JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN

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JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
M I T T E I L U N G S B L AT T D E S L A N D E S V E R B A N D E S I S R A E L I T I S C H E R K U LT U S G E M E I N D E N I N B AY E R N

36. JAHRGANG / NR. 144                                      à“ôùú çñô                                                           26. MÄRZ 2021

                                                                                                      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021   1
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
Zum Titelbild
                                                                                      Die Pessach-Haggada, die die jüdische
                                                                                      Dachorganisation auf shop.zentralratder-
                                                                                      juden.de anbietet, ist praktisch und güns-
                                                                                      tig zugleich. Der frühere Basler Rabbiner
                                                                                      Levinger hat sie sorgfältig erarbeitet. Er
                                                                                      habe sie speziell mit Blick auf die Verwen-
                                                                                      dung in Deutschland geschaffen, schreibt
                                                                                      er im Vorwort. „Dahinter stand die Ab-
                                                                                      sicht, es sowohl den deutschen als auch
                                                                                      den russischen Mitgliedern einer Ge-
                                                                                      meinde zu ermöglichen, Inhalt und Be-
                                                                                      deutung des Seder-Abends zu begreifen
                                                                                      und ihn gemeinsam zu begehen.“

                                                                                      Die Haggada folgt dem deutschen Ritus.
                                                                                      Es gibt zwei seitengleiche Versionen, eine
                                                                                      mit deutscher, eine mit russischer Über-
                                                                                      setzung. In beiden Versionen wird der
                                                                                      hebräische Text auch in phonetischer
                                                                                      Umschrift, russisch oder deutsch, darge-
                                                                                      stellt. Dadurch, und da die Seitenzahlen
                                                                                      in beiden Ausgaben übereinstimmen,
                                                                                      können alle Teilnehmer, z.B. eines Ge-
                                                                                      meinde-Seders, dem Ablauf in ihrer ge-
                                                                                      wohnten Schrift folgen.

                                                                                      Im Anhang der Haggada finden sich zu-
                                                                                      dem die Noten zu vielen traditionellen
                                                                                      Pessach-Melodien und Liedern, zusam-
                                                                                      mengestellt von dem früheren Oberkan-
                                                                                      tor der Jüdischen Gemeinde in Zürich,
                                                                                      Marcel Lang. Auf der Webseite des verstor-
                                                                                      benen Synagogensängers, www.kolang.
                                                                                      org, gibt es auch den kompletten Seder
                                                                                      zum Mitsingen und Lernen. Die Haggada
                                                                                      ist mit einem Preis von 9,00 Euro sehr
                                                                                      günstig.
                                                                                                                 Benno Reicher

          ST OL PE R ST E I N E H Ü T T E N B AC H M I T T E L F R A N K E N

           JUSTIN ISNER                           JULIUS HEILIGENBRUNN
                                                                                            HELENE HEILIGENBRUNN
              JG. 1889                                   JG. 1911
                                                                                                   JG. 1893
        INTERNIERT DR ANCY                          EINGEWIESEN 1940
                                                                                               DEPORTIERT 1942
          DEPORTIERT 1942                          ANSTALT D. DIAKONIE
                                                                                                    IZBICA
           ERMORDET IN                             ERMORDET 20. 9. 1940
                                                                                                 ERMORDET
            AUSCHWITZ                                   AKTION T4

Umschlag hinten: Nr. 1: Jüdisches Museum in Fürth àãøåéô. © Jüdisches Museum Franken, Annette Kradisch, Nürnberg.
Nr. 2: Sonderbriefmarke „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“. Nr. 3: Spiegelinstallation „Jakob Wassermann“ im Jüdischen
Museum. © Jüdisches Museum Franken. Nr. 4: Sanary-Sur-Mer in Südfrankreich, Austragungsort des nächsten Else Lasker-Schüler-
Forums. © Else Lasker-Schüler-Gesellschaft Wuppertal. Nr. 5: Eröffnung „Festjahr 1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“.
Von links: Zentralratspräsident Dr. Josef Schuster, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Abraham Lehrer, Vorstand Jüdische
Gemeinde Köln und Zentralratsvize. © 1700 Jahre e.V. Melanie Grande.

2      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
EDI TOR I A L

Liebe Leserinnen, liebe Leser,                                                                                      innern und daraus zu lernen. Aber, und
                                                                                                                    das ist für mich auch die besondere Be-
unsere Pessach-Haggada erzählt von den                                                                              deutung des Festjahres, lernen könnten
vier Söhnen, dem Vernünftigen, dem                                                                                  und sollten auch nichtjüdische Menschen.
Bösen, dem Naiven und dem, der nicht zu                                                                             Das Festjahr mit zahlreichen Veranstal-
fragen versteht. Die vier Söhne können                                                                              tungen auch in Bayern bietet daher die
als vier Generationen gedeutet werden,                                                                              große Chance, jüdische Geschichte und
die sich immer weiter vom Judentum                                                                                  Kultur zu vermitteln.
entfernen. Diesem vierten Sohn, der der
Tradition entfremdet ist, erzähle man die                                                                           Leider kann die jährliche Gedenkstunde
Geschichte vom Auszug aus Ägypten, von                                                                              des Landesverbandes der IKG in Bayern
der Gefangenschaft in die Freiheit – die                                                                            im ehemaligen Konzentrationslager Da-
Freiheit zu lernen, zu fragen und zu han-                                                                           chau wegen der Pandemie auch in die-
deln. Das gemeinsame Feiern des Seder-                                                                              sem Jahr nicht stattfinden. Wir hoffen
abends hilft uns, die Traditionen kennen-                                                                           sehr, dass das aber im nächsten Jahr
zulernen und weiterzuführen.                                                                                        wieder möglich sein wird. Auch dafür ist
                                                                                                                    es wichtig, dass sich jetzt möglichst viele
Mich erinnert das jetzt auch an das                                                                                 Menschen impfen lassen. Alle zugelasse-
„Festjahr 1700 Jahre jüdisches Leben in                                                                             nen Impfstoffe sind dafür gut. Sie immu-
Deutschland“, das wir vor wenigen Wo-                                                                               nisieren die Geimpften und verhindern
chen in der Kölner Synagoge, gemeinsam                                                                              eine zu starke Ausbreitung. Wenn das
mit Bundespräsident Frank-Walter Stein-                                                                             gelingt, wird die Gedenkstunde 2022
meier und meinem Kölner Vorstands-                                                                                  wieder möglich sein. Als Arzt kann ich
Kollegen und Zentralratsvize Abraham                                                                                Ihnen nur sagen: Bitte gehen Sie zur
Lehrer, eröffnen konnten. In diesem Heft                    Juden in den Kölner Stadtrat gestattet                  Impfung, sobald das für Sie möglich ist.
auf Seite 19 werden Sie dazu einen aus-                     wurde. Dies ist die erste schriftliche Über-
führlichen Bericht finden. Auch in Bayern                   lieferung jüdischen Lebens in Deutsch-                  Wir sind in Gedanken bei all den Men-
haben wir mit der Staatsregierung Mitte                     land. Aber wir sprechen auch über Bayern.               schen, mit denen wir im nächsten Jahr
Januar diese Festjahr-Eröffnung began-                      Regensburg war die erste jüdische Ge-                   wieder gemeinsam Pessach feiern wollen.
gen. Neben anderen Persönlichkeiten hat-                    meinde in Bayern und im Mittelalter eine
ten wir, Ministerpräsident Markus Söder                     der bedeutendsten in Europa. Hier stand                       CHAG PESSACH SAMEACH
und ich, die große Ehre, zu diesem baye-                    eine der größten Synagogen Europas,
rischen Anlass zu sprechen.                                 hier lehrten berühmte Rabbiner.                         Ihr
                                                                                                                            Dr. Josef Schuster
Im Jahr 321, vor 1700 Jahren, unterzeich-                   Für mich ist im Kontext Pessach zweierlei                                 Präsident
nete der römische Kaiser Konstantin ein                     wichtig: Es gehört zu unseren jüdischen                 des Zentralrats der Juden in Deutschland und
Edikt, in dem erstmals die Berufung von                     Traditionen, an diese Ereignisse zu er-                    des Landesverbandes der IKG in Bayern

