JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN M I T T E I L U N G S B L AT T D E S L A N D E S V E R B A N D E S I S R A E L I T I S C H E R K U LT U S G E M E I N D E N I N B AY E R N 36. JAHRGANG / NR. 144 à“ôùú çñô 26. MÄRZ 2021 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021 1
Zum Titelbild Die Pessach-Haggada, die die jüdische Dachorganisation auf shop.zentralratder- juden.de anbietet, ist praktisch und güns- tig zugleich. Der frühere Basler Rabbiner Levinger hat sie sorgfältig erarbeitet. Er habe sie speziell mit Blick auf die Verwen- dung in Deutschland geschaffen, schreibt er im Vorwort. „Dahinter stand die Ab- sicht, es sowohl den deutschen als auch den russischen Mitgliedern einer Ge- meinde zu ermöglichen, Inhalt und Be- deutung des Seder-Abends zu begreifen und ihn gemeinsam zu begehen.“ Die Haggada folgt dem deutschen Ritus. Es gibt zwei seitengleiche Versionen, eine mit deutscher, eine mit russischer Über- setzung. In beiden Versionen wird der hebräische Text auch in phonetischer Umschrift, russisch oder deutsch, darge- stellt. Dadurch, und da die Seitenzahlen in beiden Ausgaben übereinstimmen, können alle Teilnehmer, z.B. eines Ge- meinde-Seders, dem Ablauf in ihrer ge- wohnten Schrift folgen. Im Anhang der Haggada finden sich zu- dem die Noten zu vielen traditionellen Pessach-Melodien und Liedern, zusam- mengestellt von dem früheren Oberkan- tor der Jüdischen Gemeinde in Zürich, Marcel Lang. Auf der Webseite des verstor- benen Synagogensängers, www.kolang. org, gibt es auch den kompletten Seder zum Mitsingen und Lernen. Die Haggada ist mit einem Preis von 9,00 Euro sehr günstig. Benno Reicher ST OL PE R ST E I N E H Ü T T E N B AC H M I T T E L F R A N K E N JUSTIN ISNER JULIUS HEILIGENBRUNN HELENE HEILIGENBRUNN JG. 1889 JG. 1911 JG. 1893 INTERNIERT DR ANCY EINGEWIESEN 1940 DEPORTIERT 1942 DEPORTIERT 1942 ANSTALT D. DIAKONIE IZBICA ERMORDET IN ERMORDET 20. 9. 1940 ERMORDET AUSCHWITZ AKTION T4 Umschlag hinten: Nr. 1: Jüdisches Museum in Fürth àãøåéô. © Jüdisches Museum Franken, Annette Kradisch, Nürnberg. Nr. 2: Sonderbriefmarke „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“. Nr. 3: Spiegelinstallation „Jakob Wassermann“ im Jüdischen Museum. © Jüdisches Museum Franken. Nr. 4: Sanary-Sur-Mer in Südfrankreich, Austragungsort des nächsten Else Lasker-Schüler- Forums. © Else Lasker-Schüler-Gesellschaft Wuppertal. Nr. 5: Eröffnung „Festjahr 1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“. Von links: Zentralratspräsident Dr. Josef Schuster, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Abraham Lehrer, Vorstand Jüdische Gemeinde Köln und Zentralratsvize. © 1700 Jahre e.V. Melanie Grande. 2 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021
EDI TOR I A L Liebe Leserinnen, liebe Leser, innern und daraus zu lernen. Aber, und das ist für mich auch die besondere Be- unsere Pessach-Haggada erzählt von den deutung des Festjahres, lernen könnten vier Söhnen, dem Vernünftigen, dem und sollten auch nichtjüdische Menschen. Bösen, dem Naiven und dem, der nicht zu Das Festjahr mit zahlreichen Veranstal- fragen versteht. Die vier Söhne können tungen auch in Bayern bietet daher die als vier Generationen gedeutet werden, große Chance, jüdische Geschichte und die sich immer weiter vom Judentum Kultur zu vermitteln. entfernen. Diesem vierten Sohn, der der Tradition entfremdet ist, erzähle man die Leider kann die jährliche Gedenkstunde Geschichte vom Auszug aus Ägypten, von des Landesverbandes der IKG in Bayern der Gefangenschaft in die Freiheit – die im ehemaligen Konzentrationslager Da- Freiheit zu lernen, zu fragen und zu han- chau wegen der Pandemie auch in die- deln. Das gemeinsame Feiern des Seder- sem Jahr nicht stattfinden. Wir hoffen abends hilft uns, die Traditionen kennen- sehr, dass das aber im nächsten Jahr zulernen und weiterzuführen. wieder möglich sein wird. Auch dafür ist es wichtig, dass sich jetzt möglichst viele Mich erinnert das jetzt auch an das Menschen impfen lassen. Alle zugelasse- „Festjahr 1700 Jahre jüdisches Leben in nen Impfstoffe sind dafür gut. Sie immu- Deutschland“, das wir vor wenigen Wo- nisieren die Geimpften und verhindern chen in der Kölner Synagoge, gemeinsam eine zu starke Ausbreitung. Wenn das mit Bundespräsident Frank-Walter Stein- gelingt, wird die Gedenkstunde 2022 meier und meinem Kölner Vorstands- wieder möglich sein. Als Arzt kann ich Kollegen und Zentralratsvize Abraham Ihnen nur sagen: Bitte gehen Sie zur Lehrer, eröffnen konnten. In diesem Heft Juden in den Kölner Stadtrat gestattet Impfung, sobald das für Sie möglich ist. auf Seite 19 werden Sie dazu einen aus- wurde. Dies ist die erste schriftliche Über- führlichen Bericht finden. Auch in Bayern lieferung jüdischen Lebens in Deutsch- Wir sind in Gedanken bei all den Men- haben wir mit der Staatsregierung Mitte land. Aber wir sprechen auch über Bayern. schen, mit denen wir im nächsten Jahr Januar diese Festjahr-Eröffnung began- Regensburg war die erste jüdische Ge- wieder gemeinsam Pessach feiern wollen. gen. Neben anderen Persönlichkeiten hat- meinde in Bayern und im Mittelalter eine ten wir, Ministerpräsident Markus Söder der bedeutendsten in Europa. Hier stand CHAG PESSACH SAMEACH und ich, die große Ehre, zu diesem baye- eine der größten Synagogen Europas, rischen Anlass zu sprechen. hier lehrten berühmte Rabbiner. Ihr Dr. Josef Schuster Im Jahr 321, vor 1700 Jahren, unterzeich- Für mich ist im Kontext Pessach zweierlei Präsident nete der römische Kaiser Konstantin ein wichtig: Es gehört zu unseren jüdischen des Zentralrats der Juden in Deutschland und Edikt, in dem erstmals die Berufung von Traditionen, an diese Ereignisse zu er- des Landesverbandes der IKG in Bayern Pessach 5781 Nachrichten aus Frankreich IMPR ESSUM Von Landesrabbiner Dr. Joel Berger . . 4 Von Gaby Pagener-Neu . . . . . . . . . . . . 24 Redaktionsleitung: Benno Reicher, redaktion@berejournal.de Kultur Essay www.bayerisch-jüdisch.de Kulturlichter-Preis . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Man hätte es auch lassen können JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN Else Lasker-Schüler Nachtrag . . . . . . . . 8 Von Thomas Schnabel . . . . . . . . . . . . . 28 Wir erscheinen im April zu Pessach, im Zentralrat für Kinder . . . . . . . . . . . . . . 10 September zu Rosch Haschana, im Dezember Dokumentation zu Chanukka und in diesem Heft mit Jüdisch Reisen – Fürth Bundestag: Gedenken . . . . . . . . . . . . . 