Primaten Katalog zur Ausstellung - Deutsches Primatenzentrum

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Primaten Katalog zur Ausstellung - Deutsches Primatenzentrum
Primaten
Katalog zur Ausstellung
Primaten Katalog zur Ausstellung - Deutsches Primatenzentrum
Titelbild: Nahaufnahme des Gesichtes eines Anubispavians (Papio anubis),
fotografiert im Lake-Manyara-Nationalpark in Tansania. Von den sechs in
Afrika lebenden Pavianarten hat der Anubispavian die weiteste Verbrei-
tung, er bewohnt die gesamte Sahelzone südlich der Sahara von Maure-
tanien und Mali bis in den Sudan und im Süden bis in die Demokratische
Republik Kongo und Tansania. Wegen seines olivgrünen Fells wird er auch
Grüner Pavian genannt. Foto: Sascha Knauf
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Primaten
             Ausstellung
11. September 2017 bis 28. Februar 2018
                 am
  Deutsches Primatenzentrum
  Leibniz-Institut für Primatenforschung
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Danksagung

An dieser Stelle möchten wir uns bei allen Ideengebern, Unterstützern und tatkräftigen Helfern bedanken, die das Ent-
stehen dieser Ausstellung in den letzten Wochen und Monaten ermöglicht und bereichert haben. Ohne die hilfreichen
Tipps und Ratschläge vieler erfahrender Museumsschaffender, die Leihgaben – seien es Exponate oder Ausstattung – aus
dem Fundus der Sammlungen der Universität und anderer Göttinger Institute sowie die vielen helfenden Hände im DPZ,
hätten wir die Ausstellung nicht in dieser Form realisieren können.

Unser herzlicher Dank richtet sich an:

das Zoologische Museum der Universität Göttingen und das Naturkundemuseum Erfurt für das Restaurieren und zur
Verfügung stellen zahlreicher Primatendermoplastiken

das Zentrum Anatomie der Universitätsmedizin Göttingen für die Leihgaben eines menschlichen Skelettes und mensch-
licher Schädel

die Zentrale Kustodie der Universität Göttingen und das Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin, Göttingen für
das Ausleihen von Tisch- und Standvitrinen

das Zoologische Forschungsmuseum Alexander Koenig, Bonn, das Senckenberg Naturmuseum Frankfurt und das Muse-
um für Naturkunde Berlin für Beratung und viele hilfreiche Tipps

die IUCN SSC Primate Specialist Group für die Einsicht in das unveröffentlichte Manuskript „Primates in Peril – The World’s
25 Most Endangered Primates 2016-2018“

Stephen Nash für das zur Verfügung stellen seiner Illustrationen der meistbedrohten Primatenarten

die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sektion Organismische Primatenbiologie des DPZ für Beratung und zur Verfü-
gung stellen von Materialien

die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Claudia Fichtel, Julia Fischer, Kurt Hammerschmidt, Eckhard W. Heymann,
Peter M. Kappeler, Julia Ostner, Christian Roos, Oliver Schülke und Dietmar Zinner vom DPZ sowie Tobias Deschner vom
MPI für evolutionäre Anthropologie für die wissenschaftliche Beratung bei der Erstellung der Katalogtexte und Exponate
sowie für Ihre Bereitschaft, die Ausstellung mit Vorträgen zu bereichern

die Abteilung Infektionspathologie des DPZ für das zur Verfügung stellen von Primatenskeletten, -schädeln und
-extremitäten

die Stabsstellen Betriebstechnik und IT sowie die Internen Dienste für technische Unterstützung, Hilfe beim Aufbau und
Transport von Exponaten.
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Inhalt
       Primaten – Wir sind viele.................................................................................. 05
1.     Primatenmerkmale............................................................................................ 07
       Wir und die Anderen

2.     Evolution und Diversität der Primaten........................................................... 09
       Makis, Makaken und mehr
       Down to the bone

3.     Bedrohung........................................................................................................... 19
       Primaten in Gefahr

4.     Sozialsysteme..................................................................................................... 23
       Wer mit wem?                                                                                                                03
5.     Regenwaldökologie............................................................................................ 27
       Kleine Affen und große Bäume

6.     Freilandforschung in Thailand.......................................................................... 31
       Gestresste Affenmütter und ihre Kinder

7.     Freilandforschung über Lemuren..................................................................... 35
       Im Reich der Schattengeister

8.     Biodiversität und Artenvielfalt......................................................................... 41
       Das wertvollste Kapital unserer Erde

9.     Kognition............................................................................................................. 45
       Können Affen statistisch denken?

10. Kommunikation.................................................................................................. 49
       Auf der Suche nach der Entstehung der Sprache
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Primaten Katalog zur Ausstellung - Deutsches Primatenzentrum
Primaten – Wir sind viele
Der Mensch ist ein Primat. Ebenso wie das niedliche          te, Dermoplastiken verschiedener Affenarten sowie Bil-
Totenkopfäffchen, der kraftstrotzende Gorilla und der        der und Filme entführen in das Reich der Primaten von
intelligente Schimpanse. Damit sind schon mal die wich-      Südamerika über Afrika und Madagaskar bis nach Thai-
tigsten Klischees bedient. Viel interessanter ist es, sich   land. Wir laden Sie ein, unsere Forscherinnen und For-
die verschiedenen Sozialsysteme dieser heterogenen           scher sowie ihre Studienobjekte kennenzulernen.
Tiergruppe anzuschauen oder herauszufinden, wie sich
die einzelnen Arten im Laufe der Evolution entwickelt        Wir bedanken uns beim Zoologischen Museum und
und an ihre verschiedenen Lebensräume angepasst              der Zentralen Kustodie der Universität Göttingen, beim
haben. Da gibt es die friedlichen Guinea-Paviane im          Zentrum Anatomie der Universitätsmedizin Göttingen,
Senegal, die in mehrschichtigen Gesellschaften leben.        beim Naturkundemuseum Erfurt, beim Max-Planck-Ins-
Und die nur auf Madagaskar vorkommenden Lemuren              titut für Experimentelle Medizin, bei der IUCN Primate
mit ihrer großen Vielfalt an Formen und Lebensweisen.        Specialist Group, bei Stephen Nash und bei den vielen
In Südamerika lässt sich hervorragend beobachten, wie        Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des DPZ für ihre vie-     05
sich Affen und Pflanzen aneinander angepasst haben           len hilfreichen Tipps, Beratung, Kritik, die freundlichen
und zum Funktionieren des Ökosystems Regenwald bei-          Leihgaben und die tatkräftige Unterstützung für unsere
tragen. Welchen Einfluss Stress in der Schwangerschaft       Ausstellung.
auf das Leben von Affenkindern hat, untersuchen Wis-
senschaftlerinnen und Wissenschaftler an Assammaka-          Wir wünschen Ihnen interessante Einsichten während
ken in Thailand. Dies sind nur einige Schlaglichter aus      des Rundgangs durch unsere Ausstellung und freuen
der Forschung an den vier Feldstationen des Deutschen        uns über Ihr Feedback.
Primatenzentrums (DPZ), die in der Ausstellung „Prima-
ten“ aufgegriffen werden.                                    Stabsstelle Kommunikation
                                                             Deutsches Primatenzentrum
Sehen wir einem (Altwelt-)Affen ins Gesicht, so erken-
nen wir einen Verwandten. Dies führt fast zwangsläufig
zu der Frage, wie es geschehen konnte, dass der Mensch
so deutlich höhere geistige Fähigkeiten entwickelt hat
als alle anderen Primaten. Hätte die Evolution auch an-
ders verlaufen können, wie der Film „Planet der Affen“
suggeriert? Und wie steht es mit unserer Verantwortung
vor dem Hintergrund, dass rund 60 Prozent aller Prima-
tenarten vom Aussterben bedroht sind, während wir
Menschen uns rasant bis in die letzten Winkel der Erde
ausbreiten?

In der Ausstellung „Primaten“ wollen wir unsere Faszina-
tion für die Primatenforschung mit den Besucherinnen
und Besuchern teilen und einen Einblick geben in die
Welt unserer nächsten Verwandten. Interaktive Expona-
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     Illustration eines männlichen Borneo Orang-Utans (Pongo pygmaeus).
     Bei diesen ausschließlich baumbewohnenden Menschenaffen sind
     Hände und Füße an das Greifen angepasst. Illustration mit freundlicher
     Genehmigung von © Stephen D. Nash / IUCN SSC Primate Specialist
     Group 2013.
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1. Primatenmerkmale

Wir und die Anderen
Was ist ein Primat?

Exponate: 1.1 Dermoplastik: Borneo Orang-Utan     1.2 Schautafel: Was ist ein Primat?

