyle entgegen: „Ich glaube             Es gibt viele Gründe, die gegen    ner Scherzkeks, der britische Staats-
                                                           nicht an die kollektive Weisheit indi-      eine Demokratie sprechen. 22 davon      mann Winston Churchill. Aber wo er
                                                           vidueller Ignoranz“.                        zitiert die Schweizer Internetseite     Recht hat, hat er Recht.
                                                                 Was ist also mit der Demokra-         watson.ch („22 böse Zitate über die           Was uns aber vielleicht zuvör-
                                                           tie – damit, dass „das Volk regiert“?       Nachteile der Demokratie“). Diese       derst zu denken geben sollte, fasste
                                                           Es kommt ganz auf die Mehrheit an,          Bemerkungen großer Denker sind          der britische Wissenschaftler Christo-
                                                           möchte man meinen. Aber hat die             nicht von der Hand zu weisen. Und       pher Dawson zusammen: „Der große
                                                           Mehrheit immer recht? Die demokra-          muten teilweise hellsichtig an, wie     Irrtum der modernen Demokratie –
                                                           tisch gewählte Herrschaft der Nati-         z. B.:                                  ein Irrtum sowohl der Kapitalisten
                                                           onalsozialisten hat es gezeigt. Aus              „Wenn die Demokratie sich fort-    als auch der Sozialisten – ist, dass sie
                                                           ihr wurde ganz schnell eine Dikta-          laufend perfektioniert, widerspiegelt   ökonomischen Reichtum als Zweck
                                                           tur. Und insofern ist eine Demokra-         die Präsidentschaft immer exakter       der Gesellschaft und Standard persön-
                                                           tie auch immer in Gefahr, sich selbst       die innere Seele des Volkes. Eines      lichen Glücks akzeptiert.“
                                                           abzuschaffen, wenn die Mehrheiten           großen und glorreichen Tages wird             Es geht also um nichts weniger als
                                                           plötzlich kippen.                           sich der Herzenswunsch der einfa-       eine Bestandsaufnahme unseres Wil-
                                                                 Wie es besser geht, hat noch kei-     chen Leute erfüllen und das Weiße       lens und Wollens. Unseres, des Volkes.
                                                           ner vorgemacht. Dass wir überhaupt          Haus mit einem wahren Idioten                                                   ■

      10                                                                                                                                                      Christen heute
Mitbestimmung
monastisch
Alte katholische Traditionen in der römischen Kirche
Vo n Her m an n J os ef Rot h
                                                                                                                             Dr. Hermann
                                                               der römische Katholiken wegen päpstlicher Festlegung nur

M
                                                                                                                             Josef Roth
          it dem Hauptthema dieses Heftes –                    träumen können, ein ganz anderes Gewicht.                     ist römisch-
          Demokratie – wird, zumindest aus römischer                 Dennoch muss auch hier, ebenso wie das seinerzeit       katholischer
          Sicht, ein besonders brisanter Punkt angespro-       beim Unfehlbarkeitsdogma geschah, die geschichtliche          Theologe und
chen. Er berührt mehr als andere Unterscheidungsmerk-          Entwicklung wissenschaftlich gründlich analysiert werden.     Mitglied des
                                                                                                                             Kuratoriums
male das Selbstverständnis beider Konfessionen. Diese          Schon jetzt scheint sich hier eine Diskrepanz zwischen        Namen-Jesu-
Bewertung sei zunächst kurz begründet.                         Dogma und Historie aufzutun. Dabei denke ich nicht nur        Kirche Bonn
                                                               an die Forschungsergebnisse von Prof. Hubert Wolf, son-
Römisch- und alt-katholisch                                    dern auch an eigene Erkenntnisse aus dem Studium von
     In römisch-katholischer Alltags-Wahrnehmung sind          Geschichte und Kultur des Klosterwesens.
Alt-Katholiken jene, die vor allem die „Unfehlbarkeit“               Das wirklich unterscheidende Kriterium der
des Papstes bezweifeln. Längst taugt diese Feststellung        Römisch-Katholischen Kirche nicht nur zur alt-katholi-
kaum noch als konfessionelles Unterscheidungskriterium.        schen, sondern auch zur Orthodoxie und zu den Kirchen
Nachdem dieser Anspruch wiederholt von Theologen und           der Reformation ist vielmehr die synodale Verfassung. In
Kirchenhistorikern (z. B. Hans Küng, A. B. Hasler) kri-        diesem Punkte allerdings sind Alt-Katholiken historisch
tisch hinterfragt worden ist, mahnte die Jesuitenzeitschrift   verstanden zur „alten“ Ordnung zurückgekehrt. Wäh-
„Stimmen der Zeit“ im Vorjahr offen eine „Revision der         rend die absolut-monarchische Leitungsform, vereinfacht
päpstlichen Unfehlbarkeit“ an.                                 gesagt, vom antiken Imperium Romanum hergeleitet
     Andere Merkmale, die einst unverwechselbar die            ist, wurzelt die synodale sowohl in der Hl. Schrift (vgl.
römische Kirche kennzeichneten, sind von ihr selber auf-       Gal 2,1-10) als auch in Lehre und Praxis der frühen Kirche.
gegeben worden. Die landessprachliche Liturgie ist längst            Nun wird leicht übersehen oder gern vergessen, dass
selbstverständliche Praxis, obwohl ihre Einführung einst in    diese synodale Verfassung auch in der römischen Kirche
vielen Pfarreien gegen emotionale Widerstände durchge-         nie völlig außer Kraft gesetzt worden ist. Im Mönchtum
setzt werden musste.                                           benediktinischer Prägung wird sie satzungsgemäß bis
     Während hier oder bei der „Handkommunion“, der            heute gelebt und sogar kirchenrechtlich anerkannt. Ganz
Berufung von Laien zu „Kommunionhelfern“ oder der              im Gegensatz zur lange geübten römischen Praxis verlei-
Zelebration zur Gemeinde hin nur alt-katholischer Stan-        hen Regel und Statuten auch Nichtklerikern, sofern sie
dard eingeholt worden ist, hat die Frauenordination, von

