Revolution der Frauen - MÄRZ / APRIL AMNESTY - Amnesty International
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AMNESTY JOURNAL MAGAZIN FÜR MENSCHENRECHTE 02/23 MÄRZ / APRIL WWW.AMNESTY.DE/JOURNAL Revolution der Frauen Aufstand im Iran Zurück zu den Wurzeln »Wir werden laut« Weltweit regt sich Widerstand Zaynab Al-Khawaja über ihren Vater gegen Landgrabbing und die Repression in Bahrain
INHALT Gesichter des Protests. Tausende Menschen demonstrieren im Iran 12 seit September für Freiheitsrechte und gegen Repression. Vier Aktivistinnen im TITEL: AUFSTAND IM IRAN Porträt: Atena Daemi, Sarina Esmailzadeh, Porträts: Frauen im Widerstand 12 Ghazaleh Motamed Gefangene und Haftanstalten: Doppelt bestraft 16 und Sepideh Rashno. Kommentar Todesstrafe: Morde mit Methode 19 Proteste in den Regionen: Widerstand aus Tradition 20 Zorn und Schönheit. Kampf gegen Repression: Shole Pakravan Sportler*innen: Einmal gegen die Mullahs gewinnen 22 24 28 Sie ist Fotografin, Filmemacherin und hat bei den Salzburger Amnesty-Expertin: »Eine noch nie dagewesene Festspielen inszeniert: Protestbeteiligung im ganzen Land« 26 Shirin Neshat ist die bekannteste iranische Künstlerin Shirin Neshat: Kritik in Szene gesetzt 28 Exilkünstlerin. Seit Jahrzehnten setzt sie sich für Frauenrechte in POLITIK & GESELLSCHAFT ihrer alten Heimat ein. Mit starken Bildern. Weltweites Landgrabbing: Zurück zu den Wurzeln 32 Bergbau in Indonesien: Rezept für eine Katastrophe 38 Indigene in Kanada: Erneut betrogen 40 Frei und doch nicht frei. Justiz in Guatemala: Der Kampf des Bernardo Caal Xol 42 Bernardo Caal Xol ist Umweltaktivist und 42 Graphic Report: Ukraine 44 legte sich in Guatemala mit der Politik an. 1.520 Protect the Protest: Zaynab Al-Khawaja über Bahrain 46 Tage saß der indigene Dorflehrer zu Unrecht Diskriminierung in Kuwait: Staatenlos am Golf 50 in einer Zelle. Ein Menschenhandel in Ostafrika: Hoffnung verführt 54 Einzelfall? Nein, eher ein typisches Beispiel Antirassistische Bildung: Die Schwarze Akademie 56 für die fehlende Unab- hängigkeit der Justiz. LGBTI+ in Philippinen: Eigene Toleranz trifft koloniale Queerfeindlichkeit 60 Der Stoff, aus dem KULTUR 64 die Zukunft ist. Mode als Medium des Mode aus Afrika: Gesellschaftlicher Wandel ausgestellt 64 gesellschaftlichen Wandels: Die Ausstel- HipHop in Mali: Mehr als musikalische Unterhaltung 68 lung »African Fashion« Postkoloniale Kunst in Südafrika: Der umgekehrte Blick 70 in London präsentiert Kreationen wichtiger Musik aus Syrien: Archivare des Flüchtigen 72 afrikanischer Mode- designer*innen des 20. Straßennamen in Jaffa: Where the streets have Jahrhunderts, in dem no (Arabic) name 74 sich Afrika politisch und Ägyptische Essays: Appell aus dem Gefängnis 76 sozial neu ordnete. Musik: Anatolische Stadtmusikant*innen 78 »When we see us«. RUBRIKEN Künstler*innen auf dem afrikanischen 70 Kontinent und wie Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 08 Spotlight: Mali 52 sie sich selbst sehen: Was tun 58 Porträt: Harsh Mander 62 Dranbleiben 63 In Kapstadt zeigt das Rezensionen: Bücher 77 Rezensionen: Film & Musik 79 Zeitz MOCAA- Briefe gegen das Vergessen 80 Aktiv für Amnesty 82 Museum eine Kolumne: Eine Sache noch 83 Impressum 83 große Gruppen- ausstellung. 2 AMNESTY JOURNAL | 02/2023
Schlaflose Nächte. Nachdem die junge Iranerin Reyhaneh Jabbari trotz 22 EDITORIAL internationaler Proteste 2014 hingerichtet wurde, kämpft ihre Mutter Shole Pakravan für die 50 JAHRE JOURNAL Abschaffung der Todesstrafe in Ein Ausflug in den Keller sollte Klarheit bringen, aber außer ihrer Heimat – inzwischen von Berlin aus. Die Hinrichtungen staubiger Luft und stockfleckigen Materialien war dort von Teilnehmenden der aktuellen nichts zu holen. So bleibt es bei einer im Journal-Archiv ge- Proteste im Iran konfrontieren fundenen Ausgabe, die als einziger Beleg dafür dienen muss, sie erneut mit ihrem Schmerz. dass das Amnesty Journal 2023 genau 50 Jahre alt wird. Erhalten geblieben ist uns die Ausgabe »7/73 Juli 1973«. Neuer Kolonialismus. Wo heute »Amnesty Journal« steht, prangt hier »Amnesty 32 Weltweit kaufen Investor*innen Millionen International Informationen«. Das Heft hat zwölf Seiten. Hektar fruchtbaren Kein Editorial, kein Inhaltsverzeichnis, es geht direkt zur Bodens auf und Sache: »London berichtet im Juli 1973 aus folgenden Län- zerstören damit die Lebensgrundlage der dern«, heißt es da, gefolgt von Meldungen über Griechen- ansässigen Bevölkerung. land, Süd-Vietnam, Uruguay und neun weitere Staaten. Doch es regt sich auch Auch Informationen aus der Zentrale in Hamburg und den Widerstand gegen den Bezirken finden sich: »Anschriftenänderungen«, »Freie Landraub. Stellen im Internationalen Sekretariat«, »Probleme bei der Umstellung auf Zentralbuchhaltung«. Fotos gibt es nicht. Die Ausgabe »7/73 Juli 1973« ist ein beeindruckendes Doku- Neu denken. Die Schwarze Akademie 56 ment. Denn sie zeigt, wie engagiert die deutsche Amnesty- Sektion gegen Menschenrechtsverletzungen in aller Welt will die Expertise nicht- weißer Menschen sichtbar vorging. Und sie dokumentiert, dass es ein gutes Jahrzehnt machen. Dem Netzwerk nach der Gründung von Amnesty in Deutschland bereits ein haben sich seit 2022 breites Netzwerk an Gruppen und Unterstützer*innen gab. bereits zahlreiche internationale Wissen- schaftler*innen und Erschreckend ist hingegen die thematische Kontinuität Expert*innen von der damaligen bis zur aktuellen Ausgabe. So wurde in angeschlossen. Bezug auf den Iran gemeldet: »Ai forderte in einem Tele- gramm den iranischen Premierminister Amir Abbas Hoveida dringend auf, die am 11. 6. von einem Militärgericht ausge- Patronen gehen, sprochenen Todesurteile gegen 6 Angeklagte zu überprü- Worte bleiben. Sprechgesang als 68 fen.« Ein halbes Jahrhundert später sind der Schah und sein Premierminister längst Geschichte. Doch Todesurteile wer- demokratische Kraft: Die malische den im Iran leider immer noch verhängt und vollstreckt, wie Jugend vertraut den unsere Schwerpunktseiten zeigen. Rapper*innen des Landes schon lange Sollten Sie zu den Mitgliedern oder Unterstützer*innen ge- mehr als den Politiker*innen. hören, die schon seit 50 Jahren dabei sind, dann schauen Sie doch bitte einmal nach, ob sich im Regal oder im Keller noch eine Ausgabe der »Amnesty International Informationen« findet, die vor »7/73 Juli 1973« erschienen ist. Wenn dem so ist, dann schreiben Sie mir bitte an journal@amnesty.de. Ich würde mich sehr über Ihr altes Schätzchen freuen! Titelbild: Szene bei der Beerdigung eines Aktivisten, der bei Protesten gegen das Maik Söhler iranische Regime in Mahabad getötet ist verantwortlicher Redakteur wurde. 16. September 2022. des Amnesty Journals. Foto: Middle East Images / laif Foto: Gordon Welters Fotos oben: Sarah Kilcoyne | Sarah Eick | Eugene Gologursky / Getty Images Andy Hall / Guardian / eyevine / laif | James Rodriguez / Amnesty | Anne Ackermann Tatenda Chidora | Jonathan Fischer | Dillon Marsh, courtesy of Zeitz MOCAA AMNESTY JOURNAL | 02/2023 3