31 Beiträgen von Rab. Berger, Yizhak Ahren, Angela Genger, Miryam Gümbel, Daniel Zu Besuch bei Jakob Wassermann Hoffmann, Regina Kon, Gaby Pagener-Neu, Bayern Von Daniel Hoffmann . . . . . . . . . . . . . 11 Benno Reicher, Stefan W. Römmelt, Bayerisches Gedenken . . . . . . . . . . . . 33 Thomas Schnabel, Josef Schuster und Das Fränkische Jerusalem Von Stefan W. Römmelt . . . . . . . . . . . 12 Sulzbacher Tora im Bundestag . . . . . . 34 Priska Tschan-Wiegelmann Aus den bayerischen Gemeinden . . 35 Herausgeber: Landesverband Israelitischer 1700 Jahre Kultusgemeinden in Bayern K.d.ö.R, Festjahr 1700 Jahre Jüdisches Leben Effnerstraße 68, 81925 München Buchbesprechungen . . . . . . . . . . . . . 43 Von Benno Reicher . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Gesamtherstellung: Druckerei Höhn, Jahresempfang Tutzing Russischer Beitrag Inh. Martin Höhn, Gottlieb-Daimler-Str. 14, Festvortrag von Josef Schuster . . . . . 20 Von Regina Kon . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 69514 Laudenbach Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021 3
P E S S AC H 57 8 2 Pessach 2021 Von Landesrabbiner Dr. Joel Berger wie diese: Es geschah einst, dass Rabbi Und vielleicht war der Satz: „Meister, die Elieser und Rabbi Jehoschua, Rabbi Ela- Zeit des Morgengebets ist gekommen“ sar ben Asarja, Rabbi Akiba und Rabbi nur ein Losungswort, dass eine Gefahr Tarfon beim Pessachmahl in der Stadt lauerte? War es vielleicht so, dass der Bnei-Berak beisammensaßen. Sie waren Aufstand gegen Rom in dieser Nacht vor- allesamt Rabbiner und Schriftgelehrte. bereitet wurde? Wer könnte das heute So mutet es nicht als Wunder an, dass sie noch mit Sicherheit bestätigen? Die grau- während des Festmahls und auch nach- same Hinrichtung Rabbi Akibas auf dem her so intensiv und vertieft über den eins- Scheiterhaufen durch die Römer scheint tigen Auszug aus der Sklaverei der Ahnen diese Vorstellung zu bestärken. diskutierten, so dass sie gar nicht merk- Das Pessach-Fest lehrt, dass die Freiheit ten, als der Morgen anbrach. Bis ihre eines jeden Menschen und die Notwen- Schüler vor ihnen standen und ihnen sag- digkeit der Befreiung eines jeden Unter- ten: Meister, es ist Zeit, das Morgengebet drückten aus dem Sklavenhaus Ägyptens, zu sprechen. wie aus einem Musterbeispiel, abgeleitet Wer könnte uns heute den Grund nennen, werden sollte. Und daher lesen wir auch warum die Verfasser der Haggada auch das Schriftwort zur Befreiung in der gerade diese Begebenheit verewigt hatten. Haggada: „Und wenn dich heute dein Rabbiner Dr. Joel Berger Vielleicht wegen der Zusammensetzung Kind fragen wird: ‚Was bedeutet dieses dieser erlesenen Tischgemeinschaft? Rab- Fest der ungesäuerten Brote?‘, so sollst In unserem Frühlingsmonat Nissan feiern bi Elieser war eine anerkannte Autorität – du ihm sagen: ‚Der Herr hat uns mit wir nach Anweisung der Tora Pessach. in seiner Zeit gegen Ende des 1. Jahrhun- mächtiger Hand aus dem Haus der Das Pessachfest steht an erster Stelle un- derts nach unserer Zeitrechnung. Rabbi Knechtschaft geführt und uns befreit.‘“ serer biblischen Wallfahrtsfeste. Zu der Jehoschua war gemäß der Überlieferung (2.B.M. 13:14) Zeit, als das Heiligtum, der Beit Hamik- dagegen ein einfacher Handwerker, ein Die Befreiung ist damit als Heilsgesche- dasch in Jerusalem, der Hauptstadt des Schmied, aber berühmt durch vielerlei hen, als Ausgangspunkt zur Offenbarung jüdischen Staates, noch bestand, pilger- Tora-Kenntnisse, sowohl aus der Heiligen am Berge Sinai zu verstehen. Und es soll ten unsere Vorfahren mit ihren Opfer- Schrift wie auch auf dem Gebiet der Astro- alljährlich im Volksgedächtnis wachge- lämmern aus allen Teilen des Heiligen nomie. Rabbi Elasar ben Asarja war „ade- rufen und vergegenwärtigt werden, wenn Landes dahin und manche sogar aus der liger“ Abstammung. wir am Sederabend des Pessach-Festes Diaspora, nur um dieses Fest miteinander Rabbi Tarfon, der Gelehrte mit dem grie- beieinander am Festtisch sitzen und über begehen zu können. chischen Namen, war Nachkömmling von den Auszug unseres Volkes aus Ägypten Das Pessachfest setzt auch ein Denkmal Priestern des zerstörten Tempels in Jeru- und über seine Geschichte erzählen, wie für die Natur des „gelobten Landes“, denn salem. Und schließlich Rabbi Akiba, der es uns die Tora gebietet. (2.B.M. 13:8) In um diese Zeit reift die Gerste im Heiligen in jungen Jahren Schafhirte war und jüngster Zeit schließen wir den Seder- Land. Zugleich ist es aber auch das Fest ziemlich spät seinen Bildungsweg fand. Abend nach der Lesung der Haggada mit der Befreiung aus der Knechtschaft und Dennoch wurde er ein anerkannter und dem dreifachen Aufruf: Leschana haba’a die Geburtsstunde des jüdischen Volkes. mutiger Lehrer und Meister. Es könnte Bi’Jeruschalajim! Möge es uns vergönnt Seit der Zerstörung unseres Heiligtums unter den Gründen, diese Episode zu werden, das kommende Jahr in Jeru- in Jerusalem im Jahre 70 n.d.Z., also vor bewahren, auch eine Rolle gespielt ha- salem zu verbringen! fast 2.000 Jahren, verlagern sich die Sze- ben, dass drei der vorher genannten Lehr- nen des Pessachfestes in den häuslichen meister keineswegs nur Theoretiker wa- Bereich und in die Synagoge. So erzählen ren, sondern etwas später aktive Wider- und berichten wir selbst über unsere Ver- standskämpfer, im Bar-Kochba-Aufstand gangenheit am feierlich gedeckten Tisch im 2. Jahrhundert n.d.Z. gegen die römi- aus dem Büchlein Haggada, das eigens schen Besatzer des Heiligen Landes, ge- für dieses Fest über Jahrhunderte von gen Rom. vielen namenlosen und einigen namhaf- Nach der Niederlage wurden sie von den ten Gelehrten zusammengestellt wurde. Römern grausam hingerichtet. Und weil Die Haggada beinhaltet die Erzählung das so war, könnte es möglich sein, dass und Handlungsanweisung für den Seder- sie an diesem Pessach-Abend nicht nur abend am Erew Pessach, dem Vorabend die einstige Erlösung aus Ägypten erör- des Festes der Befreiung unserer Ahnen tert haben, sondern auch die zukünftige aus der ägyptischen Sklaverei. Erlösung durch den Kampf gegen die Sie beinhaltet exegetische Anmerkungen fremde Besatzungsmacht im Heiligen zu der biblischen Geschichte des Auszu- Land, gegen die Legionen Roms, in Au- ges unserer Vorfahren aus Ägypten. Ne- genschein genommen hatten und sie ben der langen und wechselvollen Ge- selbst ihre Schüler vor dem Haus postiert schichte der Israeliten werden öfters haben, um Wache zu halten und zu mel- kurze, charakteristische Episoden erzählt den, wenn sich ein Legionär näherte. © MBR-Foto 4 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021
