Programme für 2023 und die kommenden Jahre

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Berlin 14. März 2023

Programme für 2023 und die
kommenden Jahre
Zwei Leitbegriffe bilden den Rahmen für das kulturelle und
politische Programm des HKW. Sie eröffnen den Raum für eine
Vielzahl anderer Konzepte, Philosophien und Praktiken:

1. Pluralität der Welten
In Ben Okris Roman The Famished Road (1991, dt. Die hungrige
Straße) wechselt der Erzähler Azaro unentwegt von der „realen“ zu
einer Geisterwelt, von einer Welt der Ungeborenen zu jener der
Geborenen, von vergangenen zu gegenwärtigen und zukünftigen
Welten. Es ist eine Einladung der Literatur, die Existenz einer
Vielzahl von Welten in Betracht zu ziehen, die von uns anerkannt
werden wollen. Tägliche Nachrichten von Kriegen in der Tigray-
Region und in der Ukraine, Dürren in Somalia, Überschwemmungen
in Pakistan, Erdbeben in Kurdistan, Syrien und der Türkei,
politischen Umwälzungen in der ganzen Welt, der Missachtung von
Frauenrechten im Iran und andernorts – all diese und noch viele
andere katastrophale Zustände geben uns zu denken, dass wir nicht
nur in einer, sondern in vielen verknüpften kulturellen, politischen,
ökologischen, wirtschaftlichen, sozialen, epistemischen und
spirituellen Welten leben. Ähnliches empfinden wir, wenn uns
visuelle und klangliche Kulturen aus anderen Breiten- und
Längengraden begegnen. In den kommenden fünf Jahren möchten
wir den Wechsel vom Universum zum Pluriversum, von der
Universalität zur Pluriversalität vollziehen. Wir möchten uns, um
Arturo Escobar zu zitieren, wegbewegen von der „Hegemonie der
Eine-Welt-Ontologie der Moderne“, die mit grundlegenden
Asymmetrien, Rassismen und anderen Ungleichheiten behaftet ist,
und hinwenden zur Möglichkeit einer Vielzahl gleichwertiger
Welten, deren Existenzen aufeinander Bezug nehmen.

2. Worlding—welten, entwelten und
wiederwelten
Es genügt nicht, die Ursachen zu erkennen, warum die Welten, in
denen wir uns bewegen, in einem so verheerenden Zustand sind. Wir
müssen die Verantwortung annehmen, Welten zu reparieren, zu
rehabilitieren, zu restituieren und neue, bessere Welten für die
kommenden Generationen zu erschaffen. Dazu gehört auch, dass wir
unser Verhältnis zur Welt überdenken und Welt nicht als Substantiv,
sondern als Verb auffassen. Nicht als eine Konstante, sondern als
einen Prozess und eine Praxis, als ständige Veränderung und
Anpassung, als worlding. Damit das künftige HKW der Welt auf
diese Weise begegnen kann, müssen wir uns mit Prozessen des
Entweltens und Wiederweltens beschäftigen. Entwelten meint hier
die Auseinandersetzung damit, wie das das kapitalistische, koloniale,
patriarchalische, extraktivistische und monokulturelle System zur
Zerstörung unserer heutigen Welten beigetragen hat.

Acts of Opening Again – Eine Choreographie der Konvivialität
2.–4. Juni 2023

Mit Interventionen und Performances von u.a. María Magdalena
Campos Pons, Tanka Fonta, Jean-Daniel Lafontant, Masimba Hwati,
Bernardo Oyarzún
Mit Konzerten von Awilo Longomba, Oumou Sangaré, Estrellas del
Caribe und DJ-Sets

Vom 2. bis 4. Juni 2023 feiert das HKW seine Wiedereröffnung mit
einer Reihe von Konzerten, Lectures, Performances, Prozessionen,
Lesungen und Ritualen sowie die Eröffnung der AusstellungO
Quilombismo: Von Widerstand und Beharren. Von Flucht als Angriff.
Von alternativen demokratisch-egalitären politischen Philosophien .

Ausgehend von der Geschichte der Institution – 1957 als
Kongresshalle eingeweiht, 1989 ins Haus der Kulturen der Welt
umgewandelt – rücken wir Kulturen des „Kongregierens“ –
etymologisch betrachtet Kulturen des Zusammenkommens, des
gemeinsamen Spazierengehens – in den Vordergrund: Praktiken, die
Gemeinschaftlichkeit, Gastfreundschaft und die Werte der Pluralität
mit sich bringen.

Acts of Opening Again versteht sich als Vielzahl von Angeboten und
Reflexionen zur Frage, was aufzugeben und was aufrechtzuerhalten
ist, damit wir gemeinsam inla casa grande – dem großen Haus,
diesem Planeten – wachsen können. Es ist ein Willkommensgruß an
die Träger*innen und Vermittler*innen kulturellen und
gemeinschaftlichen Wissens und ein Aufschließen der Türen, um
gemeinsam einzutreten. Ein Ort, um zu lachen, zu tanzen, zu flirten,
zu essen, sich aufzuregen oder traurig zu sein – ein Ort, um sich zu
bewegen und bewegt zu werden. Ein Ort für die Verletzlichkeit und
die Kraft unserer Präsenz. Ein Haus, um gemeinsam Hoffnung zu
schöpfen und Respekt füreinander zu kultivieren.

Eine Aktivierung der Archive unserer Körper und die zentrale Rolle
des Körperlichen als Ort des Diskurses und der sozialen
Transformation – mit diesen performativen Praktiken schafft das
HKW Räume für den Ausdruck und die Begegnung einer Vielzahl
von Körpern. Sie können uns in Gespräche verwickeln und
reaktivieren Emotionen der Vergangenheit, um so die Bedingungen
der Gegenwart besser ausdrücken zu können und eine heilsame
Zukunft zu suchen.

An drei Tagen präsentiert das HKW in der Tradition von Ritualen
des Neubeginnns Performances von María Magdalena Campos Pons
und Ilê Obá Sileké, dem afrobrasilianischen Candomblé-Haus in
Berlin, gefolgt von Jean-Daniel Lafontant. Bernardo Oyarzún lädt
das Publikum ein, seine Unterstützung und Beteiligung am „Neubau“
des Hauses mit symbolischen Gaben zum Ausdruck zu bringen, ganz
im Sinne vonel medán , einer festlichen Praxis vorkolonialen
Ursprungs, die auf einer Feier der Gegenseitigkeit beruht.

Im gleichen Geiste einer solchen Orchestrierung lädt uns Masimba
Hwati zu einer Zeremonie des Brotbrechens ein, die aus der
Geschichte von Chimurenga, dem Befreiungskrieg der Shona und
Ndebele im ehemaligen Rhodesien, dem heutigen Simbabwe,
entstanden ist.Bread Scores ist von ins Gefängnis geschmuggeltem

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Brot inspiriert – Mitstreiter*innen, Verwandte und Angehörige
schickten versteckte Zeitungsausschnitte, Informationen über den
laufenden Kampf, Worte der Solidarität und Unterstützung sowie
Liebesbriefe, um die Einsamkeit der politischen Häftlinge zu lindern.
Masimba versteckt in den Brotlaiben musikalische Partituren, die von
traditionellen Chimurenga-Widerstandsgesängen inspiriert sind, und
lädt Musiker*innen ein, sie zu interpretieren.