„Wenn wir nicht absichtlich unsere Augen schließen, so         nannte Papillarleisten, an ihren Innenseiten sowie meis-
können wir nach unseren jetzigen Kenntnissen annä-             tens flache Nägel. Mit Ausnahme des Menschen können
hernd unsere Abstammung erkennen und dürfen uns                alle Primaten ihre Großzehe opponieren, das heißt den
derselben nicht schämen“, schrieb Charles Darwin 1871          anderen Zehen gegenüberstellen. Insgesamt scheint es
in „Die Abstammung des Menschen und die geschlecht-            eine Tendenz zu einer aufrechteren Körperhaltung zu ge-
liche Zuchtwahl“ und löste damit einen Aufschrei aus.          ben. Auf den ersten Blick weniger offensichtlich sind die
Sollen wir etwa vom Affen abstammen? Dabei war diese           Reduktion der Anzahl der Zähne auf maximal 36 und die
Ähnlichkeit zwischen dem Menschen und den Affen be-            geringe Spezialisierung der Backenzähne. Das Gehirn der
reits gut 100 Jahre zuvor Carl Linnaeus aufgefallen, der       Primaten ist relativ groß und die Dichte von Nervenzellen
1758 in der berühmten zehnten Auflage seiner „Systema          in der Hirnrinde ist höher als bei anderen Säugetieren,
Naturae“ den Menschen zu den Primaten gesellte. Wäh-           was in Zusammenhang mit der visuellen Spezialisierung        07
rend Linnaeus jedoch noch von einer Schöpfung der Ar-          diskutiert wird (Barton 2006).
ten ausging, war Darwin von einem gemeinsamen Vor-
fahren aller heute lebenden Primaten, einschließlich des       Auch in ihrer Lebensgeschichte unterscheiden sich Pri-
Menschen, überzeugt.                                           maten von den meisten anderen Säugetieren. Die einzel-
                                                               nen Lebensabschnitte sind deutlich verlängert: Auf eine
Brauchen wir also nur unsere eigenen Merkmale anzu-            lange Tragzeit folgt ein langsames Wachstum der Jung-
schauen und erkennen bei Übereinstimmung sofort alle           tiere und eine späte Geschlechtsreife. Insgesamt werden
anderen Primaten? So einfach ist es nicht. Schaut man          wenige Jungtiere geboren, in die dann aber viel investiert
sich die gemeinsamen Merkmale der Primaten an, so              wird. Alle Primaten, mit Ausnahme des Menschen, sind
sind viele von ihnen ursprüngliche Säugetiermerkmale,          Bewohner der Tropen und Subtropen und die meisten le-
die auch in anderen Säugetierordnungen auftreten, wie          ben in Gruppen (Geissmann 2003).
zum Beispiel die Fünfgliedrigkeit der Hände und Füße.
Nur eine sogenannte Synapomorphie – ein abgeleite-             Literatur
tes Merkmal, das bei einem gemeinsamen Vorfahren               Barton RA (2006): Primate brain evolution: integrating
entstanden sein muss und bei anderen Gruppen nicht                comparative, neurophysiological, and ethological
auftritt – lässt eine eindeutige Identifizierung zu. So ein       data. Evolutionary Anthropology 15: 224-236.
eindeutiges Merkmal gibt es bei den Primaten nicht.            Martin RD (1990): Primate Origins and Evolution – A Phy-
Deshalb wird in der Regel eine Kombination von Merk-              logenetic Reconstruction. London, Chapman and Hall.
malen herangezogen, die eine Eingrenzung der Ordnung           Geissmann T (2003): Vergleichende Primatologie. Berlin,
ermöglicht (Martin 1990).                                         Springer Verlag.

Auffällig ist die Betonung des Gesichtssinnes. Die Augen
sind nach vorn gerichtet, was ein dreidimensionales Se-
hen ermöglicht. Der Geruchssinn ist demgegenüber bei
den meisten Arten eher reduziert. Die Hände und Füße
sind an das Greifen angepasst und haben Tastfelder, soge-

                                                                                                       Primatenmerkmale
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Lemuren          Loriartige       Koboldmakis      Neuweltaffen      Schlank- und Backentaschenaffen  Gibbons           Menschenaffen
      (Lemuriformes)    (Lorisiformes)     (Tarsiiformes)    (Platyrrhini)    Stummelaffen (Cercopithecinae) (Hylobatidae)        (Hominidae)
         106 Arten         35 Arten           11 Arten        175 Arten        (Colobinae)      82 Arten       20 Arten             7 Arten
                                                                                 78 Arten

                                                                                                                          20 Mio Jahre
                                                                                       23 Mio Jahre

                                                                              Geschwänzte Altweltaffen                Menschenartige
                                                                                 (Cercopithecoidea)                    (Hominoidea)

                                                                                                       32 Mio Jahre
08
                                                                                                      Altweltaffen
                                                                                                      (Catarrhini)

                                                                                  46 Mio Jahre

               57 Mio Jahre                                                        Affen
                                                                               (Anthropoidea)

                                                               64 Mio Jahre

        Feuchtnasenprimaten                             Trockennasenprimaten
            (Strepsirrhini)                                  (Haplorrhini)

                                         68 Mio Jahre

     Riesengleiter                        Primaten
     (Dermoptera)                        (Primates)
                       86 Mio Jahre                         Der Stammbaum der Primaten stellt die verwandtschaftlichen Beziehungen
                                                            zwischen den heute lebenden Primatengruppen und dem zeitlichen Ablauf ihrer
                                                            Evolution dar. Daten nach Finstermeier et al. 2013.
                                                            Layout: Luzie J. Almenräder, Illustrationen mit freundlicher Genehmigung von ©
                                                            Stephen D. Nash / IUCN SSC Primate Specialist Group 2013.
2. Evolution und Diversität der Primaten

Makis, Makaken und mehr
Die Vielfalt der Primaten und wie sie entstand

Exponate: 2.1 Wandinstallation: Stammbaum der Primaten     2.2 Dermoplastiken: Vielfalt der Primatenarten     2.3 Schat-
tenrisse: Größenunterschiede – vom Mausmaki bis zum Gorilla     2.4 Interaktive Schautafel: Stammbaumquiz

Betrachtet man die heute lebenden Arten der Ordnung            springend fortbewegen, sind bei den langsamen Loris
der Primaten, stößt man auf eine erstaunliche Vielfalt         der Daumen und die Großzehe verstärkt und der zweite
in Größe, Aussehen und Spezialisierungen, so dass es           Finger beziehungsweise Zeh extrem reduziert, was ihnen
manchmal unglaublich scheint, dass sie alle von einem          den Namen „Greifzangen-Kletterer“ einbrachte.
gemeinsamen Vorfahren abstammen. Dieser gemeinsa-
me Vorfahre entstand, als sich die sogenannten Prima-          Den Feuchtnasenprimaten gegenüber stehen die Tro-
tomorpha in den Vorfahren der heutigen Riesengleiter           ckennasenprimaten, die sich vor rund 64 Millionen Jah-
(Dermoptera) und den ersten Primaten aufspalteten              ren in Koboldmakis (Tarsiiformes) und eigentliche Affen
und lebte vor ungefähr 80 Millionen Jahren. Die nächs-         (Anthropoidea) aufgespalten haben. Die Familie der klei-
ten Verwandten der Primaten sind also nicht, wie lange         nen nachtaktiven Koboldmakis mit den großen Augen              09
geglaubt, die Spitzhörnchen (Scandentia), sondern kat-         lebt mit elf Arten in Südostasien. Vor rund 46 Millionen
zengroße Säugetiere, deren Besonderheit eine Flughaut          Jahren erfolgte die Aufspaltung der Affen in Neuwelt-
ist, die alle Extremitäten und den Schwanz umspannt            (Platyrrhini) und Altweltaffen (Catarrhini), die, wie ihre
und mit deren Hilfe die Tiere von Baum zu Baum gleiten         Namen besagen, ausschließlich in Süd- und Mittelame-
können (Mason et al. 2016). Während die Ordnung der            rika beziehungsweise in Afrika und Asien beheimatet
Riesengleiter heute nur noch zwei in Südostasien leben-        sind. Ein deutliches Unterscheidungsmerkmal von Neu-
de Arten umfasst, werden bei den Primaten aktuell 514          welt- und Altweltaffen ist die Form der Nase. Während
Arten in 16 Familien unterschieden. Die Zahl der Arten ist     bei den Neuweltaffen die Nasenscheidewand breit ist
in den vergangenen 20 Jahren durch die neuen Möglich-          und die runden Nasenlöcher nach außen zeigen, weshalb
keiten der Artunterscheidung mit genetischen Metho-            sie auch Breitnasenaffen genannt werden, ist die Nasen-
den rasant gestiegen.                                          scheidewand bei den Altweltaffen schmal und die eng
                                                               beieinanderstehenden Nasenlöcher zeigen nach vorn be-
Die Diversifizierung der Primaten begann vor ungefähr          ziehungsweise nach unten.
68 Millionen Jahren mit der Aufspaltung in Feuchtna-
senprimaten (Strepsirrhini) und Trockennasenprimaten           Neuweltaffen umfassen 175 Arten in fünf Familien, die
(Haplorrhini) (Finstermeier et al. 2013), gut erkennbar        zum Teil besondere Spezialisierungen aufweisen. Bei den
an ihrem feuchten unbehaarten Nasenspiegel bezie-              Krallenaffen (Callitrichidae) sind die Nägel, mit Ausnah-
hungsweise ihrer trockenen behaarten Nase. Bei den             me der Großzehe, zu Krallen umgeformt, was den klei-
Feuchtnasenprimaten unterscheidet man heute zwei               nen Tieren das Klettern an senkrechten Baumstämmen
Gruppen, die Lemuren (Lemuriformes) und die Loriarti-          ermöglicht. Bei den Klammerschwanzaffen (Atelidae) ist
gen (Lorisiformes). Die Lemuren leben ausschließlich auf       der hintere untere Teil des Schwanzes haarlos und mit
Madagaskar und den Komoren und umfassen fünf Fami-             Tastfeldern versehen, dient als Greifschwanz und wird
lien mit 106 Arten, zu denen die kleinsten Primaten der        oft als die Fünfte Hand bezeichnet.
Welt, die Mausmakis, gehören. Zu den Loriartigen gehö-
ren die Familien der Loris und der Galagos. Während sich       Die Altweltaffen spalteten sich vor ungefähr 32 Milli-
die afrikanischen Galagos mit ihren langen Hinterbeinen        onen Jahren in die Geschwänzten Altweltaffen (Cerco-