Pessach und das Schir HaSchirim Eine Betrachtung von Yizhak Ahren Für die Seder-Nacht haben unsere Weisen tut, umso lobenswerter ist es.“ Aber die geborenes Kind. Er ist mein Hirte, ich bin ein Programm mit vielen Punkten festge- Teilnehmer am Seder richten ihren Blick Seine Herde. Meine Widersacher sind die legt. Die Dauer der feierlichen Veranstal- nicht nur in die Vergangenheit, sondern Seinen, Seine die meinen. Ich sorge für tung hängt von mehreren Bedingungen auch in die Zukunft. Gott hat uns in den Ihn, Er sorgt für mich.“ Auf diesem Hin- ab. Die einen lieben es, ausgiebig über Tagen von Mosche und Aharon die Er- tergrund ist die von Gott bewirkte Ge’ula diesen oder jenen Text der Haggada zu lösung, die Ge’ula, gebracht, und Er wird zu verstehen. diskutieren, es gibt ja zahlreiche Kom- nach prophetischer Aussage (siehe z.B. mentare zu besprechen; die anderen deh- Micha 7,15) noch einmal eine Ge’ula be- Wenden wir uns nun einer anderen Stelle nen die Mahlzeit mit den symbolischen werkstelligen. zu: „Denn siehe, der Winter ist vorüber, Speisen gehörig aus, und viele Juden sin- der Regen ist fort, dahin; die Blüten wer- gen gerne die schönen Pessach-Melodien Im Haggada-Lied „Nun stimmt an: Das den sichtbar auf der Erde, die Zeit des an diesem Abend. Zum offiziellen Pro- war inmitten der Nacht“ findet sich die Sanges ist gekommen, und die Stimme gramm fügen einige fromme Leute noch folgende Zeile: „Lass nahen den Tag, der der Turteltaube wird vernommen in unse- einen weiteren Punkt hinzu; sie rezitie- nicht Tag ist und nicht Nacht.“ E. D. Gold- rem Land“ (2,11 und 12). Wie interpre- ren nach dem Ende der Haggada noch die schmidt erklärt, dass der Tag der Befrei- tiert der Midrasch diese zwei Verse? „Die 117 Verse von Schir HaSchirim. ung in messianischer Zeit gemeint sei; lange düstere Galut-Winterzeit mit ihren dieser Tag wird vom Propheten Secharja schwarzen Wolken und schweren Nieder- Es ist ein alter Brauch, ein Minhag, nach (14,7) so geschildert, dass am Abend schlägen ist vorüber … Wie die Blüten Abschluss des Seders das Hohelied aufzu- Licht sein wird. sichtbar werden auf der Erde, wenn ihre sagen. Deshalb ist dieses biblische Buch Zeit sich erfüllt hat, so erstanden uns zu in manchen Ausgaben der Pessach-Hag- Unübersehbar auf Kommendes gerichtet allen Zeiten die Führer, die unsere Hoff- gada abgedruckt. Um hier nur zwei Bei- ist in der Haggada der Ausruf: „Zum kom- nungen auf Befreiung, Erlösung, Sieg spiele anzuführen: In der englischspra- menden Jahr in Jerusalem!“ Dieser Spruch über die Feinde usw. erfüllten: Mosche chigen Haggada „The Seder Night: An Ex- dient als Einleitung zum Lied „Allmäch- und Aharon, Mordechai, Esra usw. Und alted Evening“, die Rabbiner Menachem tiger Gott, baue Deinen Tempel schiere so wird auch einmal der Maschiach und Genack herausgegeben hat, findet man (bald)!“. Die Ge’ula aus Ägypten ist eine Elijahu erstehen, wenn einst die Blüten unterhalb des hebräischen Textes von historische Tatsache, die wir uns durch unserer Erlösungszuversicht sichtbar wer- Schir HaSchirim Glossen von Rabbiner verschiedene Mitzwot immer wieder be- den auf der Erde. – Dann ist die Zeit des Joseph B. Soloveitchik, die der Heraus- wusst machen. Die Haggada bringt uns Sanges gekommen.“ geber aus verschiedenen Quellen zusam- außerdem bei, dass wir Juden mit einer mengestellt hat. weiteren Ge’ula rechnen. Die These, dass in Schir HaSchirim, eben- so wie in der Pessach-Haggada, das Motiv In der Pessach-Haggada, die Rabbiner Einen Blick in zwei Zeit-Richtungen, Ver- der zukünftigen Ge’ula zum Ausdruck Abraham Abba Weingort herausgegeben gangenheit und Zukunft, findet man kommt, kann auch die allegorische Deu- hat, finden wir nicht nur den Text von ebenfalls in Schir HaSchirim, wenn wir tung des folgenden Verses beweisen: Schir HaSchirim, sondern auch Raschis dieses Buch allegorisch lesen. Nach dieser „Horch, mein Geliebter! Siehe, da kommt Kommentar zu diesem Buch, das bekannt- Lesart erzählt das Hohelied nicht eine er! Er springt über die Berge, hüpft über lich ganz unterschiedlich ausgelegt wor- Liebesgeschichte zwischen einem Hirten die Hügel“ (2,8). Im Kommentar von Rab- den ist (siehe dazu auch meinen Artikel und seiner Geliebten, sondern es schil- biner Breuer lesen wir: „Nun beginnt „Schir HaSchirim – verschiedene Lesar- dert die Liebesbeziehung zwischen Gott Israel, die kommende Erlösung durch Gott ten“ in: Jüdisches Leben in Bayern, Nr. und dem jüdischen Volk. sich auszumalen. Hört ihr die Stimme mei- 124/2014, Seite 6). nes Geliebten? Siehe, Er kommt, um mich Vor und nach dem Ersten Weltkrieg hat heimzuführen. Und wie kommt Er! Kein Selbstverständlich ist jeder Minhag aus der Aschaffenburger Rabbiner Dr. Raphael Hindernis hält Ihn auf, kein Bedenken einem bestimmten Grund eingeführt Breuer (1881–1932) zwei Kommentare zu hemmt Seinen Schritt … Wird denn die worden. Oft genug ist der Grund eines Schir HaSchirim in deutscher Sprache kommende Erlösung die erste sein, die Is- Minhags nicht schwer zu erraten, aber veröffentlicht. Im ersten Büchlein ver- rael erlebt? Sie wird eine Wiederholung manchmal liegt er nicht auf der Hand. suchte er Schir HaSchirim von seinem sen- der in Mizrajim erlebten sein.“ Warum z.B. sagen manche Leute Schir sus literalis her zu verstehen; im späteren HaSchirim nach der Haggada? Mir Werk hat er, sich auf den Midrasch stüt- Die allegorische Interpretation von Schir scheint, dieser Minhag ist entstanden, zend, das Hohelied als Allegorie gedeutet. HaSchirim ergänzt ohne Zweifel die oben weil Schir HaSchirim ein wichtiges Motiv Aus der späteren Veröffentlichung, die der angeführten Gedanken aus der Pessach- der Haggada behandelt und weiter ver- Morascha Verlag im Band „Die fünf Megil- Haggada. Verständlicherweise hindert tieft. Diese These muss jetzt natürlich er- lot“ 2004 neu aufgelegt hat, werde ich Müdigkeit viele Menschen daran, in der läutert und bewiesen werden. nun drei Passagen zitieren, um die allego- Seder-Nacht auch noch Schir HaSchirim rische Sichtweise zu verdeutlichen. zu studieren. Ihnen bietet sich jedoch In erster Linie geht es in der Pessach-Hag- schon bald eine zweite Gelegenheit an. Es gada um die Erinnerung an die Befreiung Zum Vers „Mein Geliebter ist mein, und ist nämlich ein Minhag in aschkenasischen aus der ägyptischen Knechtschaft. Im ich bin sein“ (2,16) schreibt Rabbiner Gemeinden, in der Synagoge am Schabbat Text heißt es: „Und wären wir auch alle Breuer: „Ein unlösliches Band gegenseiti- von Pessach vor der Tora-Lesung Schir Ha- weise, alle verständig, alle torakundig, so ger Liebe verknüpft mich mit meinem Ge- Schirim zu rezitieren. Dieses Jahr wird müssten wir trotzdem vom Auszug aus liebten. Gott ist mein Gott, ich bin Gottes man das Hohelied am siebenten Tag des Mizrajim erzählen; und je mehr es einer Volk. Er ist mein Vater, ich bin Sein erst- Mazzotfestes vortragen. Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021 5