PANORAMA KEINE RECHTE FÜR FRAUEN IN AFGHANISTAN Die Situation von Frauen und Mädchen in Afghanistan hat sich seit der Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 drastisch verschlechtert. Es gibt kaum einen Bereich des öffentlichen Lebens, aus dem die radikal-islamischen Machthaber die Bürgerinnen des Landes noch nicht verdrängt haben. Seit Ende des vergangenen Jahres ist es in- und ausländischen Nicht- regierungsorganisationen verboten, Mitarbeiterinnen einzustellen. Frauen und Mädchen dürfen sich nicht in Parks und Sporthallen aufhalten. Seit der Machtübernahme ist ihnen Sport ohnehin untersagt. Außerdem sind Mädchen und Frauen grundsätzlich vom Besuch weiterführender Schulen und Universitäten ausgeschlossen. Amnesty International hat den UN- Sicherheitsrat aufgefordert, umgehend zu handeln. Zwar hat das Gremium die Einschränkungen der Frauenrechte verurteilt. Das genügt aus Sicht von Amnesty jedoch nicht: »Es ist dringend notwendig, dass der UN-Sicherheitsrat dem Niedergang der Rechte von Frauen und Mädchen in diesem Land Einhalt gebietet«, sagte Yamini Mishra, die Amnesty- Regionaldirektorin für Südasien. Im Bild: Eine Händlerin verkauft in Mazar-i-Sharif Produkte für Frauen und Mädchen, Januar 2023. Foto: Atif Aryan / AFP / Getty Images 4 AMNESTY JOURNAL | 02/2023
RANDALIERENDE RECHTSEXTREME IN BRASILIEN UNTER ANKLAGE Tausende Unterstützer*innen des im Herbst 2022 abgewählten Präsidenten Jair Bolsonaro haben am 8. Januar 2023 Regierungs- und Gerichtsgebäude in der brasilianischen Hauptstadt Brasília gestürmt, Dokumente vernichtet und Einrichtungen verwüstet. Die Demonstrant*innen drangen in das Parlamentsgebäude, den Sitz des Obersten Gerichtshofs sowie den Präsidentenpalast ein (im Bild: beschädigtes Mobiliar vor dem Präsidentenpalast). Sie griffen auch Sicherheitskräfte und Journalist*innen an, die über die Vorfälle berichten wollten. Versuche, die Ausrüstung von Medienschaffenden zu zerstören oder an sich zu reißen, stellen eine schwerwiegende Verletzung der Pressefreiheit dar. Die Ausschreitungen kamen nicht unerwartet, sie waren von rechtsextremen Gruppen zuvor angekündigt worden. Knapp 2.000 Menschen wurden vorübergehend festgenom- men, einige wurden bereits angeklagt, viele erwartet noch eine Anklage wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und Beschädigung von öffentlichem Eigentum. Zudem ist das Verhalten der Sicherheitskräfte in Brasília in die Kritik geraten. Videos zeigen, dass einige Sicherheitskräfte nicht gegen die Randalierer*innen vorgingen. Foto: Ueslei Marcelino / Reuters 6 AMNESTY JOURNAL | 02/2023
MASSENPROTESTE UND AUSNAHMEZUSTAND IN PERU Die peruanische Staatsanwaltschaft hat im Januar Ermittlungen gegen Präsidentin Dina Boluarte und mehrere Regierungsmitglieder eingeleitet. Untersucht werden sollen mutmaßliche Verbrechen des Völkermords, der vorsätzlichen Tötung und schwerer Körperverletzung im Zusammenhang mit den jüngsten Unruhen. Die Proteste waren ausgebrochen, nachdem der ehemalige Präsident Pedro Castillo am 7. Dezember 2022 die Auflösung des Nationalkongresses ankündigt hatte und daraufhin abgesetzt und inhaftiert worden war. Unterstützer*innen Castillos fordern seither Boluartes Rücktritt und Neuwahlen. Die Regierung rief wegen der anhaltenden Proteste den Notstand in der Hauptstadt Lima und drei weiteren Regionen im Süden des Landes aus und schränkte Grundrechte wie die Versammlungs- und Reisefreiheit ein. Erika Guevara-Rosas, Amerika- Expertin bei Amnesty International, sagte: »48 Todesfälle durch staatliche Repression, elf Tote bei Straßenblockaden, ein getöteter Polizist sowie Hunderte von Verletzten zeigen, dass die peruanischen Behörden den exzessiven und tödlichen Einsatz von Gewalt zulassen.« Im Bild: Polizeieinsatz in Lima, Januar 2023. Foto: Sebastian Castaneda / Reuters AMNESTY JOURNAL | 02/2023 7
EINSATZ MIT ERFOLG FINNLAND Das finnische Parlament hat Anfang Februar ein Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen an den Gesetz verabschiedet, das Erwachsenen das »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und Recht auf eine Änderung des Geschlechtsein- an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser trags durch Selbsterklärung gewährt. Bisher Einsatz Folter verhindert, die Freilassung Gefangener bewirkt und mussten trans Menschen eine ärztliche Beschei- Menschen vor unfairen Prozessen schützt, zeigt unsere Weltkarte. nigung über ihre Sterilität vorlegen, was einen Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge Verstoß gegen die Europäische Menschen- rechtskonvention darstellt. »Mit der Verabschie- dung dieses Gesetzes hat Finnland einen wichti- gen Schritt getan, um die Rechte von trans Menschen zu schützen«, sagte Matti Pihlaja- maa, zuständig für LGBTI-Rechte bei Amnesty in Finnland. Beim Briefmarathon im Jahr 2017 hat- ten 347.000 Unterstützer*innen von Amnesty die finnischen Behörden aufgefordert, die rechtliche Anerkennung des Geschlechts zu reformieren. ÄGYPTEN Der Menschenrechtsanwalt und ehemalige Par- lamentarier Zyad el-Elaimy ist am 24. Oktober 2022 nach 40 Monaten willkürlicher Haft freige- kommen. Er hatte sich seit Juli 2019 in Untersu- chungshaft befunden, ohne die Rechtmäßigkeit SAUDI-ARABIEN JEMEN seiner Inhaftierung prüfen lassen zu können. Der pensionierte palästinensische Politiker und Am 7. Dezember haben die De-facto-Behörden Die Behörden hatten ihm ohne Beweise die Arzt Mohammed al-Khudari ist im Oktober der Huthi den Journalisten Younis Abdelsalam »Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereini- 2022 aus dem Gefängnis entlassen worden – aus der Haft entlassen. Er war seit dem 4. Au- gung« und die »Verbreitung von Falschnachrich- sieben Monate nach Verbüßung seiner Haftzeit. gust 2021 in Sanaa ohne Anklage oder Gerichts- ten« zur Last gelegt. Alle Beschuldigungen be- Die saudi-arabischen Behörden hatten ihn und verfahren inhaftiert, weil er friedlich Kritik an zogen sich auf friedliche Meinungsäußerungen. seinen Sohn Hani al-Khudari im April 2019 will- den Behörden geübt hatte. Nach seiner Fest- Obwohl Zyad el-Elaimy unter Bluthochdruck, kürlich inhaftiert. Am 8. März 2020 waren beide nahme war er mehrere Wochen lang »ver- einer Asthma- und einer Diabetes-Erkrankung Männer im Rahmen eines Massenverfahrens schwunden« und musste anschließend 80 Tage leidet, wurde ihm in der Haft eine medizinische gegen 68 Personen vor dem Sonderstrafgericht lang in Einzelhaft und ohne Kontakt zur Außen- Versorgung verwehrt. Amnesty International angeklagt, »einer terroristischen Gruppe« bei- welt verbringen. Sicherheitskräfte hatten Abdel- hatte sich mit einer Eilaktion für den gewalt- getreten zu sein, womit offenbar die palästi- salam während seiner Inhaftierung misshandelt losen politischen Gefangenen eingesetzt. nensische Hamas gemeint war. In der Haft war und ihm eine angemessene medizinische Ver- Mohammed al-Khudari zahlreichen Menschen- sorgung verweigert. Sein Bruder dankte Amnes- rechtsverletzungen ausgesetzt. Sein Sohn Hani ty und den vielen Menschen, die die Freilassung 8 AMNESTY JOURNAL | 02/2023 al-Khudari ist weiterhin inhaftiert. von Younis Abdelsalam gefordert hatten.