  Pessach 5781                                              Nachrichten aus Frankreich                              IMPR ESSUM
  Von Landesrabbiner Dr. Joel Berger . . 4                  Von Gaby Pagener-Neu . . . . . . . . . . . . 24         Redaktionsleitung: Benno Reicher,
                                                                                                                    redaktion@berejournal.de
  Kultur                                                    Essay                                                   www.bayerisch-jüdisch.de
  Kulturlichter-Preis . . . . . . . . . . . . . . . . . 6   Man hätte es auch lassen können
                                                                                                                    JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
  Else Lasker-Schüler Nachtrag . . . . . . . . 8            Von Thomas Schnabel . . . . . . . . . . . . . 28
                                                                                                                    Wir erscheinen im April zu Pessach, im
  Zentralrat für Kinder . . . . . . . . . . . . . . 10                                                              September zu Rosch Haschana, im Dezember
                                                            Dokumentation                                           zu Chanukka und in diesem Heft mit
  Jüdisch Reisen – Fürth                                    Bundestag: Gedenken . . . . . . . . . . . . . 31        Beiträgen von Rab. Berger, Yizhak Ahren,
                                                                                                                    Angela Genger, Miryam Gümbel, Daniel
  Zu Besuch bei Jakob Wassermann                                                                                    Hoffmann, Regina Kon, Gaby Pagener-Neu,
                                                            Bayern
  Von Daniel Hoffmann . . . . . . . . . . . . . 11                                                                  Benno Reicher, Stefan W. Römmelt,
                                                            Bayerisches Gedenken . . . . . . . . . . . . 33         Thomas Schnabel, Josef Schuster und
  Das Fränkische Jerusalem
  Von Stefan W. Römmelt . . . . . . . . . . . 12            Sulzbacher Tora im Bundestag . . . . . . 34             Priska Tschan-Wiegelmann

                                                            Aus den bayerischen Gemeinden . . 35                    Herausgeber: Landesverband Israelitischer
  1700 Jahre                                                                                                        Kultusgemeinden in Bayern K.d.ö.R,
  Festjahr 1700 Jahre Jüdisches Leben                                                                               Effnerstraße 68, 81925 München
                                                            Buchbesprechungen . . . . . . . . . . . . . 43
  Von Benno Reicher . . . . . . . . . . . . . . . . 19                                                              Gesamtherstellung: Druckerei Höhn,
  Jahresempfang Tutzing                                     Russischer Beitrag                                      Inh. Martin Höhn, Gottlieb-Daimler-Str. 14,
  Festvortrag von Josef Schuster . . . . . 20               Von Regina Kon . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50   69514 Laudenbach

                                                                                                                           Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021   3
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
P E S S AC H 57 8 2

                                                         Pessach 2021
                                                  Von Landesrabbiner Dr. Joel Berger

                                                  wie diese: Es geschah einst, dass Rabbi       Und vielleicht war der Satz: „Meister, die
                                                  Elieser und Rabbi Jehoschua, Rabbi Ela-       Zeit des Morgengebets ist gekommen“
                                                  sar ben Asarja, Rabbi Akiba und Rabbi         nur ein Losungswort, dass eine Gefahr
                                                  Tarfon beim Pessachmahl in der Stadt          lauerte? War es vielleicht so, dass der
                                                  Bnei-Berak beisammensaßen. Sie waren          Aufstand gegen Rom in dieser Nacht vor-
                                                  allesamt Rabbiner und Schriftgelehrte.        bereitet wurde? Wer könnte das heute
                                                  So mutet es nicht als Wunder an, dass sie     noch mit Sicherheit bestätigen? Die grau-
                                                  während des Festmahls und auch nach-          same Hinrichtung Rabbi Akibas auf dem
                                                  her so intensiv und vertieft über den eins-   Scheiterhaufen durch die Römer scheint
                                                  tigen Auszug aus der Sklaverei der Ahnen      diese Vorstellung zu bestärken.
                                                  diskutierten, so dass sie gar nicht merk-     Das Pessach-Fest lehrt, dass die Freiheit
                                                  ten, als der Morgen anbrach. Bis ihre         eines jeden Menschen und die Notwen-
                                                  Schüler vor ihnen standen und ihnen sag-      digkeit der Befreiung eines jeden Unter-
                                                  ten: Meister, es ist Zeit, das Morgengebet    drückten aus dem Sklavenhaus Ägyptens,
                                                  zu sprechen.                                  wie aus einem Musterbeispiel, abgeleitet
                                                  Wer könnte uns heute den Grund nennen,        werden sollte. Und daher lesen wir auch
                                                  warum die Verfasser der Haggada auch          das Schriftwort zur Befreiung in der
                                                  gerade diese Begebenheit verewigt hatten.     Haggada: „Und wenn dich heute dein
Rabbiner Dr. Joel Berger                          Vielleicht wegen der Zusammensetzung          Kind fragen wird: ‚Was bedeutet dieses
                                                  dieser erlesenen Tischgemeinschaft? Rab-      Fest der ungesäuerten Brote?‘, so sollst
In unserem Frühlingsmonat Nissan feiern           bi Elieser war eine anerkannte Autorität –    du ihm sagen: ‚Der Herr hat uns mit
wir nach Anweisung der Tora Pessach.              in seiner Zeit gegen Ende des 1. Jahrhun-     mächtiger Hand aus dem Haus der
Das Pessachfest steht an erster Stelle un-        derts nach unserer Zeitrechnung. Rabbi        Knechtschaft geführt und uns befreit.‘“
serer biblischen Wallfahrtsfeste. Zu der          Jehoschua war gemäß der Überlieferung         (2.B.M. 13:14)
Zeit, als das Heiligtum, der Beit Hamik-          dagegen ein einfacher Handwerker, ein         Die Befreiung ist damit als Heilsgesche-
dasch in Jerusalem, der Hauptstadt des            Schmied, aber berühmt durch vielerlei         hen, als Ausgangspunkt zur Offenbarung
jüdischen Staates, noch bestand, pilger-          Tora-Kenntnisse, sowohl aus der Heiligen      am Berge Sinai zu verstehen. Und es soll
ten unsere Vorfahren mit ihren Opfer-             Schrift wie auch auf dem Gebiet der Astro-    alljährlich im Volksgedächtnis wachge-
lämmern aus allen Teilen des Heiligen             nomie. Rabbi Elasar ben Asarja war „ade-      rufen und vergegenwärtigt werden, wenn
Landes dahin und manche sogar aus der             liger“ Abstammung.                            wir am Sederabend des Pessach-Festes
Diaspora, nur um dieses Fest miteinander          Rabbi Tarfon, der Gelehrte mit dem grie-      beieinander am Festtisch sitzen und über
begehen zu können.                                chischen Namen, war Nachkömmling von          den Auszug unseres Volkes aus Ägypten
Das Pessachfest setzt auch ein Denkmal            Priestern des zerstörten Tempels in Jeru-     und über seine Geschichte erzählen, wie
für die Natur des „gelobten Landes“, denn         salem. Und schließlich Rabbi Akiba, der       es uns die Tora gebietet. (2.B.M. 13:8) In
um diese Zeit reift die Gerste im Heiligen        in jungen Jahren Schafhirte war und           jüngster Zeit schließen wir den Seder-
Land. Zugleich ist es aber auch das Fest          ziemlich spät seinen Bildungsweg fand.        Abend nach der Lesung der Haggada mit
der Befreiung aus der Knechtschaft und            Dennoch wurde er ein anerkannter und          dem dreifachen Aufruf: Leschana haba’a
die Geburtsstunde des jüdischen Volkes.           mutiger Lehrer und Meister. Es könnte         Bi’Jeruschalajim! Möge es uns vergönnt
Seit der Zerstörung unseres Heiligtums            unter den Gründen, diese Episode zu           werden, das kommende Jahr in Jeru-
in Jerusalem im Jahre 70 n.d.Z., also vor         bewahren, auch eine Rolle gespielt ha-        salem zu verbringen!
fast 2.000 Jahren, verlagern sich die Sze-        ben, dass drei der vorher genannten Lehr-
nen des Pessachfestes in den häuslichen           meister keineswegs nur Theoretiker wa-
Bereich und in die Synagoge. So erzählen          ren, sondern etwas später aktive Wider-
und berichten wir selbst über unsere Ver-         standskämpfer, im Bar-Kochba-Aufstand
gangenheit am feierlich gedeckten Tisch           im 2. Jahrhundert n.d.Z. gegen die römi-
aus dem Büchlein Haggada, das eigens              schen Besatzer des Heiligen Landes, ge-
für dieses Fest über Jahrhunderte von             gen Rom.
vielen namenlosen und einigen namhaf-             Nach der Niederlage wurden sie von den
ten Gelehrten zusammengestellt wurde.             Römern grausam hingerichtet. Und weil
Die Haggada beinhaltet die Erzählung              das so war, könnte es möglich sein, dass
und Handlungsanweisung für den Seder-             sie an diesem Pessach-Abend nicht nur
abend am Erew Pessach, dem Vorabend               die einstige Erlösung aus Ägypten erör-
des Festes der Befreiung unserer Ahnen            tert haben, sondern auch die zukünftige
aus der ägyptischen Sklaverei.                    Erlösung durch den Kampf gegen die
Sie beinhaltet exegetische Anmerkungen            fremde Besatzungsmacht im Heiligen
zu der biblischen Geschichte des Auszu-           Land, gegen die Legionen Roms, in Au-
ges unserer Vorfahren aus Ägypten. Ne-            genschein genommen hatten und sie
ben der langen und wechselvollen Ge-              selbst ihre Schüler vor dem Haus postiert
schichte der Israeliten werden öfters             haben, um Wache zu halten und zu mel-
kurze, charakteristische Episoden erzählt         den, wenn sich ein Legionär näherte.                                        © MBR-Foto