K U LT U R Buber-Rosenzweig-Medaille für Christian Stückl dacht und antisemitische Textpassagen entfernt. Immer wieder ist er mit seinem Ensemble nach Israel gefahren und hat so die authentische Erfahrung in Jerusalem in die Inszenierungen mit eingebracht. Dort hat er mit den Oberammergauern auch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Va- shem besucht. 1971 seien die Passionsspiele noch „anti- jüdisch“ gewesen, erinnert sich Rabbiner Andreas Nachama, jüdischer Präsident des Koordinierungsrates. „Er hat mit seiner Neuinszenierung die Quintessenz des Zweiten Vatikanums auf die Bretter der Christian Stückl, Spielleiter der Oberammer- Bühne gebracht. Es ist jetzt ein Passions- Die Buber-Rosenzweig-Medaille. © DKR gauer Passionsspiele. © DKR spiel ohne antijüdische Tendenzen.“ Und Ilona Klemens, Generalsekretärin der Ge- begangen. In diesem Jahr stand sie unter STUTTGART Der Münchner Erzbischof sellschaften für Christlich-Jüdische Zu- dem Jahresmotto „Zu Eurem Gedächtnis – Kardinal Marx hat die Rolle der Oberam- sammenarbeit ergänzt: „Ich sehe Stückl Visual History“, das die Bedeutung visuel- mergauer Passionsspiele für das Mitein- als jemanden, der Menschen dazu brin- ler Medien und bildlicher Darstellung für ander von Juden und Christen betont. gen will, über sich und die Welt neu nach- eine eindrückliche Gedenk- und Erinne- Oberammergau sei ein „Labor des christ- zudenken und sich füreinander einzu- rungskultur hervorhebt. lich-jüdischen Dialogs geworden und da- setzen.“ Die Buber-Rosenzweig-Medaille des Deut- mit ein kraftvolles Zeichen gegen Anti- Die Preisverleihung war Höhepunkt der schen Koordinierungsrates der Gesellschaf- semitismus“, sagte der Kardinal Anfang diesjährigen Eröffnung der „Woche der ten für Christlich-Jüdische Zusammenar- März in der Stuttgarter Liederhalle in sei- Brüderlichkeit“, die im Zeichen von Coro- beit ist nach den beiden jüdischen Philoso- ner Laudatio anlässlich der Verleihung der na ohne Publikum stattfinden musste und phen Martin Buber und Franz Rosenzweig Buber-Rosenzweig-Medaille an den Regis- im SWR-Fernsehen live übertragen wur- benannt. Sie wird seit 1968 jedes Jahr im seur und Leiter der Oberammergauer Pas- de. Mit der diesjährigen Eröffnung in Rahmen der Woche der Brüderlichkeit sionsspiele Christian Stückl. Stuttgart kehrte die „Woche der Brüder- vergeben. Sänger Peter Maffay, Schrift- Der Spielleiter Stückl hat seit 1987 vieles lichkeit“ zu ihrem Ursprung zurück, denn steller Navid Kermani und zuletzt Bundes- verändert. Er hat den Text immer wieder hier wurde sie 1950 aus der Taufe ge- kanzlerin Angela Merkel wurden schon überarbeitet, die Inszenierung neu ge- hoben und seither wird sie bundesweit mit dieser Medaille ausgezeichnet. bere. Jüdisches Museum Berlin mit KULTURLICHTER-Preis ausgezeichnet BERLIN Die Lernplattform für die inter- partizipatives Projekt ermöglicht ‚Jewish plattform ermöglicht, dass Schulen selbst- aktive Webseite „Jewish Places“ des Jüdi- Places‘ Menschen von überall eine leben- ständig jüdische Orte in der eigenen Um- schen Museums Berlin ist mit dem Deut- dige Wissensvermittlung. Sie können jü- gebung entdecken, jüdische Regionalge- schen Preis für Kulturelle Bildung „KUL- dische Orte online erkunden, aber auch schichte kennenlernen und jüdische Ge- TURLICHTER“ 2020 ausgezeichnet wor- selbst entdecken und ihr Wissen teilen, schichte und Gegenwart so partizipativ den. Die Preisträgerinnen und Preisträger indem sie neue Orte auf der Karte mar- erfahrbar wird. Die Vielseitigkeit der Unter- wurden am 11. März bekanntgegeben. kieren und mit Inhalt füllen. Nicht nur im richtsmaterialien setzt auf Niedrigschwel- Für den von Bund und Ländern erstmals Geschichtsbuch, auch in der unmittel- ligkeit, Innovation und nimmt Rücksicht gemeinsam ausgelobten „KULTUR LICH- baren Nachbarschaft gab und gibt es viel- auf digitale Ressourcen der Schulen. TER“-Preis hat eine Jury über 129 Bewer- fältiges jüdisches Leben. Das ist gerade „Jewish Places“ ist ein community-basier- bungen beraten und neun Projekte in drei für Schülerinnen und Schüler eine wich- tes Projekt und beruht auf der Idee von Kategorien nominiert. tige Erfahrung.“ Citizen Science: Wissen außerhalb von „Jewish Places“ hat mit ihrer Lernplatt- Mit dem Preisgeld soll die bereits be- Museen und Bildungseinrichtungen er- form den Preis in der Kategorie „Preis des stehende Webseite „Jewish Places“ um gänzt die klassische Museumsarbeit. Mit- Bundes“ erhalten. Dieser zeichnet ein Pro- eine Lernplattform ergänzt werden, die tels Zoom-, Such- und Filterfunktion kön- jekt aus, das bundesweit zur Anwendung Lehrkräften durch verschiedene Konzepte nen User Orte jüdischen Lebens aus fünf gebracht werden kann. Der Preis ist mit und Workshop-Mustervorlagen ermöglicht, Jahrhunderten erkunden. Außerdem kön- 20.000 Euro dotiert und wurde von Kul- eigene Projekte mit Schülerinnen und nen sie selbst Einträge vervollständigen, turstaatsministerin Monika Grütters ver- Schülern rund um „Jewish Places“ durch- eigene Inhalte hinzufügen und Fotos und liehen. zuführen. Die Materialien können flexibel Filme hochladen. Die Devise ist dabei: „Wir freuen uns sehr über die Auszeich- an die jeweiligen Unterrichtssituationen entdecken, lernen, teilen. nung“, erklärt Hetty Berg, Direktorin des und die Gegebenheiten vor Ort angepasst Das Jüdische Museum Berlin hatte die par- Jüdischen Museums. „Als digitales und und weiterentwickelt werden. Die Lern- tizipative Online-Plattform www.jewish- 6 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021
