100 Jahre bwv München e.G.

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100 Jahre bwv München e.G.
100 Jahre
bwv München e.G.
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100 Jahre
                                                                      bwv München e.G.

Impressum

Autorin/Autor: Katharina Roth und Lukas Wollscheid
Projektleitung: Matthias Georgi
Neumann & Kamp Historische Projekte, München
www.historische-projekte.de
© 2021 August Dreesbach Verlag, Gollierstraße 70, 80339 München
Alle Rechte vorbehalten.
Projektleitung: Christina Wehrl
Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
Papier: Lessebo Design Smooth White
Gesetzt aus der Vista Sans OT.
Printed in Germany.
ISBN 978-3-96395-024-7

Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
100 Jahre bwv München e.G.
Inhalt

         Grußworte                                             7

1        Gegen die Wohnungsnot
         Vorgeschichte und Gründung 1921
                                                              12

2        Von den Goldenen Zwanzigern in eine dunkle Zeit
         Die erste Bauphase und die großen Anfangsprojekte
                                                              34

         (1921 – 1939)

3        Krieg, Wiederaufbau und neue Wohnanlagen
         in der zweiten Bauphase
                                                              66

         (1939 – 1971)

4        Bestandserhalt, Einzelobjekte und
         ein neues Selbstverständnis
                                                              92

         (1971 – 2000)

5        100 Jahre bwv
         Konzepte für Gegenwart und Zukunft
                                                             116

         (2000 – 2021)

         Anhang                                              146
100 Jahre bwv München e.G.
Liebe Mitglieder des
Beamtenwohnungsvereins,
sehr geehrte Leserinnen und Leser,

es ist ein besonderes Jubiläum, das der
Beamtenwohnungsverein          München
heuer feiert: Wir blicken zurück auf
100 Jahre Genossenschaft! Zu diesem
Jubiläum möchte ich sehr herzlich gra-
tulieren, denn der Verein leistet einen
wichtigen Beitrag zur Wohnraumver-
sorgung in München. Vielen Dank, dass
Sie sich schon so lange Zeit für kosten-    nossenschaft bietet die ideale Wohn-
günstigen Wohnraum stark machen.            form für die Bevölkerungsgruppe, die
     Die Wohnungsfrage ist die soziale      zwar keinen Anspruch auf Sozialleis-
Frage unserer Zeit. Mir ist wichtig, dass   tungen hat, sich aber auch nicht Mie-
alle Bürgerinnen und Bürger, ungeach-       ten von 15 Euro oder mehr pro Quad-
tet von Lebensphase, Einkommen oder         ratmeter leisten kann.
Beruf, überall in Bayern angemessen              Ich danke allen Verantwortli-
leben und wohnen können! In vielen          chen des Beamtenwohnungsvereins
bayerischen Großstädten, und ganz           München herzlich für ihren unermüd-
besonders in der Landeshauptstadt           lichen Einsatz. Danke, dass Sie sich
München, wird es immer schwieriger,         trotz dieser herausfordernden Zeit für
kostengünstigen Wohnraum zu finden.         die Wohnraumversorgung in München
     Der Beamtenwohnungsverein bie-         und Bayern stark machen. Insbesonde-
tet seinen Mitgliedern dagegen attrak-      re danke ich Ihnen für das vorbildliche
tiven und zeitgemäßen Wohnraum zu           Engagement im Rahmen unseres Expe-
fairen Preisen. Er leistet damit einen      rimentellen Wohnungsbaus beim Mo-
wichtigen Beitrag, damit so viele Men-      dellvorhaben „effizient bauen, leistbar
schen wie möglich in bezahlbaren Woh-       wohnen – mehr bezahlbare Wohnun-
nungen leben können. Der Freistaat          gen für Bayern“.
Bayern fördert daher mit hohen Sum-              Dieses Jubiläum ist ein schönes
men den Bau neuer Miet- und Genossen-       Beispiel für den Einklang von Tradition
schaftswohnungen.                           und Zukunft. Ich möchte Ihnen mei-
     Der Beamtenwohnungsverein Mün-         ne besten Glückwünsche übermitteln
chen erfüllt das Ideal des genossen-        und freue mich, wenn die Mieterinnen
schaftlichen Wohnens. Wohnungen             und Mieter noch lange von diesem ge-
werden bei einem Mieterwechsel um-          nossenschaftlichen Modell profitieren
fangreich saniert, bis sie wieder Neu-      können.
baustandard haben. Danach werden sie
aber trotzdem zu einheitlichen, niedri-
gen Unternehmensmieten angeboten.
     Das belegt eindrucksvoll, dass
die genossenschaftlichen Ideale Soli-
darität und Selbsthilfe beim Beam-          Kerstin Schreyer
tenwohnungsverein München auch              Staatsministerin, MdL
tatsächlich gelebte Werte sind! Die Ge-