HONGKONG BRIEFE GEGEN Der Radiomoderator Edmund Wan ist seit dem DAS VERGESSEN – UPDATES 18. November 2022 wieder frei. Er war zwei Jah- re zuvor festgenommen worden, weil er die Mit den Briefen gegen das Vergessen (siehe Seite 80) chinesische Regierung öffentlich kritisiert und können sich alle gegen Unrecht stark machen – allein eine Spendenaktion für junge Menschen aus zu Hause oder gemeinsam mit anderen. In jedem Hongkong initiiert hatte. Bis zu seiner Festnah- Amnesty Journal rufen wir dazu auf, an Regierungen me hatte Wan vier Programme für einen unab- oder andere Verantwortliche zu schreiben und sich für hängigen Internetradiosender in Hongkong Betroffene von Menschenrechtsverletzungen einzu- moderiert. Im Oktober 2022 war er wegen setzen. Was aus ihnen geworden ist, erfahren Sie hier. Aufwiegelung und Geldwäsche zu 32 Monaten Haft verurteilt worden. Auf Anweisung des Ge- richts muss Edmund Wan trotz seiner Freilas- TÜRKEI sung die gesammelten Spenden der Regierung Das türkische Kassationsgericht hat übergeben. Er dankte allen, die sich während am 22. November 2022 die absurden Foto: Amnesty Türkei seiner Inhaftierung für ihn eingesetzt haben. »Terrorismus«-Schuldsprüche gegen führende Vertreter*innen von Am- nesty International aufgehoben. Dies ist ein wichtiger Teilerfolg. Doch die politisch motivierte Verfolgung ist Taner Kılıç damit noch nicht zu Ende: Das Verfah- ren gegen Taner Kılıç, den Amnesty- Ehrenvorsitzenden in der Türkei, wur- de wegen »unvollständiger Ermittlun- gen« an das erstinstanzliche Gericht Foto: privat zurückverwiesen. Am 8. März 2023 muss er sich erneut vor einem Straf- gericht in Istanbul verantworten. İdil Eser Der Ehrenvorsitzende Kılıç wurde im Juni 2017 inhaftiert. Die Behörden bezichtigen ihn, Mitglied einer terro- ristischen Organisation zu sein – ein Foto: Amnesty vollkommen haltloser Vorwurf. Am 5. Juli 2017 wurden dann zehn weitere Menschenrechtler*innen festgenom- Günal Kurşun men, die in der Nähe von Istanbul an einer Fortbildung teilnahmen. Unter ihnen waren auch die Direktorin der türkischen Amnesty-Sektion, İdil Eser, der Rechtswissenschaftler Günal Foto: privat Kurşun, die Mitbegründerin der türkischen Amnesty-Sektion, Özlem Dalkıran, sowie der deutsche Men- Özlem Dalkıran schenrechtstrainer Peter Steudtner. Auch gegen sie wurden völlig absurde Foto: G. Zielke / panphotos Anklagen wegen Mitgliedschaft in ei- PHILIPPINEN ner terroristischen Organisation erho- Ein Gericht hat am 18. Januar 2023 die philip- ben. Nach massiven internationalen pinische Journalistin und Friedensnobelpreis- Protesten kamen die zehn im Oktober trägerin Maria Ressa vom Vorwurf der Steuer- 2017 vorerst frei. Kılıç wurde erst am hinterziehung freigesprochen. Ressa und ihre 15. August 2018 aus der Untersu- Website Rappler hatten in der Vergangenheit Peter Steudtner chungshaft entlassen. regelmäßig kritisch über den ehemaligen Präsi- (Januar 2018) denten Rodrigo Duterte und seine Regierung berichtet. Die philippinischen Behörden waren deshalb seit 2018 mit mehreren Strafverfahren gegen sie vorgegangen. Der Direktor der philip- pinischen Amnesty-Sektion, Butch Olano, sagte: »Amnesty begrüßt die Entscheidung, die Ankla- ge fallen zu lassen und fordert die Behörden auf, weitere gegen Maria Ressa erhobenen Vor- würfe ebenfalls fallen zu lassen, damit sie ihre Arbeit ungehindert fortsetzen kann.« AMNESTY JOURNAL | 02/2023 9
Aufstand im Iran Seit dem Tod von Jina Mahsa Amini demonstrieren überall im Iran Tausende gegen die politische und geistliche Führung des Landes. Geheimdienst, Polizei und Milizen gehen hart gegen Demonstrierende vor, Hunderte Menschen sind zu Tode gekommen. Abschottung, Zensur und Internetsperren sorgen dafür, dass die mediale Berichterstattung nachgelassen hat. Nicht so der Widerstand: Auf den nächsten Seiten stellen wir zentrale Gesichter, Motive und Aktionen der Protestbewegung vor. Wütende Geste gegen die geistliche Führung. Frauen protestieren in Teheran, Oktober 2022. Foto: SalamPix / abaca / pa AMNESTY JOURNAL | 02/2023 11
AUFSTAND IM IRAN PORTRÄTS Gesichter des Seit September demonstrieren im Iran Tausende Menschen für der Regierung. Mina Khani stellt vier Aktivistinnen vor. Sarina Esmailzadeh E inige Sätze von Sarina Esmailzadeh gend wie vor 20 Jahren. Sie weiß, was in Geheimdienst- und Sicherheitskräfte werden in Erinnerung bleiben: »Wir der Welt los ist.« All diese Sätze wurden bedrohten ihre Familie anschließend brauchen Glück, Genuss, eine moti- zum Glück auf Videos und in Online-Bei- massiv und schüchterten sie ein. Sie vierte Stimmung und viel Energie. Und trägen festgehalten, bevor Sarina Esmail- zwangen ihre Mutter, gegenüber einer wir brauchen Freiheit.« Denn Freiheit, so zadeh am 23. September 2022 ermordet staatlichen Nachrichtenagentur eine führte die Jugendliche weiter aus, werde wurde. Stellungnahme abzugeben, in der sie den iranischen Frauen in vielen Berei- Sie war gerade einmal 16 Jahre alt, als die offizielle Version der Todesursache chen vorenthalten. Das bekannteste Bei- Schläger sie in der Stadt Karadsch im Nor- wiedergeben musste, wonach ihre Toch- spiel sei die Zwangsverschleierung. Dass den Irans im Auftrag der Regierung bru- ter durch einen Sprung vom Dach eines nur Männer ins Fußballstadion dürften, tal töteten – sie schlugen ihr mit Schlag- Gebäudes Suizid begangen habe. sei ein weiteres Beispiel, beklagte die jun- stöcken den Schädel ein. Als man Sarina Zunächst hatten die Behörden noch ge Frau, die selbst Fußballfan war. Und sie Esmailzadeh ins Krankenhaus brachte, behauptet, Sarina Esmailzadeh sei von betonte: »Die iranische Jugend ist nicht konnten die Ärzt*innen nur noch den Tod einem Gebäude gestoßen worden. Die mehr dieselbe Ju- feststellen. staatliche Nachrichtenagentur Mizan schrieb kurz darauf, die junge Frau sei selbst gesprungen und habe Suizid be- gangen. Nicht nur ihre Familie wurde unter Druck gesetzt, diese Version zu ver- breiten, auch auf ihre Mitschülerinnen wurde Zwang ausgeübt. Später bearbeite- ten Unbekannte im Nachhinein Insta- gram-Posts von Sarina Esmailzadeh und fügten neue Inhalte hinzu, die von Suizid handelten. Das alles zeigt, wie extrem stümperhaft der iranische Staat versuch- te, den Mord zu verschleiern und zu ver- tuschen. Sarina Esmailzadeh hatte sich an den Protesten seit Herbst 2022 betei- ligt. Videos auf ihrem YouTube-Ka- nal zeigen, wie sie ihren Alltag ver- brachte und was ihr wichtig war. Sie war eine junge Frau, die das Leben genoss. Sie war fröhlich, lachte viel und laut. In einem Video singt sie den Song »Take Me to Church« des Popstars Hozier sehr energisch mit. Er handelt von gleich- geschlechtlicher Liebe und kritisiert Religionen, die sich moralisch überlegen fühlen und behaupten, im Besitz der Wahrheit zu sein. ◆ Der Staat versuchte extrem stümperhaft, den Mord an Esmailzadeh 12 AMNESTY JOURNAL | 02/2023 zu vertuschen.
