Primaten Katalog zur Ausstellung - Deutsches Primatenzentrum
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Titelbild: Nahaufnahme des Gesichtes eines Anubispavians (Papio anubis), fotografiert im Lake-Manyara-Nationalpark in Tansania. Von den sechs in Afrika lebenden Pavianarten hat der Anubispavian die weiteste Verbrei- tung, er bewohnt die gesamte Sahelzone südlich der Sahara von Maure- tanien und Mali bis in den Sudan und im Süden bis in die Demokratische Republik Kongo und Tansania. Wegen seines olivgrünen Fells wird er auch Grüner Pavian genannt. Foto: Sascha Knauf
Primaten Ausstellung 11. September 2017 bis 28. Februar 2018 am Deutsches Primatenzentrum Leibniz-Institut für Primatenforschung
Danksagung An dieser Stelle möchten wir uns bei allen Ideengebern, Unterstützern und tatkräftigen Helfern bedanken, die das Ent- stehen dieser Ausstellung in den letzten Wochen und Monaten ermöglicht und bereichert haben. Ohne die hilfreichen Tipps und Ratschläge vieler erfahrender Museumsschaffender, die Leihgaben – seien es Exponate oder Ausstattung – aus dem Fundus der Sammlungen der Universität und anderer Göttinger Institute sowie die vielen helfenden Hände im DPZ, hätten wir die Ausstellung nicht in dieser Form realisieren können. Unser herzlicher Dank richtet sich an: das Zoologische Museum der Universität Göttingen und das Naturkundemuseum Erfurt für das Restaurieren und zur Verfügung stellen zahlreicher Primatendermoplastiken das Zentrum Anatomie der Universitätsmedizin Göttingen für die Leihgaben eines menschlichen Skelettes und mensch- licher Schädel die Zentrale Kustodie der Universität Göttingen und das Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin, Göttingen für das Ausleihen von Tisch- und Standvitrinen das Zoologische Forschungsmuseum Alexander Koenig, Bonn, das Senckenberg Naturmuseum Frankfurt und das Muse- um für Naturkunde Berlin für Beratung und viele hilfreiche Tipps die IUCN SSC Primate Specialist Group für die Einsicht in das unveröffentlichte Manuskript „Primates in Peril – The World’s 25 Most Endangered Primates 2016-2018“ Stephen Nash für das zur Verfügung stellen seiner Illustrationen der meistbedrohten Primatenarten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sektion Organismische Primatenbiologie des DPZ für Beratung und zur Verfü- gung stellen von Materialien die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Claudia Fichtel, Julia Fischer, Kurt Hammerschmidt, Eckhard W. Heymann, Peter M. Kappeler, Julia Ostner, Christian Roos, Oliver Schülke und Dietmar Zinner vom DPZ sowie Tobias Deschner vom MPI für evolutionäre Anthropologie für die wissenschaftliche Beratung bei der Erstellung der Katalogtexte und Exponate sowie für Ihre Bereitschaft, die Ausstellung mit Vorträgen zu bereichern die Abteilung Infektionspathologie des DPZ für das zur Verfügung stellen von Primatenskeletten, -schädeln und -extremitäten die Stabsstellen Betriebstechnik und IT sowie die Internen Dienste für technische Unterstützung, Hilfe beim Aufbau und Transport von Exponaten.
Inhalt Primaten – Wir sind viele.................................................................................. 05 1. Primatenmerkmale............................................................................................ 07 Wir und die Anderen 2. Evolution und Diversität der Primaten........................................................... 09 Makis, Makaken und mehr Down to the bone 3. Bedrohung........................................................................................................... 19 Primaten in Gefahr 4. Sozialsysteme..................................................................................................... 23 Wer mit wem? 03 5. Regenwaldökologie............................................................................................ 27 Kleine Affen und große Bäume 6. Freilandforschung in Thailand.......................................................................... 31 Gestresste Affenmütter und ihre Kinder 7. Freilandforschung über Lemuren..................................................................... 35 Im Reich der Schattengeister 8. Biodiversität und Artenvielfalt......................................................................... 41 Das wertvollste Kapital unserer Erde 9. Kognition............................................................................................................. 45 Können Affen statistisch denken? 10. Kommunikation.................................................................................................. 49 Auf der Suche nach der Entstehung der Sprache
Primaten – Wir sind viele Der Mensch ist ein Primat. Ebenso wie das niedliche te, Dermoplastiken verschiedener Affenarten sowie Bil- Totenkopfäffchen, der kraftstrotzende Gorilla und der der und Filme entführen in das Reich der Primaten von intelligente Schimpanse. Damit sind schon mal die wich- Südamerika über Afrika und Madagaskar bis nach Thai- tigsten Klischees bedient. Viel interessanter ist es, sich land. Wir laden Sie ein, unsere Forscherinnen und For- die verschiedenen Sozialsysteme dieser heterogenen scher sowie ihre Studienobjekte kennenzulernen. Tiergruppe anzuschauen oder herauszufinden, wie sich die einzelnen Arten im Laufe der Evolution entwickelt Wir bedanken uns beim Zoologischen Museum und und an ihre verschiedenen Lebensräume angepasst der Zentralen Kustodie der Universität Göttingen, beim haben. Da gibt es die friedlichen Guinea-Paviane im Zentrum Anatomie der Universitätsmedizin Göttingen, Senegal, die in mehrschichtigen Gesellschaften leben. beim Naturkundemuseum Erfurt, beim Max-Planck-Ins- Und die nur auf Madagaskar vorkommenden Lemuren titut für Experimentelle Medizin, bei der IUCN Primate mit ihrer großen Vielfalt an Formen und Lebensweisen. Specialist Group, bei Stephen Nash und bei den vielen In Südamerika lässt sich hervorragend beobachten, wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des DPZ für ihre vie- 05 sich Affen und Pflanzen aneinander angepasst haben len hilfreichen Tipps, Beratung, Kritik, die freundlichen und zum Funktionieren des Ökosystems Regenwald bei- Leihgaben und die tatkräftige Unterstützung für unsere tragen. Welchen Einfluss Stress in der Schwangerschaft Ausstellung. auf das Leben von Affenkindern hat, untersuchen Wis- senschaftlerinnen und Wissenschaftler an Assammaka- Wir wünschen Ihnen interessante Einsichten während ken in Thailand. Dies sind nur einige Schlaglichter aus des Rundgangs durch unsere Ausstellung und freuen der Forschung an den vier Feldstationen des Deutschen uns über Ihr Feedback. Primatenzentrums (DPZ), die in der Ausstellung „Prima- ten“ aufgegriffen werden. Stabsstelle Kommunikation Deutsches Primatenzentrum Sehen wir einem (Altwelt-)Affen ins Gesicht, so erken- nen wir einen Verwandten. Dies führt fast zwangsläufig zu der Frage, wie es geschehen konnte, dass der Mensch so deutlich höhere geistige Fähigkeiten entwickelt hat als alle anderen Primaten. Hätte die Evolution auch an- ders verlaufen können, wie der Film „Planet der Affen“ suggeriert? Und wie steht es mit unserer Verantwortung vor dem Hintergrund, dass rund 60 Prozent aller Prima- tenarten vom Aussterben bedroht sind, während wir Menschen uns rasant bis in die letzten Winkel der Erde ausbreiten? In der Ausstellung „Primaten“ wollen wir unsere Faszina- tion für die Primatenforschung mit den Besucherinnen und Besuchern teilen und einen Einblick geben in die Welt unserer nächsten Verwandten. Interaktive Expona-
06 Illustration eines männlichen Borneo Orang-Utans (Pongo pygmaeus). Bei diesen ausschließlich baumbewohnenden Menschenaffen sind Hände und Füße an das Greifen angepasst. Illustration mit freundlicher Genehmigung von © Stephen D. Nash / IUCN SSC Primate Specialist Group 2013.