6 3 . J a h r g a n g + A u g u s t 2 0 1 9 11
feierliche Gelübde abgelegt haben, Sitz und Stimme. Nach-    vielfältige und hierarchisch gegliederte Gesellschaft. Um
      dem infolge von Vaticanum II das Laienbrüderinstitut der     die klerikalen Professmönche als deren Kern gruppierten
      monastischen Gemeinschaften abgeschafft worden ist, das      sich nacheinander „Laienbrüder (Konversen), Oblaten,
      in den Klöstern gleichsam einen Parallelkonvent bildete,     Gäste (Hospites), Beisassen, Knechte (und Mägde), „Sozial­
      sind auch Konversen, die bisherigen „Mönche zweiter          empfänger“ (Bettler u. ä.). Sie alle bildeten die klösterliche
      Klasse“, gleichberechtigt. Damit ist nicht etwa eine Neue-   Familie mit dem Abt an der Spitze. Wissenschaftlich sind
      rung eingeführt worden, sondern eine spätere Entwicklung     diese Verhältnisse vor allem am Beispiel von Kloster Eber-
      widerrufen worden.                                           bach erschöpfend dargestellt worden.
           Es muss nämlich betont werden, dass die Benediktsre-         Das Modelle erinnert an die Großfamilie des antiken
      gel eine solche Einrichtung (Laienbrüder, Konversen) gar     Rom, deren Haupt der Pater Familias bildete. Mit seiner
      nicht kennt. Die Aufwertung des Laienelementes ist ande-     Ehefrau, den Kindern und Verwandten stellte er die durch
      rerseits in der römischen Kirche recht spät in Gang gekom-   Bande des Blutes unlösbar verbundene Familie dar, um
      men. Explizit hat in Deutschland die Würzburger Synode       die sich die Hausgemeinschaft scharte, deren Mitglied in
                                                                                         unterschiedlichen Rechtsverhältnis-
                                                                                         sen zum Hause standen.
                                                                                               Wie hier die Angehörigen des
                                                                                         Familienvaters, so ist im benediktini-
                                                                                         schen Kloster der Konvent Rechts-
                                                                                         und Entscheidungsträger. Allerdings
                                                                                         ist jeder Mönch, der sich unwiderruf-
                                                                                         lich an die Gemeinschaft gebunden
                                                                                         hat, gleichberechtigt. Zwar schuldet
                                                                                         er dem Abt gegenüber Gehorsam,
                                                                                         der aber umgekehrt seinen „Söhnen“
                                                                                         Rechenschaft.
                                                                                               Diese monastische Praxis ging
                                                                                         sehr weit und stand objektiv sogar
                                                                                         im Gegensatz zu den Gepflogenhei-
                                                                                         ten der außerklösterlichen Kirchen.
                                                                                         Die dem Hl. Benedikt zugeschrie-
                                                                                         bene Klosterregel kommt gleich zur
                                                                                         Sache. Der Abt – nach geltendem
                                                                                         Kirchenrecht infulierter Prälat – muss
                                                                                         in wichtigen Angelegenheiten „den
                                                                                         Rat der Brüder anhören“, wobei zur
                                                                                         Beratung „alle gerufen werden“ sol-
                                                                                         len (Cap. 3). Priester haben keinen
                                                                                         Vorrang (Cap. 60). Selbst wenn ein
      (1971-1975) entsprechende Forderungen gestellt, die dann     Fremder „eine verständige Kritik äußert und auf etwas
      auch erfolgreich Beratungsgegenstand im Vaticanum II         aufmerksam macht, soll der Abt klug überlegen, ob ihn der
      (1962-1966) geworden sind. Die Neuorientierung wird mit      Herr nicht gerade deswegen geschickt hat“ (Cap. 61,4).
      theologischen (sakramentale Bedeutung der Taufe!) wie             Innerhalb der Proportionen einer Weltkirche han-
      gesellschaftspolitischen Argumenten begründet.               delt es sich dabei heute um ein Nischendasein, das aller-
                                                                   dings seit dem 6. Jahrhundert funktioniert. Die hier
      Mitsprache für alle                                          verwirklichte Kollegialität reicht tiefer als die Betrieb-
            In seinem Ursprung ist das Benediktinertum Laien-      samkeit der kaum noch überschaubaren und durchschau-
      mönchtum. Nur langsam erfolgte seine Klerikalisierung,       baren Ausschüsse, Beiräte, Direktorien, Kommissionen,
      bis es schließlich durch die priesterliche Würde überhöht    Räte und Vorstände moderner Pfarreien und Diözesen.
      wurde. Im Kloster Benedikts waren Priestermönche die         σύνοδος (synodos) bedeutet Zusammenkunft. Im gegebe-
      Ausnahme. Einen Ehrenplatz im Konvent erlangten sie          nen Zusammenhang kann nach meinem Empfinden nicht
      bestenfalls durch entsprechende Lebensführung, nicht         eine Expertenrunde gemeint sein, auch nicht ein Aufzug
      aber aufgrund ihres Weihestatus, wie man in der Regel-       von Würdenträgern, sondern das Zusammenfinden der
      schrift nachlesen kann.                                      Gemeinde zum Gespräch. Dabei schart sie sich um den
            Gerade ein Klerikerkonvent kam und kommt nicht         Bischof (bzw. Abt) als Orientierungspunkt, denn „wo der
      ohne Unterstützung von Laien aus. Das Mönchskloster          Bischof, da die Kirche“ (Ignatius v. Antiochien).
      stellte im Grunde immer und überall ein „System kon-
      zentrischer Kreise“ dar. Dabei handelt es sich keineswegs    Rolle der Frau
      um ein gedankliches Konstrukt, sondern um die Beschrei-          Hier nun trennen sich die Wege. Die klösterliche
      bung einer historischen Realität. Das mittelalterliche       Gemeinschaft im engeren Sinne wird gebildet von Chris-
      Kloster bildete keinen homogenen Konvent, sondern eine       ten mit dem Charisma der Ehelosigkeit (Mt 19,12) und