Protests Freiheitsrechte und gegen die harte Repression Mit Zeichnungen von Sarah Kilcoyne Atena Daemi A tena Daemi ist eine der bekanntes- ten Frauen in der iranischen Pro- testbewegung. Mit ihrer enormen Reichweite in den Online-Netzwerken verstärkt sie die Stimme der Protestieren- den. Allein im Netzwerk Twitter folgen ihr mehr als 225.000 Menschen. Dass sie als Akteurin und Multiplikatorin am Pro- test mitwirken kann, ist keine Selbstver- ständlichkeit. Erst seit Januar 2022 ist Daemi wieder in Freiheit – nach langen Jahren im Gefängnis. Daemi wurde erstmals im Jahr 2014 festgenommen und kam direkt in Einzel- haft. Sie hatte sich für Kinderrechte, Frau- enrechte und gegen die Todesstrafe ein- gesetzt. Und sie unterstützte Demons- trant*innen, die sich mit der kurdischen Stadt Kobane im Norden Syriens solidari- sierten, als diese im Jahr 2014 von der be- waffneten Gruppe Islamischer Staat (IS) angegriffen wurde. Es kam zur Anklage und die Anklage- punkte waren zahlreich: »Versammlung und Verschwörung gegen die nationale Sicherheit«, »Verbreitung von Propagan- da gegen das System«, »Beleidigung der Gründer der Islamischen Republik Iran und des Religionsführers« und »Zurück- haltung von Beweisen«. Im Jahr 2015 wur- de Daemi zunächst zu einer Haftstrafe von 14 Jahren verurteilt, die später auf Ich wurde erneut verurteilt, weil ich Zani- Darin schrieb sie: »Khuzestan hat kein sieben Jahre verkürzt wurde. ar, Luqman und Ramin unterstützt und Wasser, Khuzestan hat Staub, (…) Khuzestan Die Aktivistin hatte Mahnwachen für einen Gedenkgottesdienst abgehalten hat Landminen, Kriegsschutt, Khuzestan politische Gefangene vor dem berüchtig- habe. Was kann ehrenvoller sein, als er- hat Diskriminierung. (…) In Khuzestan op- ten Evin-Gefängnis in Teheran organi- neut zu einer Gefängnisstrafe verurteilt fert man Leben, um Wasser zu bekommen. siert. Später musste sie dort selbst viele zu werden, weil man (…) Menschenleben Der Staat nimmt das Leben weg, um Was- Jahre verbringen. Doch sogar hinter Git- verteidigt hat?« ser zu geben. (…) Allgemeine Diskriminie- tern kämpfte sie weiter und ließ mehrere Die Behörden verlegten sie im Jahr rung und Unterdrückung sind die heraus- Briefe aus der Haftanstalt schmuggeln, 2018 in ein Gefängnis im Norden des ragenden Merkmale dieses Staates.« die viel dazu beitrugen, dass die iranische Landes. Ihre Familie musste fortan einen Amnesty International setzte sich und internationale Öffentlichkeit über langen Weg fahren, um sie zu besuchen. seit Beginn ihrer Inhaftierung für Atena die brutalen und menschenunwürdigen Und selbst von dort mischte sich Daemi Daemi ein, unter anderem beim Brief- Haftbedingungen in diesem Gefängnis weiter in die politische Auseinanderset- marathon 2018. Egal, ob sie gerade im informiert wurden. zung ein. Als es im Jahr 2021 in der Pro- Gefängnis ist oder nicht: Daemi ist stets In einem Brief, der sich auf die Hin- vinz Khuzestan zu sogenannten Wasser- eine starke und laute Stimme der Revolu- richtung dreier kurdischer Gefangener protesten der Bevölkerung kam, in deren tion der Frauen im Iran. ◆ im Jahr 2018 bezog, schrieb sie: »Die Mör- Verlauf Sicherheitskräfte mehrere Protes- der und Verbrecher sind frei, und viele tierende töteten, ließ sie wieder einen zivile Aktivist*innen sind im Gefängnis. Brief aus dem Gefängnis schmuggeln. AMNESTY JOURNAL | 02/2023 13
Ghazaleh Motamed D ie iranische Feministin ist seit ei- nigen Monaten auf der Flucht*. Im Iran gehörte Ghazaleh Motamed zu den bekanntesten Aktivistinnen der #MeToo-Bewegung. Die Kritik der Kos- tümbildnerin richtete sich dabei ins- besondere an die Kunst- und Kultur- szene. Die 42-Jährige zählte zu den mehr als 800 Frauen, die im April 2022 ein Statement gegen sexualisierte Gewalt in der iranischen Filmszene veröffent- lichten. Darin heißt es: »Jede Person mit Macht und Ansehen im irani- schen Filmbetrieb nutzt ihre Position, um Frauen zu schikanieren, zu bedro- hen, zu beleidigen, zu demütigen und anzugreifen.« Frauen erlebten körper- liche Gewalt, Nötigung, erzwungene sexuelle Handlungen, unerwünsch- ten Körperkontakt, verbale sexuelle Belästigung und Drohungen. Dies alles geschehe, ohne dass die Täter Verantwortung für diese Fälle von sexualisierter Gewalt überneh- men müssten. Nach der Veröffentlichung wurde Ghazaleh Motamed zu- sammen mit vier anderen Frau- en in ein Komitee der Unter- zeichner*innen gewählt, das den genannten und weiteren Fällen von sexualisierter Gewalt in der Kunst- und Kulturszene nachge- hen wollte. Auch sollten Verhand- lungen mit der Gewerkschaft der Filmschaffenden darüber geführt wer- den, wie solche Taten in einer Art Proto- koll festgehalten werden könnten. Ziel war es, sexualisierte Gewalt gründlich zu untersuchen und zu dokumentieren, um ein Fundament für juristische Schritte zu schaffen. Dieses Protokoll sei jedoch nie zustan- de gekommen, weil es verhindert worden sei, berichtet Ghazaleh Motamed. »Aber wir haben nie aufgegeben. Der Einfluss Behörden hätten ihr und ihren feministischer Aktivitäten auf die Gesell- Mitstreiter*innen viele Steine in »Sie haben bei schaft ist in der derzeitigen Revolution, den Weg gelegt. Zunächst erteilte man ein Verhören anderer Aktivistinnen die unter dem Motto ‚Frau, Leben, Frei- Reiseverbot, später folgten zahlreiche Vor- immer wieder meinen Namen erwähnt. heit‘ steht, deutlich zu sehen. Wir kämp- ladungen. Feministische Arbeit ist harte Sie wollen jedes Netzwerk von Frauen fen weiter, um unsere Ziele zu erreichen.« Arbeit in einem Land, das keine Freiheit und Feminist*innen zerstören«, sagt die Dazu zähle auch das Protokoll: »Wir wer- und Gerechtigkeit für Frauen und LGBTI- Aktivistin. »Doch sie erreichen damit das den immer wieder darauf zurückkom- Personen kennt. Gegenteil. Es entstehen mehr feministi- men, und wir werden es in der iranischen Trotz harter Erfahrungen bereut es sche Netzwerke. Und es wird weiterge- Kinoszene durchsetzen.« Ghazaleh Motamed nicht, alles versucht kämpft.« Für Ghazaleh Motamed sind die Die sexualisierte Gewalt im Iran sei zu haben, um das Leben der Frauen zu vergangenen Monate deshalb »eine femi- systemisch, sagt Ghazaleh Motamed. Die verbessern und für deren Rechte zu nistische Revolution«. ◆ kämpfen. Als der Druck vonseiten der Po- lizei und der Milizen zunahm, sah sie sich * Zum Schutz von Ghazaleh Motamed nennen 14 AMNESTY JOURNAL | 02/2023 jedoch gezwungen, das Land zu verlassen. wir ihren Aufenthaltsort nicht.