                                                                                      Evolution und Diversität der Primaten
10

     Der Japan-Makak (Macaca fuscata) gehört zu den Backentaschenaffen. Einige Vertreter dieser Art haben es sich angewöhnt, im Winter in
     heißen Quellen zu baden. Foto: Sebastian Lehmann

     pithecoidea) und die Menschenartigen (Hominoidea).                   Bei den Menschenartigen unterscheidet man die soge-
     Die Meerkatzenverwandten (Cercopithecidae) sind die                  nannten Kleinen Menschenaffen, die Gibbons (Hylobati-
     einzige Familie der Geschwänzten Altweltaffen, die                   dae), von den Großen Menschenaffen (Hominidae). Die
     mit 160 Arten die artenreichste innerhalb der Primaten               beiden Familien haben sich vor ungefähr 20 Millionen
     darstellt. Man unterscheidet zwei große Unterfamili-                 Jahren voneinander getrennt. Gibbons sind Baumbe-
     en, die Schlank- und Stummelaffen (Colobinae) und die                wohner und leben in kleinen Familiengemeinschaften in
     Backentaschenaffen (Cercopithecinae). Schlank- und                   den Regenwäldern Südostasiens. Wie alle Menschenaf-
     Stummelaffen kommen sowohl in Afrika als auch in                     fen haben sie keinen Schwanz. Es gibt 20 verschiedene
     Südostasien vor und haben sich mehr oder weniger auf                 Gibbonarten. Zu den Großen Menschenaffen gehören
     die Ernährung mit Blättern spezialisiert. Dafür haben                zwei Orang-Utan-Arten, zwei Gorilla- und zwei Schim-
     sie einen mehrteiligen Magen mit Cellulose-abbauen-                  pansenarten sowie die einzige heute noch lebende Men-
     den Bakterien, ähnlich wie die Wiederkäuer. Die Backen-              schenart Homo sapiens. Während sich die Orang-Utans
     taschenaffen dagegen sind Allesfresser, die ähnlich wie              und die Gorillas bereits vor 15 beziehungsweise acht Mil-
     ein Hamster ihre Nahrung in Backentaschen verstauen                  lionen Jahren von den übrigen Menschenaffen trennten,
     können. Zu ihnen gehören die bekanntesten Primaten-                  lebte der letzte gemeinsame Vorfahre von Mensch und
     arten, wie Paviane, Rhesusaffen oder die buntgesichti-               Schimpansen bis vor ungefähr sechs Millionen Jahren
     gen Mandrills.                                                       (Mittermeier et al. 2013).
Stammt der Mensch vom Affen ab?                                        jedem Fall die Bezeichnung „Primat“. In der deutschspra-
                                                                       chigen Wissenschaft bezeichnet man die Anthropoidea,
Es steht wohl heutzutage außer Frage, dass der Mensch,                 jene Gruppe, die sich nach Aufspaltung der Trocken-
wie alle anderen Lebewesen auch, ein Produkt der Evo-                  nasenprimaten von den Koboldmakis getrennt hat, als
lution ist und dass es einen gemeinsamen Vorfahren                     „eigentliche Affen“, in neuerer Literatur auch nur noch
aller heute lebenden Primaten, einschließlich des Men-                 als „Affen“. Diese beinhaltet alle Familien der Neuwelt-
schen, gegeben hat. Das Problem scheint daher eher                     und Altweltaffen, einschließlich Menschenaffen - und
ein semantisches zu sein: Wie bezeichnen wir unsere                    damit den Menschen. Wenn man also bereits diesen ers-
gemeinsamen Vorfahren? Wissenschaftlich korrekt ist in                 ten Anthropoiden, der vor 64 Millionen Jahren lebte, als
                                                                                           Affen bezeichnet, muss man folge-
                                                                                           richtig davon ausgehen, dass unsere
                                                                                           Vorfahren der letzten 64 Millionen
                                                                                           Jahre Affen waren. Es bleibt also nur
                                                                                           eine einzige logische Antwort auf die
                                                                                           Frage: Der Mensch stammt nicht nur
                                                                                           vom Affen ab, er ist auch einer.

                                                                                          Literatur
                                                                                          Mason VC, Li G, Minx P, Schmitz J,          11
                                                                                             Churakov G, Doronina L, Melin AD,
                                                                                             Dominy NJ, Lim NT-L, Springer MS,
                                                                                             Wilson RK, Warren WC, Helgen
                                                                                             KM, Murphy WJ (2016): Genomic
                                                                                             analysis reveals hidden biodiversi-
                                                                                             ty within colugos, the sister group
                                                                                             of primates. Science Advances 2:
                                                                                             e1600633.
                                                                                          Finstermeier K, Zinner D, Brameier
                                                                                             M, Meyer M, Kreuz E, Hofreiter M,
                                                                                             Roos C (2013): A mitogenomic phy-
                                                                                             logeny of living primates. PLoS One
                                                                                             8(7): e69504.
                                                                                          Mittermeier RA, Ryland AB, Wilson DE
                                                                                             (2013): Handbook of the Mammals
                                                                                             of the World. Vol. 3. Primates. Bar-
                                                                                             celona, Lynx Edicions.

Der Sansibar-Stummelaffe (Piliocolobus kirkii) ist ein Vertreter der Schlank- und Stum-
melaffen. Foto: Olivier Lejade, France (P8200013.JPG) [CC BY-SA 2.0 (creativecommons.
org/licenses/by-sa/2.0)], Wikimedia Commons

                                                                                              Evolution und Diversität der Primaten
12

     Die Abbildung zeigt Schädel verschiedener weiblicher Primaten. Von links nach
     rechts: Mensch (Homo sapiens), Schimpanse (Pan troglodytes), Javaneraffe
     (Macaca fascicularis), Gehaubter Kapuzineraffe (Sapajus apella), Katta (Lemur
     catta), Grauer Mausmaki (Microcebus murinus).
     Präparationen der Affenschädel: Wolfgang Henkel, Foto: Karin Tilch
2. Evolution und Diversität der Primaten

Down to the bone
Die Evolution steckt in unseren Knochen

Exponate: 2.5 Skelette: Weißbüschelaffe, Mantelpavian und Mensch     2.6 Schautafeln: Anpassungen der Primaten-
skelette an die Fortbewegung     2.7 Tischvitrine: Schädel, Extremitäten und Schwänze verschiedener Primatenarten     2.8
Schautafel: Merkmale der Hände, Füße und Schädel     2.9 Dermoplastik: Hand eines Gorillas