12                                                                                                     Christen heute
einem Familienleben anderer Art. Wird vom Bischof                   Hubert Wolf hat „unterdrückte Traditionen der Kir-
erwartet, dass er ein guter Familienvater ist (Titusbrief      chengeschichte“ (2015) aufgedeckt und gezeigt, welche
1,5.9), so gilt dies im übertragenen Sinne auch von Abt oder   rechtliche und liturgische Rolle Klosterfrauen einst erlang-
Äbtissin.                                                      ten. Seine Beispiele ließen sich bis in den sakramentalen
      In diesem Zusammenhang sei kurz auch die Rolle           Bereich erweitern. Vielleicht kann davon später einmal die
der Frau angesprochen. Benedikt und Scholastika stehen         Rede sein, könnte doch auch diese alte katholische Über-
gemeinsam für ein Anliegen. Die Nonnenklöster standen          lieferung – aus meiner Sicht wenigstens – ein Identifikati-
und stehen im alten Mönchtum gleichberechtigt neben            onspunkt für unsere Konfessionen sein.                   ■
denen der Männer. Der Ausdruck Benediktinerinnen
bezeichnet also keinen eigenen „Orden“, sondern Frauen,
die nach der Regel des Hl. Benedikt leben. Innerhalb ihrer
Klöster gelten dieselben Normen wie für die der Männer.
Auch wenn die Konvente gemäß römischer Doktrin auf
männlich-priesterlichen Beistand angewiesen sind, so ist
der Hausgeistliche (Spiritual, Confessarius) der Äbtissin
untergeordnet. Über seine liturgischen Dienste hinaus hat
er keinerlei Befugnisse oder Mitsprachrechte im Haus.
      Auch auf höherer Ebene ist in der monastischen
Welt der Prozess der – vereinfacht ausgedrückt – „Demo-
kratisierung“ längst weiter gediehen und konsequenter
umgesetzt worden als auf Diözesan- und Weltebene. Bis-
her waren Frauenklöster, die in eine Ordensgemeinschaft
integriert waren, unbeschadet ihrer inneren Autonomie in
Fragen des allgemeinen Ordens- und Kirchenrechts an die
Entscheidungen des jeweiligen Generalkapitels gebunden,
das ausschließlich von Äbten oder delegierten Mönchen
besetzt war.
      Inzwischen hat sich auch das geändert. Beispiels-
weise nehmen bei den Zisterziensern seit dem Jahr 2000
die Äbtissinnen gleichberechtigt an den Generalkapiteln
teil. Bei Besuchen in Männerabteien ist es üblich gewor-
den, dass ihnen bei den Stundengebeten im Chorgestühl
ein Platz angeboten wird, der ihrer Würde entspricht. Das
Professalter bestimmt hier die Reihenfolge, nicht klerikaler
Rang oder Geschlecht.