1. Primatenmerkmale Wir und die Anderen Was ist ein Primat? Exponate: 1.1 Dermoplastik: Borneo Orang-Utan 1.2 Schautafel: Was ist ein Primat? „Wenn wir nicht absichtlich unsere Augen schließen, so nannte Papillarleisten, an ihren Innenseiten sowie meis- können wir nach unseren jetzigen Kenntnissen annä- tens flache Nägel. Mit Ausnahme des Menschen können hernd unsere Abstammung erkennen und dürfen uns alle Primaten ihre Großzehe opponieren, das heißt den derselben nicht schämen“, schrieb Charles Darwin 1871 anderen Zehen gegenüberstellen. Insgesamt scheint es in „Die Abstammung des Menschen und die geschlecht- eine Tendenz zu einer aufrechteren Körperhaltung zu ge- liche Zuchtwahl“ und löste damit einen Aufschrei aus. ben. Auf den ersten Blick weniger offensichtlich sind die Sollen wir etwa vom Affen abstammen? Dabei war diese Reduktion der Anzahl der Zähne auf maximal 36 und die Ähnlichkeit zwischen dem Menschen und den Affen be- geringe Spezialisierung der Backenzähne. Das Gehirn der reits gut 100 Jahre zuvor Carl Linnaeus aufgefallen, der Primaten ist relativ groß und die Dichte von Nervenzellen 1758 in der berühmten zehnten Auflage seiner „Systema in der Hirnrinde ist höher als bei anderen Säugetieren, Naturae“ den Menschen zu den Primaten gesellte. Wäh- was in Zusammenhang mit der visuellen Spezialisierung 07 rend Linnaeus jedoch noch von einer Schöpfung der Ar- diskutiert wird (Barton 2006). ten ausging, war Darwin von einem gemeinsamen Vor- fahren aller heute lebenden Primaten, einschließlich des Auch in ihrer Lebensgeschichte unterscheiden sich Pri- Menschen, überzeugt. maten von den meisten anderen Säugetieren. Die einzel- nen Lebensabschnitte sind deutlich verlängert: Auf eine Brauchen wir also nur unsere eigenen Merkmale anzu- lange Tragzeit folgt ein langsames Wachstum der Jung- schauen und erkennen bei Übereinstimmung sofort alle tiere und eine späte Geschlechtsreife. Insgesamt werden anderen Primaten? So einfach ist es nicht. Schaut man wenige Jungtiere geboren, in die dann aber viel investiert sich die gemeinsamen Merkmale der Primaten an, so wird. Alle Primaten, mit Ausnahme des Menschen, sind sind viele von ihnen ursprüngliche Säugetiermerkmale, Bewohner der Tropen und Subtropen und die meisten le- die auch in anderen Säugetierordnungen auftreten, wie ben in Gruppen (Geissmann 2003). zum Beispiel die Fünfgliedrigkeit der Hände und Füße. Nur eine sogenannte Synapomorphie – ein abgeleite- Literatur tes Merkmal, das bei einem gemeinsamen Vorfahren Barton RA (2006): Primate brain evolution: integrating entstanden sein muss und bei anderen Gruppen nicht comparative, neurophysiological, and ethological auftritt – lässt eine eindeutige Identifizierung zu. So ein data. Evolutionary Anthropology 15: 224-236. eindeutiges Merkmal gibt es bei den Primaten nicht. Martin RD (1990): Primate Origins and Evolution – A Phy- Deshalb wird in der Regel eine Kombination von Merk- logenetic Reconstruction. London, Chapman and Hall. malen herangezogen, die eine Eingrenzung der Ordnung Geissmann T (2003): Vergleichende Primatologie. Berlin, ermöglicht (Martin 1990). Springer Verlag. Auffällig ist die Betonung des Gesichtssinnes. Die Augen sind nach vorn gerichtet, was ein dreidimensionales Se- hen ermöglicht. Der Geruchssinn ist demgegenüber bei den meisten Arten eher reduziert. Die Hände und Füße sind an das Greifen angepasst und haben Tastfelder, soge- Primatenmerkmale
Lemuren Loriartige Koboldmakis Neuweltaffen Schlank- und Backentaschenaffen Gibbons Menschenaffen (Lemuriformes) (Lorisiformes) (Tarsiiformes) (Platyrrhini) Stummelaffen (Cercopithecinae) (Hylobatidae) (Hominidae) 106 Arten 35 Arten 11 Arten 175 Arten (Colobinae) 82 Arten 20 Arten 7 Arten 78 Arten 20 Mio Jahre 23 Mio Jahre Geschwänzte Altweltaffen Menschenartige (Cercopithecoidea) (Hominoidea) 32 Mio Jahre 08 Altweltaffen (Catarrhini) 46 Mio Jahre 57 Mio Jahre Affen (Anthropoidea) 64 Mio Jahre Feuchtnasenprimaten Trockennasenprimaten (Strepsirrhini) (Haplorrhini) 68 Mio Jahre Riesengleiter Primaten (Dermoptera) (Primates) 86 Mio Jahre Der Stammbaum der Primaten stellt die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den heute lebenden Primatengruppen und dem zeitlichen Ablauf ihrer Evolution dar. Daten nach Finstermeier et al. 2013. Layout: Luzie J. Almenräder, Illustrationen mit freundlicher Genehmigung von © Stephen D. Nash / IUCN SSC Primate Specialist Group 2013.
2. Evolution und Diversität der Primaten Makis, Makaken und mehr Die Vielfalt der Primaten und wie sie entstand Exponate: 2.1 Wandinstallation: Stammbaum der Primaten 2.2 Dermoplastiken: Vielfalt der Primatenarten 2.3 Schat- tenrisse: Größenunterschiede – vom Mausmaki bis zum Gorilla 2.4 Interaktive Schautafel: Stammbaumquiz Betrachtet man die heute lebenden Arten der Ordnung springend fortbewegen, sind bei den langsamen Loris der Primaten, stößt man auf eine erstaunliche Vielfalt der Daumen und die Großzehe verstärkt und der zweite in Größe, Aussehen und Spezialisierungen, so dass es Finger beziehungsweise Zeh extrem reduziert, was ihnen manchmal unglaublich scheint, dass sie alle von einem den Namen „Greifzangen-Kletterer“ einbrachte. gemeinsamen Vorfahren abstammen. Dieser gemeinsa- me Vorfahre entstand, als sich die sogenannten Prima- Den Feuchtnasenprimaten gegenüber stehen die Tro- tomorpha in den Vorfahren der heutigen Riesengleiter ckennasenprimaten, die sich vor rund 64 Millionen Jah- (Dermoptera) und den ersten Primaten aufspalteten ren in Koboldmakis (Tarsiiformes) und eigentliche Affen und lebte vor ungefähr 80 Millionen Jahren. Die nächs- (Anthropoidea) aufgespalten haben. Die Familie der klei- ten Verwandten der Primaten sind also nicht, wie lange nen nachtaktiven Koboldmakis mit den großen Augen 09 geglaubt, die Spitzhörnchen (Scandentia), sondern kat- lebt mit elf Arten in Südostasien. Vor rund 46 Millionen zengroße Säugetiere, deren Besonderheit eine Flughaut Jahren erfolgte die Aufspaltung der Affen in Neuwelt- ist, die alle Extremitäten und den Schwanz umspannt (Platyrrhini) und Altweltaffen (Catarrhini), die, wie ihre und mit deren Hilfe die Tiere von Baum zu Baum gleiten Namen besagen, ausschließlich in Süd- und Mittelame- können (Mason et al. 2016). Während die Ordnung der rika beziehungsweise in Afrika und Asien beheimatet Riesengleiter heute nur noch zwei in Südostasien leben- sind. Ein deutliches Unterscheidungsmerkmal von Neu- de Arten umfasst, werden bei den Primaten aktuell 514 welt- und Altweltaffen ist die Form der Nase. Während Arten in 16 Familien unterschieden. Die Zahl der Arten ist bei den Neuweltaffen die Nasenscheidewand breit ist in den vergangenen 20 Jahren durch die neuen Möglich- und die runden Nasenlöcher nach außen zeigen, weshalb keiten der Artunterscheidung mit genetischen Metho- sie auch Breitnasenaffen genannt werden, ist die Nasen- den rasant gestiegen. scheidewand bei den Altweltaffen schmal und die eng beieinanderstehenden Nasenlöcher zeigen nach vorn be- Die Diversifizierung der Primaten begann vor ungefähr ziehungsweise nach unten. 