4      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
Pessach und das Schir HaSchirim
                                              Eine Betrachtung von Yizhak Ahren

Für die Seder-Nacht haben unsere Weisen       tut, umso lobenswerter ist es.“ Aber die      geborenes Kind. Er ist mein Hirte, ich bin
ein Programm mit vielen Punkten festge-       Teilnehmer am Seder richten ihren Blick       Seine Herde. Meine Widersacher sind die
legt. Die Dauer der feierlichen Veranstal-    nicht nur in die Vergangenheit, sondern       Seinen, Seine die meinen. Ich sorge für
tung hängt von mehreren Bedingungen           auch in die Zukunft. Gott hat uns in den      Ihn, Er sorgt für mich.“ Auf diesem Hin-
ab. Die einen lieben es, ausgiebig über       Tagen von Mosche und Aharon die Er-           tergrund ist die von Gott bewirkte Ge’ula
diesen oder jenen Text der Haggada zu         lösung, die Ge’ula, gebracht, und Er wird     zu verstehen.
diskutieren, es gibt ja zahlreiche Kom-       nach prophetischer Aussage (siehe z.B.
mentare zu besprechen; die anderen deh-       Micha 7,15) noch einmal eine Ge’ula be-       Wenden wir uns nun einer anderen Stelle
nen die Mahlzeit mit den symbolischen         werkstelligen.                                zu: „Denn siehe, der Winter ist vorüber,
Speisen gehörig aus, und viele Juden sin-                                                   der Regen ist fort, dahin; die Blüten wer-
gen gerne die schönen Pessach-Melodien        Im Haggada-Lied „Nun stimmt an: Das           den sichtbar auf der Erde, die Zeit des
an diesem Abend. Zum offiziellen Pro-         war inmitten der Nacht“ findet sich die       Sanges ist gekommen, und die Stimme
gramm fügen einige fromme Leute noch          folgende Zeile: „Lass nahen den Tag, der      der Turteltaube wird vernommen in unse-
einen weiteren Punkt hinzu; sie rezitie-      nicht Tag ist und nicht Nacht.“ E. D. Gold-   rem Land“ (2,11 und 12). Wie interpre-
ren nach dem Ende der Haggada noch die        schmidt erklärt, dass der Tag der Befrei-     tiert der Midrasch diese zwei Verse? „Die
117 Verse von Schir HaSchirim.                ung in messianischer Zeit gemeint sei;        lange düstere Galut-Winterzeit mit ihren
                                              dieser Tag wird vom Propheten Secharja        schwarzen Wolken und schweren Nieder-
Es ist ein alter Brauch, ein Minhag, nach     (14,7) so geschildert, dass am Abend          schlägen ist vorüber … Wie die Blüten
Abschluss des Seders das Hohelied aufzu-      Licht sein wird.                              sichtbar werden auf der Erde, wenn ihre
sagen. Deshalb ist dieses biblische Buch                                                    Zeit sich erfüllt hat, so erstanden uns zu
in manchen Ausgaben der Pessach-Hag-          Unübersehbar auf Kommendes gerichtet          allen Zeiten die Führer, die unsere Hoff-
gada abgedruckt. Um hier nur zwei Bei-        ist in der Haggada der Ausruf: „Zum kom-      nungen auf Befreiung, Erlösung, Sieg
spiele anzuführen: In der englischspra-       menden Jahr in Jerusalem!“ Dieser Spruch      über die Feinde usw. erfüllten: Mosche
chigen Haggada „The Seder Night: An Ex-       dient als Einleitung zum Lied „Allmäch-       und Aharon, Mordechai, Esra usw. Und
alted Evening“, die Rabbiner Menachem         tiger Gott, baue Deinen Tempel schiere        so wird auch einmal der Maschiach und
Genack herausgegeben hat, findet man          (bald)!“. Die Ge’ula aus Ägypten ist eine     Elijahu erstehen, wenn einst die Blüten
unterhalb des hebräischen Textes von          historische Tatsache, die wir uns durch       unserer Erlösungszuversicht sichtbar wer-
Schir HaSchirim Glossen von Rabbiner          verschiedene Mitzwot immer wieder be-         den auf der Erde. – Dann ist die Zeit des
Joseph B. Soloveitchik, die der Heraus-       wusst machen. Die Haggada bringt uns          Sanges gekommen.“
geber aus verschiedenen Quellen zusam-        außerdem bei, dass wir Juden mit einer
mengestellt hat.                              weiteren Ge’ula rechnen.                      Die These, dass in Schir HaSchirim, eben-
                                                                                            so wie in der Pessach-Haggada, das Motiv
In der Pessach-Haggada, die Rabbiner          Einen Blick in zwei Zeit-Richtungen, Ver-     der zukünftigen Ge’ula zum Ausdruck
Abraham Abba Weingort herausgegeben           gangenheit und Zukunft, findet man            kommt, kann auch die allegorische Deu-
hat, finden wir nicht nur den Text von        ebenfalls in Schir HaSchirim, wenn wir        tung des folgenden Verses beweisen:
Schir HaSchirim, sondern auch Raschis         dieses Buch allegorisch lesen. Nach dieser    „Horch, mein Geliebter! Siehe, da kommt
Kommentar zu diesem Buch, das bekannt-        Lesart erzählt das Hohelied nicht eine        er! Er springt über die Berge, hüpft über
lich ganz unterschiedlich ausgelegt wor-      Liebesgeschichte zwischen einem Hirten        die Hügel“ (2,8). Im Kommentar von Rab-
den ist (siehe dazu auch meinen Artikel       und seiner Geliebten, sondern es schil-       biner Breuer lesen wir: „Nun beginnt
„Schir HaSchirim – verschiedene Lesar-        dert die Liebesbeziehung zwischen Gott        Israel, die kommende Erlösung durch Gott
ten“ in: Jüdisches Leben in Bayern, Nr.       und dem jüdischen Volk.                       sich auszumalen. Hört ihr die Stimme mei-
124/2014, Seite 6).                                                                         nes Geliebten? Siehe, Er kommt, um mich
                                              Vor und nach dem Ersten Weltkrieg hat         heimzuführen. Und wie kommt Er! Kein
Selbstverständlich ist jeder Minhag aus       der Aschaffenburger Rabbiner Dr. Raphael      Hindernis hält Ihn auf, kein Bedenken
einem bestimmten Grund eingeführt             Breuer (1881–1932) zwei Kommentare zu         hemmt Seinen Schritt … Wird denn die
worden. Oft genug ist der Grund eines         Schir HaSchirim in deutscher Sprache          kommende Erlösung die erste sein, die Is-
Minhags nicht schwer zu erraten, aber         veröffentlicht. Im ersten Büchlein ver-       rael erlebt? Sie wird eine Wiederholung
manchmal liegt er nicht auf der Hand.         suchte er Schir HaSchirim von seinem sen-     der in Mizrajim erlebten sein.“
Warum z.B. sagen manche Leute Schir           sus literalis her zu verstehen; im späteren
HaSchirim nach der Haggada? Mir               Werk hat er, sich auf den Midrasch stüt-      Die allegorische Interpretation von Schir
scheint, dieser Minhag ist entstanden,        zend, das Hohelied als Allegorie gedeutet.    HaSchirim ergänzt ohne Zweifel die oben
weil Schir HaSchirim ein wichtiges Motiv      Aus der späteren Veröffentlichung, die der    angeführten Gedanken aus der Pessach-
der Haggada behandelt und weiter ver-         Morascha Verlag im Band „Die fünf Megil-      Haggada. Verständlicherweise hindert
tieft. Diese These muss jetzt natürlich er-   lot“ 2004 neu aufgelegt hat, werde ich        Müdigkeit viele Menschen daran, in der
läutert und bewiesen werden.                  nun drei Passagen zitieren, um die allego-    Seder-Nacht auch noch Schir HaSchirim
                                              rische Sichtweise zu verdeutlichen.           zu studieren. Ihnen bietet sich jedoch
In erster Linie geht es in der Pessach-Hag-                                                 schon bald eine zweite Gelegenheit an. Es
gada um die Erinnerung an die Befreiung       Zum Vers „Mein Geliebter ist mein, und        ist nämlich ein Minhag in aschkenasischen
aus der ägyptischen Knechtschaft. Im          ich bin sein“ (2,16) schreibt Rabbiner        Gemeinden, in der Synagoge am Schabbat
Text heißt es: „Und wären wir auch alle       Breuer: „Ein unlösliches Band gegenseiti-     von Pessach vor der Tora-Lesung Schir Ha-
weise, alle verständig, alle torakundig, so   ger Liebe verknüpft mich mit meinem Ge-       Schirim zu rezitieren. Dieses Jahr wird
müssten wir trotzdem vom Auszug aus           liebten. Gott ist mein Gott, ich bin Gottes   man das Hohelied am siebenten Tag des
Mizrajim erzählen; und je mehr es einer       Volk. Er ist mein Vater, ich bin Sein erst-   Mazzotfestes vortragen.