places.de als Kooperationsprojekt mit bun- visualisiert. Von Experten erarbeitete Bio- Diversität jüdischen Lebens in Deutsch- desweiten Partnern bereits im September grafien und Spaziergänge erweitern das land gesammelt zugänglich zu machen. 2018 gestartet. Damit ist erstmals eine Angebot. „Jewish Places“ richtet sich an Zu den Partnern zählen u.a. die Arbeits- Webseite entstanden, die einer breiten Öf- eine Vielzahl von Communities und bin- gemeinschaft Alemannia Judaica, Bet Tfila fentlichkeit umfangreiche Informationen det nicht nur Schülerinnen und Schüler, – Forschungsstelle, das Bundesarchiv, die zu jüdischem Leben in Deutschland zu- sondern auch Jüdische Gemeinden, FU Berlin und die Universität Jena, das gänglich macht. Seit dem Launch wurden Hochschulen und Privatpersonen aller Institut für die Geschichte der deutschen über 10.000 Einträge zu aktuellen und Altersgruppen mit ein. Das Jüdische Mu- Juden, das Jüdische Gemeinden-Internet- historischen, säkularen und religiösen seum hat das Projekt mit wissenschaft- Archiv, die Jüdischen Museen in Frankfurt Orten jüdischen Lebens in Deutschlands lichen und kulturellen Bildungseinrich- und Köln, das Zentralarchiv zur Erforschung von knapp 600 angemeldeten Usern er- tungen entwickelt. Gemeinsam verfolgen der Geschichte der Juden in Deutschland stellt und auf der interaktiven Karte alle Partner das Ziel, die Komplexität und und der Zentralrat der Juden. re. Das Team von Jewish Places. © Jüdisches Museum Berlin Komponist Werner Heymann MÜNCHEN Anlässlich des 125. Geburts- schrieb er die Filmmusik zu zahlreichen in Paris ging Heymann im September tags des Komponisten Werner Richard Stummfilmen, später viele Schlager für 1936 endgültig nach Hollywood, wo er Heymann legte die Stadt München an sei- Produktionen wie „Die drei von der Tank- sich nach schwierigen Anfängen als Film- nem Grab auf dem Waldfriedhof einen stelle“. Viele seiner Lieder wurden Ever- komponist etablieren konnte. 1951 verließ Gedenkkranz nieder. Werner Richard greens, wie „Ein Freund, ein guter Freund“ Heymann Hollywood und reiste über Heymann wurde am 14. Februar 1896 in und „Irgendwo auf der Welt gibt’s ein Paris und Zürich nach München, wo er Königsberg geboren. Er begann als Kom- kleines bisschen Glück“. mit Zwischenstationen in Salzburg und ponist ernster Lieder und symphonischer Locarno bis zu seinem Tod lebte. Werke, 1919 wandte er sich dem Kabarett Nach der Machtergreifung der Nazis er- und der Bühnenmusik zu. hielt Heymann aufgrund seiner Populari- Im Pariser Exil schrieb er zwei Operetten, tät als einziger jüdischer Künstler ein in Hollywood die Musik zu über 40 Filmen, Während seiner Zeit als Generalmusik- Bleibeangebot der UFA. Er emigrierte mehrere davon erhielten Oscar-Nominie- direktor der UFA von 1926 bis zur Emi- jedoch umgehend am 9. April 1933 nach rungen. Nach der Rückkehr nach Deutsch- gration 1933 war er der erfolgreichste Paris. Nach vorübergehenden Aufenthal- land 1951 entstanden weitere Filmmusi- Komponist des UFA-Tonfilms. Für sie ten in London, Hollywood und nochmals ken sowie musikalische Lustspiele. Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021 7
Else Lasker-Schüler in Frankreich SANARY-SUR-MER Als Bevollmächtigter Ex-Berlinale-Chef Dieter Kosslick sowie Solingen von Künstlern, die in Frankreich für deutsch-französische kulturelle An- die Autorinnen Cecile Waijsbrot und Anne interniert waren. gelegenheiten hat NRW-Ministerpräsi- Weber, die 2020 den Deutschen Buch- Dabei sind die Universität und das Goethe- dent Armin Laschet die Schirmherrschaft preis für ein Epos über eine französische Institut Marseille mit dem Centre Fran- über das XXIII. Else Lasker-Schüler-Forum Widerstandskämpferin erhalten hat. co-Allemand de Provence und mit der übernommen. Es wird von der Wupper- Sanary an der Cote d’Azur war „die heim- Kommune Sanary-sur-Mer Kooperations- taler Else Lasker-Schüler-Gesellschaft, ge- liche Hauptstadt der deutschen Exillitera- partner der Wuppertaler Else Lasker- meinsam mit deutschen und französi- tur“, u.a. mit Thomas und Heinrich Mann, Schüler-Gesellschaft. Das Forum wird schen Partnern, vom 2. bis 10. Oktober Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger und u.a. gefördert von der Stadtsparkasse und öffentlich und zweisprachig im südfranzö- Walter Hasenclever. Nach der Besetzung der Stadt Wuppertal, von der Bezirks- sischen Sanary-sur-Mer ausgerichtet und Frankreichs durch die deutsche Wehr- regierung Düsseldorf und der AG Litera- trägt den Titel „Das flüchtige Paradies“. macht flüchteten viele der Emigranten rischer Verbände. Neben Künstlern und Referenten aus vom nahen Marseille in die USA, wäh- Anmeldung und Programm: Else Lasker- Frankreich kommen die ehemalige Pina- rend sich Else Lasker-Schüler nach Paläs- Schüler-Gesellschaft, Herzogstraße 42, Bausch-Tänzerin Chrystel Guillebaud und tina einschiffte. Ihre Zeichnungen aus 42103 Wuppertal, Telefon 0202 305198, die Autoren Gerold Theobalt und Heiner dem Besitz der veranstaltenden ELS-Ge- E-Mail: vorstand@else-lasker-schueler- Bontrup mit neuen Bühnenstücken zum sellschaft sollen erstmals in Frankreich gesellschaft.de. Sollte die Corona-Pande- Forum. Ihre Teilnahme zugesagt haben ausgestellt werden, dazu auch Bilder aus mie andauern, wird das Else-Lasker-Schü- auch Angela Winkler, Iris Berben, der dem „Zentrum für verfolgte Künste“ in ler-Forum ins Jahr 2022 verlegt. Slichot-Gebetsbuch WÜRZBURG Die Familie von Fanny Gebete“ und den Hinweis auf den Druck konnte aber gemeinsam mit ihrer wissen- Heymann in Amsterdam soll ein altes „Fürth 1813“. Auf der rechten Seite gibt schaftlichen Volontärin Nathalie Jäger in Slichot-Gebetbuch erhalten, das sich zur ein Stempel den entscheidenden Hinweis historischen Quellen Hinweise auf Saal- Zeit noch im Würzburger Staatsarchiv auf den früheren Besitzer. Deutlich lesen heimers Familie finden. Demnach wurde befindet, aber ursprünglich wohl ihrem kann man: „I. Saalheimer, Februar 1900, Isaak Saalheimer 1835 in Kleinsteinach Urgroßvater Isaak Saalheimer in Goß- Goßmannsdorf“. in Unterfranken geboren. 1864 heiratete mannsdorf am Main, heute ein Stadtteil Auf welchen fragwürdigen Wegen dieses er Babette Reußenberger aus Goßmanns- von Ochsenfurt, gehörte. Einige Zeit war Buch schließlich ins Staatsarchiv gelangte, dorf. Dort ließ er sich als Stoffhändler mit das alte Buch ein Exponat in einer frü- lässt sich nicht zufriedenstellend klären. eigenem Geschäftshaus nieder. heren Ausstellung im Johanna-Stahl-Zen- Rotraud Ries, die Leiterin des Würzbur- Die Saalheimers hatten sieben Kinder, trum. Aufgeschlagen zeigt es auf der lin- ger Kompetenzzentrums für jüdische Ge- drei ihrer Söhne betrieben später in Würz- ken Seite den hebräischen Titel „Slichot- schichte und Kultur in Unterfranken, burg eigene Tuchhandlungen. Eine Enke- lin, Meta, heiratete 1931 nach Frankfurt. Sie konnte 1937 mit ihrem Mann Josef Heymann und zwei Kindern nach Hol- land fliehen, wo zwei weitere Kinder ge- boren wurden. Aber die Nazis holten die Familie in Holland ein, nur die vier Kin- der überlebten. Die jüngste Tochter und Urenkelin von Isaak Saalheimer fanden Rotraud Ries und Nathalie Jäger nach aufwendigen Recherchen und Hinweisen aus der Gedenkstätte Bergen Belsen jetzt in Holland. „Wir hatten Glück“, sagt Rotraud Ries, „dass wir Fanny Heymann jetzt tatsäch- lich in Amsterdam finden konnten.“ Und die Informationen über das Gebetbuch ihres Urgroßvaters hätten die Urenkelin sehr bewegt. Noch fehlt für die „Restitu- tion“ die Genehmigung des Bayerischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. Der Direktor des Würzburger Staats- archiv, Dr. Klaus Rupprecht, sagt dazu: „Es würde mich sehr freuen, wenn wir das Buch zurückgeben könnten.“ Es sollte also nur noch eine Formalität sein, aber dann müsste das alte Slichot-Bußgebet- buch von Isaak Saalheimer der Familie seiner Urenkelin Fanny in Amsterdam übergeben werden. Slichot-Gebetbuch. © Staatsarchiv Würzburg Benno Reicher 8 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021