68 Millionen Jahren mit der Aufspaltung in Feuchtna- senprimaten (Strepsirrhini) und Trockennasenprimaten Neuweltaffen umfassen 175 Arten in fünf Familien, die (Haplorrhini) (Finstermeier et al. 2013), gut erkennbar zum Teil besondere Spezialisierungen aufweisen. Bei den an ihrem feuchten unbehaarten Nasenspiegel bezie- Krallenaffen (Callitrichidae) sind die Nägel, mit Ausnah- hungsweise ihrer trockenen behaarten Nase. Bei den me der Großzehe, zu Krallen umgeformt, was den klei- Feuchtnasenprimaten unterscheidet man heute zwei nen Tieren das Klettern an senkrechten Baumstämmen Gruppen, die Lemuren (Lemuriformes) und die Loriarti- ermöglicht. Bei den Klammerschwanzaffen (Atelidae) ist gen (Lorisiformes). Die Lemuren leben ausschließlich auf der hintere untere Teil des Schwanzes haarlos und mit Madagaskar und den Komoren und umfassen fünf Fami- Tastfeldern versehen, dient als Greifschwanz und wird lien mit 106 Arten, zu denen die kleinsten Primaten der oft als die Fünfte Hand bezeichnet. Welt, die Mausmakis, gehören. Zu den Loriartigen gehö- ren die Familien der Loris und der Galagos. Während sich Die Altweltaffen spalteten sich vor ungefähr 32 Milli- die afrikanischen Galagos mit ihren langen Hinterbeinen onen Jahren in die Geschwänzten Altweltaffen (Cerco- Evolution und Diversität der Primaten
10 Der Japan-Makak (Macaca fuscata) gehört zu den Backentaschenaffen. Einige Vertreter dieser Art haben es sich angewöhnt, im Winter in heißen Quellen zu baden. Foto: Sebastian Lehmann pithecoidea) und die Menschenartigen (Hominoidea). Bei den Menschenartigen unterscheidet man die soge- Die Meerkatzenverwandten (Cercopithecidae) sind die nannten Kleinen Menschenaffen, die Gibbons (Hylobati- einzige Familie der Geschwänzten Altweltaffen, die dae), von den Großen Menschenaffen (Hominidae). Die mit 160 Arten die artenreichste innerhalb der Primaten beiden Familien haben sich vor ungefähr 20 Millionen darstellt. Man unterscheidet zwei große Unterfamili- Jahren voneinander getrennt. Gibbons sind Baumbe- en, die Schlank- und Stummelaffen (Colobinae) und die wohner und leben in kleinen Familiengemeinschaften in Backentaschenaffen (Cercopithecinae). Schlank- und den Regenwäldern Südostasiens. Wie alle Menschenaf- Stummelaffen kommen sowohl in Afrika als auch in fen haben sie keinen Schwanz. Es gibt 20 verschiedene Südostasien vor und haben sich mehr oder weniger auf Gibbonarten. Zu den Großen Menschenaffen gehören die Ernährung mit Blättern spezialisiert. Dafür haben zwei Orang-Utan-Arten, zwei Gorilla- und zwei Schim- sie einen mehrteiligen Magen mit Cellulose-abbauen- pansenarten sowie die einzige heute noch lebende Men- den Bakterien, ähnlich wie die Wiederkäuer. Die Backen- schenart Homo sapiens. Während sich die Orang-Utans taschenaffen dagegen sind Allesfresser, die ähnlich wie und die Gorillas bereits vor 15 beziehungsweise acht Mil- ein Hamster ihre Nahrung in Backentaschen verstauen lionen Jahren von den übrigen Menschenaffen trennten, können. Zu ihnen gehören die bekanntesten Primaten- lebte der letzte gemeinsame Vorfahre von Mensch und arten, wie Paviane, Rhesusaffen oder die buntgesichti- Schimpansen bis vor ungefähr sechs Millionen Jahren gen Mandrills. (Mittermeier et al. 2013).
Stammt der Mensch vom Affen ab? jedem Fall die Bezeichnung „Primat“. In der deutschspra- chigen Wissenschaft bezeichnet man die Anthropoidea, Es steht wohl heutzutage außer Frage, dass der Mensch, jene Gruppe, die sich nach Aufspaltung der Trocken- wie alle anderen Lebewesen auch, ein Produkt der Evo- nasenprimaten von den Koboldmakis getrennt hat, als lution ist und dass es einen gemeinsamen Vorfahren „eigentliche Affen“, in neuerer Literatur auch nur noch aller heute lebenden Primaten, einschließlich des Men- als „Affen“. Diese beinhaltet alle Familien der Neuwelt- schen, gegeben hat. Das Problem scheint daher eher und Altweltaffen, einschließlich Menschenaffen - und ein semantisches zu sein: Wie bezeichnen wir unsere damit den Menschen. Wenn man also bereits diesen ers- gemeinsamen Vorfahren? Wissenschaftlich korrekt ist in ten Anthropoiden, der vor 64 Millionen Jahren lebte, als Affen bezeichnet, muss man folge- richtig davon ausgehen, dass unsere Vorfahren der letzten 64 Millionen Jahre Affen waren. Es bleibt also nur eine einzige logische Antwort auf die Frage: Der Mensch stammt nicht nur vom Affen ab, er ist auch einer. Literatur Mason VC, Li G, Minx P, Schmitz J, 11 Churakov G, Doronina L, Melin AD, Dominy NJ, Lim NT-L, Springer MS, Wilson RK, Warren WC, Helgen KM, Murphy WJ (2016): Genomic analysis reveals hidden biodiversi- ty within colugos, the sister group of primates. Science Advances 2: e1600633. Finstermeier K, Zinner D, Brameier M, Meyer M, Kreuz E, Hofreiter M, Roos C (2013): A mitogenomic phy- logeny of living primates. PLoS One 8(7): e69504. Mittermeier RA, Ryland AB, Wilson DE (2013): Handbook of the Mammals of the World. Vol. 3. Primates. Bar- celona, Lynx Edicions. Der Sansibar-Stummelaffe (Piliocolobus kirkii) ist ein Vertreter der Schlank- und Stum- melaffen. Foto: Olivier Lejade, France (P8200013.JPG) [CC BY-SA 2.0 (creativecommons. org/licenses/by-sa/2.0)], Wikimedia Commons Evolution und Diversität der Primaten
12 Die Abbildung zeigt Schädel verschiedener weiblicher Primaten. Von links nach rechts: Mensch (Homo sapiens), Schimpanse (Pan troglodytes), Javaneraffe (Macaca fascicularis), Gehaubter Kapuzineraffe (Sapajus apella), Katta (Lemur catta), Grauer Mausmaki (Microcebus murinus). Präparationen der Affenschädel: Wolfgang Henkel, Foto: Karin Tilch