Sepideh Rashno E s war Mitte Juli im Jahr 2022, als Rabiee forderte Rashno auf, das Kopftuch sich Sepideh Rashno in Teheran im aufzusetzen. Diese antwortete: »Geh mal Im Fall Rashno hatte Bus auf den Weg zur Arbeit machte. hier raus! Werft sie raus!« Andere Frauen Dort traf die 28-jährige Schriftstellerin im Bus versuchten, Sepideh Rashno zu der Iran nicht mehr und Lektorin auf Rayeheh Rabiee, und schützen. Sie wollten offensichtlich ver- zu bieten als eine diese Begegnung sorgte dafür, dass Rash- no am Ende des Tages nicht am Arbeits- hindern, dass sie gefilmt wird. Während Sepideh Rashno ankündigte, ihr Video Politik der Angst. platz, sondern im Gefängnis landete. Bei- »an die ganze Welt« zu schicken, erwider- de Frauen gerieten aneinander und nah- te Rabiee: »Ich werde dich bei den Revolu- men den Vorfall mit dem Handy auf, die tionsgarden anzeigen.« Islamische Republik« angeklagt. Wider- Filme wurden weltweit bekannt. Sepideh Rashno wurde kurz darauf stand gegen den Schleierzwang kann im In beiden Handyvideos ist zu sehen, inhaftiert und der »Versammlung und Iran mit einer Strafe von bis zu zehn dass Sepideh Rashno im Bus kein Kopf- Verschwörung gegen die nationale Sicher- Jahren Jahren Haft geahndet werden. tuch trug und Rabiee vollverschleiert war. heit« sowie der »Propaganda gegen die Rabiees Video wurde vor Gericht als Be- weismaterial zugelassen. Ende Juli strahlten regierungsnahe Medien einen Film mit einem erzwunge- nen »Geständnis« Rashnos aus. In ihrem Gesicht waren deutlich Verletzungen er- kennbar, sie sprach nur sehr kurz und sah dabei völlig erschöpft aus. Hinter ihr war ein blauer Vorhang im Bild, der in den vergangenen Jahren häufig bei erzwun- genen Geständnissen von Feminist*in- nen, Menschenrechtaktivist*innen und Journalist*innen zu sehen war. In Online-Netzwerken und irani- schen Exilmedien war die Empö- rung über die Misshandlung Rash- nos groß. Auch im Iran wuchs be- reits damals die Wut auf die Behör- den und die Revolutionsgarden wegen ihres brutalen Vorgehens gegen Frauen – Monate bevor Jina Mahsa Amini wegen eines Versto- ßes gegen den Schleierzwang er- mordet wurde und zahlreiche Frau- en und verbündete Männer massen- haft gegen die Verschleierung, die Re- pression und die Unfreiheit im Land protestierten. Bereits im Fall von Sepideh Rash- no hatte der Staat nicht mehr zu bie- ten als ein erzwungenes »Geständ- nis« und eine Politik der Angst. Die iranischen Frauen sollten die Verlet- zungen im Gesicht Rashnos auf jeden Fall sehen. Die Botschaft war klar: Wer sich der Verschleierung widersetzt, wird inhaftiert und gefoltert. Sepideh Rashno wurde inzwischen gegen eine sehr hohe Kaution von um- gerechnet mehr als 27.000 Euro freige- lassen. Sie steht nach wie vor unter Anklage. Rashno hat sich seither nur einmal geäußert und sich bei der irani- schen Gesellschaft für die Solidarität be- dankt. ◆ AMNESTY JOURNAL | 02/2023 15
AUFSTAND IM IRAN GEFANGENE UND TODESSTRAFE 16 AMNESTY JOURNAL | 02/2023
Doppelt bestraft Im Iran werden Oppositionelle in unfairen Gerichtsverfahren zu hohen Haftstrafen verurteilt. Die Haftbedingungen wirken wie eine zusätzliche Bestrafung. Von Dieter Karg I m August 2021 erreichten schockie- Strafvollzugs, Mohammed Mehdi Haj rende Videoclips die Öffentlichkeit. Mohammadi, entschuldigte sich zwar für Es handelte sich um Bilder von das »inakzeptable Verhalten« der Wärter, Überwachungskameras, die autori- über weitere Konsequenzen wurde jedoch tären Regierungen üblicherweise nichts bekannt. dazu dienen, ihre Bürger auszuspähen, Am 15. Oktober 2022, während der um politischen Protest im Keim zu ersti- jüngsten Protestwelle im Iran, gelangten cken. Doch diese Aufnahmen deckten Videos an die Öffentlichkeit, die zeigten, Menschenrechtsverletzungen auf: Einer dass im Evin-Gefängnis ein Großfeuer iranischen Hackergruppe war es gelun- ausgebrochen war. Nach offiziellen Anga- gen, in das Kontrollsystem des berüchtig- ben wurden dabei acht Personen getötet ten Evin-Gefängnisses am Stadtrand von und mehr als 60 verletzt. Die Behörden Teheran einzudringen. Die geleakten Auf- behaupteten, das Feuer sei durch einen nahmen belegen, mit welcher Brutalität Streit unter Gefangenen verursacht wor- die Gefangenen dort behandelt werden: den. Belege, die Amnesty zusammenge- Man sieht, wie ein älterer Gefangener, der tragen hat, legen jedoch nahe, dass das zusammengebrochen ist, durch das Ge- Feuer dazu dienen sollte, das brutale Vor- fängnis geschleift wird, wie mehrere Wär- gehen gegen Inhaftierte zu verschleiern. ter einen Mann verprügeln, wie ein leblo- Häftlinge im Gebäude 8, in dem überwie- ser Mann einfach auf dem Boden liegen- gend politische Gefangene untergebracht gelassen wird, während die Wärter dane- sind, berichteten, dass gegen 20 Uhr benstehen, und wie ein Mann in einem Schüsse und Schreie im benachbarten Ge- Duschraum versucht, sich mit Glasscher- bäude 7 zu hören waren. Als sie in Panik ben die Pulsadern aufzuschneiden. ihren Trakt verlassen wollten, wurden sie Die schockierenden Bilder seien nur vom Gefängnispersonal unter Einsatz von »die Spitze des Eisbergs der Folterepide- Tränengas, Schlagstöcken und Schüssen mie im Iran«, sagt Heba Morayef, Nahost- daran gehindert. Erst eineinhalb Stunden Expertin von Amnesty International. Die später machten erste Berichte über ein Videoclips bestätigten das, was viele Ge- Feuer die Runde, das offenbar im Werk- fangene über die Haftbedingungen aus- stattgebäude ausgebrochen war, zu dem gesagt hätten. Der Chef des iranischen die Gefangenen zu diesem Zeitpunkt kei- nen Zugang hatten. Amnesty dokumentierte die Zustände in iranischen Gefängnissen bereits nach Das Gegenstück den Protesten im November 2019 in ei- zur Isolationshaft nem Bericht mit dem Titel: »Die Mensch- Das Evin-Gefängnis als Symbol im Gesicht. Demonstrantin in London, November 2022. sind überfüllte Foto: Thomas Krych / Zuma Press Wire / pa Zellen. AMNESTY JOURNAL | 02/2023 17