Jüdisches Museum Augsburg Schalom Sisters*! zeigt Werke von Miriam Katin, Ruth täten und Positionen zu zeigen und zu Schreiber, Nina Paley, Andi Arnovitz, Ali- diskutieren. Die ersten Folgen sind be- ne Kominsky-Crumb, Lisa Frühbeis und reits über die Museums-Seite verfügbar. vielen anderen. Jüdischer Feminismus Der Podcast Zum Einstieg geht es um Jüdischen Femi- Die Ausstellung ist aufgebaut und sollte nismus. Zu Gast ist Sharon Adler. Die 1962 eigentlich im Januar eröffnen. Wann sie in West-Berlin geborene Kulturjourna- tatsächlich an vier Orten und im öffent- listin und Fotografin zeigt ihre Perspek- lichen Raum in Augsburg für Besucher tiven zu Themen der jüdischen Frauenge- wegen der Pandemie zugänglich ist, soll- schichte, aber auch ihre Erfahrungen mit te vorab über die Seite des Museums dem aktuellen Antisemitismus. Sharon jmaugsburg.de geklärt werden. Neben Adler ist Chefredakteurin des 2000 ge- Einblicken auf den Social-Media-Kanälen gründeten Online- und Frauenmagazins des Museums gibt es ab sofort einen Pod- AVIVA-Berlin und seit 2013 ehrenamtlich cast, der sich mit den Fragestellungen der Vorstandsvorsitzende der Stiftung „Zu- Ausstellung befasst. rückgeben“. 2012 wurde sie mit dem Ber- Die Moderatorin Judith Alberth unterhält liner Frauenpreis ausgezeichnet. sich monatlich in sechs Folgen mit unter- schiedlichen Frauen über ihr Jüdischsein, Die Moderatorin über Feminismus und wie sie dieses jede Judith Alberth führte Jahre durch das für sich und ganz unterschiedlich zusam- Museum in der Halderstraße und die AUGSBURG Anlässlich des Festjahres menbringen. Dabei geht es vor allem dar- Synagoge. 2019 schloss sie ihr Studium „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutsch- um, verschiedene Erfahrungen, Identi- mit einer Arbeit zur Erinnerungskultur ab. land“ macht das Jüdische Museum Augs- burg Schwaben dessen weibliche Seite sichtbar und feiert mit der neuen Ausstel- lung „Schalom Sisters*!“ (siehe dazu auch JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN, Seite 8, vom 10. Dezember 2020) jüdisch-feminis- tische Positionen in Vergangenheit und Gegenwart. Ob im orthodoxen oder im li- beralen Judentum, ob in Deutschland, Europa oder der Welt: Feministische For- derungen mit jüdischer Tradition zu ver- einen, Konventionen abzulehnen und neue Lebensentwürfe zu verwirklichen, stellte und stellt viele Frauen vor Heraus- forderungen. Die Ausstellung zeigt, wie Frauen diesen Fragen künstlerisch, poli- tisch oder sozial begegneten und begeg- nen. „Schalom Sisters*!“ fokussiert stark auf internationale Gegenwartskunst und Schalom Sisters. © Jüdisches Museum Augsburg Forschung AUGSBURG Seit Oktober 2018 arbeitet bei werden zunächst die Jahre 1945 bis pa widerspiegeln; die Objekte wurden das Museum gemeinsam mit der Bet Tfila 1950, dann die Phase der Konsolidierung von Hilfsorganisationen zur Verfügung – Forschungsstelle für jüdische Architek- der Gemeinden seit den 1950er-Jahren gestellt. Später wurden Ritualobjekte von tur an der TU Braunschweig, dem Euro- und schließlich neuere Entwicklungen künstlerischem Wert angeschafft. Es päischen Zentrum für jüdische Musik in nach dem Zuzug von Juden aus den ehe- stellt sich die Frage nach der Musealisie- Hannover und dem Braunschweigischen maligen GUS-Staaten betrachtet. Ein rung der Objekte bzw. nach der Wieder- Landesmuseum am Projekt „Objekte und Hauptaugenmerk gilt neben der Untersu- aufnahme vormals musealisierter Objek- Räume als Spiegel der religiösen Praxis chung der religiösen Praxis anhand von te in den gottesdienstlichen Ritus. Den jüdischer Gemeinden: Traditionen und Kult- und Ritualobjekten dem Aufbau der Schwerpunkt bilden neben den Objekten Transformationen des Judentums in Gemeinden, der religiösen Ausrichtung und ihren Geschichten die Jüdischen Ge- Deutschland nach der Shoa“. sowie den religiösen Einrichtungen. meinden selbst. 2019 wurden Gemeinden in Bayern und Baden-Württemberg kon- Im Rahmen dieses Verbundprojekts er- Gerade in den nach Kriegsende gegrün- taktiert und Fragebögen versendet, erste forscht das JMAS die Entwicklungen reli- deten Gemeinden fanden Ritualobjekte Besuche und Gespräche fanden statt. Mit giöser Traditionen und Praktiken der Ge- Verwendung, die den temporären Ver- dem Einbruch der Pandemie kam diese meinden des süddeutschen Raumes. Da- bleib vieler Jüdinnen und Juden in Euro- Arbeit zunächst ins Stocken. Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021 9
Zusammenhalt in Vielfalt – Jüdischer Alltag in Deutschland BERLIN Mitte März wurden die zehn Detlef Seydel erhielt den 1. Preis für sein Fotos hat mich überrascht und gefreut. In Preisträgerinnen und Preisträger des Fo- Foto „Ein Schutzmann für Kafka“. Den den Bildern wird deutlich, dass die jüdi- towettbewerbs „Zusammenhalt in Vielfalt 2. Platz belegte Evgenia Lisowski mit „Auf sche Gemeinschaft so bunt wie die ge- – Jüdischer Alltag in Deutschland“ ausge- dem Weg zur Schule“ und den 3. Platz samte Gesellschaft und ein Teil von ihr zeichnet. Die Preisträgerinnen und Preis- Sonia Alcaina Gallardo und Evgeniya ist.