Ob Lemuren im Trockenwald von Madagaskar, Paviane               Klettern und Springen, Schwinghangeln und zweibeini-
in den Savannengebieten Afrikas oder Orang-Utans im             ges Laufen. Innerhalb dieser Haupttypen haben sich zum
feuchten Regenwald von Indonesien – Primaten haben              Teil mehrere Unterkategorien und zahlreiche Variationen
sich im Laufe der Evolution an verschiedene Lebensräu-          zwischen den verschiedenen Primatenarten entwickelt.
me angepasst. Dabei zeigen sie eine große Vielfalt an           Auch können die einzelnen Primatenarten nicht strikt
unterschiedlichen Lebensweisen, die sich zum Beispiel           den vier Fortbewegungsarten zugeordnet werden. Denn
in Fortbewegungsarten, Aktivitätszeiten, Nahrungsbe-            bis auf den Menschen, der ausschließlich auf zwei Bei-
schaffung, Sozialleben oder der Kommunikation ma-               nen geht, sind Primaten sehr flexibel in ihrer Fortbewe-
nifestieren. Die evolutionäre Anpassung eines Tieres            gungsweise. Ein Schimpanse zum Beispiel läuft je nach          13
an seinen Lebensraum durch Ausprägung bestimmter                Umgebung auf vier Beinen, klettert auf Bäume, schwingt
Merkmale wird als Adaptation bezeichnet. Diese Merk-            von Ast zu Ast und kann auch zeitweise auf zwei Beinen
male verschaffen Lebewesen gegenüber anderen einen              unterwegs sein. Südamerikanische Klammer- oder Spin-
evolutionären Vorteil (Vermeij 1978).                           nenaffen laufen agil auf allen Vieren in den Bäumen, han-
                                                                geln sich aber auch geschickt von Ast zu Ast und nehmen
Die Vielfalt der heute lebenden Primaten ist das Ergeb-         dabei ihren Greifschwanz als fünftes Gliedmaß zu Hilfe.
nis einer sogenannten adaptiven Radiation. Es bedeutet,         Trotz dieser fließenden Übergänge sind Tendenzen zur
dass aus einer weniger spezialisierten Art (Urprimat)           bevorzugten Fortbewegung bei den einzelnen Arten er-
durch Ausbildung spezifischer Anpassungen an vorhan-            kennbar, deren Anpassung sich im Körperbau zeigt. Die
dene Umweltverhältnisse viele stärker spezialisierte Ar-        Unterschiede zwischen den vier Hauptfortbewegungs-
ten entstehen. Die Primaten sind somit eine Gruppe eng          arten werden im Wesentlichen davon bestimmt, in wel-
verwandter Tiere, die unterschiedliche Merkmale in Kör-         chem Maße die Arme oder Beine zum Klettern, Springen,
perbau oder Verhaltensweisen entwickelt haben, um ver-          Laufen oder Hangeln eingesetzt werden.
schiedene Lebensräume nutzen zu können. Einige dieser
Anpassungen können unter anderem sehr gut im Aufbau             Primatenarten, die überwiegend klettern und von Ast zu
des Skeletts, speziell der Extremitäten, beobachtet wer-        Ast springen, haben kräftigere und längere hintere Glied-
den.                                                            maßen ausgebildet. Galagos, Koboldmakis oder Lemuren
                                                                wie Indris oder Wieselmakis haben sich so sehr gut an
Laufen, Springen, Hangeln – das Primatenskelett                 ihre Lebensweise in den Bäumen angepasst. Auch beim
                                                                Menschen, der als einzige Primatenart ausschließlich auf
Bezogen auf Spezialisierungen im Körperbau sind Prima-          zwei Beinen unterwegs ist, sind die unteren Gliedmaßen
ten eine eher homogene Gruppe. Unterschiede zeigen              stärker ausgebildet. Arten, die dagegen eher auf allen
sich jedoch besonders im Aufbau der Arme und Beine in           Vieren laufen, haben nahezu gleich lange Vorder- und
Abhängigkeit von der Fortbewegungsweise. Bei Primaten           Hinterextremitäten. Allerdings gibt es auch hier zum Teil
können vereinfacht vier Hauptarten der Fortbewegung             Unterschiede in der Dominanz der Hinterbeine. Languren
unterschieden werden: vierbeiniges Laufen, senkrechtes          oder Stummelaffen beispielsweise bewegen sich vier-

                                                                                       Evolution und Diversität der Primaten
zeichnet wird. Besonders geschickt sind da-
                                                                                      bei die Orang-Utans (Martin 1990).

                                                                                         Neben der Länge der vorderen Extremi-
                                                                                         täten zeigen auch die Beweglichkeit des
                                                                                         Schultergelenks und die Formen der Hän-
                                                                                         de eine Anpassung an das Hangeln unter
                                                                                         dem Ast. Affenarten, die sich vornehmlich
                                                                                         auf allen Vieren fortbewegen, können ihre
                                                                                         Vorderextremitäten nur in begrenztem
                                                                                         Maße seitlich abspreizen. Der ovale Ge-
                                                                                         lenkkopf des Schultergelenks lässt haupt-
                                                                                         sächlich eine Vor- und Zurückbewegung
                                                                                         zu. Die Hangler besitzen dagegen einen
                                                                                         Kugelgelenkkopf im Schultergelenk, der
                                                                                         eine dreidimensionale Schulterbeweg-
     Gipsabdruck vom rechten Fuß eines weiblichen Westlichen Gorillas (Gorilla
                                                                                         lichkeit ermöglicht (Eimerl und De Vore
     gorilla). Die Großzehe ist abgespreizt und opponierbar, was eine Greifbewegung
     ermöglicht. Abdruck: Werner Beckmann, Foto: Karin Tilch                             1977). Auch die Handform gibt Aufschluss
14                                                                                       über die Fortbewegungsweise. Hangelnde
                                                                                         Affenarten krümmen ihre letzten Finger-
     beinig fort, springen aber auch häufig und haben einen                glieder ohne Benutzung des Daumens um den Ast. Sie
     „galoppierenden Gang“ entwickelt, was ihnen kräftigere                bilden also mit der Hand sozusagen einen „Haken“ und
     Hinterbeine eingebracht hat. Bei Läufern, die sich über-              greifen nicht um den Ast. Ihr Daumen sitzt daher tief
     wiegend am Boden aufhalten, unterscheidet man zwi-                    in der Nähe des Handgelenks am schmalen Handteller
     schen Arten, die die gesamte Hand aufsetzen, wie zum                  oder ist stark reduziert, wie bei den Klammeraffen. Alle
     Beispiel Paviane, Mandrills oder Makaken, und Arten, die              vierbeinig laufenden Affenarten besitzen dagegen ei-
     auf den Fingerknöcheln laufen, wie Gorillas oder Schim-               nen relativ breiten Handteller mit kurzen Fingern und
     pansen. Die baumlebenden Läufer sind eine sehr hetero-                hohem Daumenansatz (Kuhn 1988).
     gene Gruppe, zu der diverse Vertreter von Lemuren, Loris,
     Altwelt- und Neuweltaffen gehören (Martin 1990, Napier                Mit Kraft und Präzision – Hände und Füße
     und Groves 2017).
                                                                           Alle Primatenarten haben gut ausgebildete Hände, die
     Die Menschenaffen haben aufgrund ihres zunehmenden                    zum Greifen geeignet sind. Das befähigt sie dazu, Dinge
     Gewichtes das Hangeln als Fortbewegungsweise unter                    wie mit einer Zange gut festzuhalten und bringt ihnen
     dem Ast entwickelt (Napier und Napier 1985). Besonders                entscheidende Vorteile bei der täglichen Nahrungsbe-
     die Gibbons haben diese Art der Fortbewegung perfekti-                schaffung und der Fortbewegung. Primaten können gut
     oniert, die als Schwinghangeln oder Brachiation bezeich-              klettern, weil sie sich auch in den höchsten Baumwip-
     net wird. Dabei schwingen sie nur unter Einsatz ihrer                 feln sicher festhalten. Sie können Blätter und Früchte
     vorderen Gliedmaßen, abwechselnd von Ast zu Ast grei-                 pflücken, Nüsse knacken und Werkzeuge benutzen. Der
     fend, durch die Bäume. Ihre Arme sind dafür besonders                 Schlüssel zum Erfolg liegt in der sogenannten Opponier-
     lang und kräftig ausgebildet. Auch alle anderen Men-                  barkeit des Daumens. Es bedeutet, dass dieser den ande-
     schenaffenarten können sich hangelnd fortbewegen. Sie                 ren Fingern gegenübergestellt werden kann. Ermöglicht
     nehmen dabei aber auch oft ihre hinteren Gliedmaßen                   wird diese Beweglichkeit durch ein Sattelgelenk an der
     zu Hilfe, was als vierbeiniges Hangeln oder Klettern be-              Basis des Daumens – ein Gelenk, das wie zwei aufeinan-
der gestülpte Sättel aussieht und eine Bewegung in zwei   Diese eingeschränkte Beweglichkeit der Finger hat Aus-
Ebenen zulässt.                                           wirkungen auf die Feinmotorik der Hand. Altweltaffen
                                                          sind in der Lage, sowohl mit der ganzen Hand zu greifen
Bei den Altweltaffen, zu denen auch Menschenaffen         (Kraftgriff) als auch mit einzelnen Fingern (Präzisions-
inklusive Mennsch gehören, ist die Opponierbarkeit        griff), was ihnen Feinmanipulationen an Gegenständen
des Daumens besonders weit entwickelt. Lemuren,           von höchster Genauigkeit erlaubt. Alle anderen Prima-
Galagos, Loris, Koboldmakis und auch Neuweltaffen         tenarten sind aufgrund der Anatomie ihrer Hände nur
haben kein Sattelgelenk, sondern ein Scharniergelenk      in der Lage, den Kraftgriff auszuführen (Napier und
am Daumen ausgebildet. Der Daumen ist von der üb-         Groves 2017).
rigen Hand abgespreizt und kann nur seitlich zur Hand
bewegt, jedoch nicht vollständig opponiert werden.        Neben den Greifhänden besitzen alle Primatenarten
Diese begrenzte Rotationsfähigkeit des Daumens            auch Greiffüße. Im Laufe der Evolution hat nur der
wird als Pseudo-Opponierbarkeit bezeichnet. Auch          Mensch die Fähigkeit zum Greifen mit dem Fuß verlo-
die Einzelfingerbeweglichkeit ist bei den Altweltaffen    ren. Alle anderen Primaten besitzen eine opponierbare
höher entwickelt als bei den anderen Primatenarten.       Großzehe, die den anderen Zehen gegenübergestellt
Während diese jeden Finger einzeln bewegen können         werden kann und das Klettern und Festhalten von Nah-
(Einzelfingerkontrolle), sind Lemuren, Loris, Galagos,    rung erleichtert. Der menschliche Fuß funktioniert da-
Koboldmakis und Neuweltaffen nicht in der Lage, die       gegen mit seinen kurzen Zehengliedern und dem nicht
Finger unabhängig voneinander zu bewegen. Beim Er-        opponierbaren Großzeh wie ein steifer Hebel und ist           15
greifen von Gegenständen nehmen sie die ganze Hand        sehr gut für das Zurücklegen langer Distanzen in fla-
und krümmen alle Finger gleichzeitig (Ganzhandkon-        chem Gelände geeignet.
trolle) (Martin 1990).