Auf den umlaufenden Fries im Foyer des HKW hat der Künstler
Tanka Fonta eine kreisförmige Partitur gemalt, ein im Entstehen
begriffenes Wandgemälde und eine bildlich-klangliche Komposition
aus neun thematischen Sätzen, in suggestiven Sprachen als visuelle,
akustische und poetische Impressionen orchestriert. Diese visuellen
Partituren bilden den Ausgangspunkt für eine Hymne, die von
Berliner Musiker*innen mit Fulani-, Dioula-, Bambara- und Wolof-
Hintergrund arrangiert wurde.

Quilombismo lässt sich auch durch Bezogenheit aufeinander und
Bewusstsein voneinander erfahren, wie es im Bereich von Musik und
Tanz in afrikanischen und afro-diasporischen
Improvisationstechniken der Fall ist – mit Call-and-Response,
Storytelling, generationsübergreifendem Wissensaustausch sowie
der Macht und Spiritualität einer Gemeinschaft. Den Anfang macht
der afro-kolumbianische Bullerengue: In Berlin lebende Mitglieder
verschiedener Migrant*innen-Communitys, feministischer und
anderer emanzipatorischer Gruppen und Interessensvertretungen
sind eingeladen, in Workshops die ehrwürdige Tradition der bailes
cantados – gesungene Tänze – zu erproben.

In dem Wissen, dass der Körper der primäre Ort der Souveränität ist,
lädt das HKW an seinem Eröffnungswochenende alle ein, visuelle,
akustische, sensorische und choreografierte Erzählungen des
Zusammenseins zu erleben und sich von der Philosophie und Praxis
der vielstimmigen Performativität des quilombismo inspirieren zu
lassen.

AI: Ancestral Immediacies
Oder die Unmittelbarkeit früheren Lebens
Screenings, Performances, Diskussionen, Vorträge
29.–30. Juli 2023

AI: Ancestral Immediacies präsentiert Gespräche, Performances und
Filme, die sich mit der Entkopplung von Technologie und Körper
befassen. Entgegen der technokratischen Vision von artifizieller bzw.
künstlicher Intelligenz (AI/KI) als körperloser Superintelligenz, die
das Menschliche entweder beherrschen oder zerstören wird, war KI
– und Technologie im Allgemeinen – schon immer und lange vor
heutigen Diskussionen um Datenextraktion, Datenschutz und
Arbeitsplatzverlust untrennbar mit kulturellem Wissen und
menschlichen Körpern verbunden. KI verweist auf ein
jahrhundertealtes Problem des Wissens und der Ethik seiner
Produktion.

Die Entwicklung und wissenschaftliche Nutzung sogenannter HeLa-
Zellen ist ein historisches Beispiel unter vielen. HeLa-Zellen zeichnen
sich durch die Fähigkeit unbegrenzter Vermehrung aus. Sie waren
und sind für die Entwicklung moderner Krebstherapien
unverzichtbar und wurden mit sowjetischen Satelliten ins All
geschickt, um die Überlebensfähigkeit des Menschen zu testen. Die
ursprünglichen HeLa-Zellen wurden in den 1950er Jahren aus dem
Gebärmutterhals von Henrietta Lacks gestohlen, einer Nachfahrin
versklavter Menschen. Die Zellen leben bis heute fort, während Lacks

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in Virginia in einem unmarkierten Grab, beigesetzt wurde, auf dem
erst 2010 ein Grabstein für sie aufgestellt wurde.

Wenn Körper solcherart als Technologien verstanden werden,
geraten die Dichotomien von künstlich/natürlich, rational/irrational,
Geist/Körper, echt/falsch, Intelligenz/Dummheit ins Wanken und
verkomplizieren sich gleichzeitig. In dieser Gemengelage erscheint
Technologie als eine Praxis, die zeitliche, räumliche und
transgenerationale Wissensformen bearbeitet und scheinbar längst
vergangene Lebensweisen unmittelbar werden lässt. Technologien
sollten nicht als Dinge, sondern als relationale, situierte,
kosmologische und kollektive Praktiken begriffen werden. Die
Beschäftigung mit der Unmittelbarkeit früherer Zeiten und Leben
wird in diesem Projekt zu einer Forschungsstrategie, die untersucht,
wie hegemoniale KI die Vergangenheit artikuliert, und die These
aufstellt, dass hier im Hinblick auf gesellschaftliche Normen,
kulturelle Spaltungen sowie race- und gender-bezogene
Ausbeutungen eher eine Wiederkehr vergangener
Herrschaftsverhältnisse denn ein radikaler Bruch zu konstatieren ist.

Demgegenüber führt die unauflösliche Verschränkung von Körpern
und Technologien dazu, die verschiedenen Geschichten von Lust und
Leid, von Ausbeutung und Zukunftsvision anzuerkennen und zu
würdigen. „Der Mutterleib ist die ursprüngliche Technologie“, lautet
ein Satz der Künstlerin Tabita Rezaire, in dem sich Kritik und Utopie
zu gleichen Teilen offenbaren. Er zeigt, dass Körper die Kraft und
Produktivität besitzen, um generative Welten hervorzubringen. Auch
wenn diese Kraft stets im Sinne kapitalistischer Gewinne kanalisiert
und gegen ihre Quelle gerichtet wird, sollte das Potenzial, das solchen
kollektiven Verkörperungen innewohnt, nicht übersehen werden. In
welcher Weise lebt ein Teil von Henrietta Lacks bis heute fort, auf
der „Suche nach einem Jetzt, das eine Zukunft hervorbringen könnte“,
um es mit den Worten von Audre Lorde zu sagen? Wie kann sie
überhaupt lebendig sein, wenn doch Lordes Diktum im weiteren
Verlauf ihrer Litanei für das Überleben lautet: „Wir waren nie
bestimmt zu überleben“?

AI: Ancestral Immediacies kehrt zu den Wurzeln zurück, zu den
Ahn*innen und Vorfahr*innen technologischer Objekte und Systeme,
um ihre Lehren für die Gegenwart unmittelbar werden zu lassen. Das
Programm befasst sich mit Möglichkeiten der Vorhersage und
Zukunftsbildung anhand missachteter, kaum beleuchteter
Vergangenheiten und Gegenwarten. Welche Techniken der
Prophezeiung und Vorausschau führen in welche Zukünfte?
Inwiefern sind rituelle Praktiken Technologien der
Wissensproduktion? Und wie werden die vielfältigen
althergebrachten und spirituellen Vermittlungen vergangener
Zukünfte von technokratischen Visionen verhindert, ausgebeutet und
zerstört?

Almost Blind. Chile 1973/2023
11. September 2023

Am 11. September 2023 veranstaltet das HKW einen
multidisziplinären Tag des Gedenkens an den Staatsstreich von 1973
in Chile. Im Mittelpunkt steht eine Untersuchung der Rolle, die
kulturelle Erinnerung und postmemory, das Fortwirken des
Geschehens in den nachfolgenden Generationen, fünfzig Jahre nach
diesem soziopolitischen und wirtschaftlichen Bruch für die
Versöhnung, Transformation und Wiederherstellung Chiles spielt.

Almost Blind. Chile 1973/2023 greift die Metapher einer fast blinden
Gestalt auf, die in Gabriela Mistrals posthum veröffentlichten

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Gedichtband Poema de Chile (1967) die Landschaften durchstreift.
Gleichzeitig verweist der Titel auf die Ereignisse rund um den
sozialen Aufstand im Land von 2019/20. Die gezielte Verletzung der
Augen junger Demonstrant*innen wurde hier zum vorherrschenden
Mittel der Repression. Ausgehend vom Ansatz der postmemory
untersucht Almost Blind den traumatischen Putsch von 1973 und
seine Nachbeben in heutigen Kämpfen.