2. Evolution und Diversität der Primaten Down to the bone Die Evolution steckt in unseren Knochen Exponate: 2.5 Skelette: Weißbüschelaffe, Mantelpavian und Mensch 2.6 Schautafeln: Anpassungen der Primaten- skelette an die Fortbewegung 2.7 Tischvitrine: Schädel, Extremitäten und Schwänze verschiedener Primatenarten 2.8 Schautafel: Merkmale der Hände, Füße und Schädel 2.9 Dermoplastik: Hand eines Gorillas Ob Lemuren im Trockenwald von Madagaskar, Paviane Klettern und Springen, Schwinghangeln und zweibeini- in den Savannengebieten Afrikas oder Orang-Utans im ges Laufen. Innerhalb dieser Haupttypen haben sich zum feuchten Regenwald von Indonesien – Primaten haben Teil mehrere Unterkategorien und zahlreiche Variationen sich im Laufe der Evolution an verschiedene Lebensräu- zwischen den verschiedenen Primatenarten entwickelt. me angepasst. Dabei zeigen sie eine große Vielfalt an Auch können die einzelnen Primatenarten nicht strikt unterschiedlichen Lebensweisen, die sich zum Beispiel den vier Fortbewegungsarten zugeordnet werden. Denn in Fortbewegungsarten, Aktivitätszeiten, Nahrungsbe- bis auf den Menschen, der ausschließlich auf zwei Bei- schaffung, Sozialleben oder der Kommunikation ma- nen geht, sind Primaten sehr flexibel in ihrer Fortbewe- nifestieren. Die evolutionäre Anpassung eines Tieres gungsweise. Ein Schimpanse zum Beispiel läuft je nach 13 an seinen Lebensraum durch Ausprägung bestimmter Umgebung auf vier Beinen, klettert auf Bäume, schwingt Merkmale wird als Adaptation bezeichnet. Diese Merk- von Ast zu Ast und kann auch zeitweise auf zwei Beinen male verschaffen Lebewesen gegenüber anderen einen unterwegs sein. Südamerikanische Klammer- oder Spin- evolutionären Vorteil (Vermeij 1978). nenaffen laufen agil auf allen Vieren in den Bäumen, han- geln sich aber auch geschickt von Ast zu Ast und nehmen Die Vielfalt der heute lebenden Primaten ist das Ergeb- dabei ihren Greifschwanz als fünftes Gliedmaß zu Hilfe. nis einer sogenannten adaptiven Radiation. Es bedeutet, Trotz dieser fließenden Übergänge sind Tendenzen zur dass aus einer weniger spezialisierten Art (Urprimat) bevorzugten Fortbewegung bei den einzelnen Arten er- durch Ausbildung spezifischer Anpassungen an vorhan- kennbar, deren Anpassung sich im Körperbau zeigt. Die dene Umweltverhältnisse viele stärker spezialisierte Ar- Unterschiede zwischen den vier Hauptfortbewegungs- ten entstehen. Die Primaten sind somit eine Gruppe eng arten werden im Wesentlichen davon bestimmt, in wel- verwandter Tiere, die unterschiedliche Merkmale in Kör- chem Maße die Arme oder Beine zum Klettern, Springen, perbau oder Verhaltensweisen entwickelt haben, um ver- Laufen oder Hangeln eingesetzt werden. schiedene Lebensräume nutzen zu können. Einige dieser Anpassungen können unter anderem sehr gut im Aufbau Primatenarten, die überwiegend klettern und von Ast zu des Skeletts, speziell der Extremitäten, beobachtet wer- Ast springen, haben kräftigere und längere hintere Glied- den. maßen ausgebildet. Galagos, Koboldmakis oder Lemuren wie Indris oder Wieselmakis haben sich so sehr gut an Laufen, Springen, Hangeln – das Primatenskelett ihre Lebensweise in den Bäumen angepasst. Auch beim Menschen, der als einzige Primatenart ausschließlich auf Bezogen auf Spezialisierungen im Körperbau sind Prima- zwei Beinen unterwegs ist, sind die unteren Gliedmaßen ten eine eher homogene Gruppe. Unterschiede zeigen stärker ausgebildet. Arten, die dagegen eher auf allen sich jedoch besonders im Aufbau der Arme und Beine in Vieren laufen, haben nahezu gleich lange Vorder- und Abhängigkeit von der Fortbewegungsweise. Bei Primaten Hinterextremitäten. Allerdings gibt es auch hier zum Teil können vereinfacht vier Hauptarten der Fortbewegung Unterschiede in der Dominanz der Hinterbeine. Languren unterschieden werden: vierbeiniges Laufen, senkrechtes oder Stummelaffen beispielsweise bewegen sich vier- Evolution und Diversität der Primaten
zeichnet wird. Besonders geschickt sind da- bei die Orang-Utans (Martin 1990). Neben der Länge der vorderen Extremi- täten zeigen auch die Beweglichkeit des Schultergelenks und die Formen der Hän- de eine Anpassung an das Hangeln unter dem Ast. Affenarten, die sich vornehmlich auf allen Vieren fortbewegen, können ihre Vorderextremitäten nur in begrenztem Maße seitlich abspreizen. Der ovale Ge- lenkkopf des Schultergelenks lässt haupt- sächlich eine Vor- und Zurückbewegung zu. Die Hangler besitzen dagegen einen Kugelgelenkkopf im Schultergelenk, der eine dreidimensionale Schulterbeweg- Gipsabdruck vom rechten Fuß eines weiblichen Westlichen Gorillas (Gorilla lichkeit ermöglicht (Eimerl und De Vore gorilla). Die Großzehe ist abgespreizt und opponierbar, was eine Greifbewegung ermöglicht. Abdruck: Werner Beckmann, Foto: Karin Tilch 1977). Auch die Handform gibt Aufschluss 14 über die Fortbewegungsweise. Hangelnde Affenarten krümmen ihre letzten Finger- beinig fort, springen aber auch häufig und haben einen glieder ohne Benutzung des Daumens um den Ast. Sie „galoppierenden Gang“ entwickelt, was ihnen kräftigere bilden also mit der Hand sozusagen einen „Haken“ und Hinterbeine eingebracht hat. Bei Läufern, die sich über- greifen nicht um den Ast. Ihr Daumen sitzt daher tief wiegend am Boden aufhalten, unterscheidet man zwi- in der Nähe des Handgelenks am schmalen Handteller schen Arten, die die gesamte Hand aufsetzen, wie zum oder ist stark reduziert, wie bei den Klammeraffen. Alle Beispiel Paviane, Mandrills oder Makaken, und Arten, die vierbeinig laufenden Affenarten besitzen dagegen ei- auf den Fingerknöcheln laufen, wie Gorillas oder Schim- nen relativ breiten Handteller mit kurzen Fingern und pansen. Die baumlebenden Läufer sind eine sehr hetero- hohem Daumenansatz (Kuhn 1988). gene Gruppe, zu der diverse Vertreter von Lemuren, Loris, Altwelt- und Neuweltaffen gehören (Martin 1990, Napier Mit Kraft und Präzision – Hände und Füße und Groves 2017). Alle Primatenarten haben gut ausgebildete Hände, die Die Menschenaffen haben aufgrund ihres zunehmenden zum Greifen geeignet sind. Das befähigt sie dazu, Dinge Gewichtes das Hangeln als Fortbewegungsweise unter wie mit einer Zange gut festzuhalten und bringt ihnen dem Ast entwickelt (Napier und Napier 1985). Besonders entscheidende Vorteile bei der täglichen Nahrungsbe- die Gibbons haben diese Art der Fortbewegung perfekti- schaffung und der Fortbewegung. Primaten können gut oniert, die als Schwinghangeln oder Brachiation bezeich- klettern, weil sie sich auch in den höchsten Baumwip- net wird. Dabei schwingen sie nur unter Einsatz ihrer feln sicher festhalten. Sie können Blätter und Früchte vorderen Gliedmaßen, abwechselnd von Ast zu Ast grei- pflücken, Nüsse knacken und Werkzeuge benutzen. Der fend, durch die Bäume. Ihre Arme sind dafür besonders Schlüssel zum Erfolg liegt in der sogenannten Opponier- lang und kräftig ausgebildet. Auch alle anderen Men- barkeit des Daumens. Es bedeutet, dass dieser den ande- schenaffenarten können sich hangelnd fortbewegen. Sie ren Fingern gegenübergestellt werden kann. Ermöglicht nehmen dabei aber auch oft ihre hinteren Gliedmaßen wird diese Beweglichkeit durch ein Sattelgelenk an der zu Hilfe, was als vierbeiniges Hangeln oder Klettern be- Basis des Daumens – ein Gelenk, das wie zwei aufeinan-