lichkeit mit Füßen treten« (»Trampling und Matratze auf dem kalten Boden gung zurückzuführen sind. Die Kranken- humanity«). Genau die gleichen Schilde- schlafen. In den Zellen brennt oft Tag stationen der Gefängnisse bieten nur eine rungen erreichen die Organisation seit und Nacht grelles Licht. Gefangene kla- sehr eingeschränkte medizinische Versor- dem Ausbruch der aktuellen Proteste im gen auch über Schädlingsbefall und gung. Dennoch lehnten die Gefängnisbe- Herbst 2022. Personen »verschwinden« penetranten Gestank wegen defekter hörden oder das ärztliche Personal eine direkt nach ihrer Festnahme. Sie werden sanitärer Anlagen. Das Essen ist häufig Untersuchung oder Behandlung außer- mit verbundenen Augen in geheime unzureichend und kaum genießbar. halb des Gefängnisses vielfach ab, sodass Haftzentren gebracht und müssen länge- Die schlechten Haftbedingungen sind sich der Zustand der Inhaftierten gravie- re Zeit in Isolationshaft verbringen, ohne eine zusätzliche Bestrafung und werden rend verschlechterte – manchmal bis hin jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Ange- auch bewusst so eingesetzt, wenn Gefan- zum Tod. hörige und Rechtsbeistände suchen oft gene sich zum Beispiel nicht fügen oder Die schlechte ärztliche Versorgung wochenlang verzweifelt nach ihnen, er- protestieren. Ihnen wird außerdem die zeigte sich auch während der Corona-Pan- halten jedoch keine Auskunft über ihren Kommunikation mit ihren Familienan- demie: In den Gefängnissen kam es zu Aufenthaltsort. Stattdessen werden sie ge- gehörigen verweigert, oder man verlegt größeren Ausbrüchen, weil Inhaftierte warnt, mit anderen darüber zu sprechen sie in ein Gefängnis, das so weit vom nicht geimpft und Infizierte nicht isoliert oder den Fall an die Öffentlichkeit zu wurden. Geleakte Briefe an das Gesund- bringen. heitsministerium belegen, dass selbst Ge- Unmittelbar nach der Inhaftierung fängnisleitungen wiederholt feststellten, beginnen meist Folter oder andere Miss- »Es ist uns nicht wichtig, dass sie nicht über genügend Schutzaus- handlungen, um die Inhaftierten zu be- rüstung, Desinfektionsmittel und medizi- strafen, zu erniedrigen und zu »Geständ- ob du lebst oder stirbst.« nische Geräte verfügten und dass viele nissen« zu zwingen. Schläge, auch mit Aussage eines Verhörers Häftlinge ein geschwächtes Immunsys- einer Peitsche, und Aufhängen an den tem hätten. Eine Antwort erhielten sie Gliedmaßen sind dabei die häufigsten nicht. Im Jahr 2020 protestierten Gefan- Formen. In vielen Fällen werden auch gene in mindestens acht Haftanstalten Elektroschocks, Erstickungstechniken wie Wohnort ihrer Angehörigen entfernt mit Hungerstreiks oder angezündeten »Waterboarding«, sexualisierte Gewalt liegt, dass Besuche nur schwer möglich Mülltonnen gegen die Mängel. Als die oder Scheinhinrichtungen angewendet. sind. Friedlich Protestierende werden oft Behörden mit Tränengas und scharfer Hinzu kommen verschiedene Formen zusammen mit Gewalttätern inhaftiert, Munition gegen die Protestierenden vor- psychischer Folter wie Beleidigungen und von denen sie bedroht oder angegriffen gingen, wurden mindestens 35 Menschen Obszönitäten, die Androhung einer Ver- werden. getötet und Hunderte verletzt. gewaltigung oder einer Hinrichtung. Man Auf einen weiteren Aspekt hat Amnes- Ein Gefangener, der bei den Protesten droht den Inhaftierten außerdem an, ty im April 2022 in dem Bericht »Im War- 2019 festgenommen wurde, berichtete, nahe Verwandte zu inhaftieren, zu foltern tezimmer des Todes« (»In Death’s Waiting man habe ihm im Verhör gesagt: »Wenn oder zu töten, und schüchtert die Familien- Room«) hingewiesen: Die Gefängnisbe- du stirbst, dann stirbst du wie ein Hund. angehörigen ein und drangsaliert sie. hörden verweigern Inhaftierten eine not- Es ist uns nicht wichtig, ob du lebst oder wendige medizinische Behandlung, so- stirbst.« Eine Aussage, die symptomatisch Medizinische Behandlung verweigert wohl bei Verletzungen, die während der ist für die Haltung der Behörden gegen- Auch die Unterbringung selbst erniedrigt Festnahme oder aufgrund von Folter ent- über Inhaftierten. ◆ die Gefangenen. Das Gegenstück zur Iso- standen, als auch bei Vorerkrankungen. lationshaft sind überfüllte Zellen, vor al- Amnesty untersuchte 96 Todesfälle in Dieter Karg ist Sprecher der Länderkoordina- lem nach größeren Verhaftungswellen. Haft im Zeitraum von 2010 bis März 2022, tionsgruppe Iran von Amnesty International in Die Inhaftierten müssen dann ohne Bett die auf mangelnde medizinische Versor- Deutschland. TODESSTRAFE GEGEN DEMONSTRIERENDE Um Demonstrierende abzuschrecken und weite- meist wegen Drogendelikten vollstreckt. Nach »Vergehen«, unter die nahezu alles gefasst re Proteste zu verhindern, haben Regierung und einer Gesetzesreform im Jahr 2017 sank deren werden kann, was mit Protest zu tun hat. Unter Justiz im Iran zum ultimativen Mittel gegriffen: Zahl – wie auch die der Hinrichtungen insge- »Kampf gegen Gott« wird jede Art von Protest Sie haben Todesurteile verhängt und auch schon samt – auf etwa 250 pro Jahr. Seitdem hat sie gegen die Regierung als Statthalter der gött- vollstreckt. Amnesty International hat 31 Fälle sich laut Berichten von Menschenrechtsorgani- lichen Ordnung verstanden wie zum Beispiel dokumentiert. Derzeit (Stand Mitte Februar) sationen mehr als verdoppelt: 2022 wurden das Abfeuern von Schüssen in die Luft, Straßen- droht mindestens 14 Menschen die Todesstrafe, mehr als 550 Menschen hingerichtet. Bezüglich blockaden, das Anzünden von Mülltonnen und vier (Mohsen Shekari, Majidreza Rahnavard, der Verurteilung und Hinrichtung von Jugend- tätliche Angriffe gegen Sicherheitskräfte ohne Mohammad Mehdi Karami und Seyed Moham- lichen steht der Iran weltweit nahezu allein da. Tötungsabsicht. Hinzu kommt, dass in unfairen mad Hosseini) wurden bereits hingerichtet. Laut Das Land verstößt damit eklatant gegen inter- Prozessen unscharfe Videos als Beweismittel anderen Menschenrechtsorganisationen sollen nationales Recht. Denn die Todesstrafe soll, verwendet werden, auf denen die Täter*innen es bereits 44 Fälle sein. wenn überhaupt, nur für schwerste Vergehen nicht zu identifizieren sind. Auch unter Folter Der Iran ist – nach China – das Land mit den wie Mord verhängt werden. Für die Verurtei- erzwungene »Geständnisse« dienen als Be- meisten Hinrichtungen. Früher wurden sie lung von Demonstrierenden greifen die Behör- weise. Rechtsbeiständen wurde mehrfach die den auf zwei Begriffe des islamischen Rechts zu- Prozessteilnahme oder die Akteneinsicht ver- rück: »Kampf gegen Gott« und »Verdorbenheit wehrt. ◆ 18 AMNESTY JOURNAL | 02/2023 auf Erden«. Beide sind höchst schwammige Dieter Karg