Die Auswirkungen der Ereignisse von 1973 auf die sozialen Kämpfe
der Gegenwart und die gespenstische Anwesenheit der Diktatur im
neoliberalen Chile der letzten Jahre bilden den Ausgangspunkt für
einen Dialog über die Verpflichtung, nicht zu vergessen. Indem es
unterschiedliche Generationen und Exil-Communitys miteinander ins
Gespräch bringt und verschiedene Ansätze von Wissenstransfer und
Erinnerungspolitik aufgreift, ermöglicht Almost Blind eine
vielstimmige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und
möglichen Zukünften.

Als hätten wir die Sonne verscharrt im Meer der Geschichten
Fragmente zu einer Geopoetik Nordeurasiens
Ausstellung, Publikation
Oktober 2023–Januar 2024

Als hätten wir die Sonne verscharrt im Meer der Geschichten –
gleichermaßen Ausstellung und Forschungsprojekt – webt einen
unendlichen Stoff aus Erzählungen von Künstler*innen,
Kurator*innen, Schriftsteller*innen und Kenner*innen traditioneller
Kulturpraktiken aus der riesigen Landmasse des nördlichen
Eurasiens. Das Projekt spürt den vielen Welten nach, die dort neben-
und miteinander existierten, häufig trotz oder entgegen der
repressiven monolithischen Vorstellungen der wechselnden Regime
– vom Russischen Kaiserreich, über die UdSSR bis zum
zeitgenössischen Russland –, die weite Teile Osteuropas sowie
Zentral- und Nordasiens kontrollierten. Die Beiträge entspringen
vielfältigen Biografien und Räumen, die sich in ihrer schieren Fülle
überschneiden und gegenseitig bereichern. Aus diesem gemeinsamen
Engagement erwachsen neue kulturelle und politische
Bezugsrahmen für eine Region, die noch immer von der
infrastrukturellen Wirklichkeit der ‚Russischen Breitspur‘ geprägt ist.
Mit einer Spurweite von 1520 mm durchqueren diese Bahnschienen
das Territorium von mehr als einem Dutzend Ländern, die im
Staatsgebiet oder in der Einflusssphäre des Russischen Kaiserreichs,
und später der Sowjetunion, lagen.

Angesichts dieses geografischen Bezugs erscheint der Projekttitel ein
wenig exzentrisch: Seine Inspirationsquelle ist das Gedicht „The
Blesséd Word: A Prologue on Kashmir“ des kaschmirischen Autors
Agha Shahid Ali, das er 1990 seiner von Gewalt gezeichneten Heimat
widmete. Geschrieben zu einer Zeit, als die UdSSR in Auflösung
begriffen war, setzt der Text mit einem Zitat des polnisch-jüdisch-
sowjetischen Dichters Ossip Mandelstam ein. Der Titel der
Ausstellung ist eine Verschmelzung von Versen aus Alis und
Mandelstams Gedichten. Alis Worte, die der Tragödie seines Volkes
und der Sehnsucht nach einer verlorenen Heimat Ausdruck verleihen,
erinnern an einen weiteren Verlust in einer anderen Zeit und einem
anderen Land (akzentuiert durch einen weiteren Verrat an
revolutionären Idealen) in Mandelstams Gedicht, das im
stalinistischen Russland geschrieben wurde. Ali besingt sein Land,
beschwört dessen Name in achtzehn verschiedenen phonetischen und
grafischen Varianten. Die Ausstellung steht unter dem Zeichen dieser
Rhythmisierung von Zeiten und Orten sowie der Vielstimmigkeit von
Bedeutungen – besonders in Zeiten der erneuten imperialen
Aggression Russlands.

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Von einer Welt vieler Namen hin zu vielen Welten, die in jenem einen
– unlängst noch post-sowjetisch genannten – Raum unter einer
einzigen verborgen waren, zeigt Als hätten wir die Sonne verscharrt
im Meer der Geschichten Fragmente einer neuen Geopoetik – befreit
von offiziellen Versionen der territorialen Kontrolle und der
mechanischen Replikation vorgefertigter Haltungen. Sie lädt ein zu
Prozessen der kollektiven Erinnerung, zur Wiederbelebung von
Kosmologien und verschwundenen Wissensbeständen, zur
Betrachtung der Netzwerke all jener, die sich über imperial gezogene
Grenzen hinwegsetzen, zur Formierung von kollektivem Widerstand
und schließlich zu einer Vorstellung von Zukünften, die gelebt,
überlebtt und genossen werden können.

Dieses Projekt wurde konzipiert in Zusammenarbeit mit dem Kurator
Iaroslav Volovod, der die Kolonialgeschichte des Russischen
Kaiserreichs und der UdSSR erforscht; den Künstlern und Kuratoren
Nikolay Karabinovych und Saodat Ismailova; und dem Historiker
Kimberly St. Julian-Varnon, dessen Forschungen sich auf die
ehemalige sowjetische Einflusssphäre konzentrieren.

Gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds

Destination: Tashkent
Erfahrungen des cineastischen Internationalismus
Screenings mit Live-Kommentierung, diskursives Programm mit
Keynote-Lectures, Podiumsdiskussionen und Gesprächsrunden
2024

Destination: Tashkent ist ein Filmfestival, das 2024 im HKW und an
weiteren Orte in Berlin stattfindet. Ausgangspunkte sind Konzept und
Geschichte des Tashkent Festival for Asian, African and Latin
American Cinema, das von 1968 bis 1988 in Usbekistan stattfand. An
der ersten Ausgabe waren über 240 Filmschaffende,
Schauspieler*innen, Kritiker*innen und Politiker*innen aus 49
asiatischen und afrikanischen Ländern beteiligt; insgesamt wurden
115 Spiel- und Dokumentarfilme gezeigt. Von 1976 an nahmen auch
Filmschaffende aus Lateinamerika teil. Die Heimatländer vieler
Beteiligter hatten strategische Bündnisse mit der Sowjetunion gegen
Kolonialismus, Kapitalismus und westlichen Imperialismus
geschlossen, doch ihre Rolle in Taschkent beschränkte sich
keineswegs auf die der nationalen Repräsentanz. Das Kino der
sogenannten Dritten Welt wurde aktiv einbezogen, und so entstand
ein Raum zum direkten Süd-Süd-Austausch, auch zwischen solchen
Ländern, die blockfrei oder sowjet-kritisch eingestellt waren.
Ausschlaggebend hierfür waren die zahlreichen Diskussionsrunden,
die fester Bestandteil des Festivals waren.

Das facettenreiche Programm des Tashkent Festival, in dem sowohl
populäre Spielfilme als auch aktivistische Dokumentationen ihren
Platz hatten, richtete sich an ein breitgefächertes Publikum. Ein
umfassendes Übersetzungsprogramm sorgte außerdem dafür, dass
auch Einheimische das Programm genießen konnten. In einem derart
multilingualen Umfeld stellte die Übersetzungsarbeit eine besondere
Herausforderung dar, denn nur wenige Filme waren untertitelt. Das
Organisationsteam beschloss daher, Live-Übersetzungen ins
Russische (über Lautsprecher), ins Englische, Französische und
später auch Spanische und Arabische (über Kopfhörer) anzubieten.
Wie die Historikerin Elena Razlogova beschreibt, haben die
Übersetzer*innen in Taschkent die Filme buchstäblich neu bestimmt,
indem sie eine Live-Performance über die originale Tonspur legten.
Jede*r einzelne Besucher*in erhielt eine Simultanübersetzung; wer
keine der offiziellen Festivalsprachen verstand, wurde von
Dolmetscher*innen begleitet, die Bengali, Khmer, Wolof oder andere

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Sprachen im Repertoire hatten. So gesehen bildeten Übersetzung und
mündliche Kommentierung das Herzstück des Festivals.