der gestülpte Sättel aussieht und eine Bewegung in zwei Diese eingeschränkte Beweglichkeit der Finger hat Aus- Ebenen zulässt. wirkungen auf die Feinmotorik der Hand. Altweltaffen sind in der Lage, sowohl mit der ganzen Hand zu greifen Bei den Altweltaffen, zu denen auch Menschenaffen (Kraftgriff) als auch mit einzelnen Fingern (Präzisions- inklusive Mennsch gehören, ist die Opponierbarkeit griff), was ihnen Feinmanipulationen an Gegenständen des Daumens besonders weit entwickelt. Lemuren, von höchster Genauigkeit erlaubt. Alle anderen Prima- Galagos, Loris, Koboldmakis und auch Neuweltaffen tenarten sind aufgrund der Anatomie ihrer Hände nur haben kein Sattelgelenk, sondern ein Scharniergelenk in der Lage, den Kraftgriff auszuführen (Napier und am Daumen ausgebildet. Der Daumen ist von der üb- Groves 2017). rigen Hand abgespreizt und kann nur seitlich zur Hand bewegt, jedoch nicht vollständig opponiert werden. Neben den Greifhänden besitzen alle Primatenarten Diese begrenzte Rotationsfähigkeit des Daumens auch Greiffüße. Im Laufe der Evolution hat nur der wird als Pseudo-Opponierbarkeit bezeichnet. Auch Mensch die Fähigkeit zum Greifen mit dem Fuß verlo- die Einzelfingerbeweglichkeit ist bei den Altweltaffen ren. Alle anderen Primaten besitzen eine opponierbare höher entwickelt als bei den anderen Primatenarten. Großzehe, die den anderen Zehen gegenübergestellt Während diese jeden Finger einzeln bewegen können werden kann und das Klettern und Festhalten von Nah- (Einzelfingerkontrolle), sind Lemuren, Loris, Galagos, rung erleichtert. Der menschliche Fuß funktioniert da- Koboldmakis und Neuweltaffen nicht in der Lage, die gegen mit seinen kurzen Zehengliedern und dem nicht Finger unabhängig voneinander zu bewegen. Beim Er- opponierbaren Großzeh wie ein steifer Hebel und ist 15 greifen von Gegenständen nehmen sie die ganze Hand sehr gut für das Zurücklegen langer Distanzen in fla- und krümmen alle Finger gleichzeitig (Ganzhandkon- chem Gelände geeignet. trolle) (Martin 1990). Hand eines männlichen jungen Sumatra Orang-Utans (Pongo abelii). Der Daumen ist opponierbar und in Anpassung an eine vornehmlich hangelnde Fortbewegung gegenüber den anderen Fingern verkürzt. Präparation: Wolfgang Henkel, Foto: Karin Tilch Evolution und Diversität der Primaten
Primatenschädel und Sinne Der Schädel der Primaten beherbergt wie bei allen ande- ren Säugetieren das Gehirn, die speziellen Sinnesorgane Augen, Ohren und Nase sowie den Kauapparat. Grob kann der Schädel in einen hinteren Gehirnschädel und einen vorderen Gesichtsschädel unterteilt werden. Obwohl der Aufbau bei allen Primaten ungefähr gleich ist, können die Schädel verschiedener Primatenarten unterschiedliche Erscheinungsformen haben – abhängig von der Größe und den zahlreichen Funktionen und Anpassungen. Schädel eines männlichen Kattas (Lemur catta). Der Gesichts- Die Größe des Schädels wird im Wesentlichen von der schädel ist dem Gehirnschädel vorgelagert. Die Augen sind Größe des Gehirns bestimmt. Primaten haben im Ver- schräg nach vorn gerichtet und von knöchernen Postorbitalbö- gleich zu anderen Säugern verhältnismäßig große Ge- gen umgeben, die nach hinten offen sind. Präparation: Wolfgang hirne. Innerhalb des Stammbaums der Primaten steigen Henkel, Foto: Karin Tilch Größe und Gewicht der Gehirne im Verhältnis zur Kör- pergröße an. Während das Gehirn eines Mausmakis auf cortex genannt. Sie umfasst den größten Teil des Gehirns 16 Madagaskar nur rund 1,7 Gramm und das eines Kattas und ist unter anderem für die Verarbeitung von sensori- ungefähr 23 Gramm wiegt (MacLean et al. 2009), bringen schen Signalen aus unserer Umwelt zuständig. Während Makaken-Gehirne schon rund 100 Gramm auf die Waa- bei den meisten Säugetieren der Geruchssinn eine über- ge. Die Gehirne von Menschenaffen, wie Schimpanse und geordnete Rolle spielt, hat er sich bei den Primaten im Orang-Utan, wiegen ungefähr 300 bis 500 Gramm. Das Laufe der Evolution zurückgebildet. Lemuren, die in der größte Denkorgan besitzt der Mensch mit durchschnitt- Nacht aktiv sind, besitzen noch einen gut entwickelten lich 1300 Gramm (Bradbury 2005). Dementsprechend Geruchssinn und setzen ihn beispielsweise bei der Prü- haben Menschenaffen und Menschen auch die größten fung von Nahrung oder Kontakt mit Artgenossen ein. Gehirnschädel entwickelt. Tagaktive Altwelt- und Menschenaffen orientieren sich dagegen eher über ihren gut entwickelten visuellen Sinn. Der Teil des Gehirns, der sich bei Primaten signifikant Die Entwicklung eines ausgeprägten visuellen Systems weiterentwickelt hat, ist die Großhirnrinde, auch Neo- führte zur Erweiterung und Differenzierung des Neocor- tex (Napier und Groves 2017). Die Schwerpunktverlagerung in Entwicklung und Ein- satz der Sinnesorgane lässt sich auch an der Schädel- form erkennen. Lemuren, wie Kattas oder Varis, besit- zen eine hundeartige Schnauze und eine flache Stirn. Ihr Gesichtsschädel befindet sich vor dem Gehirnschä- del. Bei den anderen Primaten führte die Reduktion des Geruchssinns auch zur Rückentwicklung der knöchernen Bestandteile der Nase. Daher liegt der Gesichtsschädel unter dem Gehirnschädel. Eine Ausnahme bilden Alt- weltaffen wie Paviane oder Mandrills. Bei ihnen sind die Schädel eines nachtaktiven Westlichen Fettschwanzmakis Kieferknochen stark ausgebildet und bilden eine lang (Cheirogalaeus medius) mit großen Augenhöhlen. Präparation: gezogene Schnauze. Der Gesichtsschädel liegt aber auch Wolfgang Henkel, Foto: Karin Tilch bei ihnen unter dem stark aufgewölbten Gehirnschädel.