Auszeit                                   schließen
                                          zur Ruhe kommen
                                          die geschenkte Zeit wahrnehmen
Vo n J u tta R esp on dek                 Gedanken kommen und gehen lassen
                                          vergessene Fragen zulassen
anhalten                                  der Sehnsucht nachspüren
innehalten im fraglosen                   Träume zum Leben erwecken
     Funktionieren                        das Herz öffnen
den ewiggleichen Trott unterbrechen       Gottes Liebe atmen
aussteigen aus der täglichen Routine      den Himmel erahnen
abschalten vom Dauerstress                rings um mich her
Bildschirm und Telefon
     hinter mir lassen                    55   Aus: Atempause JR 2016
die müden Augen und Ohren

6 3 . J a h r g a n g + A u g u s t 2 0 1 9 13
Adelshäuser. In der aus diesem Anlass
                                                                                                        gebauten Versöhnungskapelle unweit
                                                                                                        der Burg wurde diese Versöhnung
                                                                                                        besiegelt. Danach wurde gemeinsam
                                                                                                        regiert. (Ludwig bekam dann noch
                                                                                                        irgendwann die Kaiserkrone, aber
                                                                                                        das ist eine andere Geschichte.) Ver-
                                                                                                        söhnung und gemeinsam regieren!
                                                                                                        Toll! Das ist doch im weiteren Sinne
                                                                                                        ein herrliches Bild für die Anfänge
                                                                                                        unseres Europas: gemeinsam ent-
                                                                                                        scheiden und Friede nach Streit und
                                                                                                        Uneinigkeit.

                   Gedanken zur                                                                              Aber hier endet die Reise noch
                                                                                                        nicht. Trausnitz liegt relativ nah
                                                                                                        an der tschechischen Grenze, und

                   Demokratie…                                                                          noch vor 30 Jahren war im Oberpfäl-
                                                                                                        zer Wald der Eiserne Vorhang sehr
                                                                                                        präsent und stark spürbar. Unsere
                                                                                                        Freunde vor Ort haben uns eine Wan-
                                                                                                        derung zum Böhmerwaldturm emp-
                   …oder nur eine Geschichte einer Reise?                                               fohlen. Es war ein traumhaftes Wetter:
                   Von K er st in T eichert-Möller                                                      weiter Blick über tschechische Berge
                                                                                                        bis hin zum Berg Großer Arber. Vor