Viele Filme, die in Taschkent uraufgeführt wurden, fanden
anschließend ihren Weg in die Kinos der damaligen Sowjetunion und
ihrer zentralasiatischen Sowjetrepubliken, deren Publikum sich
sowohl für große Produktionen aus Indien oder Ägypten als auch für
politische Filme aus Indonesien oder Kuba begeisterte. Bis zu seiner
letzten Ausgabe im Jahr 1988 war das Tashkent Festival eines der
wichtigsten Destinationen für Filmschaffende aus den Ländern des
Südens, die dort nicht nur ihre Arbeiten präsentieren konnten,
sondern auch einen diskursiven Raum zum langfristigen,
solidarischen Austausch vorfanden. Das Festival wurde zu einem Ort
des gelebten cineastischen Internationalismus und zu einer
Kontaktzone, nicht zuletzt durch seine Lage in einer Stadt, die sich
schließlich mit ihrer eigenen (semi-)kolonialen Gegenwart innerhalb
der Sowjetunion auseinandersetzen musste.

Nachdem es lange im Schatten des Kalten Krieges und seiner
Verwerfungen stand, hat Berlin sich heute zu einem wichtigen
Zentrum der afrikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen
Diaspora entwickelt und kann vor dem Hintergrund seines
besonderen historischen Kontextes für sich in Anspruch nehmen, ein
neuer Treffpunkt für Süd-Süd-Kooperationen nach dem Vorbild des
Tashkent Festivals zu sein.

2024 lebt der Geist des Festivals an den Spielstätten HKW, Sinema
Transtopia und SAVVY Contemporary wieder auf. Neben
historischen Produktionen, die die Vielfalt des ursprünglichen
Programms widerspiegeln, zeigt Destination: Tashkent auch aktuelle
Filme, die die Möglichkeiten und die Zukunft künstlerischer
Zusammenarbeit zwischen Süd und Süd ausloten. Einige
Vorführungen werden von einem Live-Kommentar begleitet. Das
Diskursprogramm geht den Spuren nach, die das Tashkent Festival
in heutigen Filmfestivals, Filmproduktionen und
Distributionsnetzwerken hinterlassen hat.

Echos der Bruderländer
Was ist der Preis der Erinnerung und wie hoch sind die Kosten der
Amnesie? Oder: Visionen und Illusionen antiimperialistischer
Solidarität
Workshops, Performances, Filmvorführungen, Podcasts,
Erzählungen, Publikationen, Ausstellungen
Sommer 2023–Sommer 2024

Echos der Bruderländer ist ein auf drei Jahre angelegtes
multidisziplinäres Projekt, das die komplexen Beziehungen zwischen
der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und ihren
sogenannten Bruderländern künstlerisch erforscht. Es umfasst
Ausstellungen, Performances, Workshops, Filmvorführungen,
Erzählungen, Podcasts und Publikationen. Ein besonderer Fokus
liegt auf Kuba, Ghana, Mosambik und Vietnam. Unter allen
Bruderländern hatten sie den größten Anteil exportierter
Arbeitskräfte und sie teilen eine schmerzhafte Geschichte der
Abschiebungen nach der Wiedervereinigung, verbunden mit einer
fehlenden finanziellen Entschädigung für die Arbeitsleistung ihrer
Bürger*innen. Dies sind auch die Länder, deren mit der DDR „geteilte
Bürger*innen“ prominente und sichtbare Opfer von Rassismus und
Ablehnung im wiedervereinigten Deutschland wurden. Doch wie viel
wussten gewöhnliche DDR-Bürger*innen damals von deren
Geschichte? Und wie viel weiß das Deutschland nach 1989 von
ihnen?

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Das Projekt macht sozio-politische Verhältnisse und psychologische
Traumata vor und nach 1989 sichtbar. Es untersucht, wie die
Bruderländer-Politik bis heute als eine Triebfeder von Rassismus
und Fremdenhass nachwirkt. Solche gesellschaftspolitischen
Zusammenhänge zu beleuchten und aufzuzeigen, wie sie die
Demografie, Kultur, Wirtschaft und Politik Deutschlands weiterhin
prägen, ist von zentraler Bedeutung. Möglich ist dies nur, wenn wir
akzeptieren, dass Geschichte nicht vergangen ist, sondern sich
kontinuierlich fortschreibt – und dass Pädagogik und politische
Bildung für die Gestaltung gesellschaftlicher Gegenwart und Zukunft
eine herausragende Rolle spielen.

Durch die Untersuchung von tiefenstrukturellen Beziehungen und
Bruchstellen verlorener Hierarchien will Echos der Bruderländer den
Preis ermitteln, den eine Gesellschaft für die Auslöschung von
Erinnerung und Identitäten zahlt. Zeitzeug*innen aus der DDR und
aus den Bruderländern Kuba, Ghana, Mosambik und Vietnam sowie
bildende Künstler*innen, Architekt*innen, Musiker*innen,
Historiker*innen, Sozialwissenschaftler*innen, Ökonom*innen und
Politiker*innen sind eingeladen, mündlich tradierte Geschichten und
Berichte beizutragen, die in kein Raster passen müssen, um so die
Voraussetzungen zu schaffen für einen substanziellen Austausch, für
gegenseitiges Verständnis und die Gelegenheit, voneinander zu
lernen. Diese Darstellungen verfolgen das Ziel, eine antirassistische
politische Bildung zu fördern und zu stärken, ohne dabei in
pädagogisch bevormundender Weise eine vorgefasste politische
Meinung durchzusetzen.

In seiner Herangehensweise legt das Projekt Wert auf einen offenen
Prozess und Zugänglichkeit: Es erschließt wichtige historische
Forschungen aus wissenschaftlichen und archivalischen Kontexten
sowie mündliche Überlieferungen, Kunstwerke, kartografische
Deutungen, Neuübersetzungen, Filme, musikalische Kompositionen
und Radioaufnahmen in mehreren Sprachen für die Öffentlichkeit.
Multidisziplinarität und Teilhabe bilden den Kern des Ansatzes, der
das „Echo“ im Titel laut und deutlich widerhallen lässt; die
Projektbeteiligten und das Publikum werden es auf vielfältige Weise
weitertragen und verstärken. Eine Publikationsreihe, die sich der
Gattung des Comics bedient, begleitet das Projekt und leistet eine
Visualisierung und Kontextualisierung im Sinne seiner
pädagogischen Ziele.

Gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung // Gefördert
im Fonds TURN2 der Kulturstiftung des Bundes

Kooperationspartner*innen:
Heritage Space, Vietnam
Hanoi Ad Hoc, Vietnam
Foundation for Contemporary Art – Ghana
Savannah Centre for Contemporary Art Tamale, Ghana
Mbenga – Artes & Reflexões, Mozambique
Ríos Intermitentes, Kuba

Aus Liebe zur Freiheit?
Franklin be- und entgegnen
Installation
Juni 2023–2027

Mit Beiträgen von u.a.: Hinemoana Baker, Ken Bugul, Omri Boehm,
Ntone Edjabe, Françoise Vergès

Das Gebäude, in dem sich das HKW befindet, ist eine
Architekturikone der westlichen Nachkriegsmoderne; als politisches

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Symbol hat sich seine Geschichte auf vielfältige Weise in die Mauern
und Wände eingeschrieben. Diese Ideologisierung zeigt sich nicht
bloß darin, dass die Kongresshalle, errichtet als US-Beitrag zur
Interbau 1957, der Stadt Westberlin im Kontext des Kalten Krieges
von den USA als Geschenk übergeben wurde, sondern auch in ihrer
Architektur sowie – ganz konkret – in einer Wandinschrift, welche
die Besucher*innen im Hauptfoyer empfängt. In eine Marmorwand
eingraviert steht dort auf Englisch und Deutsch:

Gebe Gott, dass nicht nur die Liebe zur Freiheit, sondern auch ein tiefes
Bewusstsein von den Rechten der Menschen alle Völker der Erde
durchdringe, so dass ein Philosoph, wohin immer er seinen Fuss auch
setzen möge, sagen kann: ‚Dies ist mein Vaterland‘
Benjamin Franklin
Diesen Idealen und dem Manne, der sie ausgesprochen und nach ihnen
gelebt hat, ist diese Kongresshalle gewidmet

Im Mai 1955 wurde unter der Führung von Eleanor Dulles, der
Berlin-Beauftragten des US-Außenministeriums, eine gemeinnützige
Stiftung gegründet, um den Bau zu finanzieren. Bei der Entwicklung
des architektonischen Konzepts lag ein besonderer Schwerpunkt auf
dem symbolischen Charakter des Gebäudes als Forum für den freien
Austausch von Ideen. Dulles sah das Gebäude in West-Berlin – nur
wenige hundert Meter vom sowjetischen Sektor entfernt – als „einen
Leuchtturm, der nach Osten hin strahlt“. Benjamin Franklin (1706–
1790), einer der Gründungsväter der USA, der Menschen versklavte
und vom Handel mit ihnen profitierte, wird hier als Verkörperung des
Ideals der intellektuellen Freiheit präsentiert. Zum Namenspatron der
Stiftung wurde er gewählt, weil die Grundsteinlegung der
Kongresshalle mit seinem 250. Geburtstag zusammenfiel. Das
Franklin-Zitat diente als Erinnerung an die Mission des Gebäudes,
seinen Zweck und seine ideologische Symbolik.

1989 wurde die Kongresshalle umbenannt und als Haus der Kulturen
der Welt neu eröffnet. Bei der historischen Würdigung des Hauses
und seiner Umwidmung blieben allerdings wesentliche Aspekte von
Imperialismus und Kolonialismus weitgehend unberücksichtigt. Als
die Kongresshalle errichtet wurde, gab es weltweit nur rund 100
souveräne Staaten; die überwältigende Mehrheit der weiteren 95
Länder, die es heute gibt – einschließlich Kamerun, Geburtsland des
derzeitigen Intendanten des Hauses, Prof. Dr. Bonaventure Soh
Bejeng Ndikung –, mussten erst noch ihre territoriale und politische
Souveränität von verschiedenen europäischen Kolonialmächten
zurückerobern. Zugleich hatten die USA erfolgreich ihre imperiale
Expansion und – von der Verfassung nicht abgedeckte – Kontrolle
über Amerikanisch-Samoa, Guam, das Commonwealth der
Nördlichen Marianen, Puerto Rico sowie die Amerikanischen
Jungferninseln als ein System der „Überseeterritorien“
beziehungsweise „Außengebiete“ gefestigt; zudem unterhielten sie
über alle Kontinente verteilt Hunderte von Militärstützpunkten.

Im Kontext des US-Imperialismus – regelmäßig durch Verweise auf
die „Liebe zur Freiheit“ und die „Rechte des Menschen/Mannes“
legitimiert – hatte Franklins unterschwellig formulierter
Zugriffsanspruch auf die Geografien der Welt weitreichende
Implikationen. Die Schlüsselrollen, die Eleanor Dulles und ihre
Brüder in der US-Regierung mit ihrer aggressiven Außenpolitik
während der Hochphase des Kalten Krieges spielten,
veranschaulichen diese Tradition sehr deutlich. Im Namen der
„Verteidigung der Freiheit“ formulierte John Foster Dulles (US-
Außenminister 1953–1959; nach ihm ist die Straße vor dem HKW
benannt) 1954 die Strategie der „massiven Vergeltung“ zur nuklearen

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Abschreckung und bestärkte die Umsetzung enormer,
unverhältnismäßiger militärischer Maßnahmen als Reaktion auf
jedwede Angriffe; Allen Dulles wiederum leitete als CIA-Chef (1953–
1961) verdeckte Operationen zum Umsturz der Regierungen im Iran
und in Guatemala.

Das HKW möchte die Begrenztheit von Franklins Zitat und die ihm
inhärente gewaltvolle, imperiale Vision aufzeigen sowie die
paradigmatischen Implikationen der beinahe beiläufigen
Bezugnahme auf das koloniale Drehbuch im Namen
universalistischer Werte infrage stellen. Das HKW erkennt die
Notwendigkeit anderer Perspektiven, um sich mit der
Monumentalität, Dauerhaftigkeit und ideologischen Belastung des
Zitats auseinanderzusetzen und eine kritische Diskussion zu
Franklins Autorität über das Gebäude und die darin befindlichen
Institutionen zu führen. Dafür lädt das Haus mehr als ein Dutzend
bedeutende Persönlichkeiten aus diversen Disziplinen und
Geografien ein, ihre eigenen Zitate in Reaktion auf die Aussage
Franklins beizutragen. Sie werden in Form einer längerfristigen, von
Studio Yukiko entworfenen Installation rund um das Franklin-Zitat
im HKW-Foyer gezeigt.

Internationaler Literaturpreis 2023 – Preis für übersetzte
Gegenwartsliteraturen
Preisverleihung
9. September 2023

Zum fünfzehnten Mal verleihen das Haus der Kulturen der Welt und
die Stiftung Elementarteilchen den Internationalen Literaturpreis.
Dotiert mit 35.000 Euro – 20.000 Euro für Autor*in, 15.000 Euro für
Übersetzer*in – zeichnet er ein herausragendes Werk der
internationalen Gegenwartsliteratur in deutscher Erstübersetzung
aus. Er würdigt in dieser Allianz sowohl Originalwerk als auch
Übersetzung. Dieser doppelte Fokus macht ihn in der deutschen
Preislandschaft einzigartig. Aufbauend auf dem bestehenden Erbe
des Preises, das Verständnis für heterogene Formen des
Geschichtenerzählens zu erweitern, können in diesem Jahr auch
deutsche Erstübersetzungen internationaler Lyrik eingereicht
werden.

Verlage, die internationale Literatur in deutscher Übersetzung
publizieren, können bis zu drei Titel vorschlagen. Aus allen
Einreichungen ermittelt eine unabhängige Jury zunächst eine
Shortlist aus sechs Titeln und in einem zweiten Schritt das Preisduo
aus Autor*in und Übersetzer*in. Die Auszeichnung wird am 9.
September 2023 im Rahmen eines literarischen Festes auf der
Dachterrasse des HKW verliehen.