                                                                           Hand eines männlichen jungen Sumatra
                                                                           Orang-Utans (Pongo abelii). Der Daumen
                                                                           ist opponierbar und in Anpassung an eine
                                                                           vornehmlich hangelnde Fortbewegung
                                                                           gegenüber den anderen Fingern verkürzt.
                                                                           Präparation: Wolfgang Henkel, Foto: Karin
                                                                           Tilch

                                                                                Evolution und Diversität der Primaten
Primatenschädel und Sinne

     Der Schädel der Primaten beherbergt wie bei allen ande-
     ren Säugetieren das Gehirn, die speziellen Sinnesorgane
     Augen, Ohren und Nase sowie den Kauapparat. Grob kann
     der Schädel in einen hinteren Gehirnschädel und einen
     vorderen Gesichtsschädel unterteilt werden. Obwohl der
     Aufbau bei allen Primaten ungefähr gleich ist, können die
     Schädel verschiedener Primatenarten unterschiedliche
     Erscheinungsformen haben – abhängig von der Größe
     und den zahlreichen Funktionen und Anpassungen.
                                                                   Schädel eines männlichen Kattas (Lemur catta). Der Gesichts-
     Die Größe des Schädels wird im Wesentlichen von der           schädel ist dem Gehirnschädel vorgelagert. Die Augen sind
     Größe des Gehirns bestimmt. Primaten haben im Ver-            schräg nach vorn gerichtet und von knöchernen Postorbitalbö-
     gleich zu anderen Säugern verhältnismäßig große Ge-           gen umgeben, die nach hinten offen sind. Präparation: Wolfgang
     hirne. Innerhalb des Stammbaums der Primaten steigen          Henkel, Foto: Karin Tilch
     Größe und Gewicht der Gehirne im Verhältnis zur Kör-
     pergröße an. Während das Gehirn eines Mausmakis auf           cortex genannt. Sie umfasst den größten Teil des Gehirns
16   Madagaskar nur rund 1,7 Gramm und das eines Kattas            und ist unter anderem für die Verarbeitung von sensori-
     ungefähr 23 Gramm wiegt (MacLean et al. 2009), bringen        schen Signalen aus unserer Umwelt zuständig. Während
     Makaken-Gehirne schon rund 100 Gramm auf die Waa-             bei den meisten Säugetieren der Geruchssinn eine über-
     ge. Die Gehirne von Menschenaffen, wie Schimpanse und         geordnete Rolle spielt, hat er sich bei den Primaten im
     Orang-Utan, wiegen ungefähr 300 bis 500 Gramm. Das            Laufe der Evolution zurückgebildet. Lemuren, die in der
     größte Denkorgan besitzt der Mensch mit durchschnitt-         Nacht aktiv sind, besitzen noch einen gut entwickelten
     lich 1300 Gramm (Bradbury 2005). Dementsprechend              Geruchssinn und setzen ihn beispielsweise bei der Prü-
     haben Menschenaffen und Menschen auch die größten             fung von Nahrung oder Kontakt mit Artgenossen ein.
     Gehirnschädel entwickelt.                                     Tagaktive Altwelt- und Menschenaffen orientieren sich
                                                                   dagegen eher über ihren gut entwickelten visuellen Sinn.
     Der Teil des Gehirns, der sich bei Primaten signifikant       Die Entwicklung eines ausgeprägten visuellen Systems
     weiterentwickelt hat, ist die Großhirnrinde, auch Neo-        führte zur Erweiterung und Differenzierung des Neocor-
                                                                   tex (Napier und Groves 2017).

                                                                   Die Schwerpunktverlagerung in Entwicklung und Ein-
                                                                   satz der Sinnesorgane lässt sich auch an der Schädel-
                                                                   form erkennen. Lemuren, wie Kattas oder Varis, besit-
                                                                   zen eine hundeartige Schnauze und eine flache Stirn.
                                                                   Ihr Gesichtsschädel befindet sich vor dem Gehirnschä-
                                                                   del. Bei den anderen Primaten führte die Reduktion des
                                                                   Geruchssinns auch zur Rückentwicklung der knöchernen
                                                                   Bestandteile der Nase. Daher liegt der Gesichtsschädel
                                                                   unter dem Gehirnschädel. Eine Ausnahme bilden Alt-
                                                                   weltaffen wie Paviane oder Mandrills. Bei ihnen sind die
     Schädel eines nachtaktiven Westlichen Fettschwanzmakis        Kieferknochen stark ausgebildet und bilden eine lang
     (Cheirogalaeus medius) mit großen Augenhöhlen. Präparation:   gezogene Schnauze. Der Gesichtsschädel liegt aber auch
     Wolfgang Henkel, Foto: Karin Tilch                            bei ihnen unter dem stark aufgewölbten Gehirnschädel.
MacLean EL, Barrickman NL, Johnson EM, Wall CE (2009):
                                                                      Sociality, ecology and relative brain size in lemurs.
                                                                      Journal of Human Evolution 56: 471-478.
                                                                   Martin RD (1990): Primate Origins and Evolution: A Phy-
                                                                      logenetic Reconstruction. London, Chapman and Hall.
                                                                   Napier JR, Napier PH (1985): The Natural History of Prima-
                                                                      tes. London, The British Museum.
                                                                   Napier JR, Groves CP (2017): Primate. Encyclopedia Bri-
                                                                      tannica Online. Encyclopedia Britannica Inc.
                                                                   Vermeij GJ (1978): Biogeography and Adaptation: Pat-
                                                                      terns of Marine Life. Cambridge, Massachusetts, Har-
Schädel eines weiblichen Schimpansen (Pan troglodytes). Die           vard University Press.
Augen sind nach vorn gerichtet. Der Gesichtsschädel liegt un-
ter dem Gehirnschädel. Die Augenhöhlen sind durch eine knö-
cherne Scheidewand verschlossen, so dass die Augen in einem
„Becher“ liegen. Präparation: Wolfgang Henkel, Foto: Karin Tilch

Die Größe der Augenhöhlen im Schädel hängt unmittel-
bar mit der Größe der Augen zusammen. Große Augen-                                                                                17
höhlen weisen deshalb eher auf Nachtaktivität hin und
sind beispielsweise bei Mausmakis, Galagos oder Kobold-
makis zu beobachten. Im Gegensatz zu vielen anderen
Säugern sind die Augenhöhlen bei Primaten seitlich von
einem knöchernen Ring (engl.: postorbital bar) begrenzt.
Bei Lemuren ist die Augenhöhle nach hinten offen. Bei hö-
heren Primaten sind die Augenhöhlen hinten durch eine
knöcherne Scheidewand verschlossen, so dass die Augen
wie in einem Becher liegen (engl.: postorbital closure).
Auch die Augenposition ist bei Lemuren eher schräg nach
vorn ausgerichtet, während alle anderen Primatenarten
eine frontale Augenstellung haben. Die nach vorn gerich-
teten Augen verkleinern zwar das Sichtfeld, ermöglichen
aber ein hochentwickeltes räumliches Sehvermögen, das
die Beurteilung von Tiefen und Abständen ermöglicht
und eine Anpassung der Primaten an eine Lebensweise
und Fortbewegung in den Bäumen zeigt (Martin 1990).