                   A
                            ls ich das Thema „Demo-         und dass auch ja kein Krümel verloren       30 Jahren musste man dort gut auf-
                            kratie“ gelesen habe, dachte    gehen darf.                                 passen, dass man nicht Grenzverletzer
                            ich an den Spruch: „Das muss         Meine Gedanken gingen danach           wurde. Heute kann man einfach mal
                   Demokratie abkönnen!“ Kennen Sie         über die Liberalität unserer Kirche         rüberspazieren zu unseren europäi-
                   den Spruch? Mein persönliches Man-       und zu anderen Kirchen und Reli-            schen Nachbarn.
                   tra, wenn ich z. B. Zahlen zu Protest-   gionen. Insbesondere, weil unser                 Auf dem weiteren Weg zur
         Kerstin   wahlen lese, Demos von extremer          mittlerer Sohn (8 Jahre) gerade Welt-       Grenze gelangt man zu dem verlasse-
Teichert-Möller    Couleur und Ähnlichem.                   religionen in der Schule hatte und wir      nen Dorf Bügellohe. Trostlos stehen
    ist Mitglied        Aber eigentlich wollte ich von      im Urlaub nochmals darüber gespro-          noch Häuserreste eines Dorfes, das
 der Gemeinde
       Hamburg     meinem Heimaturlaub über Christi         chen haben. Hinduismus und Bud-             hier nach dem 2. Weltkrieg errichtet
                   Himmelfahrt in Bayern erzählen           dhismus sind kulturell etwas fern, aber     wurde. Ein Haus mit Erinnerungsta-
                   (Bayern ist die ursprüngliche Heimat,    Christum, Islam und Judentum haben          feln erinnert an die Zeiten, die unsere
                   Schleswig-Holstein die Wahlheimat).      gemeinsame Wurzeln, und doch sind           (Ur-) Großeltern geprägt haben.
                   Urlaub ist ja was Schönes und passt      sie gegenseitig häufig voller Intoleranz.   Bügellohe wurde von ursprünglich 11
                   zur Jahreszeit. Fahren Sie noch in den   Viele Menschen der unterschiedlichen        aus Tschechien vertriebenen Familien
                   Urlaub oder waren Sie schon? Ach,        Glaubensrichtungen nähern sich der-         aufgebaut. Diese Familien errichteten
                   vielleicht sind Sie eher der Winter-     zeit an und feiern gemeinsam. Aber          Bügellohe zunächst nur als Zwischen-
                   typ oder bevorzugen Balkonien. Aber      Machtbesessene nutzen theologische          station. Ihr Traum war die baldige
                   zurück zu meinem Kurzurlaub mit          Ideologien und legen sie so aus, dass       Rückkehr in die alten Heimatdörfer,
                   meiner Familie und vielleicht auch       Nächstenliebe und Toleranz gegen-           kurz hinter der Grenze. Von Bügel-
                   passend zu dem Thema „Demokratie“.       über Anderen keinen Platz haben.            lohe aus haben sie sogar noch anfangs
                   Aber urteilen Sie selbst.                Letztere, die Toleranz, ist essenziell      ihr Vieh versorgt, das in den Dörfern
                        Anlass der Reise war die Erstkom-   für Demokratie.                             auf der tschechischen Seite zurück-
                   munion meines Neffen, eine klassische         Aber springen wir weiter in mei-       geblieben war. Irgendwann wurden
                   römisch-katholische. Ich war gespannt    ner Reise. Wir waren einquartiert in        aber die Grenzen geschlossen. Die
                   auf die Predigt, insbesondere weil       der Jugendherberge Burg Trausnitz,          Schreie der leidenden Tiere hörten die
                   das Evangelium von der Einladung         nicht die in Landshut, sondern in dem       Bügelloher, konnten aber nicht hel-
                   zur königlichen Hochzeit (Matthäus       Ort Trausnitz. Eine geschichtsträch-        fen, und irgendwann verstummten die
                   22,1-4) handelte. Wie wird der Pfarrer   tige Burg! Nach einem Erbfolgekrieg         Schreie.
                   nun den Bogen von diesem Evange-         zwischen Habsburg und Wittelsbach                Karg und anstrengend war das
                   lium zur Erstkommunion schlagen?         um die Königskrone sperrte Lud-             Leben in Bügellohe. Kein fließendes
                   Nein – er predigte ohne einen Zusam-     wig der Bayer seinen Vetter Friedrich       Wasser. Keine richtige Straße. Peti-
                   menhang zum Evangelium und dies          den Schönen für drei Jahre in den           tionen zum Ausbau der Infrastruk-
                   sehr konservativ. Darüber, wie heilig    Burgturm. (In diesem Turm, nicht            tur bis nach Bügellohe blieben nur
                   die Hostie ist, wie sie gehalten wird    in, sondern unter dem Verlies, näch-        Worte auf Papier. Letztendlich gaben
                                                            tigten wir). 1325 versöhnten sich die       die Bewohner Bügellohe auf und das

     14                                                                                                               Christen heute
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