MacLean EL, Barrickman NL, Johnson EM, Wall CE (2009): Sociality, ecology and relative brain size in lemurs. Journal of Human Evolution 56: 471-478. Martin RD (1990): Primate Origins and Evolution: A Phy- logenetic Reconstruction. London, Chapman and Hall. Napier JR, Napier PH (1985): The Natural History of Prima- tes. London, The British Museum. Napier JR, Groves CP (2017): Primate. Encyclopedia Bri- tannica Online. Encyclopedia Britannica Inc. Vermeij GJ (1978): Biogeography and Adaptation: Pat- terns of Marine Life. Cambridge, Massachusetts, Har- Schädel eines weiblichen Schimpansen (Pan troglodytes). Die vard University Press. Augen sind nach vorn gerichtet. Der Gesichtsschädel liegt un- ter dem Gehirnschädel. Die Augenhöhlen sind durch eine knö- cherne Scheidewand verschlossen, so dass die Augen in einem „Becher“ liegen. Präparation: Wolfgang Henkel, Foto: Karin Tilch Die Größe der Augenhöhlen im Schädel hängt unmittel- bar mit der Größe der Augen zusammen. Große Augen- 17 höhlen weisen deshalb eher auf Nachtaktivität hin und sind beispielsweise bei Mausmakis, Galagos oder Kobold- makis zu beobachten. Im Gegensatz zu vielen anderen Säugern sind die Augenhöhlen bei Primaten seitlich von einem knöchernen Ring (engl.: postorbital bar) begrenzt. Bei Lemuren ist die Augenhöhle nach hinten offen. Bei hö- heren Primaten sind die Augenhöhlen hinten durch eine knöcherne Scheidewand verschlossen, so dass die Augen wie in einem Becher liegen (engl.: postorbital closure). Auch die Augenposition ist bei Lemuren eher schräg nach vorn ausgerichtet, während alle anderen Primatenarten eine frontale Augenstellung haben. Die nach vorn gerich- teten Augen verkleinern zwar das Sichtfeld, ermöglichen aber ein hochentwickeltes räumliches Sehvermögen, das die Beurteilung von Tiefen und Abständen ermöglicht und eine Anpassung der Primaten an eine Lebensweise und Fortbewegung in den Bäumen zeigt (Martin 1990). Literatur Bradbury J (2005): Molecular insights into human brain evolution. PLoS Biology 3(3), e50 Eimerl S, De Vore I (1977): Die Primaten. Hamburg, Time Life Book. Kuhn HJ (1988): Herrentiere oder Primaten. In: Grzimek B (Hrsg.): Grzimeks Enzyklopädie der Säugetiere. Band 4, Kindler Verlag, München Evolution und Diversität der Primaten
18 Asien 82% Südamerika 43 % Madagaskar 94 % Afrika 39 % Die Weltkarte zeigt die Verbreitung der heute lebenden Primaten sowie den Anteil bedrohter Arten in der jeweiligen Region. Daten aus Estrada et al. 2017. Karte: Graphics Factory CC, www.vectorworldmap.com, Abbildung: Luzie J. Almenräder
3. Bedrohung Primaten in Gefahr Warum sind so viele Arten vom Aussterben bedroht? Exponate: 3.1 Interaktive Weltkarte: Bedrohte Primaten 3.2 Schautafeln: Die 25 meistbedrohten Primaten der Welt 3.3 Schautafeln: Liste aller derzeit bekannten Primatenarten mit Bedrohungsstatus 3.4 Schautafel: Warum sind Pri- maten bedroht? 3.5: Palmöl, Soja, Tropenholz – Was können wir tun? Das Aussterben von Arten ist ein natürlicher Vorgang, der Bedrohung liegen in Madagaskar und in Südost- der sich zu einem gewissen Grad ständig ereignet. Die asien. Auf Madagaskar sind 94 Prozent der dort leben- Geschwindigkeit aber, mit der heutzutage Tier- und den Lemuren bedroht, fast ein Viertel steht sogar kurz Pflanzenarten aussterben, liegt weit über dem norma- vor dem Aussterben. In Asien sind 82 Prozent der Pri- len Maß. Ein solches Phänomen bezeichnet man als maten bedroht, darunter auch die beiden Orang-Utan- Massenaussterben. In der Erdgeschichte hat es immer Arten. Damit sind alle Menschenaffen – mit Ausnahme wieder solche Zeiten gegeben. Bekannt ist vor allem das des Menschen – bedroht, denn auch die Gorillas und große Massenaussterben vor 65 Millionen Jahren, dem Schimpansen Afrikas sowie die Gibbons Süd- und Süd- fast alle Saurier zum Opfer gefallen sind. Während dies ostasiens stehen als stark gefährdet beziehungswei- 19 früher aufgrund natürlicher Katastrophen (Asteroiden- se vom Aussterben bedroht auf der Roten Liste (IUCN einschläge, Klimaveränderungen) geschah, ist das heu- 2016). Offiziell ist in den letzten 100 Jahren noch kei- tige Massenaussterben auf den Menschen zurückzufüh- ne Primatenart ausgestorben. Allerdings wurden Miss ren. Die explosionsartige Vermehrung der menschlichen Waldron Stummelaffen (Piliocolobus waldronae) seit Bevölkerung und die damit einhergehende Übernutzung 20 Jahren nicht mehr gesichtet und der natürlichen Ressourcen führen dazu, dass sehr vie- die Population der Hainan-Schopf- len Arten ihre Lebensgrundlage entzogen wird (Kolbert gibbons (Nomascus hainanus) 2015). Die nicht-menschlichen Primaten sind davon in beläuft sich auf gerade einmal 30 besonderem Maße betroffen, da sie in Regionen leben, Individuen. in denen das Bevölkerungswachstum besonders hoch ist und die durch politische Instabilität und Armut geprägt Hauptbedrohungsfaktor für sind (Estrada et al. 2017). die meisten Primatenpopu- lationen ist die Zerstörung Die Weltnaturschutzunion (International Union for ihres natürlichen Lebens- Conservation of Nature, kurz IUCN) evaluiert für ihre raums. Dieser wird „Rote Liste der bedrohten Arten“ die verfügbaren Da- in erster Linie in ten möglichst vieler Tier- und Pflanzenarten. Von den Agrarland zum An- 513 nicht-menschlichen Primatenarten konnten bisher bau von Nutzpflan- 448 Arten evaluiert werden. Von diesen mussten 279 zen oder zu Weide Arten als bedroht eingestuft werden. Das entspricht 62 für die Viehzucht Prozent. 63 Arten (14 Prozent) gelten sogar als unmit- umgewandelt. telbar vom Aussterben bedroht. Lokale Schwerpunkte Kommen die Der Katta (Lemur catta) wurde von der IUCN Primate Specialist Group in die Liste der 25 meistbedrohten Primaten 2016-2018 aufgenommen. Die beliebten Tiere werden häufig illegal als Haustiere in Hotels und Restaurants gehalten, wo sie als Touristenattraktion gelten. Foto: Lars Washausen
Primaten dann nur in einem relativ kleinen umgrenzten Gewinnung von Edel- und Nutzhölzern abgeholzt. Trotz Gebiet vor, wie es beispielsweise bei vielen Lemuren auf des wachsenden Bewusstseins sind auch hierzulande Madagaskar der Fall ist, dann genügt oft die Abholzung tropische Edelhölzer immer noch ein begehrtes Material, eines einzigen Waldes, um eine Art in Bedrängnis zu beispielsweise für Terrassenböden und Möbel. bringen. Dabei ist es nicht immer der Nahrungsbedarf in den Herkunftsländern, der mit diesen Flächen gedeckt Neben der wirtschaftlichen Ausbeutung ihres Lebens- werden soll, sondern zum Beispiel auch der Bedarf der In- raums ist auch die direkte Bejagung ein Grund für dustrieländer an billigem Palmöl und Viehfutter auf Soja- sinkende Primatenzahlen. In vielen armen, häufig von basis. Darüber hinaus werden viele tropische Wälder zur Bürgerkriegen zerstörten Ländern stellen Wildtiere oft die einzige Proteinquelle dar, so dass manche Wälder geradezu leer geschossen sind. So ist die Po- pulation des Östlichen Flachland- gorillas (Gorilla beringei graueri) in der Demokratischen Republik Kongo in nur einer Generation um 77 Prozent reduziert worden. Aber auch in Schwellenländern, wie 20 Brasilien, ist der Jagddruck auf Pri- maten immer noch hoch. So füh- ren der Abbau von Bodenschätzen und die damit einhergehende Er- schließung entlegener Regionen, in der Regel unweigerlich zur Be- jagung der Wildtiere in der Um- gebung. Ebenso ist der Handel mit Primaten als Haustiere immer noch ein lukratives Geschäft und in vielen Gegenden Südostasiens werden Primatenprodukte in der traditionellen Medizin verwendet (Schwitzer et al. im Druck). Die Bedrohungsfaktoren sind viel- fältig und es wird keine einfache Lösung für das Problem schwin- dender Primatenpopulationen ge- ben. Aber es ist klar, dass es nicht ausschließlich ein Problem der Her- kunftsregionen ist und dass sich auch die Industrieländer Gedanken darüber machen müssen, was ih- Javaneraffen (Macaca fascicularis) auf einem Markt in Jakarta, Indonesien. Der illegale nen der Schutz unserer biologisch Handel mit Primaten ist ein Faktor, der die Bestände vieler Arten bedroht. nächsten Verwandten wert ist (Es- Foto: V. Nijman trada et al. 2017).