Gefördert durch die Stiftung Elementarteilchen

Middle Ground
Interaktionen, Transaktionen, Wechselwirkungen
Lesungen, Gespräche, Workshops, Vorträge, Performances,
Konzerte, Party
24.–27. August 2023

Die Reihe Middle Ground widmet sich Literaturfestivals aus der
ganzen Welt, um die globale Vielfalt schriftlicher wie mündlicher
literarischer Praktiken und Netzwerke zu erkunden. Jedes Jahr wird
ein anderes Festival ins HKW eingeladen. Der Titel ist inspiriert von
Überlegungen des nigerianischen Schriftstellers Chinua Achebe zum
„Middle Ground“ – dem gemeinsamen Grund, dem Dazwischen – als

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einer Position, die sich „einer Zukunft, auf die wir zusteuern, und
einer Vergangenheit, die uns Rückhalt bietet“, bewusst ist. Sie ist
„Heimat von Zweifel und Unschlüssigkeit, des vorbehaltlosen
Eintauchens in die Fiktion, der Träumereien, des Spielwitzes, des
Unvorhergesehenen, der Ironie.“

Middle Ground setzt bei etablierten Festivalkonzepten an und lässt
sie doch hinter sich. Es feiert die Poetiken der Vielheit als Grundlage
verschiedenster Epistemologien der Literaturproduktion, indem es
die Geografien der Entstehung und Verbreitung von Wissen
erweitert. In Poétique de la Relation (1990) schreibt Édouard Glissant:
„Die Kulturen der Welt unterhielten schon immer mehr oder weniger
enge oder aktive Beziehungen; doch erst in der Moderne wirkte eine
Reihe ausschlaggebender Bedingungen zusammen, die im Wesen
dieser Verbindungen eine enorme Dynamik auslöste.“ Glissants und
Achebes Worte geben den ethischen Betrachtungen rund um die
Zusammenarbeit zwischen Nord und Süd einen wichtigen Rahmen.
Auf Grundlage eines vertieften Verständnisses für die historischen
und soziokulturellen Zusammenhänge solcher Kooperationen
entwickelt Middle Ground Paradigmen für einen Austausch, von dem
alle Beteiligten profitieren.

Als Teil eines größeren Unterfangens, das über den physischen Ort
des HKW hinauswächst und sich in die Möglichkeiten einer
grenzenlosen Welt hineindenkt, erforschen die hybriden Formen der
zu Middle Ground eingeladenen Festivals die Dynamik solcher
Zusammenkünfte: Interaktion, Transaktion, Wechselwirkung – eine
Dynamik, die den kaleidoskopischen Charakter literarischer
Praktiken über Geografien, Kulturen und Sprachen hinweg in den
Fokus rückt. Den nach Berlin eingeladenen Festivals bietet sich die
Gelegenheit, in Vorträgen, Seminaren, Lesungen und Performances
mit Autor*innen in Deutschland – einschließlich jener aus hiesigen
transnationalen und diasporischen Communitys – in Kontakt zu
treten.

Erstes Gastfestival bei Middle Ground ist PREE: Caribbean. Writing.
aus Jamaika. 2018 von der Autorin und Redakteurin Annie Paul als
Literaturfestival und Onlineplattform gegründet, erforscht PREE das
karibische Schreiben und kartiert die literarischen Landschaften und
Praktiken verschiedener Länder. „Die Karibik befand sich stets an
einer Art Scheideweg“, schreibt Paul in der Auftaktausgabe der
gleichnamigen Literaturzeitschrift. PREE will das karibische
Schreiben (ver)stärken und den Diskurs mitgestalten. Das Festival
interessiert sich für zeitgenössische Texte von etablierten wie noch
unbekannten Stimmen in der Karibik und stellt sie der Öffentlichkeit
vor. Das macht PREE zum idealen Partner, um Geografien des
Wissens zu erkunden und zu erweitern. Von PREE veröffentlichte
Autor*innen und Theoretiker*innen befassen sich unter anderem mit
Kunst und Politik, Rassifizierung und Geschlecht, Technologie und
Macht. Im Rahmen von Middle Ground nehmen von PREE
ausgewählte Autor*innen an Performances, Lesungen, Vorträgen und
Podien teil und geben Seminare für Schriftsteller*innen.

In Zusammenarbeit mit PREE: Caribbean. Writing.

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O Quilombismo
Von Widerstand und Beharren. Von Flucht als Angriff. Von
alternativen demokratisch-egalitären politischen Philosophien
Gruppenausstellung, Forschungsprojekt, Workshops, Performances
2. Juni–27. August 2023

Beitragende Künstler*innen (Auswahl): Laeïla Adjovi; Amina
Agueznay; Ana Beatriz Almeida, Archive Ensemble; Barby Asante;
Mago Aristote; Leo Asemota; Maria Auxiliadora; Carol Barreto; Farid
Belkahia; Maria Magdalena Campos-Pons; Ange Dakouo; Diana
Ejaita; Adama Delphine Fawundu; Tanka Fonta; Gwladys Gambie;
Vanessa German; Assaf Gruber; Antonio Jose Guzmán / Iva Jankovic;
Hermosa Intervención; Lisa Hilli; Nikau Hindin; Hayv Kahraman;
Grada Kilomba; Jiun-Yang Li; Ibrahim Mahama; Masimba Hwati;
Georgina Maxim; Tuli Mekondjo; Marie Claire Messouma; Oscar
Murillo; Nontsikelelo Mutiti; Abdias do Nascimento; Eustáquio Neves;
Lizette Nin; Olu Oguibe; Temitayo Ogunbuyi; Owusu-Ankomah;
Bernardo Oyarzún; Moisés Patrício; Anand Patwardhan; Zica Pires;
Alberto Pitta; Joshua Serafin; Taller Portobelo; Jasmine Thomas-
Girvan; Trương Công Tùng; Glicéria Tupinambá; Rubem Valentim;
Charmaine Watkiss; Hajra Waheed; Sawangwongse Yawnghwe;
Bruno Zhu

O Quilombismo: Von Widerstand und Beharren. Von Flucht als
Angriff. Von alternativen demokratisch-egalitären politischen
Philosophien – Forschungsprojekt, Ausstellung, Workshops und
Performancesreihe – lädt Künstler*innen, Aktivist*innen,
Wissenschaftler*innen und Menschen aus anderen Lebensbereichen
dazu ein, auf der Basis verschiedener emanzipatorischer Initiativen in
Vergangenheit und Gegenwart neue Formen des kulturellen und
politischen Widerstands zu entwerfen. Die Ausstellung speist sich
aus vielen Stimmen: aus den quilombos (in Brasilien), cumbes (in
Venezuela), palenques (in Kuba und Kolumbien), cimarrones (in
Mexiko) und maroons (in Jamaica und den USA) sowie aus weiteren
emanzipatorischen Räumen auf der ganzen Welt. Unabhängig von
der Größe dieser Räume haben Künstler*innen,
Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen, Geschichtenerzähler*innen und
andere kreative Akteur*innen die kulturellen, politischen,
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufgaben der Befreiung und
(Selbst-)Bestätigung in Bilder gefasst und in die Tat umgesetzt. Die
Ausstellung bezieht sich auf quilombos als Metapher, befasst sich
aber auch mit den intellektuellen und politischen Wirkungen einer
Philosophie und Ideologie, die auf den quilombos beruht. Sie kartiert
die sozialen Räume, die diese Orte ermöglicht haben – ob in früheren
Zeiten, in geteilten Vorstellungswelten oder in unseren multiplen
zeitgenössischen Existenzweisen.

Ausgangspunkt des Projekts ist die Philosophie des quilombismo , wie
sie vom brasilianischen Künstler, Schriftsteller und Politiker Abdias
do Nascimento (1914–2011) entwickelt wurde. Er definierte die
quilombos – Siedlungen, die von befreiten, der Versklavung
entflohenen Menschen gegründet wurden – als Gesellschaften der
„brüderlichen und freien Wiedervereinigung; der Solidarität, des
Zusammenlebens und der existenziellen Gemeinschaft“. Die
Tradition des quilombistischen Widerstands zieht sich seit Beginn
des 16. Jahrhunderts durch die Amerikas, als versklavte afrikanische
Gruppen sich der europäischen Kolonisierung und Unterdrückung
verweigerten und neue Formen der Staatlichkeit und Organisierung
schufen.