“ Und Staatsministerin Prof. Monika träger aus sieben Regionen Deutschlands Kartashova mit „Evgeniya And Other Kos- Grütters ergänzte: „Die eingereichten wurden aus über 650 Einsendungen von her Berliners“. Fotos sind mal lässig, mal witzig, poin- einer Jury ausgewählt. tiert oder plakativ. Zugleich sind die Bil- Überreicht wurden die Auszeichnungen Der Fotowettbewerb war im Oktober der immer auch ein Zeichen gegen Hass von den Jury-Mitgliedern: Dalia Grinfeld, 2020 von der Kulturstaatsministerin, dem und Ausgrenzung, denn sie widerlegen Kulturstaatsministerin Prof. Monika Grüt- Zentralrat der Juden und anderen Part- antisemitische Ressentiments“. ters, Patricia Schlesinger, Zentralratsprä- nern ausgelobt worden. Dr. Josef Schus- Wir werden die Preisträger und ihre Fo- sident Dr. Josef Schuster und Olaf Zim- ter, Präsident des Zentralrats, erklärte tos in unserem nächsten Heft vorstellen. mermann. dazu: „Die hohe Zahl der eingereichten bere. Zentralrat für Kinder BERLIN Das Mischpacha–Programm des susa für das Kinderzimmer, eine Kippa und meinsam über die Werte und Traditionen Zentralrats der Juden in Deutschland rich- ein Lätzchen. Auch zum Kinder-Geburtstag zu sprechen, die Ihnen wichtig sind. Das tet sich an Familien ab der Schwanger- gibt es eine Überraschungs-Box. Und alles neue Programm im Familienbereich des schaft bis zum 3. Geburtstag des Kindes. im wunderschönen Mischpacha-Design. Zentralrats, PJ-Library, richtet sich an Mischpacha besteht aus regelmäßigen Das Programm ist kostenlos, Vorausset- Familien mit Kindern im Alter von zwei bis Elternbriefen, die über Schwangerschaft, zung für die Teilnahme ist die Mitglied- acht Jahren. Zehnmal im Jahr schickt der Stillzeit, die Entwicklung des Kindes und schaft eines Elternteils in einer Jüdischen Zentralrat jüdische Kinderbücher direkt die ersten Jahre als Familie, aber auch über Gemeinde in Deutschland. an die Kinder, die mit der Zeit ihre eigene jüdische Traditionen, Gebete und Werte in- Infos und Anmeldung: www.mischpacha.de. jüdische Gutenachtbibliothek aufbauen. formieren, und aus Boxen zu den jüdischen Die qualitativ hochwertigen, zum Teil Feiertagen mit altersgerechten Spiel- und Wir wissen, dass etwas Magisches pas- auch preisgekrönten Bücher vermitteln jü- Bastelideen, Geschichten, Liedern, Gebe- siert, wenn Eltern sich zusammensetzen, dische Kultur, Werte und Traditionen mit- ten und Rezepten. Die erste Willkommens- um mit ihren Kindern zu lesen. PJ-Library tels einer breiten Palette an Geschichten Box zur Geburt des Babys enthält eine macht jüdische Geschichten zugänglich und wunderschönen Illustrationen. Spieluhr mit jüdischen Melodien, eine Me- und unterstützt Sie und Ihre Familie, ge- Infos und Anmeldung: www.pj-library.de. © Zentralrat der Juden 10 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021
J Ü DISCH R EISEN àãøåéô Vor 100 Jahren Seine Erfahrungen als Jude in Deutschland zu Ende des 19. Jahrhunderts bis hinein ins 20. Jahrhundert hat der Fürther Schriftsteller Jakob Wassermann ziemlich eindrücklich in seinem Buch „Mein Weg als Deutscher und Jude“ beschrieben. In dem autobiographischen Werk, es erschien zum ersten Mal im Jahre 1921, vor genau 100 Jahren, beschreibt er auch seine anfängliche Zeit in Franken. Fürth in Mittelfranken war zu seiner Zeit ein jüdisches Zentrum. Es gab eine große Jüdische Gemeinde, mehrere Synago- gen, Schulen und soziale Einrichtungen. Berühmt waren die jüdischen Druckereien. Das Slichot-Gebetbuch von Isaak Saalheimer (siehe dazu auch Seite 8) war 1813 auch in Fürth gedruckt worden. In der vierten Folge unserer Serie JÜDISCH REISEN richtet sich unser Blick heute auf das jüdische Fürth, zu Besuch bei Jakob Wassermann. bere. Zu Besuch bei Jakob Wassermann in Fürth Von Daniel Hoffmann Jakob Wassermann ist in den ersten Jahr- einer erfolglosen beruflichen Bemühung, Zwi. Der jüdischen Religion stand Wasser- zehnten des 20. Jahrhunderts ein Erfolgs- ein Erfolgsautor war, seinen Vater zu sich mann Zeit seines Lebens jedoch reserviert schriftsteller, ein Bestsellerautor, gewe- nach Österreich eingeladen. Dieser zeigte gegenüber. „Der jüdische Gott war Sche- sen. Am 10. März 1873 in Fürth geboren, über den Lebensstil seines Sohnes eine men für mich“, schrieb er in „Mein Weg starb er am 1. Januar 1934 im österreichi- „beständige stumme Verwunderung“, wie als Deutscher und Jude“. Sein Verständ- schen Altaussee, das ihm seit 15 Jahren Wassermann 1921 in „Mein Weg als Deut- nis von Religion war eher, wie bei vielen zur Heimat geworden war. Jakob Wasser- scher und Jude“ schrieb. deutschen Juden damals, von allgemei- mann war ein deutscher Jude, der – wie Kurze Zeit nach seiner Rückkehr starb nen metaphysischen Gedanken, nicht könnte es anders sein – von der manch- der Vater, der zum Abschied gesagt hatte, aber von konfessionellen, bestimmt. mal barbarischen, manchmal subtilen dass dies die ersten Ferien seines Lebens Ab 1899 gehörte Wassermann zur Auto- Gewalt des bürgerlichen Antisemitismus gewesen seien. renfamilie des S. Fischer Verlags. Damit in seinem Leben stark beeinträchtigt wor- Jakob Wassermanns Leben gelangte 1894 begann sein rasanter Aufstieg als Best- den ist. Die Eskalationen des staatlichen mit seiner Rückkehr nach München, wo sellerautor, der 1908 den historischen Antisemitismus im „Dritten Reich“ hat er er einige Jahre zuvor schon eine geschei- Roman „Caspar Hauser oder Die Trägheit nur kurze Zeit erleben müssen. terte Kaufmannslehre absolviert hatte, des Herzens“, 1915 den Künstlerroman Ihm deshalb die „Gnade eines frühen unerwartet auf die Erfolgsspur. In dem „Das Gänsemännchen“ und 1919 „Chris- Todes“ zuzusprechen, wie es zu Beginn Schriftsteller Ernst von Wolzogen bekam tian Wahnschaffe“ veröffentlichte. dieses Jahres der Bayerische Rundfunk er einen Mentor, der ihm Zugang zur Welt 1921 erschien mit „Mein Weg als Deut- „online“ getan hat, ist jedoch meines Er- der Schriftsteller und ihrer Verleger ver- scher und Jude“ Wassermanns persön- messens unangebracht und gedankenlos. schaffte. 1897 erreichte Wassermann mit liche Bilanz seiner Erfahrungen mit dem Denn auf wen ginge eigentlich diese dem Roman „Die Juden von Zirndorf“ sei- auch nach dem Ersten Weltkrieg an- Gnade zurück? Auf Gott oder den Tod, nen Durchbruch. dauernden Antisemitismus und der „Ju- die anderen Zeitgenossen Wassermanns Heute ist dieser Roman vor allem für Ger- denfrage“, von der viele Juden sich ge- nicht gnädig gewesen sind? Wohl eher manisten, die sich mit deutsch-jüdischer wünscht hatten, dass sie durch die Völ- auf das Urteil des Redakteurs, der zudem Literatur beschäftigen, interessant. In sei- kerschlachten des vergangenen Krieges abschließend schreibt, in der Zeit des nem ersten Teil, dem Vorspiel, behandelt sich erledigt hätte. Doch Wassermanns Dritten Reiches sei „der größte Teil sei- dieser Roman ein Kapitel aus der jüdi- Schilderungen ihrer andauernden Gegen- ner Leserinnen und Leser faktisch ausge- schen Geschichte des 17. Jahrhunderts, wart zeigt sie in ihrer erschreckend per- löscht“ worden. Hat Wassermann wirk- der Zeit des häretischen Messias’ Sabbatai fiden Banalität. lich