AUFSTAND IM IRAN PROTEST UND TODESSTRAFE Morde mit Methode Hinrichtungen als Instrument der Unterdrückung: Die Todesstrafe hat im Iran eine systemerhaltende Funktion. Ein Kommentar von Katja Müller-Fahlbusch M ohsen Shekari, Majidre- außergerichtlichen Massenhinrichtun- bereits in der Vergangenheit, und auch in za Rahnavard, Moham- gen von 1988 von »politischen Hinrich- Zukunft wird die politische Führung im- mad Mehdi Karami, tungen«. mer wieder darauf zurückgreifen, wenn Seyed Mohammad Hos- Solche Hinrichtungen verstoßen ge- sie denn die Möglichkeit dazu hat. seini. Vier Namen, vier gen das Völkerrecht. Völkerrechtlich ist Anstatt aber vor Trauer und Wut ge- ausgelöschte Leben. Vier von Hunderten, die Todesstrafe zwar nicht grundsätzlich lähmt zu sein, wandeln die Protestieren- die getötet wurden. Diese vier aber wur- verboten, sie darf aber nur für die schwer- den ihre Emotionen um: »Tötet ihr einen, den hingerichtet. wiegendsten Straftaten und nur nach ei- kommen 1.000 nach«, lautet ein bekann- Im System der Islamischen Republik nem ordnungsgemäßen Verfahren ver- ter Slogan der Bewegung. Und als am 9. Ja- nimmt die Todesstrafe eine strategische hängt werden. Beides trifft in der Islami- nuar bekannt wurde, dass Mohammad Rolle ein. Todesstrafen und Hinrichtun- schen Republik in aller Regel nicht zu. Ghobadlou und Mohammad Boroughani gen sind nicht nur ein menschenrechts- Die Protestierenden sind nach islami- die Hinrichtung drohte, zog eine große verachtendes Instrument der Strafvoll- schem Recht zweier Delikte angeklagt, auf Menschenmenge vor das Gefängnis Go- streckung, sie sind zugleich brutale Werk- die die Todesstrafe steht: »Kampf gegen hardasht nordwestlich von Teheran und zeuge der politischen Unterdrückung. Die Gott« oder »Verdorbenheit auf Erden«. skandierte: »Wenn ihr hinrichtet, dann Hinrichtungen von Protestierenden und Amnesty International kritisiert diese wird es weitere Aufstände geben.« die Todesurteile, die nach Scheinprozes- vagen Begriffe seit Langem. Denn darun- Das Todesurteil Boroughanis wurde sen, erzwungenen »Geständnissen« und ter können jegliche Handlungen gefasst am 11. Januar ausgesetzt – ein großer Er- in atemberaubender Geschwindigkeit er- werden, die gegen das politische System folg für die mutigen Menschen im Iran. folgen, sollen nur eines bewirken: Angst gerichtet sind (siehe auch Seite 18). Mohammad Ghobadlou jedoch droht schüren und die seit September 2022 an- weiterhin die Hinrichtung. Auch an ihm dauernden Proteste zum Erliegen brin- Todesurteil ausgesetzt soll nach dem Willen der politischen gen. So erging das Todesurteil gegen Mohsen Führung ein Exempel statuiert werden. Schon im Zusammenhang mit der Shekari wegen »Kampf gegen Gott«. Ihm Es gilt also weiter hinzusehen und laut brutalen Niederschlagung der landeswei- wurde vorgeworfen, am 25. September zu sein: Für Ghobadlou und für unzählige ten Proteste im November 2019 kam Am- 2022 einen Milizionär mit einem Messer politische Gefangene, denen die Todes- nesty International zu dem Schluss, dass verletzt und eine Straße blockiert zu ha- strafe droht, nur weil sie von ihren die iranischen Behörden die Todesstrafe ben, damit Sicherheitskräfte nicht durch- Menschenrechten auf freie Meinungs- systematisch als Instrument der Unter- kommen. Sein Scheinprozess fand am äußerung und Protest Gebrauch gemacht drückung anwandten. Und bereits im Juni 1. November statt und beruhte unter an- haben. ◆ 1989 sprach Amnesty mit Blick auf die derem auf einem mutmaßlich durch Fol- ter erpressten »Geständnis«. Weniger als Jetzt aktiv werden: fünf Wochen später, am 8. Dezember, wurde Mohsen Shekari im Morgengrauen Katja Müller-Fahlbusch »Tötet ihr einen, hingerichtet. ist Amnesty-Referentin kommen 1.000 nach.« Die Trauer und die Wut der Iraner*in- für den Nahen Osten. nen lassen sich von außen kaum erfas- Slogan der sen. Zumal sie genau wissen, dass die Protestbewegung Hinrichtungen Methode haben. Es gab sie AMNESTY JOURNAL | 02/2023 19
AUFSTAND IM IRAN PROTESTE IN DEN REGIONEN Widerstand aus Tradition Unter den Aufständischen im Iran sind sehr viele Kurd*innen. Polizei, Milizen und Militär gehen deshalb in den kurdischen Gebieten besonders hart gegen Protestierende vor. Von Hêlîn Dirik A ls Geburtsorte der derzeiti- Republik 1979, unterdrückt und leisteten Verschleppungen kurdischer Protestie- gen Protestwelle gelten die dagegen Widerstand. Die iranischen Be- render die Runde, Informationen über ih- Provinz Kurdistan und ande- hörden waren sich des Potenzials dieser ren Verbleib gibt es nicht. re kurdische Gebiete im Iran. Widerstandstradition sehr wohl bewusst, Die staatliche Gewalt eskaliert be- Ein Grund dafür ist, dass die als sie versuchten, eine öffentliche Beiset- sonders dort, wo die Bevölkerung mas- 22-jährige Jina Mahsa Amini, die am zungszeremonie für Jina Mahsa Amini senhaft auf die Straßen geht und Errun- 16. September 2022 in Polizeigewahrsam und damit auch Massenproteste zu ver- genschaften erzielt. So besetzten Protes- starb, Kurdin war. Bei ihrer Beisetzung in hindern. tierende zum Beispiel im kurdischen ihrer kurdischen Heimatstadt Saqqez pro- Doch konnte die Regierung den Be- Bukan im November das Rathaus und testierten Tausende Menschen gegen die ginn der »Jina-Revolution« nicht aufhal- mehrere Regierungsgebäude. Die Regie- Regierung und ihre Repressionsorgane. ten. Die kurdischen Gebiete und die Re- rung reagierte darauf mit einer Truppen- Von dort aus verbreitete sich der Auf- gion Belutschistan im Südosten (siehe verstärkung in kurdischen Städten und stand im ganzen Land und entwickelte Kasten), wo viel Armut herrscht und die tödlichen Schüssen auf Protestierende. In sich unter dem Slogan »Jin Jiyan Azadî« Mehrheit der Bevölkerung der sunniti- der Stadt Javanrud nahm die Repression (Frau, Leben, Freiheit) zu einer Revolu- schen Minderheit angehört, sind nun nach Gedenkprotesten für ermordete tion. Überall wehren sich seither Frauen Zentren des Aufstands. In Rojhilat wehrt Protestierende am 