21 Abgeholzter Wald auf Sumatra, Indonesien. Die Zerstörung ihrer natürlichen Lebensräume ist einer der Hauptgründe für die Bedrohung von Primaten. Besonders in Indonesien werden jährlich große Regenwaldareale abgeholzt, um Palmölplantagen anzulegen. Foto: W.F. Laurance Literatur in Peril: The World’s 25 Most Endangered Primates Kolbert E (2015): Das Sechste Sterben: Wie der Mensch Na- 2016-2018. IUCN SSC Primate Specialist Group (PSG), turgeschichte schreibt. Berlin, Suhrkamp. International Primatological Society (IPS), Conserva- Estrada A, Garber PA, Rylands AB, Roos C, Fernandez- tion International (CI), and Bristol Zoological Society, Duque E, Di Fiore A, Nekaris KA-I, Nijman V, Heymann Arlington. Frei verfügbar unter: www.primate-sg.org/ EW, Lambert JE, Rovero F, Barelli C, Setchell JM, Gille- (voraussichtlich ab Nov 2017). spie TR,l Mittermeier RA, Verde Arregoitia L, de Guinea M, Gouveia S, Dobrovolski R, Shanee S, Shanee N, Boyle SA, Fuentes A, MacKinnon KC, Amato KR, Meyer ALS, Wich S, Sussman RW, Pan R, Kone I, Li B (2017): Impen- ding extinction crisis of the world’s primates: Why pri- mates matter. Science Advances 3: e1600946. International Union for Conservation of Nature (2016): IUCN Red List of Threatened Species. Version 2015-4. Frei verfügbar unter: www.iucnredlist.org/ . Schwitzer C, Mittermeier RA, Rylands AB, Chiozza F, Wil- liamson EA, Wallis J, Cotton A (im Druck): Primates Bedrohung
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4. Sozialsysteme Wer mit wem? Das Sozialleben der Paviane Exponate: 4.1 Schautafel: Die Sozialsysteme der Paviane 4.2 Videoprojektion: Pavianforschung im Senegal 4.3 Schau- tafel: Die Forschungsstation Simenti Es ist ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen, etwas Ein Sozialsystem setzt sich aus verschiedenen Kompo- über sich und seine Eigenarten zu erfahren. Als Biologen nenten zusammen. Da ist zum einen die soziale Orga- suchen wir in erster Linie in unseren evolutionären Wur- nisation, welche die Gruppenzusammensetzung be- zeln nach Erklärungen für verschiedene Wesensmerk- schreibt. Dazu gehören Gruppengröße, zahlenmäßiges male. Besonders interessant ist dabei die evolutionäre Geschlechterverhältnis und welche Individuen zwischen Grundlage unserer sozialen Beziehungen und damit un- Gruppen wechseln (Abwandern). Zum anderen stellt sich serer Gesellschaftssysteme. Die Verhaltensforschung un- die Frage nach dem Paarungssystem. Wer pflanzt sich mit tersucht seit fast 100 Jahren das Verhalten verwandter wem fort und gibt es Unterschiede im Reproduktions- Arten und solcher, die sich unter ähnlichen ökologischen erfolg zwischen Gruppenmitgliedern? Dem gegenüber Bedingungen entwickelt haben, um über Unterschiede steht die Sozialstruktur, welche die Beziehungen zwi- 23 und Gemeinsamkeiten den Einfluss von ökologischen schen den Gruppenmitgliedern beschreibt. Gibt es zum Gegebenheiten und genetischen Voraussetzungen auf Beispiel enge Beziehungen zwischen den Geschlechtern das Verhalten von Arten zu verstehen. Der Mensch wur- auch außerhalb der Fortpflanzungszeit? Gibt es Rang- de dabei in der Regel mit seinen engsten Verwandten, hierarchien oder spezielle Beziehungen zwischen Indi- den beiden Schimpansenarten, verglichen. Bei nur zwei viduen, die man als Freundschaften bezeichnen könnte Arten bietet dies im Fall der Sozialsysteme allerdings nur (Kappeler und van Schaik 2002)? begrenzte Vergleichsmöglichkeiten. Am besten untersucht sind bisher die Mantelpaviane Die Gattung Paviane umfasst sechs Arten, die über den (Papio hamadryas). Sie kommen am Horn von Afrika ganzen afrikanischen Kontinent verbreitet sind, mit Aus- und im südwestlichen Arabien vor und leben in einem nahme der Regenwälder und extremer Trockengebiete. mehrstufigen Sozialsystem. Die Basis bildet die Ein- Da die Arten untereinander eng verwandt sind, aber in Mann-Gruppe, bestehend aus einem Männchen und ei- unterschiedlichen Sozialsystemen leben, stellen sie ein nem bis mehreren Weibchen. Das Männchen separiert ideales Studienobjekt für die Untersuchung des Einflus- seine Weibchen von anderen Ein-Mann-Gruppen und ses von Umweltbedingungen und Stammesgeschichte paart sich nur mit ihnen. Mehrere Ein-Mann-Gruppen auf die soziale Evolution dar. Da der größte Teil ihrer Evo- schließen sich zu Clans zusammen, mehrere Clans wie- lutionsgeschichte im selben Zeitraum und in denselben derum bilden eine Bande. Bei den Mantelpavianen sind Savannenlebensräumen ablief wie die unserer menschli- die Weibchen das abwandernde Geschlecht, während chen Vorfahren, sind Paviane darüber hinaus ein vielver- die Männchen überwiegend in ihrem Clan bleiben. Die sprechendes Modell für die soziale Evolution des Men- Savannenpaviane – Bärenpavian (Papio ursinus), Anubis- schen (Fischer et al. 2017). pavian (Papio anubis), Gelber Pavian (Papio cynocephalus) – leben in Mehrmännchen-Mehrweibchen-Gruppen. Es gibt keine Exklusivität in der Fortpflanzung, aber höher- rangige Männchen zeugen meist mehr Nachwuchs. En- Eine Gruppe Guineapaviane (Papio papio) bei der sozialen gere Bindungen bestehen zwischen den Weibchen. Die- Fellpflege. Guineapaviane leben in einem mehrschichtigen se Bindungen beruhen in den meisten Fällen auf engen Sozialsystem und pflegen differenzierte soziale Beziehungen. Foto: Matthias Klapproth Sozialsysteme
Die Verbreitungsgebiete der Paviane. Karte: Dietmar Zinner, Illustrationen mit freundlicher Genehmigung von © Stephen D. Nash / IUCN SSC Primate Specialist Group 2013 Mantelpavian Guineapavian Anubispavian Gelber Pavian Kindapavian 24 Bärenpavian Verwandtschaftsbeziehungen. Gelegentlich werden aber noch vier weitere Primatenarten im Studiengebiet vor: auch länger anhaltende „Freundschaften“ von Weibchen Senegal-Galagos (Galago senegalensis), Westliche Grüne mit erwachsenen Männchen beobachtet. Die Männchen Meerkatzen (Chlorocebus sabaeus), Husarenaffen (Eryth- sind das abwandernde Geschlecht (Swedell 2011). Über rocebus patas) und Temminck-Stummelaffen (Piliocolobus Kindapaviane (Papio kindae) ist bisher so gut wie nichts temmincki). Etwa 50 Kilometer von der Forschungsstati- bekannt und auch Guineapaviane (Papio papio) wurden on entfernt lebt auch noch eine kleine Schimpansenpo- bis zur Gründung der Feldstation Simenti nicht systema- pulation (Pan troglodytes verus) im Park. tisch in Langzeitstudien untersucht. Die ersten Studienergebnisse zum Sozialsystem der Die Forschungsstation Simenti Guineapaviane zeigen das Bild einer verschachtelten, mehrschichtigen Gesellschaft, ähnlich der der Man- Die Forschungsstation CRP Simenti (Centre de Recherche telpaviane. Basis bildet die