                                                                                                   Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021   5
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
K U LT U R

                       Buber-Rosenzweig-Medaille für Christian Stückl
                                                  dacht und antisemitische Textpassagen
                                                  entfernt. Immer wieder ist er mit seinem
                                                  Ensemble nach Israel gefahren und hat so
                                                  die authentische Erfahrung in Jerusalem
                                                  in die Inszenierungen mit eingebracht.
                                                  Dort hat er mit den Oberammergauern
                                                  auch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Va-
                                                  shem besucht.
                                                  1971 seien die Passionsspiele noch „anti-
                                                  jüdisch“ gewesen, erinnert sich Rabbiner
                                                  Andreas Nachama, jüdischer Präsident des
                                                  Koordinierungsrates. „Er hat mit seiner
                                                  Neuinszenierung die Quintessenz des
                                                  Zweiten Vatikanums auf die Bretter der
Christian Stückl, Spielleiter der Oberammer-      Bühne gebracht. Es ist jetzt ein Passions-   Die Buber-Rosenzweig-Medaille.        © DKR
gauer Passionsspiele.                  © DKR      spiel ohne antijüdische Tendenzen.“ Und
                                                  Ilona Klemens, Generalsekretärin der Ge-     begangen. In diesem Jahr stand sie unter
STUTTGART Der Münchner Erzbischof                 sellschaften für Christlich-Jüdische Zu-     dem Jahresmotto „Zu Eurem Gedächtnis –
Kardinal Marx hat die Rolle der Oberam-           sammenarbeit ergänzt: „Ich sehe Stückl       Visual History“, das die Bedeutung visuel-
mergauer Passionsspiele für das Mitein-           als jemanden, der Menschen dazu brin-        ler Medien und bildlicher Darstellung für
ander von Juden und Christen betont.              gen will, über sich und die Welt neu nach-   eine eindrückliche Gedenk- und Erinne-
Oberammergau sei ein „Labor des christ-           zudenken und sich füreinander einzu-         rungskultur hervorhebt.
lich-jüdischen Dialogs geworden und da-           setzen.“                                     Die Buber-Rosenzweig-Medaille des Deut-
mit ein kraftvolles Zeichen gegen Anti-           Die Preisverleihung war Höhepunkt der        schen Koordinierungsrates der Gesellschaf-
semitismus“, sagte der Kardinal Anfang            diesjährigen Eröffnung der „Woche der        ten für Christlich-Jüdische Zusammenar-
März in der Stuttgarter Liederhalle in sei-       Brüderlichkeit“, die im Zeichen von Coro-    beit ist nach den beiden jüdischen Philoso-
ner Laudatio anlässlich der Verleihung der        na ohne Publikum stattfinden musste und      phen Martin Buber und Franz Rosenzweig
Buber-Rosenzweig-Medaille an den Regis-           im SWR-Fernsehen live übertragen wur-        benannt. Sie wird seit 1968 jedes Jahr im
seur und Leiter der Oberammergauer Pas-           de. Mit der diesjährigen Eröffnung in        Rahmen der Woche der Brüderlichkeit
sionsspiele Christian Stückl.                     Stuttgart kehrte die „Woche der Brüder-      vergeben. Sänger Peter Maffay, Schrift-
Der Spielleiter Stückl hat seit 1987 vieles       lichkeit“ zu ihrem Ursprung zurück, denn     steller Navid Kermani und zuletzt Bundes-
verändert. Er hat den Text immer wieder           hier wurde sie 1950 aus der Taufe ge-        kanzlerin Angela Merkel wurden schon
überarbeitet, die Inszenierung neu ge-            hoben und seither wird sie bundesweit        mit dieser Medaille ausgezeichnet. bere.

                                       Jüdisches Museum Berlin
                                mit KULTURLICHTER-Preis ausgezeichnet
BERLIN Die Lernplattform für die inter-           partizipatives Projekt ermöglicht ‚Jewish    plattform ermöglicht, dass Schulen selbst-
aktive Webseite „Jewish Places“ des Jüdi-         Places‘ Menschen von überall eine leben-     ständig jüdische Orte in der eigenen Um-
schen Museums Berlin ist mit dem Deut-            dige Wissensvermittlung. Sie können jü-      gebung entdecken, jüdische Regionalge-
schen Preis für Kulturelle Bildung „KUL-          dische Orte online erkunden, aber auch       schichte kennenlernen und jüdische Ge-
TURLICHTER“ 2020 ausgezeichnet wor-               selbst entdecken und ihr Wissen teilen,      schichte und Gegenwart so partizipativ
den. Die Preisträgerinnen und Preisträger         indem sie neue Orte auf der Karte mar-       erfahrbar wird. Die Vielseitigkeit der Unter-
wurden am 11. März bekanntgegeben.                kieren und mit Inhalt füllen. Nicht nur im   richtsmaterialien setzt auf Niedrigschwel-
Für den von Bund und Ländern erstmals             Geschichtsbuch, auch in der unmittel-        ligkeit, Innovation und nimmt Rücksicht
gemeinsam ausgelobten „KULTUR LICH-               baren Nachbarschaft gab und gibt es viel-    auf digitale Ressourcen der Schulen.
TER“-Preis hat eine Jury über 129 Bewer-          fältiges jüdisches Leben. Das ist gerade     „Jewish Places“ ist ein community-basier-
bungen beraten und neun Projekte in drei          für Schülerinnen und Schüler eine wich-      tes Projekt und beruht auf der Idee von
Kategorien nominiert.                             tige Erfahrung.“                             Citizen Science: Wissen außerhalb von
„Jewish Places“ hat mit ihrer Lernplatt-          Mit dem Preisgeld soll die bereits be-       Museen und Bildungseinrichtungen er-
form den Preis in der Kategorie „Preis des        stehende Webseite „Jewish Places“ um         gänzt die klassische Museumsarbeit. Mit-
Bundes“ erhalten. Dieser zeichnet ein Pro-        eine Lernplattform ergänzt werden, die       tels Zoom-, Such- und Filterfunktion kön-
jekt aus, das bundesweit zur Anwendung            Lehrkräften durch verschiedene Konzepte      nen User Orte jüdischen Lebens aus fünf
gebracht werden kann. Der Preis ist mit           und Workshop-Mustervorlagen ermöglicht,      Jahrhunderten erkunden. Außerdem kön-
20.000 Euro dotiert und wurde von Kul-            eigene Projekte mit Schülerinnen und         nen sie selbst Einträge vervollständigen,
turstaatsministerin Monika Grütters ver-          Schülern rund um „Jewish Places“ durch-      eigene Inhalte hinzufügen und Fotos und
liehen.                                           zuführen. Die Materialien können flexibel    Filme hochladen. Die Devise ist dabei:
„Wir freuen uns sehr über die Auszeich-           an die jeweiligen Unterrichtssituationen     entdecken, lernen, teilen.
nung“, erklärt Hetty Berg, Direktorin des         und die Gegebenheiten vor Ort angepasst      Das Jüdische Museum Berlin hatte die par-
Jüdischen Museums. „Als digitales und             und weiterentwickelt werden. Die Lern-       tizipative Online-Plattform www.jewish-