Literatur
Bradbury J (2005): Molecular insights into human brain
   evolution. PLoS Biology 3(3), e50
Eimerl S, De Vore I (1977): Die Primaten. Hamburg, Time
   Life Book.
Kuhn HJ (1988): Herrentiere oder Primaten. In: Grzimek B
   (Hrsg.): Grzimeks Enzyklopädie der Säugetiere. Band 4,
   Kindler Verlag, München

                                                                                          Evolution und Diversität der Primaten
18

                                                                                              Asien
                                                                                              82%

     Südamerika
          43 %
                                                         Madagaskar
                                                         94 %

                                    Afrika
                                    39 %

                  Die Weltkarte zeigt die Verbreitung der heute lebenden Primaten sowie
                  den Anteil bedrohter Arten in der jeweiligen Region. Daten aus Estrada et
                  al. 2017. Karte: Graphics Factory CC, www.vectorworldmap.com, Abbildung:
                  Luzie J. Almenräder
3. Bedrohung

Primaten in Gefahr
Warum sind so viele Arten vom Aussterben bedroht?

Exponate: 3.1 Interaktive Weltkarte: Bedrohte Primaten     3.2 Schautafeln: Die 25 meistbedrohten Primaten der Welt  
   3.3 Schautafeln: Liste aller derzeit bekannten Primatenarten mit Bedrohungsstatus     3.4 Schautafel: Warum sind Pri-
maten bedroht?     3.5: Palmöl, Soja, Tropenholz – Was können wir tun?

Das Aussterben von Arten ist ein natürlicher Vorgang,                der Bedrohung liegen in Madagaskar und in Südost-
der sich zu einem gewissen Grad ständig ereignet. Die                asien. Auf Madagaskar sind 94 Prozent der dort leben-
Geschwindigkeit aber, mit der heutzutage Tier- und                   den Lemuren bedroht, fast ein Viertel steht sogar kurz
Pflanzenarten aussterben, liegt weit über dem norma-                 vor dem Aussterben. In Asien sind 82 Prozent der Pri-
len Maß. Ein solches Phänomen bezeichnet man als                     maten bedroht, darunter auch die beiden Orang-Utan-
Massenaussterben. In der Erdgeschichte hat es immer                  Arten. Damit sind alle Menschenaffen – mit Ausnahme
wieder solche Zeiten gegeben. Bekannt ist vor allem das              des Menschen – bedroht, denn auch die Gorillas und
große Massenaussterben vor 65 Millionen Jahren, dem                  Schimpansen Afrikas sowie die Gibbons Süd- und Süd-
fast alle Saurier zum Opfer gefallen sind. Während dies              ostasiens stehen als stark gefährdet beziehungswei-        19
früher aufgrund natürlicher Katastrophen (Asteroiden-                se vom Aussterben bedroht auf der Roten Liste (IUCN
einschläge, Klimaveränderungen) geschah, ist das heu-                2016). Offiziell ist in den letzten 100 Jahren noch kei-
tige Massenaussterben auf den Menschen zurückzufüh-                  ne Primatenart ausgestorben. Allerdings wurden Miss
ren. Die explosionsartige Vermehrung der menschlichen                Waldron Stummelaffen (Piliocolobus waldronae) seit
Bevölkerung und die damit einhergehende Übernutzung                  20 Jahren nicht mehr gesichtet und
der natürlichen Ressourcen führen dazu, dass sehr vie-               die Population der Hainan-Schopf-
len Arten ihre Lebensgrundlage entzogen wird (Kolbert                gibbons (Nomascus hainanus)
2015). Die nicht-menschlichen Primaten sind davon in                 beläuft sich auf gerade einmal 30
besonderem Maße betroffen, da sie in Regionen leben,                 Individuen.
in denen das Bevölkerungswachstum besonders hoch ist
und die durch politische Instabilität und Armut geprägt              Hauptbedrohungsfaktor für
sind (Estrada et al. 2017).                                          die meisten Primatenpopu-
                                                                     lationen ist die Zerstörung
Die Weltnaturschutzunion (International Union for                    ihres natürlichen Lebens-
Conservation of Nature, kurz IUCN) evaluiert für ihre                raums. Dieser wird
„Rote Liste der bedrohten Arten“ die verfügbaren Da-                 in erster Linie in
ten möglichst vieler Tier- und Pflanzenarten. Von den                Agrarland zum An-
513 nicht-menschlichen Primatenarten konnten bisher                  bau von Nutzpflan-
448 Arten evaluiert werden. Von diesen mussten 279                   zen oder zu Weide
Arten als bedroht eingestuft werden. Das entspricht 62               für die Viehzucht
Prozent. 63 Arten (14 Prozent) gelten sogar als unmit-               umgewandelt.
telbar vom Aussterben bedroht. Lokale Schwerpunkte                   Kommen       die

         Der Katta (Lemur catta) wurde von der IUCN Primate Specialist Group
         in die Liste der 25 meistbedrohten Primaten 2016-2018 aufgenommen.
         Die beliebten Tiere werden häufig illegal als Haustiere in Hotels und
         Restaurants gehalten, wo sie als Touristenattraktion gelten.
         Foto: Lars Washausen
Primaten dann nur in einem relativ kleinen umgrenzten                Gewinnung von Edel- und Nutzhölzern abgeholzt. Trotz
     Gebiet vor, wie es beispielsweise bei vielen Lemuren auf             des wachsenden Bewusstseins sind auch hierzulande
     Madagaskar der Fall ist, dann genügt oft die Abholzung               tropische Edelhölzer immer noch ein begehrtes Material,
     eines einzigen Waldes, um eine Art in Bedrängnis zu                  beispielsweise für Terrassenböden und Möbel.
     bringen. Dabei ist es nicht immer der Nahrungsbedarf
     in den Herkunftsländern, der mit diesen Flächen gedeckt              Neben der wirtschaftlichen Ausbeutung ihres Lebens-
     werden soll, sondern zum Beispiel auch der Bedarf der In-            raums ist auch die direkte Bejagung ein Grund für
     dustrieländer an billigem Palmöl und Viehfutter auf Soja-            sinkende Primatenzahlen. In vielen armen, häufig von
     basis. Darüber hinaus werden viele tropische Wälder zur              Bürgerkriegen zerstörten Ländern stellen Wildtiere oft
                                                                                              die einzige Proteinquelle dar, so
                                                                                              dass manche Wälder geradezu
                                                                                              leer geschossen sind. So ist die Po-
                                                                                              pulation des Östlichen Flachland-
                                                                                              gorillas (Gorilla beringei graueri)
                                                                                              in der Demokratischen Republik
                                                                                              Kongo in nur einer Generation um
                                                                                              77 Prozent reduziert worden. Aber
                                                                                              auch in Schwellenländern, wie
20                                                                                            Brasilien, ist der Jagddruck auf Pri-
                                                                                              maten immer noch hoch. So füh-
                                                                                              ren der Abbau von Bodenschätzen
                                                                                              und die damit einhergehende Er-
                                                                                              schließung entlegener Regionen,
                                                                                              in der Regel unweigerlich zur Be-
                                                                                              jagung der Wildtiere in der Um-
                                                                                              gebung. Ebenso ist der Handel
                                                                                              mit Primaten als Haustiere immer
                                                                                              noch ein lukratives Geschäft und
                                                                                              in vielen Gegenden Südostasiens
                                                                                              werden Primatenprodukte in der
                                                                                              traditionellen Medizin verwendet
                                                                                              (Schwitzer et al. im Druck).