                                                                                      7
100 Jahre bwv München e.G.
Liebe Mitglieder des                                                                  Liebe Mitglieder des
    Beamtenwohnungsvereins,                                                               Beamtenwohnungsvereins,
    sehr geehrte Leserinnen und Leser,                                                    sehr geehrte Leserinnen und Leser,

    die Schaffung von gesunden und                                                        „Gut und sicher wohnen“ so lautet das
    zweckmäßig eingerichteten Wohnun-                                                     Motto des VdW Bayern und seiner Mit-
    gen für seine Mitglieder in eigens er-                                                gliedsunternehmen. Diesen Leitspruch
    bauten oder erworbenen Häusern war                                                    beachtet der bwv München eG seit
    schon im Gründungsjahr 1921 Zweck                                                     100 Jahren sehr erfolgreich.
    des Beamtenwohnungsvereins Mün-                                                            Ein angespannter Wohnungs-
    chen. Inzwischen ist der Bestand der                                                  markt ist in der bayerischen Landes-
    gemeinnützigen Genossenschaft auf                                                     hauptstadt München kein neues Phä-
    187 Häuser mit mehr als 1.700 Wohn-        oder die Bekämpfung von Zweckent-          nomen. Die Situation war zu Beginn        ein bezahlbares Zuhause zu finden ist
    einheiten angewachsen. Damit hat der       fremdung.                                  des 20. Jahrhunderts noch wesentlich      mancherorts sehr schwierig. Und das
    Beamtenwohnungsverein in den ver-               Einen Schwerpunkt der städti-         schlimmer als heute. Besonders in den     Zuhause hat in Pandemiezeiten noch-
    gangenen 100 Jahren nicht nur einen        schen Wohnungspolitik bildet vor al-       Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wur-     mals erheblich an Bedeutung gewon-
    wertvollen Beitrag zur sozialgerechten     lem auch die verstärkte Förderung des      den viele Wohnungsgenossenschaften        nen. Im Freistaat Bayern gibt es derzeit
    Wohnungsversorgung und zur Lebens-         genossenschaftlichen Wohnungsbaus.         gegründet. Engagierte Persönlichkei-      eine Renaissance der Wohnungsge-
    qualität in unserer Stadt geleistet. Er    Denn Wohnungsbaugenossenschaften           ten übernahmen Verantwortung und          nossenschaften. Der anhaltende Grün-
    gibt auch selbst ein hervorragendes        leisten einen wichtigen Beitrag für mehr   gründeten Genossenschaften, um für        dungsboom zeigt, dass wieder mehr
    Beispiel, wie unverzichtbar die Leistun-   bezahlbaren Wohnraum und tragen zu         bezahlbare und gute Wohnungen zu          engagierte Menschen selbst das Ruder
    gen von Wohnungsbaugenossenschaf-          einer nachhaltigen Siedlungsentwick-       sorgen. Diesen Schritt wagten im Jahr     in die Hand nehmen möchten.
    ten sind und wie aktuell ihr Konzept       lung bei. Gerade auf dem Münchner          1921 auch die Münchner Beamtenver-             Die 491 Wohnungsgenossenschaf-
    bis heute geblieben ist.                   Wohnungsmarkt kommt ihnen auch in          bände auf Initiative des späteren In-     ten und Wohnungsgesellschaften im
         Die Stadt München hat das En-         Zukunft eine ganz besondere Bedeu-         nenministers Karl Stützel.                VdW Bayern – Verband bayerischer
    gagement des Beamtenwohnungs-              tung zu. Dem Beamtenwohnungsverein              Den Verantwortlichen und Mit-        Wohnungsunternehmen e.V. – gratulie-
    vereins schon deshalb immer gerne          München und allen seinen Mitgliedern       gliedern ist es getreu den genossen-      ren dem bwv München zum Jubiläum
    unterstützt, weil dadurch speziell auch    gratuliere ich daher sehr herzlich zum     schaftlichen Grundprinzipien Selbst-      und zu dem in den vergangenen 100
    für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter       100-jährigen Genossenschaftsjubiläum,      verwaltung, Selbstverantwortung und       Jahren Erreichten.
    der Stadt attraktiver und dennoch er-      sage herzlichen Dank für das große En-     Selbsthilfe gelungen, in wirtschaftlich        Machen Sie weiter so! Sie werden
    schwinglicher Wohnraum geschaffen          gagement und wünsche weiterhin alles       schwierigen Zeiten große Leistungen       gebraucht – heute genauso wie vor 100
    wurde. Aber auch insgesamt ist die-        Gute und viel Erfolg.                      zu vollbringen. Die Zahlen sprechen für   Jahren.
    ses Engagement ganz im Sinne der                                                      sich. Die Genossenschaft ist mit ihren
    Münchner Stadtpolitik. Schließlich                                                    rund 1.700 Wohnungen ein wichtiger
    werden die Einwohnerzahl und damit                                                    Baustein für Ihre Mitglieder. Das ist
    der Wohnungsbedarf in München al-                                                     auch den verantwortlichen Gremien-
    len Prognosen nach weiter steigen.                                                    mitglieder bewusst. Mit erheblichen
    Für die Stadt hat es daher höchste                                                    Investitionen in Neubauprojekte und       Hans Maier
    Priorität, bezahlbaren Wohnraum zu                                                    Modernisierungsmaßnahmen tragen           Verbandsdirektor des VdW Bayern
    erhalten und neu zu schaffen. Dazu         Dieter Reiter                              sie dazu bei, den Wohnungsbestand         Verband bayerischer Wohnungs-
    haben wir beispielsweise das finanziell    Oberbürgermeister                          für zukünftige Generationen von Ge-       unternehmen e.V.
    größte kommunale Wohnungsbaupro-                                                      nossenschaftsmitgliedern zu bewah-
    gramm in Deutschland aufgelegt und                                                    ren.
    unseren eigenen Wohnungsbestand                                                            Das Thema bezahlbares Wohnen
    kontinuierlich erhöht. Und darüber                                                    ist heute genauso aktuell wie im Jahr
    hinaus setzen wir auf viele weitere                                                   1921. Der Wohnungsmarkt ist in vie-
    Instrumente wie Erhaltungssatzungen                                                   len bayerischen Städten angespannt,