6      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021
places.de als Kooperationsprojekt mit bun-   visualisiert. Von Experten erarbeitete Bio-   Diversität jüdischen Lebens in Deutsch-
desweiten Partnern bereits im September      grafien und Spaziergänge erweitern das        land gesammelt zugänglich zu machen.
2018 gestartet. Damit ist erstmals eine      Angebot. „Jewish Places“ richtet sich an      Zu den Partnern zählen u.a. die Arbeits-
Webseite entstanden, die einer breiten Öf-   eine Vielzahl von Communities und bin-        gemeinschaft Alemannia Judaica, Bet Tfila
fentlichkeit umfangreiche Informationen      det nicht nur Schülerinnen und Schüler,       – Forschungsstelle, das Bundesarchiv, die
zu jüdischem Leben in Deutschland zu-        sondern auch Jüdische Gemeinden,              FU Berlin und die Universität Jena, das
gänglich macht. Seit dem Launch wurden       Hochschulen und Privatpersonen aller          Institut für die Geschichte der deutschen
über 10.000 Einträge zu aktuellen und        Altersgruppen mit ein. Das Jüdische Mu-       Juden, das Jüdische Gemeinden-Internet-
historischen, säkularen und religiösen       seum hat das Projekt mit wissenschaft-        Archiv, die Jüdischen Museen in Frankfurt
Orten jüdischen Lebens in Deutschlands       lichen und kulturellen Bildungseinrich-       und Köln, das Zentralarchiv zur Erforschung
von knapp 600 angemeldeten Usern er-         tungen entwickelt. Gemeinsam verfolgen        der Geschichte der Juden in Deutschland
stellt und auf der interaktiven Karte        alle Partner das Ziel, die Komplexität und    und der Zentralrat der Juden.            re.

Das Team von Jewish Places.                                                                                    © Jüdisches Museum Berlin

                                     Komponist Werner Heymann
MÜNCHEN Anlässlich des 125. Geburts-         schrieb er die Filmmusik zu zahlreichen       in Paris ging Heymann im September
tags des Komponisten Werner Richard          Stummfilmen, später viele Schlager für        1936 endgültig nach Hollywood, wo er
Heymann legte die Stadt München an sei-      Produktionen wie „Die drei von der Tank-      sich nach schwierigen Anfängen als Film-
nem Grab auf dem Waldfriedhof einen          stelle“. Viele seiner Lieder wurden Ever-     komponist etablieren konnte. 1951 verließ
Gedenkkranz nieder. Werner Richard           greens, wie „Ein Freund, ein guter Freund“    Heymann Hollywood und reiste über
Heymann wurde am 14. Februar 1896 in         und „Irgendwo auf der Welt gibt’s ein         Paris und Zürich nach München, wo er
Königsberg geboren. Er begann als Kom-       kleines bisschen Glück“.                      mit Zwischenstationen in Salzburg und
ponist ernster Lieder und symphonischer                                                    Locarno bis zu seinem Tod lebte.
Werke, 1919 wandte er sich dem Kabarett      Nach der Machtergreifung der Nazis er-
und der Bühnenmusik zu.                      hielt Heymann aufgrund seiner Populari-       Im Pariser Exil schrieb er zwei Operetten,
                                             tät als einziger jüdischer Künstler ein       in Hollywood die Musik zu über 40 Filmen,
Während seiner Zeit als Generalmusik-        Bleibeangebot der UFA. Er emigrierte          mehrere davon erhielten Oscar-Nominie-
direktor der UFA von 1926 bis zur Emi-       jedoch umgehend am 9. April 1933 nach         rungen. Nach der Rückkehr nach Deutsch-
gration 1933 war er der erfolgreichste       Paris. Nach vorübergehenden Aufenthal-        land 1951 entstanden weitere Filmmusi-
Komponist des UFA-Tonfilms. Für sie          ten in London, Hollywood und nochmals         ken sowie musikalische Lustspiele.

                                                                                                  Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021   7
Else Lasker-Schüler in Frankreich
SANARY-SUR-MER Als Bevollmächtigter               Ex-Berlinale-Chef Dieter Kosslick sowie       Solingen von Künstlern, die in Frankreich
für deutsch-französische kulturelle An-           die Autorinnen Cecile Waijsbrot und Anne       interniert waren.
gelegenheiten hat NRW-Ministerpräsi-              Weber, die 2020 den Deutschen Buch-           Dabei sind die Universität und das Goethe-
dent Armin Laschet die Schirmherrschaft           preis für ein Epos über eine französische     Institut Marseille mit dem Centre Fran-
über das XXIII. Else Lasker-Schüler-Forum         Widerstandskämpferin erhalten hat.            co-Allemand de Provence und mit der
übernommen. Es wird von der Wupper-               Sanary an der Cote d’Azur war „die heim-      Kommune Sanary-sur-Mer Kooperations-
taler Else Lasker-Schüler-Gesellschaft, ge-       liche Hauptstadt der deutschen Exillitera-    partner der Wuppertaler Else Lasker-
meinsam mit deutschen und französi-               tur“, u.a. mit Thomas und Heinrich Mann,      Schüler-Gesellschaft. Das Forum wird
schen Partnern, vom 2. bis 10. Oktober            Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger und         u.a. gefördert von der Stadtsparkasse und
öffentlich und zweisprachig im südfranzö-         Walter Hasenclever. Nach der Besetzung        der Stadt Wuppertal, von der Bezirks-
sischen Sanary-sur-Mer ausgerichtet und           Frankreichs durch die deutsche Wehr-          regierung Düsseldorf und der AG Litera-
trägt den Titel „Das flüchtige Paradies“.         macht flüchteten viele der Emigranten         rischer Verbände.
Neben Künstlern und Referenten aus                vom nahen Marseille in die USA, wäh-          Anmeldung und Programm: Else Lasker-
Frankreich kommen die ehemalige Pina-             rend sich Else Lasker-Schüler nach Paläs-     Schüler-Gesellschaft, Herzogstraße 42,
Bausch-Tänzerin Chrystel Guillebaud und           tina einschiffte. Ihre Zeichnungen aus        42103 Wuppertal, Telefon 0202 305198,
die Autoren Gerold Theobalt und Heiner            dem Besitz der veranstaltenden ELS-Ge-        E-Mail: vorstand@else-lasker-schueler-
Bontrup mit neuen Bühnenstücken zum               sellschaft sollen erstmals in Frankreich      gesellschaft.de. Sollte die Corona-Pande-
Forum. Ihre Teilnahme zugesagt haben              ausgestellt werden, dazu auch Bilder aus      mie andauern, wird das Else-Lasker-Schü-
auch Angela Winkler, Iris Berben, der             dem „Zentrum für verfolgte Künste“ in         ler-Forum ins Jahr 2022 verlegt.

                                                   Slichot-Gebetsbuch
WÜRZBURG Die Familie von Fanny                    Gebete“ und den Hinweis auf den Druck         konnte aber gemeinsam mit ihrer wissen-
Heymann in Amsterdam soll ein altes               „Fürth 1813“. Auf der rechten Seite gibt      schaftlichen Volontärin Nathalie Jäger in
Slichot-Gebetbuch erhalten, das sich zur          ein Stempel den entscheidenden Hinweis        historischen Quellen Hinweise auf Saal-
Zeit noch im Würzburger Staatsarchiv              auf den früheren Besitzer. Deutlich lesen     heimers Familie finden. Demnach wurde
befindet, aber ursprünglich wohl ihrem            kann man: „I. Saalheimer, Februar 1900,       Isaak Saalheimer 1835 in Kleinsteinach
Urgroßvater Isaak Saalheimer in Goß-              Goßmannsdorf“.                                in Unterfranken geboren. 1864 heiratete
mannsdorf am Main, heute ein Stadtteil            Auf welchen fragwürdigen Wegen dieses         er Babette Reußenberger aus Goßmanns-
von Ochsenfurt, gehörte. Einige Zeit war          Buch schließlich ins Staatsarchiv gelangte,   dorf. Dort ließ er sich als Stoffhändler mit
das alte Buch ein Exponat in einer frü-           lässt sich nicht zufriedenstellend klären.    eigenem Geschäftshaus nieder.
heren Ausstellung im Johanna-Stahl-Zen-           Rotraud Ries, die Leiterin des Würzbur-       Die Saalheimers hatten sieben Kinder,
trum. Aufgeschlagen zeigt es auf der lin-         ger Kompetenzzentrums für jüdische Ge-        drei ihrer Söhne betrieben später in Würz-
ken Seite den hebräischen Titel „Slichot-         schichte und Kultur in Unterfranken,          burg eigene Tuchhandlungen. Eine Enke-
                                                                                                lin, Meta, heiratete 1931 nach Frankfurt.
                                                                                                Sie konnte 1937 mit ihrem Mann Josef
                                                                                                Heymann und zwei Kindern nach Hol-
                                                                                                land fliehen, wo zwei weitere Kinder ge-
                                                                                                boren wurden. Aber die Nazis holten die
                                                                                                Familie in Holland ein, nur die vier Kin-
                                                                                                der überlebten. Die jüngste Tochter und
                                                                                                Urenkelin von Isaak Saalheimer fanden
                                                                                                Rotraud Ries und Nathalie Jäger nach
                                                                                                aufwendigen Recherchen und Hinweisen
                                                                                                aus der Gedenkstätte Bergen Belsen jetzt
                                                                                                in Holland.
                                                                                                „Wir hatten Glück“, sagt Rotraud Ries,
                                                                                                „dass wir Fanny Heymann jetzt tatsäch-
                                                                                                lich in Amsterdam finden konnten.“ Und
                                                                                                die Informationen über das Gebetbuch
                                                                                                ihres Urgroßvaters hätten die Urenkelin
                                                                                                sehr bewegt. Noch fehlt für die „Restitu-
                                                                                                tion“ die Genehmigung des Bayerischen
                                                                                                Ministeriums für Wissenschaft und Kunst.
                                                                                                Der Direktor des Würzburger Staats-
                                                                                                archiv, Dr. Klaus Rupprecht, sagt dazu:
                                                                                                „Es würde mich sehr freuen, wenn wir
                                                                                                das Buch zurückgeben könnten.“ Es sollte
                                                                                                also nur noch eine Formalität sein, aber
                                                                                                dann müsste das alte Slichot-Bußgebet-
                                                                                                buch von Isaak Saalheimer der Familie
                                                                                                seiner Urenkelin Fanny in Amsterdam
                                                                                                übergeben werden.
Slichot-Gebetbuch.                                                   © Staatsarchiv Würzburg                                   Benno Reicher