                                                                                               Die Bedrohungsfaktoren sind viel-
                                                                                               fältig und es wird keine einfache
                                                                                               Lösung für das Problem schwin-
                                                                                               dender Primatenpopulationen ge-
                                                                                               ben. Aber es ist klar, dass es nicht
                                                                                               ausschließlich ein Problem der Her-
                                                                                               kunftsregionen ist und dass sich
                                                                                               auch die Industrieländer Gedanken
                                                                                               darüber machen müssen, was ih-
     Javaneraffen (Macaca fascicularis) auf einem Markt in Jakarta, Indonesien. Der illegale   nen der Schutz unserer biologisch
     Handel mit Primaten ist ein Faktor, der die Bestände vieler Arten bedroht.                nächsten Verwandten wert ist (Es-
     Foto: V. Nijman                                                                           trada et al. 2017).
21

Abgeholzter Wald auf Sumatra, Indonesien. Die Zerstörung ihrer natürlichen Lebensräume ist einer der Hauptgründe für die Bedrohung
von Primaten. Besonders in Indonesien werden jährlich große Regenwaldareale abgeholzt, um Palmölplantagen anzulegen.
Foto: W.F. Laurance

Literatur                                                               in Peril: The World’s 25 Most Endangered Primates
Kolbert E (2015): Das Sechste Sterben: Wie der Mensch Na-               2016-2018. IUCN SSC Primate Specialist Group (PSG),
   turgeschichte schreibt. Berlin, Suhrkamp.                            International Primatological Society (IPS), Conserva-
Estrada A, Garber PA, Rylands AB, Roos C, Fernandez-                    tion International (CI), and Bristol Zoological Society,
   Duque E, Di Fiore A, Nekaris KA-I, Nijman V, Heymann                 Arlington. Frei verfügbar unter: www.primate-sg.org/
   EW, Lambert JE, Rovero F, Barelli C, Setchell JM, Gille-             (voraussichtlich ab Nov 2017).
   spie TR,l Mittermeier RA, Verde Arregoitia L, de Guinea
   M, Gouveia S, Dobrovolski R, Shanee S, Shanee N, Boyle
   SA, Fuentes A, MacKinnon KC, Amato KR, Meyer ALS,
   Wich S, Sussman RW, Pan R, Kone I, Li B (2017): Impen-
   ding extinction crisis of the world’s primates: Why pri-
   mates matter. Science Advances 3: e1600946.
International Union for Conservation of Nature (2016):
   IUCN Red List of Threatened Species. Version 2015-4.
   Frei verfügbar unter: www.iucnredlist.org/ .
Schwitzer C, Mittermeier RA, Rylands AB, Chiozza F, Wil-
   liamson EA, Wallis J, Cotton A (im Druck): Primates

                                                                                                                       Bedrohung
22
4. Sozialsysteme

        Wer mit wem?
        Das Sozialleben der Paviane

        Exponate: 4.1 Schautafel: Die Sozialsysteme der Paviane     4.2 Videoprojektion: Pavianforschung im Senegal     4.3 Schau-
        tafel: Die Forschungsstation Simenti

        Es ist ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen, etwas          Ein Sozialsystem setzt sich aus verschiedenen Kompo-
        über sich und seine Eigenarten zu erfahren. Als Biologen        nenten zusammen. Da ist zum einen die soziale Orga-
        suchen wir in erster Linie in unseren evolutionären Wur-        nisation, welche die Gruppenzusammensetzung be-
        zeln nach Erklärungen für verschiedene Wesensmerk-              schreibt. Dazu gehören Gruppengröße, zahlenmäßiges
        male. Besonders interessant ist dabei die evolutionäre          Geschlechterverhältnis und welche Individuen zwischen
        Grundlage unserer sozialen Beziehungen und damit un-            Gruppen wechseln (Abwandern). Zum anderen stellt sich
        serer Gesellschaftssysteme. Die Verhaltensforschung un-         die Frage nach dem Paarungssystem. Wer pflanzt sich mit
        tersucht seit fast 100 Jahren das Verhalten verwandter          wem fort und gibt es Unterschiede im Reproduktions-
        Arten und solcher, die sich unter ähnlichen ökologischen        erfolg zwischen Gruppenmitgliedern? Dem gegenüber
        Bedingungen entwickelt haben, um über Unterschiede              steht die Sozialstruktur, welche die Beziehungen zwi-        23
        und Gemeinsamkeiten den Einfluss von ökologischen               schen den Gruppenmitgliedern beschreibt. Gibt es zum
        Gegebenheiten und genetischen Voraussetzungen auf               Beispiel enge Beziehungen zwischen den Geschlechtern
        das Verhalten von Arten zu verstehen. Der Mensch wur-           auch außerhalb der Fortpflanzungszeit? Gibt es Rang-
        de dabei in der Regel mit seinen engsten Verwandten,            hierarchien oder spezielle Beziehungen zwischen Indi-
        den beiden Schimpansenarten, verglichen. Bei nur zwei           viduen, die man als Freundschaften bezeichnen könnte
        Arten bietet dies im Fall der Sozialsysteme allerdings nur      (Kappeler und van Schaik 2002)?
        begrenzte Vergleichsmöglichkeiten.
                                                                        Am besten untersucht sind bisher die Mantelpaviane
        Die Gattung Paviane umfasst sechs Arten, die über den           (Papio hamadryas). Sie kommen am Horn von Afrika
        ganzen afrikanischen Kontinent verbreitet sind, mit Aus-        und im südwestlichen Arabien vor und leben in einem
        nahme der Regenwälder und extremer Trockengebiete.              mehrstufigen Sozialsystem. Die Basis bildet die Ein-
        Da die Arten untereinander eng verwandt sind, aber in           Mann-Gruppe, bestehend aus einem Männchen und ei-
        unterschiedlichen Sozialsystemen leben, stellen sie ein         nem bis mehreren Weibchen. Das Männchen separiert
        ideales Studienobjekt für die Untersuchung des Einflus-         seine Weibchen von anderen Ein-Mann-Gruppen und
        ses von Umweltbedingungen und Stammesgeschichte                 paart sich nur mit ihnen. Mehrere Ein-Mann-Gruppen
        auf die soziale Evolution dar. Da der größte Teil ihrer Evo-    schließen sich zu Clans zusammen, mehrere Clans wie-
        lutionsgeschichte im selben Zeitraum und in denselben           derum bilden eine Bande. Bei den Mantelpavianen sind
        Savannenlebensräumen ablief wie die unserer menschli-           die Weibchen das abwandernde Geschlecht, während
        chen Vorfahren, sind Paviane darüber hinaus ein vielver-        die Männchen überwiegend in ihrem Clan bleiben. Die
        sprechendes Modell für die soziale Evolution des Men-           Savannenpaviane – Bärenpavian (Papio ursinus), Anubis-
        schen (Fischer et al. 2017).                                    pavian (Papio anubis), Gelber Pavian (Papio cynocephalus)
                                                                        – leben in Mehrmännchen-Mehrweibchen-Gruppen. Es
                                                                        gibt keine Exklusivität in der Fortpflanzung, aber höher-
                                                                        rangige Männchen zeugen meist mehr Nachwuchs. En-
Eine Gruppe Guineapaviane (Papio papio) bei der sozialen                gere Bindungen bestehen zwischen den Weibchen. Die-
Fellpflege. Guineapaviane leben in einem mehrschichtigen                se Bindungen beruhen in den meisten Fällen auf engen
Sozialsystem und pflegen differenzierte soziale Beziehungen.
Foto: Matthias Klapproth
                                                                                                                     Sozialsysteme
Die Verbreitungsgebiete der Paviane.
                                                                                       Karte: Dietmar Zinner, Illustrationen
                                                                                       mit freundlicher Genehmigung von ©
                                                                                       Stephen D. Nash / IUCN SSC Primate
                                                                                       Specialist Group 2013
                                                                 Mantelpavian
              Guineapavian              Anubispavian