nur jüdische Leser gehabt? Wohl 1928 landete Wassermann mit „Der Fall ebenso wenig wie Vicki Baum, eine wei- Maurizius“ einen Welterfolg. Dieser Ro- tere jüdische Bestsellerautorin desselben man, der 1981 auch als Serie unter der Zeitraums. Regie von Theodor Kotulla mit Heinz Jakob Wassermanns Leben ist, wenn man Bennent und Judy Winter im deutschen es von seiner Schriftstellerexistenz aus Fernsehen zu sehen war, begründete betrachtet, eine Erfolgsgeschichte gewe- sen. Seine persönliche Geschichte jedoch, FÜRTH endgültig Wassermanns Ruf als Erfolgs- schriftsteller. Der Schüler Etzel Ander- seine Herkunft, seine beiden Ehen und gast deckt einen bald zwei Jahrzehnte seine gesellschaftliche Stellung umfas- zurückliegenden Justizirrtum auf. Die send, hat tragische Elemente. spannende Handlung verlangte eine Fort- Wassermanns Vater war zunächst ein setzung, die 1931 mit „Etzel Andergast“ erfolgloser Fabrikant, später ein kleiner erschien. Bis zu seinem Tod arbeitete Versicherungsvertreter, der seine Fami- Wassermann an einer weiteren Fortset- lie finanziell kaum über Wasser halten zung, die unter dem Titel „Joseph Kerk- konnte. Wassermanns Mutter starb, als er hovens dritte Existenz“ erst posthum neun Jahre alt war. Seine Stiefmutter hat 1934 herauskam. ihn und seine Geschwister schlecht be- Die Veröffentlichungsgeschichte dieses handelt. Wassermann hat, als er dreißig letzten Romans spiegelt die drastischen Jahre alt war und bereits, nach Jahren Grafik: MBR Veränderungen in der politischen, aber Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021 11
auch in Wassermanns persönlichen Situa- tion. Er erschien im Querido Verlag in Amsterdam, dem deutschen Exilverlag, der im Nachkriegsdeutschland wegen sei- ner Publikationen hohe Anerkennung er- halten hat. Wassermann sah sich zur Fortsetzung seines Erfolgsromans auch genötigt, weil er nach seiner Scheidung von seiner ersten Frau 1926 durch zahl- reiche von ihr angestrengte Prozesse um Unterhaltszahlungen an den Rand des finanziellen Ruins gelangt war. Krank, geistig erschöpft und demoralisiert durch den Antisemitismus starb Wassermann am Neujahrsmorgen 1934. Dampfwagenfahrt mit dem Adler 1835 von Nürnberg nach Fürth. © DB Museum Von Nürnberg nach Fürth Die Bahnstrecke von Nürnberg nach Fürth machte die „Kleeblattstadt“ bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts weit über Franken hinaus bekannt. Immerhin: Mit sechs Kilometern Gleisen zwischen den beiden Städten begann am 7. Dezember 1835 die Geschichte der Bahn in Deutschland. Die erste offizielle Eisenbahnfahrt des Adlers, der englischen Lokomotive, brachte 200 Ehrengäste von Nürnberg nach Fürth. Die historische Bedeutung war allen bewusst. Nach neun Minuten Bahn- fahrt für die sechs Kilometer traten sie in Fürth auf dem Bahnsteig. „Euphorisch und berauscht von der Geschwindigkeit und der modernen Zeit.“ Die alte Bahntrasse unweit der Pegnitz brachte die Fahrgäste, vorbei an prachtvollen Jugendstil-Gebäuden auf der Horn- schuchpromenade, zum Ludwigsbahnhof. „Eine kleine Lokalstation, gewiss“, schreibt der Fürther Chronist Gustav, „aber irgendwo doch auch ein wenig der große Bahnhof mit dem Treiben der Ankommenden und Abfahrenden, mit Schalter und Dienstmann, mit Buchhandlung und Erfrischungen. Schräg gegenüber das mondäne Hotel National, auf der anderen Straßenseite die englische Anlage, in der man sich erging und die Wartezeit auf den nächsten Zug vertrieb.“ Von hier war man zu Fuß schnell in der Fürther Innenstadt, die damals noch stark „jüdisch“ geprägt war. Den Ludwigsbahn- hof gibt es nicht mehr, der Platz heißt heute „Fürther Freiheit“. Auch das jüdische Stadtbild hat sich sehr verändert, aber es gibt noch deutliche Spuren. Ein „jüdischer Stadtrundgang“ zum Entdecken. bere. Das Fränkische Jerusalem Die Geschichte der Juden in Fürth be- nach dem Novemberpogrom 1938 wurden pert in ihrem Führer „Orte der Verfol- ginnt im 15. Jahrhundert. Für den Auf- alle Gebäude abgerissen. gung und des Gedenkens in Fürth“. schwung der Stadt nach dem Dreißigjäh- „Übrig blieb eine Sandwüste, die bis zum Seit 1986 erinnert ein Gedenkstein des in rigen Krieg waren jüdische Kaufleute Kriegsende zum Schuttabladeplatz ver- Fürth lebenden Künstlers Kunihiko Kato maßgeblich verantwortlich: „Da sie weit- kam und schließlich ein als Parkfläche an das einstige Zentrum der jüdischen reichende Verbindungen hatten, konnten genutzter Platz, der erst zu Beginn der Gemeinde: „Aus zwei mal sieben Flam- sie den Fernhandel effektiv gestalten“, 1980er Jahre mit Wohnungen bebaut men erwächst eine Fruchtschote mit sie- schreibt Barbara Ohm in ihrem Stan- wurde“, berichtet Monika Berthold-Hil- ben Samenknospen – ein Zeichen für die dardwerk „Geschichte der Juden in aus der Vernichtung nach 1945 neu ge- Fürth“. Christen und Juden lebten zu gründete Gemeinde“, so Katrin Kasparek dieser Zeit nicht nur neben-, sondern im Führer „Geschichte der Juden in auch miteinander unter einem Dach. Fürth“. Auf der Grundplatte des Denk- Beim Rundgang durch die Fürther Alt- mals steht ein Zitat aus Psalm 79: „Es stadt stößt man überall auf Häuser, die kamen Fremde in deinen Besitz, sie ver- Juden gehört haben, beispielsweise auf unreinigten deinen Tempel, sie legten die zwei repräsentativen Hoffaktoren- Jerusalem in Trümmer.“ Ein nachdenk- häuser in der Königstraße. Von einem lich stimmender Ort. Ghetto keine Spur. Ein Modell des ehemaligen „Schulhofs“ Das stetige Wachstum der Jüdischen Ge- zeigt das Jüdische Museum Franken in meinde machte bald den Bau einer Syna- der Königstraße. Dort wird auch die Zer- goge notwendig, die 1617 eingeweiht wur- störung des „Schulhofs“ in den Jahren de. Diese Hauptsynagoge wurde später 1938 und 1939 eindringlich vermittelt. „Alte Schul“ genannt. Um die „Alte Schul“ Das in Gegenwart von Ignatz Bubis, dem ist nach und nach der Komplex des „Schul- damaligen Vorsitzenden des Zentralrats hofs“ mit drei weiteren Synagogen, einer der Juden, eröffnete Museum im ehema- Gemeindekanzlei mit Rabbinerwohnung ligen Wohnhaus des Gemeindevorsitzen- und Bibliothek, einer koscheren Fleische- den Hirsch Fromm wurde 2017 um einen rei und einer Talmudschule entstanden – In diesem Haus wohnte Jakob Wassermann modernen Anbau erweitert. Man sollte das Herz der Jüdischen Gemeinde in 1873 bis 1878 über der Gaststätte „Zum Zeit mitbringen, um die auf drei Ebenen Fürth. Heute steht davon nichts mehr, Gaulstall“. © SWR präsentierten Objekte, wie beispielsweise 12 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021
Sie können auch lesen