8      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021
Jüdisches Museum Augsburg
                                                     Schalom Sisters*!

                                              zeigt Werke von Miriam Katin, Ruth           täten und Positionen zu zeigen und zu
                                              Schreiber, Nina Paley, Andi Arnovitz, Ali-   diskutieren. Die ersten Folgen sind be-
                                              ne Kominsky-Crumb, Lisa Frühbeis und         reits über die Museums-Seite verfügbar.
                                              vielen anderen.
                                                                                                  Jüdischer Feminismus
                                                           Der Podcast                     Zum Einstieg geht es um Jüdischen Femi-
                                              Die Ausstellung ist aufgebaut und sollte     nismus. Zu Gast ist Sharon Adler. Die 1962
                                              eigentlich im Januar eröffnen. Wann sie      in West-Berlin geborene Kulturjourna-
                                              tatsächlich an vier Orten und im öffent-     listin und Fotografin zeigt ihre Perspek-
                                              lichen Raum in Augsburg für Besucher         tiven zu Themen der jüdischen Frauenge-
                                              wegen der Pandemie zugänglich ist, soll-     schichte, aber auch ihre Erfahrungen mit
                                              te vorab über die Seite des Museums          dem aktuellen Antisemitismus. Sharon
                                              jmaugsburg.de geklärt werden. Neben          Adler ist Chefredakteurin des 2000 ge-
                                              Einblicken auf den Social-Media-Kanälen      gründeten Online- und Frauenmagazins
                                              des Museums gibt es ab sofort einen Pod-     AVIVA-Berlin und seit 2013 ehrenamtlich
                                              cast, der sich mit den Fragestellungen der   Vorstandsvorsitzende der Stiftung „Zu-
                                              Ausstellung befasst.                         rückgeben“. 2012 wurde sie mit dem Ber-
                                              Die Moderatorin Judith Alberth unterhält     liner Frauenpreis ausgezeichnet.
                                              sich monatlich in sechs Folgen mit unter-
                                              schiedlichen Frauen über ihr Jüdischsein,                Die Moderatorin
                                              über Feminismus und wie sie dieses jede      Judith Alberth führte Jahre durch das
                                              für sich und ganz unterschiedlich zusam-     Museum in der Halderstraße und die
AUGSBURG Anlässlich des Festjahres            menbringen. Dabei geht es vor allem dar-     Synagoge. 2019 schloss sie ihr Studium
„1700 Jahre jüdisches Leben in Deutsch-       um, verschiedene Erfahrungen, Identi-        mit einer Arbeit zur Erinnerungskultur ab.
land“ macht das Jüdische Museum Augs-
burg Schwaben dessen weibliche Seite
sichtbar und feiert mit der neuen Ausstel-
lung „Schalom Sisters*!“ (siehe dazu auch
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN, Seite 8,
vom 10. Dezember 2020) jüdisch-feminis-
tische Positionen in Vergangenheit und
Gegenwart. Ob im orthodoxen oder im li-
beralen Judentum, ob in Deutschland,
Europa oder der Welt: Feministische For-
derungen mit jüdischer Tradition zu ver-
einen, Konventionen abzulehnen und
neue Lebensentwürfe zu verwirklichen,
stellte und stellt viele Frauen vor Heraus-
forderungen. Die Ausstellung zeigt, wie
Frauen diesen Fragen künstlerisch, poli-
tisch oder sozial begegneten und begeg-
nen. „Schalom Sisters*!“ fokussiert stark
auf internationale Gegenwartskunst und        Schalom Sisters.                                             © Jüdisches Museum Augsburg

                                                           Forschung
AUGSBURG Seit Oktober 2018 arbeitet           bei werden zunächst die Jahre 1945 bis       pa widerspiegeln; die Objekte wurden
das Museum gemeinsam mit der Bet Tfila        1950, dann die Phase der Konsolidierung      von Hilfsorganisationen zur Verfügung
– Forschungsstelle für jüdische Architek-     der Gemeinden seit den 1950er-Jahren         gestellt. Später wurden Ritualobjekte von
tur an der TU Braunschweig, dem Euro-         und schließlich neuere Entwicklungen         künstlerischem Wert angeschafft. Es
päischen Zentrum für jüdische Musik in        nach dem Zuzug von Juden aus den ehe-        stellt sich die Frage nach der Musealisie-
Hannover und dem Braunschweigischen           maligen GUS-Staaten betrachtet. Ein          rung der Objekte bzw. nach der Wieder-
Landesmuseum am Projekt „Objekte und          Hauptaugenmerk gilt neben der Untersu-       aufnahme vormals musealisierter Objek-
Räume als Spiegel der religiösen Praxis       chung der religiösen Praxis anhand von       te in den gottesdienstlichen Ritus. Den
jüdischer Gemeinden: Traditionen und          Kult- und Ritualobjekten dem Aufbau der      Schwerpunkt bilden neben den Objekten
Transformationen des Judentums in             Gemeinden, der religiösen Ausrichtung        und ihren Geschichten die Jüdischen Ge-
Deutschland nach der Shoa“.                   sowie den religiösen Einrichtungen.          meinden selbst. 2019 wurden Gemeinden
                                                                                           in Bayern und Baden-Württemberg kon-
Im Rahmen dieses Verbundprojekts er-          Gerade in den nach Kriegsende gegrün-        taktiert und Fragebögen versendet, erste
forscht das JMAS die Entwicklungen reli-      deten Gemeinden fanden Ritualobjekte         Besuche und Gespräche fanden statt. Mit
giöser Traditionen und Praktiken der Ge-      Verwendung, die den temporären Ver-          dem Einbruch der Pandemie kam diese
meinden des süddeutschen Raumes. Da-          bleib vieler Jüdinnen und Juden in Euro-     Arbeit zunächst ins Stocken.

                                                                                                  Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021   9
Zusammenhalt in Vielfalt – Jüdischer Alltag in Deutschland
BERLIN Mitte März wurden die zehn                   Detlef Seydel erhielt den 1. Preis für sein   Fotos hat mich überrascht und gefreut. In
Preisträgerinnen und Preisträger des Fo-            Foto „Ein Schutzmann für Kafka“. Den          den Bildern wird deutlich, dass die jüdi-
towettbewerbs „Zusammenhalt in Vielfalt             2. Platz belegte Evgenia Lisowski mit „Auf    sche Gemeinschaft so bunt wie die ge-
– Jüdischer Alltag in Deutschland“ ausge-           dem Weg zur Schule“ und den 3. Platz          samte Gesellschaft und ein Teil von ihr
zeichnet. Die Preisträgerinnen und Preis-           Sonia Alcaina Gallardo und Evgeniya           ist.“ Und Staatsministerin Prof. Monika
träger aus sieben Regionen Deutschlands             Kartashova mit „Evgeniya And Other Kos-       Grütters ergänzte: „Die eingereichten
wurden aus über 650 Einsendungen von                her Berliners“.                               Fotos sind mal lässig, mal witzig, poin-
einer Jury ausgewählt.                                                                            tiert oder plakativ. Zugleich sind die Bil-
Überreicht wurden die Auszeichnungen                Der Fotowettbewerb war im Oktober             der immer auch ein Zeichen gegen Hass
von den Jury-Mitgliedern: Dalia Grinfeld,           2020 von der Kulturstaatsministerin, dem      und Ausgrenzung, denn sie widerlegen
Kulturstaatsministerin Prof. Monika Grüt-           Zentralrat der Juden und anderen Part-        antisemitische Ressentiments“.
ters, Patricia Schlesinger, Zentralratsprä-         nern ausgelobt worden. Dr. Josef Schus-       Wir werden die Preisträger und ihre Fo-
sident Dr. Josef Schuster und Olaf Zim-             ter, Präsident des Zentralrats, erklärte      tos in unserem nächsten Heft vorstellen.
mermann.                                            dazu: „Die hohe Zahl der eingereichten                                             bere.