31. Dezember deutlich gegen die Zwangsverschleierung und sich die Bevölkerung seit Monaten ent- zu. In den beiden folgenden Wochen wur- staatliche Gewalt. Und dabei blieb es schlossen gegen die Sicherheitskräfte. Auf den nach Angaben der Menschenrechts- nicht: In allen 31 Provinzen des streng is- den Straßen sind Parolen zu hören wie: organisation Hengaw mindestens 40 lamischen und überwiegend schiitisch »Kurdistan wird das Grab der Faschisten Kurd*innen aus Javanrud verschleppt. geprägten Landes wurde in den vergange- sein«. Jede Woche gibt es Streiks, und in nen Monaten zum Sturz der politischen vielen Stadtteilen bilden sich revolutionä- Angriffe auch außerhalb Irans und religiösen Führung aufgerufen. re Jugendgruppen. Die Gewalt der iranischen Sicherheits- Radikale Forderungen nach einem Die Regierung geht mit exzessiver kräfte gegen Kurd*innen beschränkt sich Systemwandel kommen insbesondere Gewalt gegen die Proteste vor. Nach An- nicht nur auf das Inland. Am 24. Septem- aus den kurdischen Gebieten des Landes, gaben des Kurdistan Human Rights Net- ber begannen die iranischen Revolutions- von Kurd*innen selbst als Rojhilat (Osten) work töteten die Sicherheitskräfte seit garden Stützpunkte kurdisch-iranischer bezeichnet. Kurd*innen sind im Iran September 2022 mindestens 120 Kurd*in- Exilparteien im Nordirak zu bombardie- schon lange politisch organisiert. Sie nen. Unter den Menschen, denen die Hin- ren. Dabei wurde auch eine Siedlung von wurden bereits während des Schah-Regi- richtung droht, weil sie sich an Protesten Geflüchteten in Koya angegriffen. mes, vor der Entstehung der Islamischen beteiligten, sind sehr viele Kurd*innen. Die iranische Regierung warf den Der 22-jährige Kurde Mehdi Karami wur- kurdischen Parteien vor, die Aufstände de bereits hingerichtet (siehe Seiten 18 angestiftet zu haben. Seit Jahrzehnten 20 AMNESTY JOURNAL | 02/2023 und 19). Täglich machen Berichte über stellen die Behörden jegliche kurdische
Barrikade im kurdisch geprägten Mahabad, Dezember 2022. Foto: Middle East Images / laif Organisierung als terroristische und se- paratistische Verschwörung dar. Kurd*in- »Kurdistan war schon Bewegung, die seit mehr als 40 Jahren ge- gen die Unterdrückung der Kurd*innen in nen werden regelmäßig aufgrund solcher immer eine Quelle den Staaten Syrien, Irak, Türkei und Iran Anschuldigungen inhaftiert und hin- revolutionärer Ideen.« kämpft. Bekanntheit erlangte die Parole gerichtet. Die jüngste Behauptung des durch die Frauenrevolution in Rojava im hochrangigen Klerikers Ahmad Khatami, Sanaz, Kurdin Norden Syriens, wo die Frauenverteidi- Kurdisch sei »die offizielle Sprache der gungseinheiten YPJ erfolgreich gegen die Hölle«, unterstreicht die antikurdische bewaffnete Gruppe Islamischer Staat (IS) Haltung der politischen und geistlichen eine kurdische Aktivistin aus Saqqaz, er- kämpften. Führung im Iran. klärt: »Das Regime hat Angst davor, dass Dass diese Parole nun auch in der Re- Kurdische Parteien werteten die An- andere Teile des Landes sich ein Beispiel volution im Iran eine bedeutende Rolle griffe in Nordirak als ein Manöver, um zu an Kurdistan nehmen. Denn Kurdistan spielt, verdeutlicht den grenzübergreifen- verhindern, dass sich der Aufstand aus- war schon immer eine Quelle revolutio- den Charakter der Kämpfe und Ideen von breitet. Zudem wolle die Regierung davon närer Ideen.« Kurd*innen in verschiedenen Staaten, die ablenken, dass er sich nicht auf die kurdi- Der Slogan »Jin Jiyan Azadî« etwa, der sich gegenseitig beeinflussen. Auf die Fra- schen Gebiete beschränkt, sondern große zum zentralen Slogan des Aufstands ge- ge nach Perspektiven für die Zukunft des Teile der Bevölkerung umfasst. Sanaz*, worden ist, stammt aus der kurdischen Iran antwortet Sanaz: »Direkte Demokra- tie durch ein Rätesystem ist der einzig sichtbare Ausblick.« Die aus dem kurdi- EIN ZENTRUM DER PROTESTE: DIE PROVINZ SISTAN-BELUTSCHISTAN schen Kirmaşan stammende Aktivistin Auch in Sistan-Belutschistan finden große De- dass etwa ein Viertel der Personen, die im er- Sana* betont die Notwendigkeit eines monstrationen gegen die Regierung statt. Dafür sten Halbjahr 2022 im Iran hingerichtet wurden, grundlegenden sozialen Wandels: »Die gibt es mehrere Gründe. Die Provinz im Osten, Belutsch*innen waren, obwohl deren Bevölke- Grausamkeit geht nicht nur vom Regime an der Grenze zu Afghanistan, zählt zu den rungsanteil bei nur fünf Prozent liegt. aus. Frauen müssen sich zum Beispiel ärmsten Regionen des Irans. Die Mehrheit der Die jüngsten Proteste begannen, nachdem ein auch gegen ihre Ehemänner oder Väter Bevölkerung gehört der ethnischen Minderheit 15-jähriges Mädchen im September 2022 mut- wehren. Es wird noch ein langer Kampf – der Belutschen an, die überwiegend Sunniten maßlich durch einen Polizeikommandanten ver- und wir alle müssen zu Freiheitskämp- sind. Diese Glaubensrichtung wird im Iran, wo gewaltigt worden war. Der 30. September ging fer*innen werden.« ◆ der schiitische Islam Staatsreligion ist, zwar ge- als »blutiger Freitag« in die iranische Geschichte duldet, aber benachteiligt. Hinzu kommt, dass ein. In der Provinzhauptstadt Zahedan töteten * Die Namen wurden zum Schutz der Personen es in Sistan-Belutschistan separatistische Kämp- Sicherheitskräfte durch gezielte Schüsse min- abgekürzt. fer*innen gibt. Die Staatsmacht sieht daher na- destens 66 Demonstrierende, darunter zehn hezu jeden Protest als Unterstützung des Terro- Minderjährige. Der jüngste Getötete, Javad rismus an. Amnesty International hat ermittelt, Pousheh, war elf Jahre alt. ◆ AMNESTY JOURNAL | 02/2023 21
AUFSTAND IM IRAN KAMPF GEGEN REPRESSION Schlaflose Nächte Nachdem die junge Iranerin Reyhaneh Jabbari trotz internationaler Proteste 2014 hingerichtet wurde, wurde ihre Mutter Shole Pakravan zur Aktivistin. Sie fordert seither die Abschaffung der Todesstrafe in ihrer Heimat – inzwischen von Berlin aus. Die Hinrichtungen von Teilnehmenden der aktuellen Proteste im Iran konfrontieren sie erneut mit ihrem Schmerz. Von Parastu Sherafatian (Text) und Sarah Eick (Foto) Musste fliehen, um nicht selbst in Haft 22 AMNESTY JOURNAL | 02/2023 zu kommen: Shole Pakravan.
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