Zentral für die Ausstellung ist eine „Suche nach einem freien Raum,
von wo aus die fortwährende Revolte gegen die kulturelle
Kolonisierung zu führen ist“, um die Worte der Schriftstellerin und

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Philosophin Sylvia Wynter zu gebrauchen. Es handelt sich um einen
Raum, der die Bühne bereitet für eine quilombistische,
demokratische, egalitäre Erfahrung, die Rassifizierung, Klasse,
Geschlecht, Religion, Politik, Gerechtigkeit, Bildung, Kultur – und
alle weiteren Ausdrucksformen des Lebens in Gesellschaft – sowie
unterschiedliche Ebenen der Macht in öffentlichen und privaten
Institutionen berücksichtigt.

O Quilombismo verkörpert einen anti-imperialistischen Kampf, der
sich an verschiedenen Strömungen der panafrikanischen Bewegung
orientiert und für eine radikale Solidarität mit allen Menschen
einsteht, die weltweit gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Armut
sowie gegen rassistisch, sexistisch, religiös oder ideologisch
motivierte Ungleichheit kämpfen. Als Suche nach und als Erfahrung
von Befreiung vom Kolonialismus sowie als eine solidarische Praxis
mit dem Ziel wechselseitiger Emanzipation ist das quilombistische
Projekt nicht von den fortwährenden Befreiungskämpfen Indigener
Gesellschaften auf der ganzen Welt zu trennen.

Im HKW, einem Haus, das eine Kultur der Konvivialität und
Gastfreundschaft pflegt, lebt und verbreitet, wird Quilombismo als
eine Philosophie des Widerstands, der Beharrlichkeit und der
Befreiung durch kollektives Handeln und Freude verstanden. Das
setzt den Ton für ein Programm, das – getragen von Ansätzen, die
bezaubern, beflügeln, begeistern – eine enthusiastische Atmosphäre
schafft, geleitet von ethischen und egalitären Werten. Zonen der
Auseinandersetzung steht die Möglichkeit gegenüber, sich
zurückzuziehen, zu regenerieren, andere Strategien zu entwickeln
und so die nötige Energie zu sammeln, um andere Zukunftsentwürfe
zu skizzieren.

Das Projekt nimmt den eigenen Anspruch ernst, dass von den
Quilombos und ähnlichen Orten viel zu lernen ist. So beharrt es
darauf, dass Räume der Freiheit – und die Freiheit selbst –
kontinuierlich gepflegt, neu geschaffen und konzipiert werden
müssen. Ausstellung, Performances, Filmvorführungen, Konzerte,
Storytelling-Begegnungen, Kochsessions, Vorträge sowie
Forschungs- und Vermittlungsprogramme sind Praktiken, die das
quilombistische Erbe der Solidarität und des Kampfes als lebendige
Kultur weitertragen.

Das Projekt in und ums HKW-Gebäude bietet ein pluriversales und
generationenübergreifendes Programm jenseits des Kanons der
kolonialen Moderne. Es nährt sich aus Genealogien der
Widerstandsbewegungen und aus künstlerischen Strategien der
Selbstvergegenwärtigung, aus politischen Revolten,
Widerstandsbewegungen und Befreiungskämpfen – und bildet so
neue kulturelle Formen und ästhetische Paradigmen von
Neugestaltung und Rückgewinnung, sowie des Queerings als
Emanzipation.

O Quilombismo schlägt einen neuen Ton an, um Verbindungen und
Bezüge herzustellen, die in den kommenden Jahren weitergeführt
werden: Als Sommerschule bietet die Escola de Quilombismo ab 2023
einen alljährlichen Raum, um sich wiederzutreffen, Anregungen
auszutauschen und gemeinsam zu feiern.

Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes. In Zusammenarbeit
mit der Calouste Gulbenkian Foundation als Teil des Programms
PARTENARIATS GULBENKIAN zur Förderung der portugiesischen
und lusophonen Kunst in europäischen Kulturinstitutionen.

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Shaped to the Measure of the People’s Songs
Jährlich wechselnder Pavillon am HKW
2023 mit Raumlabor Berlin
2023–2027

Die Methodik des Bauens als solche können wir durchaus nutzen, aber
wir müssen ihr die Detailverliebtheit nehmen und uns von den Bildern
in unseren Köpfen lösen, in denen Häuser auftauchen, die so
wunderbar unsere persönlichen Wünsche erfüllt haben. Wir müssen
von vorn anfangen und unsere neuen Häuser aus dem Alltag jener
Menschen entwickeln, die in ihnen wohnen werden. Wir müssen die
Häuser im Takt der Lieder des Volkes gestalten, das Muster eines
Dorfes entwerfen, als wäre es das Produkt eines dortigen Webstuhls –
achtsam gegenüber den Bäumen und dem Getreide, die dort gedeihen
sollen, respektvoll vor den Umrissen am Himmel und in Demut vor den
Jahreszeiten. Weder erfundene Tradition noch gefälschte Moderne
darf es sein, sondern eine Architektur, die der sichtbare und dauerhafte
Ausdruck einer Gemeinschaft ist. Das bedeutet jedoch nicht weniger als
eine völlig neue Architektur.
—Hassan Fathy, Architecture for the Poor: An Experiment in Rural
Egypt (1969)

Das HKW präsentiert eine neue Reihe mit jährlich wechselnden
temporären Pavillons. Mit dieser architektonischen und
programmatischen Erweiterung des Hauses entsteht ein
experimenteller Begegnungsraum an der Schnittstelle zwischen der
historischen Kongresshalle, dem Biotop des Tiergartens und dem
urbanen wie politischen Gewebe der Stadt. Die Krisen rund um
Klima, Wohnraummangel und exkludierende städtische
Infrastrukturen unterstreichen die Notwendigkeit, räumliche Fragen
praktisch anzugehen, um eine Vision kollektiver Lebensweisen zu
entwickeln.

Das Pavillon-Projekt greift diesen Impuls einer kritischen
Untersuchung des Raums und seiner materiellen wie immateriellen
Implikationen auf. Jedes Jahr übersetzt ein neuer Pavillon die
komplexe Frage des Zusammenlebens in einen räumlich-materiellen
Lösungsvorschlag. Als öffentlich zugänglicher, barrierearmer und
offener Ort ermöglicht der Pavillon Dialog und Engagement
außerhalb des eigentlichen HKW-Gebäudes und bietet
Besucher*innen wie Spaziergänger*innen die Gelegenheit, sich rund
um das Programmangebot und außerhalb davon ohne formellen
Rahmen zu begegnen. Durch seinen nahezu privaten Charakter
ermöglicht der Pavillon einen engen Kontakt zwischen Mensch,
Material und Architektur. Als Intervention unter freiem Himmel stellt
er zudem eine Verbindung zu vergangenen und gegenwärtigen
Aktivitäten, Gemeinschaften und Ökologien im Tiergarten und seiner
Umgebung her.

Der Eröffnungspavillon wird von Raumlabor Berlin entworfen und
gebaut. In den letzten 20 Jahren hat das Architekturkollektiv
zahlreiche experimentelle urbane Interventionen auf der Grundlage
einer kollaborativen, forschungsbasierten Gestaltung entwickelt,
nicht zuletzt am HKW. Der diesjährige Pavillon beruht auf
Buckminster Fullers Dymaxion Map – einer erstmals 1943
entwickelten, experimentellen Bildprojektion: Eine Weltkarte wird
auf eine Fläche projiziert, die aus vielen Einzelflächen eines
Polyeders besteht; ihre Geografie wird in einer erweiterten und
vernetzten Matrix aus dreieckigen Formen dargestellt. Diese visuelle
Übung sperrt sich gegen eine Lesart des Planeten als Cluster
getrennter, eigenständiger Einheiten und beharrt auf der
Untrennbarkeit unserer globalen Geografien, die Kommunikation,

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Fürsorge und Problemlösungen durch planetare Zusammenarbeit
erfordern.