                                                    Zentralrat für Kinder
BERLIN Das Mischpacha–Programm des                  susa für das Kinderzimmer, eine Kippa und     meinsam über die Werte und Traditionen
Zentralrats der Juden in Deutschland rich-          ein Lätzchen. Auch zum Kinder-Geburtstag      zu sprechen, die Ihnen wichtig sind. Das
tet sich an Familien ab der Schwanger-              gibt es eine Überraschungs-Box. Und alles     neue Programm im Familienbereich des
schaft bis zum 3. Geburtstag des Kindes.            im wunderschönen Mischpacha-Design.           Zentralrats, PJ-Library, richtet sich an
Mischpacha besteht aus regelmäßigen                 Das Programm ist kostenlos, Vorausset-        Familien mit Kindern im Alter von zwei bis
Elternbriefen, die über Schwangerschaft,            zung für die Teilnahme ist die Mitglied-      acht Jahren. Zehnmal im Jahr schickt der
Stillzeit, die Entwicklung des Kindes und           schaft eines Elternteils in einer Jüdischen   Zentralrat jüdische Kinderbücher direkt
die ersten Jahre als Familie, aber auch über        Gemeinde in Deutschland.                      an die Kinder, die mit der Zeit ihre eigene
jüdische Traditionen, Gebete und Werte in-          Infos und Anmeldung: www.mischpacha.de.       jüdische Gutenachtbibliothek aufbauen.
formieren, und aus Boxen zu den jüdischen                                                         Die qualitativ hochwertigen, zum Teil
Feiertagen mit altersgerechten Spiel- und           Wir wissen, dass etwas Magisches pas-         auch preisgekrönten Bücher vermitteln jü-
Bastelideen, Geschichten, Liedern, Gebe-            siert, wenn Eltern sich zusammensetzen,       dische Kultur, Werte und Traditionen mit-
ten und Rezepten. Die erste Willkommens-            um mit ihren Kindern zu lesen. PJ-Library     tels einer breiten Palette an Geschichten
Box zur Geburt des Babys enthält eine               macht jüdische Geschichten zugänglich         und wunderschönen Illustrationen.
Spieluhr mit jüdischen Melodien, eine Me-           und unterstützt Sie und Ihre Familie, ge-     Infos und Anmeldung: www.pj-library.de.

                                                                                                                       © Zentralrat der Juden

10       Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021
J Ü DISCH R EISEN                                                                                                                   àãøåéô
                                                   Vor 100 Jahren
Seine Erfahrungen als Jude in Deutschland zu Ende des 19. Jahrhunderts bis hinein ins 20. Jahrhundert hat der Fürther
Schriftsteller Jakob Wassermann ziemlich eindrücklich in seinem Buch „Mein Weg als Deutscher und Jude“ beschrieben.
In dem autobiographischen Werk, es erschien zum ersten Mal im Jahre 1921, vor genau 100 Jahren, beschreibt er auch seine
anfängliche Zeit in Franken.
Fürth in Mittelfranken war zu seiner Zeit ein jüdisches Zentrum. Es gab eine große Jüdische Gemeinde, mehrere Synago-
gen, Schulen und soziale Einrichtungen. Berühmt waren die jüdischen Druckereien. Das Slichot-Gebetbuch von Isaak
Saalheimer (siehe dazu auch Seite 8) war 1813 auch in Fürth gedruckt worden. In der vierten Folge unserer Serie JÜDISCH
REISEN richtet sich unser Blick heute auf das jüdische Fürth, zu Besuch bei Jakob Wassermann.                      bere.

                        Zu Besuch bei Jakob Wassermann in Fürth
                                                    Von Daniel Hoffmann
Jakob Wassermann ist in den ersten Jahr-     einer erfolglosen beruflichen Bemühung,        Zwi. Der jüdischen Religion stand Wasser-
zehnten des 20. Jahrhunderts ein Erfolgs-    ein Erfolgsautor war, seinen Vater zu sich     mann Zeit seines Lebens jedoch reserviert
schriftsteller, ein Bestsellerautor, gewe-   nach Österreich eingeladen. Dieser zeigte      gegenüber. „Der jüdische Gott war Sche-
sen. Am 10. März 1873 in Fürth geboren,      über den Lebensstil seines Sohnes eine         men für mich“, schrieb er in „Mein Weg
starb er am 1. Januar 1934 im österreichi-   „beständige stumme Verwunderung“, wie          als Deutscher und Jude“. Sein Verständ-
schen Altaussee, das ihm seit 15 Jahren      Wassermann 1921 in „Mein Weg als Deut-         nis von Religion war eher, wie bei vielen
zur Heimat geworden war. Jakob Wasser-       scher und Jude“ schrieb.                       deutschen Juden damals, von allgemei-
mann war ein deutscher Jude, der – wie       Kurze Zeit nach seiner Rückkehr starb          nen metaphysischen Gedanken, nicht
könnte es anders sein – von der manch-       der Vater, der zum Abschied gesagt hatte,      aber von konfessionellen, bestimmt.
mal barbarischen, manchmal subtilen          dass dies die ersten Ferien seines Lebens      Ab 1899 gehörte Wassermann zur Auto-
Gewalt des bürgerlichen Antisemitismus       gewesen seien.                                 renfamilie des S. Fischer Verlags. Damit
in seinem Leben stark beeinträchtigt wor-    Jakob Wassermanns Leben gelangte 1894          begann sein rasanter Aufstieg als Best-
den ist. Die Eskalationen des staatlichen    mit seiner Rückkehr nach München, wo           sellerautor, der 1908 den historischen
Antisemitismus im „Dritten Reich“ hat er     er einige Jahre zuvor schon eine geschei-      Roman „Caspar Hauser oder Die Trägheit
nur kurze Zeit erleben müssen.               terte Kaufmannslehre absolviert hatte,         des Herzens“, 1915 den Künstlerroman
Ihm deshalb die „Gnade eines frühen          unerwartet auf die Erfolgsspur. In dem         „Das Gänsemännchen“ und 1919 „Chris-
Todes“ zuzusprechen, wie es zu Beginn        Schriftsteller Ernst von Wolzogen bekam        tian Wahnschaffe“ veröffentlichte.
dieses Jahres der Bayerische Rundfunk        er einen Mentor, der ihm Zugang zur Welt       1921 erschien mit „Mein Weg als Deut-
„online“ getan hat, ist jedoch meines Er-    der Schriftsteller und ihrer Verleger ver-     scher und Jude“ Wassermanns persön-
messens unangebracht und gedankenlos.        schaffte. 1897 erreichte Wassermann mit        liche Bilanz seiner Erfahrungen mit dem
Denn auf wen ginge eigentlich diese          dem Roman „Die Juden von Zirndorf“ sei-        auch nach dem Ersten Weltkrieg an-
Gnade zurück? Auf Gott oder den Tod,         nen Durchbruch.                                dauernden Antisemitismus und der „Ju-
die anderen Zeitgenossen Wassermanns         Heute ist dieser Roman vor allem für Ger-      denfrage“, von der viele Juden sich ge-
nicht gnädig gewesen sind? Wohl eher         manisten, die sich mit deutsch-jüdischer       wünscht hatten, dass sie durch die Völ-
auf das Urteil des Redakteurs, der zudem     Literatur beschäftigen, interessant. In sei-   kerschlachten des vergangenen Krieges
abschließend schreibt, in der Zeit des       nem ersten Teil, dem Vorspiel, behandelt       sich erledigt hätte. Doch Wassermanns
Dritten Reiches sei „der größte Teil sei-    dieser Roman ein Kapitel aus der jüdi-         Schilderungen ihrer andauernden Gegen-
ner Leserinnen und Leser faktisch ausge-     schen Geschichte des 17. Jahrhunderts,         wart zeigt sie in ihrer erschreckend per-
löscht“ worden. Hat Wassermann wirk-         der Zeit des häretischen Messias’ Sabbatai     fiden Banalität.
lich nur jüdische Leser gehabt? Wohl                                                        1928 landete Wassermann mit „Der Fall
ebenso wenig wie Vicki Baum, eine wei-                                                      Maurizius“ einen Welterfolg. Dieser Ro-
tere jüdische Bestsellerautorin desselben                                                   man, der 1981 auch als Serie unter der
Zeitraums.                                                                                  Regie von Theodor Kotulla mit Heinz
Jakob Wassermanns Leben ist, wenn man                                                       Bennent und Judy Winter im deutschen
es von seiner Schriftstellerexistenz aus                                                    Fernsehen zu sehen war, begründete
betrachtet, eine Erfolgsgeschichte gewe-
sen. Seine persönliche Geschichte jedoch,
                                                        FÜRTH                               endgültig Wassermanns Ruf als Erfolgs-
                                                                                            schriftsteller. Der Schüler Etzel Ander-
seine Herkunft, seine beiden Ehen und                                                       gast deckt einen bald zwei Jahrzehnte
seine gesellschaftliche Stellung umfas-                                                     zurückliegenden Justizirrtum auf. Die
send, hat tragische Elemente.                                                               spannende Handlung verlangte eine Fort-
Wassermanns Vater war zunächst ein                                                          setzung, die 1931 mit „Etzel Andergast“
erfolgloser Fabrikant, später ein kleiner                                                   erschien. Bis zu seinem Tod arbeitete
Versicherungsvertreter, der seine Fami-                                                     Wassermann an einer weiteren Fortset-
lie finanziell kaum über Wasser halten                                                      zung, die unter dem Titel „Joseph Kerk-
konnte. Wassermanns Mutter starb, als er                                                    hovens dritte Existenz“ erst posthum
neun Jahre alt war. Seine Stiefmutter hat                                                   1934 herauskam.
ihn und seine Geschwister schlecht be-                                                      Die Veröffentlichungsgeschichte dieses
handelt. Wassermann hat, als er dreißig                                                     letzten Romans spiegelt die drastischen
Jahre alt war und bereits, nach Jahren                                      Grafik: MBR     Veränderungen in der politischen, aber