                                                                   Gelber Pavian
                         Kindapavian

24

                          Bärenpavian

     Verwandtschaftsbeziehungen. Gelegentlich werden aber          noch vier weitere Primatenarten im Studiengebiet vor:
     auch länger anhaltende „Freundschaften“ von Weibchen          Senegal-Galagos (Galago senegalensis), Westliche Grüne
     mit erwachsenen Männchen beobachtet. Die Männchen             Meerkatzen (Chlorocebus sabaeus), Husarenaffen (Eryth-
     sind das abwandernde Geschlecht (Swedell 2011). Über          rocebus patas) und Temminck-Stummelaffen (Piliocolobus
     Kindapaviane (Papio kindae) ist bisher so gut wie nichts      temmincki). Etwa 50 Kilometer von der Forschungsstati-
     bekannt und auch Guineapaviane (Papio papio) wurden           on entfernt lebt auch noch eine kleine Schimpansenpo-
     bis zur Gründung der Feldstation Simenti nicht systema-       pulation (Pan troglodytes verus) im Park.
     tisch in Langzeitstudien untersucht.
                                                                   Die ersten Studienergebnisse zum Sozialsystem der
     Die Forschungsstation Simenti                                 Guineapaviane zeigen das Bild einer verschachtelten,
                                                                   mehrschichtigen Gesellschaft, ähnlich der der Man-
     Die Forschungsstation CRP Simenti (Centre de Recherche        telpaviane. Basis bildet die Unit, bestehend aus einem
     de Primatologie Simenti) wurde 2007 vom DPZ im Nioko-         Männchen und einem bis mehreren Weibchen. Mehrere
     lo-Koba-Nationalpark im Südosten Senegals gegründet.          Units bilden eine Party, mehrere Partys eine Gang. Im
     Der Park liegt in der tropischen Savannenzone und ist von     Gegensatz zur Mantelpaviangesellschaft beruht die
     stark saisonalen Niederschlägen geprägt. Die Trockenzeit      Männchen-Weibchen-Beziehung hier aber eher auf Frei-
     dauert von November bis Mai, die Regenzeit von Juni bis       willigkeit. Die Weibchen pflegen mit ihrem Männchen
     Oktober. Die Studienpopulation in Simenti umfasst mehr        enge soziale Beziehungen und paaren sich fast aus-
     als 300 Paviane, wobei sich die Forschungsarbeit auf          schließlich mit ihm. Manchmal gehört auch ein zweites
     ungefähr 70 Individuen konzentriert. Das Studiengebiet        Männchen zur Unit. Die Stabilität der Beziehung des
     liegt direkt am Gambia-Fluss mit seinen ausgeprägten          Weibchens zu seinem Männchen variiert stark. Man-
     Galeriewäldern. Neben den Guineapavianen kommen               che Weibchen wechseln zu anderen Männchen, sowohl
innerhalb als auch außerhalb ihrer Party, ohne dass ihr              erstaunlich dem Bild, das man sich heute von frühen
Männchen eingreift. Mantelpavianmännchen dagegen                     menschlichen Gesellschaften macht, die sich unter den-
verhindern durch aggressives Hüten, dass ihre Weib-                  selben ökologischen Bedingungen des Savannenlebens
chen Kontakte mit anderen Männchen aufnehmen.                        entwickelt haben.
Unter den Guineapavian-Männchen gibt es keine aus-
geprägte lineare Dominanzhierarchie. Dafür zeigen sie                Literatur
starke soziale Beziehungen untereinander und relativ                 Fischer J, Kopp GH, Dal Pesco F, Goffe A, Hammerschmidt
wenig Aggression.                                                       K, Kalbitzer U, Klapproth M, Maciej P, Ndao I, Patzelt
                                                                        A, Zinner D (2017): Charting the negleted West: The
Der Ursprung der Paviane liegt wahrscheinlich im südli-                 social system of Guinea baboons. American Journal of
chen Afrika, von wo aus sie sich vor rund zwei Millionen                Physical Anthropology 162: 15-31.
Jahren über den afrikanischen Kontinent ausbreiteten                 Kappeler PM, van Schaik CP (2002): Evolution of primate
(Zinner et al. 2011). Interessant ist, dass die am entfern-             social systems. International Journal of Primatology
testen von diesem Gebiet lebenden Guinea- und Man-                      23: 707-740.
telpaviane mehrschichtige Gesellschaftssysteme mit                   Swedell L (2011): African Papionins: Diversity of social
Abwanderung der Weibchen entwickelt haben, während                      organization and ecological flexibility. In: Campbell CJ
bei den Savannenpavianen die Weibchen sesshaft sind                     (ed.): Primates in Perspective, 2nd edition. New York,
und die Männchen abwandern. Wie es zu einem solchen                     Oxford University Press: 241-277.
Wandel in der sozialen Organisation kommen konnte,                   Zinner D, Buba U, Nash S, Roos C (2011): Pan-African vo-          25
ist bis heute nicht geklärt. Besonders das Sozialsystem                 yagers. The phylogeography of baboons. In: Sommer
der Guineapaviane mit seiner mehrschichtigen Organi-                    V, Ross C (eds.) Primates of Gashaka: Socioecology and
sation, starken Männchen-Männchen-Beziehungen und                       Conservation in Nigeria’s Biodiversity Hotspot. New
überwiegend weiblicher Abwanderung entspricht jedoch                    York, Springer: 267-306.

Die Forschungsstation Simenti (Centre de Recherche de Primatologie Simenti) liegt im Südosten Senegals im Niokolo-Koba-Nationalpark.
Foto. Ludwig Ehrenreich

                                                                                                                      Sozialsysteme
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5. Regenwaldökologie

        Kleine Affen und große Bäume
        Die Ökologie des Amazonasregenwaldes

        Exponate: 5.1 Schautafel: Samenausbreitung durch Krallenaffen im Amazonas-Regenwald     5.2 Modell: Keimungsex-
        periment     5.3 Tischvitrine: Kleine Affen verbreiten große Samen     5.4 Schautafel: Die DPZ-Forschungsstation in Peru  
           5.5 Dermoplastiken: Südamerikanische Primaten

        Tropische Regenwälder gehören zu den artenreichsten             Samen aber unverdaut ausscheiden. Die 300 bis 600
        Ökosystemen dieser Erde. Das komplexe Zusammen-                 Gramm schweren Tiere schlucken dabei Samen von einer
        spiel der Tier- und Pflanzenarten trägt zur Aufrechter-         Länge bis zu 2,5 Zentimetern und einem Durchmesser
        haltung und Funktionsfähigkeit dieser Ökosysteme bei,           von mehr als einem Zentimeter. Um Vergleichbares zu
        die unter anderem auch für das Klima von weltweiter             leisten, müsste ein Mensch eine kleine Kokosnuss ver-
        Bedeutung sind. Als Bestandteile der komplexen Nah-             schlucken. Die Samen von rund 90 Pflanzenarten werden
        rungsnetze spielen Primaten eine wichtige Rolle im Öko-         von den Tamarinen im Umkreis von bis zu 600 Metern
        system. Durch ihre Interaktion mit Blüten und Früchten          von der Mutterpflanze ausgebreitet (Heymann et al.
        können Primaten als Bestäuber und Samenausbreiter               2017). Den Samen schadet der Gang durch den Verdau-           27
        fungieren. Die Ausbreitung der Samen, das heißt ihr             ungstrakt der Primaten nicht, sie keimen genauso gut
        Transport von der Mutterpflanze weg, bietet mehrere             wie nicht verschluckte Samen (Knogge et al. 2003). Die
        Vorteile für die Pflanze. So kann sie neue Lebensräume          Tamarine tragen in besonderem Maße zur Waldregene-
        besiedeln und entgeht dem unter Mutterpflanzen be-              ration bei, da sie auch Samen von primärem Regenwald
        sonders hohen Fraßdruck (Kricher 2011). Mehr als die            in Sekundärwald eintragen, der sich nach natürlicher
        Hälfte aller Primatenarten ernährt sich überwiegend             (Windbruch) oder menschlicher (Abholzung) Störung in
        von Früchten und fast alle nehmen zumindest gele-               Regeneration befindet (Culot et al. 2010).
        gentlich Früchte zu sich. Da Primaten bis zu 40 Prozent
        der Biomasse von Früchtefressern in tropischen Wäl-             Bereits seit 1985 arbeiten DPZ-Forscher auf der EBQB
        dern ausmachen können, spielen sie eine wesentliche             und führten hier die ersten DPZ-Feldstudien durch. Die
        Rolle bei der Samenausbreitung und Waldregeneration
        (Chapman 1995).

        Seit 1994 werden kontinuierlich Studien an der DPZ-
        Forschungsstation Estación Biológica Quebrada Blanco
        (EBQB) im Amazonastiefland-Regenwald in Nordost-Peru
        durchgeführt, die sich mit der Ausbreitung von Samen
        durch zwei Krallenaffenarten beschäftigen. Die Nahrung
        der Schnurrbarttamarine (Saguinus mystax) und der
        Schwarzstirntamarine (Leontocebus nigrifrons) besteht
        zu mehr als der Hälfte aus Früchten, wobei die Tiere nur
        das Fruchtfleisch verdauen, die heruntergeschluckten

Ein Schnurrbarttamarin (Saguinus mystax) am Amazonas. Diese
                                                                        Der erste Forschungsstation des DPZ, die Estación Biológica
kleinen Primaten spielen eine wichtige Rolle für die Ökologie des
                                                                        Quebrada Blanco (EBQB) in Peru, 1985. Foto: Ursula Bartecki
Regenwaldes. Foto: Cindy Hurtado

                                                                                                                Regenwaldökologie
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