Nach dieser Eröffnung wird die Reihe alljährlich mit einer offenen
Ausschreibung an Künstler*innen, Architekt*innen und andere
Praktiker*innen fortgesetzt, die mit je eigenen Ansätzen auf die
ortsspezifischen Belange der natürlichen wie gebauten Umwelt
antworten können. Was sind heute und künftig die relevanten
Formen, Materialien, Größenordnungen und Maßnahmen unserer
sozialen und räumlichen Beziehungen?

Der Titel der Reihe Shaped to the Measure of the People’s Songs geht
auf Hassan Fathys einflussreiches Buch Architecture for the Poor: An
Experiment in Rural Egypt zurück, in dem der Autor die Bedeutung
von Räumlichkeit, Ästhetik, Tradition und der Verortung von
Architektur in spezifischen Kulturen, geschichtlichen
Zusammenhängen, Gesellschaften sowie wirtschaftlichen und
klimatischen Bedingungen reflektiert.

Pluri-Rhythm Festival
15. Juli 2023

Nichts nimmt man leichter wahr als Rhythmus – und nichts ist weniger
materiell.
—Leopold Sédar Senghor
Die Schlagzeugmusik ist der zeitgenössische Übergang von einer aufs
Klavier bezogenen Musik zu einer Allklangmusik der Zukunft.
—John Cage
Polyrhythmen – Kombinationen von zwei oder mehr Rhythmen, die
eine je eigene, unabhängige Folge musikalischer Ereignisse erzeugen
– gehen auf Wurzeln in unterschiedlichen Kulturen weltweit zurück
und sind in verschiedenen musikalischen Genres zu hören: in afro-
kubanischer Musik, Jazz, Rock oder Disco, in Rap, Funk, Beatboxing
und anderen Musikrichtungen. Berlins über Jahrzehnte gewachsene
Szene für elektronische Musik und ihre Clubs werden heute mehr
denn je durch verschiedenste Communitys aus aller Welt bereichert,
die sich hier niedergelassen haben. Wenn man über Musik und Sound
in Berlin nachdenkt, wären Polyrhythmen dann nicht ein idealer
Ausgangspunkt, um den neben- und miteinander existierenden
Klangwelten der Stadt zuzuhören, sie zu erleben und zu beschreiben?

Das Pluri-Rhythm Festival holt die Diaspora-Communitys Berlins ins
HKW und bietet eine Plattform für Performer*innen, Musiker*innen,
DJs und Klangkünstler*innen, die weniger durch ein musikalisches
Genre als durch einen polyrhythmischen Sound verbunden sind. Das
Festival lädt ein breites Publikum verschiedener Altersgruppen,
Gender-Identitäten, kultureller Hintergründe und Erfahrungen ein,
in die diversen Klangwelten Berlins einzutauchen und sich der
vielfältigen Verbindungen mit der lokalen Musikszene bewusst zu
werden.

Das Line-Up der ersten Festivalausgabe richtet sein Augenmerk auf
die Idee einer Pluriversalität verschiedener instrumentaler Formen,
musikalischer Techniken und Rhythmen ebenso wie auf den Kontakt
zwischen musikalischen Traditionen und Fusionen, die
Performance-Räume, Clubs, und Klangerfahrungen im gesamten
Stadtraum verbinden. Ergänzt wird das Programm durch eine
Podiumsdiskussion, die die Überschneidungen zwischen
polyrhythmischer und elektronischer Musik thematisiert.

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Sensing Worlds
Epistemologien und Praktiken zwischen Süd und Süd
Gespräche, Performance Lectures, Podcast, Publikation

Bis ich die Freiheit habe, in zwei Sprachen zu schreiben und zwischen
ihnen zu wechseln, ohne immer übersetzen zu müssen; solange ich
immer Englisch oder Spanisch sprechen muss, während ich lieber
Spanglish spräche; und solange ich den Englisch-Sprechenden
entgegenkommen muss, anstatt sie mir; solange wird meine Zunge
illegitim bleiben.
—Gloria Anzaldúa, „How to Tame a Wild Tongue“ (1987)

Ausgehend von Epistemologien des Südens befasst sich diese Reihe
mit dem Denken von und mit Räumen und Menschen, die von
Kapitalismus und Kolonialismus marginalisiert und zum Verstummen
gebracht wurden – sowie jenen, die sich diesen Formen der
Unterdrückung widersetzen. Dieser Süd-Süd-Austausch
konzentriert sich nicht nur auf Wissensbestände, sondern auch
persönliche Erfahrungen und Verhaltensweisen, um zu erkunden,
wie Welten übersetzt, dem Wissen zugänglich gemacht und mit allen
Sinnen erlebt werden. In Gesprächen und Performance Lectures
widmen sich Wissensproduzent*innen und Praktiker*innen aus vielen
Feldern einer je spezifischen, im Körper verwurzelten
Sinnesempfindung, aus der heraus sich verschiedenste
Bedeutungsebenen und Praktiken des Wissens und der
Welterzeugung entfalten. In diesem Prozess unterziehen sie die
dominante Ordnung und Konzeptualisierung der Sinne einer
kritischen Diskussion und betreten neue Wege der Erfahrbarkeit
unterschiedlicher Welten. Zugleich ringen sie mit Fragen der
Übersetzung und ihrer Ausrichtung: Wer sind die imaginären
Anderen, für die Wissensproduzent*innen des Südens sich selbst und
ihre Arbeiten übersetzen? Welche Bezugsrahmen nutzen sie?
Wessen Ohren, Augen und Sinne adressieren sie? In Richtung
welcher Räume und Geografien übersetzen sie und warum?
Schließlich: Wie können wir uns Übersetzungen vorstellen, die die
Richtung wechseln und entlang der Süd-Süd-Achse fließen? Durch
die Beschäftigung mit diesen Fragen will das Programm den
Horizont der Wissens-, Seins- und Beziehungsformen im Globalen
Süden erkunden, theoretisieren und erweitern. Ziel ist eine kritische
Bestandsaufnahme der Repräsentationen und Begrifflichkeiten von
‚Welt‘, ihrer Verknüpfungen und Brüche. Die Logiken der Störung,
aber auch der Erholung und Wiederherstellung, der (Wahl-
)Verwandtschaft und schöpferischen Kraft aufgreifend, steht Sensing
Worlds für eine pluriversale Weltsicht, die horizontale, dialogische
Beziehungsformen betont und danach strebt, neue Formen des
Zusammenlebens zu entwickeln, die weniger auf Gleichförmigkeit
denn auf Vielfalt und Unterschiedlichkeit setzen.

Dieses Projekt wurde konzipiert in Zusammenarbeit mit meLê
yamomo.

Tongue and Throat Memories
In Gastfreundschaft geteiltes kulinarisches Wissen
2023–2027

Im Wolof, das in der Senegambia-Region in Westafrika gesprochen
wird, bedeutet das Wort kër in etwa „Haus“. Doch die Konnotationen
gehen weit über ein materielles Verständnis hinaus: Sie umfassen
nicht nur das Gebäude selbst, sondern die Menschen im Haus samt
ihrer kollektiv herausgebildeten Erfahrungen, Rollen, Energien,
Werte und Formen der Fürsorge. Eine bessere Übersetzung von kër
wäre somit „einladendes Haus“, ein Ort, der mit Essen und Liebe
willkommen heißt: ein Zuhause. Tongue and Throat Memories

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