                                                                                                 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 144/2021   11
auch in Wassermanns persönlichen Situa-
tion. Er erschien im Querido Verlag in
Amsterdam, dem deutschen Exilverlag,
der im Nachkriegsdeutschland wegen sei-
ner Publikationen hohe Anerkennung er-
halten hat. Wassermann sah sich zur
Fortsetzung seines Erfolgsromans auch
genötigt, weil er nach seiner Scheidung
von seiner ersten Frau 1926 durch zahl-
reiche von ihr angestrengte Prozesse um
Unterhaltszahlungen an den Rand des
finanziellen Ruins gelangt war. Krank,
geistig erschöpft und demoralisiert durch
den Antisemitismus starb Wassermann
am Neujahrsmorgen 1934.                              Dampfwagenfahrt mit dem Adler 1835 von Nürnberg nach Fürth.           © DB Museum

                                                   Von Nürnberg nach Fürth
Die Bahnstrecke von Nürnberg nach Fürth machte die „Kleeblattstadt“ bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts weit über
Franken hinaus bekannt. Immerhin: Mit sechs Kilometern Gleisen zwischen den beiden Städten begann am 7. Dezember
1835 die Geschichte der Bahn in Deutschland. Die erste offizielle Eisenbahnfahrt des Adlers, der englischen Lokomotive,
brachte 200 Ehrengäste von Nürnberg nach Fürth. Die historische Bedeutung war allen bewusst. Nach neun Minuten Bahn-
fahrt für die sechs Kilometer traten sie in Fürth auf dem Bahnsteig. „Euphorisch und berauscht von der Geschwindigkeit
und der modernen Zeit.“
Die alte Bahntrasse unweit der Pegnitz brachte die Fahrgäste, vorbei an prachtvollen Jugendstil-Gebäuden auf der Horn-
schuchpromenade, zum Ludwigsbahnhof. „Eine kleine Lokalstation, gewiss“, schreibt der Fürther Chronist Gustav, „aber
irgendwo doch auch ein wenig der große Bahnhof mit dem Treiben der Ankommenden und Abfahrenden, mit Schalter und
Dienstmann, mit Buchhandlung und Erfrischungen. Schräg gegenüber das mondäne Hotel National, auf der anderen
Straßenseite die englische Anlage, in der man sich erging und die Wartezeit auf den nächsten Zug vertrieb.“
Von hier war man zu Fuß schnell in der Fürther Innenstadt, die damals noch stark „jüdisch“ geprägt war. Den Ludwigsbahn-
hof gibt es nicht mehr, der Platz heißt heute „Fürther Freiheit“. Auch das jüdische Stadtbild hat sich sehr verändert, aber es
gibt noch deutliche Spuren. Ein „jüdischer Stadtrundgang“ zum Entdecken.                                                 bere.

                                                   Das Fränkische Jerusalem
Die Geschichte der Juden in Fürth be-                nach dem Novemberpogrom 1938 wurden        pert in ihrem Führer „Orte der Verfol-
ginnt im 15. Jahrhundert. Für den Auf-               alle Gebäude abgerissen.                   gung und des Gedenkens in Fürth“.
schwung der Stadt nach dem Dreißigjäh-               „Übrig blieb eine Sandwüste, die bis zum   Seit 1986 erinnert ein Gedenkstein des in
rigen Krieg waren jüdische Kaufleute                 Kriegsende zum Schuttabladeplatz ver-      Fürth lebenden Künstlers Kunihiko Kato
maßgeblich verantwortlich: „Da sie weit-             kam und schließlich ein als Parkfläche     an das einstige Zentrum der jüdischen
reichende Verbindungen hatten, konnten               genutzter Platz, der erst zu Beginn der    Gemeinde: „Aus zwei mal sieben Flam-
sie den Fernhandel effektiv gestalten“,              1980er Jahre mit Wohnungen bebaut          men erwächst eine Fruchtschote mit sie-
schreibt Barbara Ohm in ihrem Stan-                  wurde“, berichtet Monika Berthold-Hil-     ben Samenknospen – ein Zeichen für die
dardwerk „Geschichte der Juden in                                                               aus der Vernichtung nach 1945 neu ge-
Fürth“. Christen und Juden lebten zu                                                            gründete Gemeinde“, so Katrin Kasparek
dieser Zeit nicht nur neben-, sondern                                                           im Führer „Geschichte der Juden in
auch miteinander unter einem Dach.                                                              Fürth“. Auf der Grundplatte des Denk-
Beim Rundgang durch die Fürther Alt-                                                            mals steht ein Zitat aus Psalm 79: „Es
stadt stößt man überall auf Häuser, die                                                         kamen Fremde in deinen Besitz, sie ver-
Juden gehört haben, beispielsweise auf                                                          unreinigten deinen Tempel, sie legten
die zwei repräsentativen Hoffaktoren-                                                           Jerusalem in Trümmer.“ Ein nachdenk-
häuser in der Königstraße. Von einem                                                            lich stimmender Ort.
Ghetto keine Spur.                                                                              Ein Modell des ehemaligen „Schulhofs“
Das stetige Wachstum der Jüdischen Ge-                                                          zeigt das Jüdische Museum Franken in
meinde machte bald den Bau einer Syna-                                                          der Königstraße. Dort wird auch die Zer-
goge notwendig, die 1617 eingeweiht wur-                                                        störung des „Schulhofs“ in den Jahren
de. Diese Hauptsynagoge wurde später                                                            1938 und 1939 eindringlich vermittelt.
„Alte Schul“ genannt. Um die „Alte Schul“                                                       Das in Gegenwart von Ignatz Bubis, dem
ist nach und nach der Komplex des „Schul-                                                       damaligen Vorsitzenden des Zentralrats
hofs“ mit drei weiteren Synagogen, einer                                                        der Juden, eröffnete Museum im ehema-
Gemeindekanzlei mit Rabbinerwohnung                                                             ligen Wohnhaus des Gemeindevorsitzen-
und Bibliothek, einer koscheren Fleische-                                                       den Hirsch Fromm wurde 2017 um einen
rei und einer Talmudschule entstanden –              In diesem Haus wohnte Jakob Wassermann     modernen Anbau erweitert. Man sollte
das Herz der Jüdischen Gemeinde in                   1873 bis 1878 über der Gaststätte „Zum     Zeit mitbringen, um die auf drei Ebenen
Fürth. Heute steht davon nichts mehr,                Gaulstall“.                      © SWR     präsentierten Objekte, wie beispielsweise

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