Unit, bestehend aus einem de Primatologie Simenti) wurde 2007 vom DPZ im Nioko- Männchen und einem bis mehreren Weibchen. Mehrere lo-Koba-Nationalpark im Südosten Senegals gegründet. Units bilden eine Party, mehrere Partys eine Gang. Im Der Park liegt in der tropischen Savannenzone und ist von Gegensatz zur Mantelpaviangesellschaft beruht die stark saisonalen Niederschlägen geprägt. Die Trockenzeit Männchen-Weibchen-Beziehung hier aber eher auf Frei- dauert von November bis Mai, die Regenzeit von Juni bis willigkeit. Die Weibchen pflegen mit ihrem Männchen Oktober. Die Studienpopulation in Simenti umfasst mehr enge soziale Beziehungen und paaren sich fast aus- als 300 Paviane, wobei sich die Forschungsarbeit auf schließlich mit ihm. Manchmal gehört auch ein zweites ungefähr 70 Individuen konzentriert. Das Studiengebiet Männchen zur Unit. Die Stabilität der Beziehung des liegt direkt am Gambia-Fluss mit seinen ausgeprägten Weibchens zu seinem Männchen variiert stark. Man- Galeriewäldern. Neben den Guineapavianen kommen che Weibchen wechseln zu anderen Männchen, sowohl
innerhalb als auch außerhalb ihrer Party, ohne dass ihr erstaunlich dem Bild, das man sich heute von frühen Männchen eingreift. Mantelpavianmännchen dagegen menschlichen Gesellschaften macht, die sich unter den- verhindern durch aggressives Hüten, dass ihre Weib- selben ökologischen Bedingungen des Savannenlebens chen Kontakte mit anderen Männchen aufnehmen. entwickelt haben. Unter den Guineapavian-Männchen gibt es keine aus- geprägte lineare Dominanzhierarchie. Dafür zeigen sie Literatur starke soziale Beziehungen untereinander und relativ Fischer J, Kopp GH, Dal Pesco F, Goffe A, Hammerschmidt wenig Aggression. K, Kalbitzer U, Klapproth M, Maciej P, Ndao I, Patzelt A, Zinner D (2017): Charting the negleted West: The Der Ursprung der Paviane liegt wahrscheinlich im südli- social system of Guinea baboons. American Journal of chen Afrika, von wo aus sie sich vor rund zwei Millionen Physical Anthropology 162: 15-31. Jahren über den afrikanischen Kontinent ausbreiteten Kappeler PM, van Schaik CP (2002): Evolution of primate (Zinner et al. 2011). Interessant ist, dass die am entfern- social systems. International Journal of Primatology testen von diesem Gebiet lebenden Guinea- und Man- 23: 707-740. telpaviane mehrschichtige Gesellschaftssysteme mit Swedell L (2011): African Papionins: Diversity of social Abwanderung der Weibchen entwickelt haben, während organization and ecological flexibility. In: Campbell CJ bei den Savannenpavianen die Weibchen sesshaft sind (ed.): Primates in Perspective, 2nd edition. New York, und die Männchen abwandern. Wie es zu einem solchen Oxford University Press: 241-277. Wandel in der sozialen Organisation kommen konnte, Zinner D, Buba U, Nash S, Roos C (2011): Pan-African vo- 25 ist bis heute nicht geklärt. Besonders das Sozialsystem yagers. The phylogeography of baboons. In: Sommer der Guineapaviane mit seiner mehrschichtigen Organi- V, Ross C (eds.) Primates of Gashaka: Socioecology and sation, starken Männchen-Männchen-Beziehungen und Conservation in Nigeria’s Biodiversity Hotspot. New überwiegend weiblicher Abwanderung entspricht jedoch York, Springer: 267-306. Die Forschungsstation Simenti (Centre de Recherche de Primatologie Simenti) liegt im Südosten Senegals im Niokolo-Koba-Nationalpark. Foto. Ludwig Ehrenreich Sozialsysteme
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5. Regenwaldökologie Kleine Affen und große Bäume Die Ökologie des Amazonasregenwaldes Exponate: 5.1 Schautafel: Samenausbreitung durch Krallenaffen im Amazonas-Regenwald 5.2 Modell: Keimungsex- periment 5.3 Tischvitrine: Kleine Affen verbreiten große Samen 5.4 Schautafel: Die DPZ-Forschungsstation in Peru 5.5 Dermoplastiken: Südamerikanische Primaten Tropische Regenwälder gehören zu den artenreichsten Samen aber unverdaut ausscheiden. Die 300 bis 600 Ökosystemen dieser Erde. Das komplexe Zusammen- Gramm schweren Tiere schlucken dabei Samen von einer spiel der Tier- und Pflanzenarten trägt zur Aufrechter- Länge bis zu 2,5 Zentimetern und einem Durchmesser haltung und Funktionsfähigkeit dieser Ökosysteme bei, von mehr als einem Zentimeter. Um Vergleichbares zu die unter anderem auch für das Klima von weltweiter leisten, müsste ein Mensch eine kleine Kokosnuss ver- Bedeutung sind. Als Bestandteile der komplexen Nah- schlucken. Die Samen von rund 90 Pflanzenarten werden rungsnetze spielen Primaten eine wichtige Rolle im Öko- von den Tamarinen im Umkreis von bis zu 600 Metern system. Durch ihre Interaktion mit Blüten und Früchten von der Mutterpflanze ausgebreitet (Heymann et al. können Primaten als Bestäuber und Samenausbreiter 2017). Den Samen schadet der Gang durch den Verdau- 27 fungieren. Die Ausbreitung der Samen, das heißt ihr ungstrakt der Primaten nicht, sie keimen genauso gut Transport von der Mutterpflanze weg, bietet mehrere wie nicht verschluckte Samen (Knogge et al. 2003). Die Vorteile für die Pflanze. So kann sie neue Lebensräume Tamarine tragen in besonderem Maße zur Waldregene- besiedeln und entgeht dem unter Mutterpflanzen be- ration bei, da sie auch Samen von primärem Regenwald sonders hohen Fraßdruck (Kricher 2011). Mehr als die in Sekundärwald eintragen, der sich nach natürlicher Hälfte aller Primatenarten ernährt sich überwiegend (Windbruch) oder menschlicher (Abholzung) Störung in von Früchten und fast alle nehmen zumindest gele- Regeneration befindet (Culot et al. 2010). gentlich Früchte zu sich. Da Primaten bis zu 40 Prozent der Biomasse von Früchtefressern in tropischen Wäl- Bereits seit 1985 arbeiten DPZ-Forscher auf der EBQB dern ausmachen können, spielen sie eine wesentliche und führten hier die ersten DPZ-Feldstudien durch. Die Rolle bei der Samenausbreitung und Waldregeneration (Chapman 1995). Seit 1994 werden kontinuierlich Studien an der DPZ- Forschungsstation Estación Biológica Quebrada Blanco (EBQB) im Amazonastiefland-Regenwald in Nordost-Peru durchgeführt, die sich mit der Ausbreitung von Samen durch zwei Krallenaffenarten beschäftigen. Die Nahrung der Schnurrbarttamarine (Saguinus mystax) und der Schwarzstirntamarine (Leontocebus nigrifrons) besteht zu mehr als der Hälfte aus Früchten, wobei die Tiere nur das Fruchtfleisch verdauen, die heruntergeschluckten Ein Schnurrbarttamarin (Saguinus mystax) am Amazonas. Diese Der erste Forschungsstation des DPZ, die Estación Biológica kleinen Primaten spielen eine wichtige Rolle für die Ökologie des Quebrada Blanco (EBQB) in Peru, 1985. Foto: Ursula Bartecki Regenwaldes. Foto: Cindy Hurtado Regenwaldökologie
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