8                                                                                                                                                                              9
100 Jahre bwv München e.G.
Liebe Mitglieder,                                                                langjährigen Wirken einer Reihe wich-           Auch gegenwärtig und künftig
     sehr geehrte Leserinnen und Leser,                                               tiger Persönlichkeiten, die die Geschi-    kommen neue Herausforderungen auf
                                                                                      cke unserer Genossenschaft maßgeb-         den bwv zu, sowohl beim Erhalt, der
     der Beamtenwohnungsverein Mün-                                                   lich positiv geprägt haben. Besonders      Modernisierung und der potentiellen
     chen - bwv - wurde vor 100 Jahren am                                             darf an dieser Stelle der Mitbegründer     Erweiterung des Wohnungsbestandes,
     19. Februar 1921 gegründet. Vorstand                                             des bwv Karl Konrad Stützel genannt        aber auch durch gesellschaftliche Ent-
     und Aufsichtsrat haben dieses Jubi-                                              werden, dessen soziales Engagement         wicklungen, etwa beim Klimaschutz.
     läum zum Anlass genommen, die Ge-                                                und politischer Mut in einem spezifi-      Auf diese Themen wird im Schlusskapi-
     schichte unserer Genossenschaft von                                              schen Exkurs dargestellt wird. In die-     tel der Chronik eingegangen.
     fachkundigen Historikern recherchie-                                             sem Kontext sei darauf hingewiesen,             Vorstand und Aufsichtsrat bedan-
     ren und zusammen tragen zu lassen.                                               dass den Entwicklungen im bwv wäh-         ken sich bei allen ehrenamtlich und ne-
     Die vorliegende Chronik ist das Ergeb-                                           rend der Zeit des Nationalsozialismus      benamtlich tätigen Personen wie auch
     nis dieser akribischen Spurensuche.      Bauprojekten bereits in den Anfangs-    ein eigenes Kapitel gewidmet ist.          den hauptamtlichen Mitarbeiterinnen
     Grundlagen hierfür sind die Sichtung     jahren, den Zerstörungen im Zweiten          Die Chronik gibt weiterhin Ein-       und Mitarbeitern, die durch ihren Ein-
     und Auswertung von umfangreichem         Weltkrieg, dem anschließenden Wie-      blick in die Entwicklung unserer Wohn-     satz dazu beigetragen haben, dass der
     Archivmaterial, historischen Quellen     deraufbau und Ausbau bis in die frü-    anlagen und in die Wohnverhältnisse        bwv in den letzten 100 Jahren eine sehr
     sowie von Interviews mit Zeitzeugen      hen 1970er Jahre sowie umfangreichen    der jeweiligen Zeitepochen, womit          positive Entwicklung genommen hat.
     aus den Reihen der Mitglieder und der    Maßnahmen zum Erhalt und der quali-     ein Teil der jüngeren Zeitgeschichte       Dadurch konnten wir einen wichtigen
     Organe des bwv. Es war uns ein Anlie-    tativen Verbesserung des Bestandes in   lebendig wird. Ähnliches gilt für ge-      Beitrag zur sozialen Wohnungsver-
     gen mit dieser Chronik einen Bogen zu    den darauf folgenden Jahrzehnten bis    sellschaftliche, gesetzliche und organi-   sorgung unserer Stadt leisten, getreu
     spannen von den Wurzeln des bwv bis      hin zur Schaffung neuen Wohnraumes      satorische Entwicklungen, die im Lauf      unserem Motto: bezahlbarem wohnen
     zur Gegenwart verbunden mit einem        in den letzten Jahren etwa durch den    der Jahrzehnte immer wieder auch Ver-      verpflichtet – bwv.
     Ausblick auf die Zukunft.                Neubau in der Parkstadt Schwabing       änderungen und Neuausrichtungen er-
          Die Darstellung der Geschichte      oder durch Dachgeschoßausbauten.        forderlich gemacht haben.
     unserer Genossenschaft reicht von der         Die Geschichte des bwv ist un-
     Gründungsphase, den ersten großen        trennbar auch verbunden mit dem

                                                                                      Josef Bauer                                Christian Berg
                                                                                      Vorsitzender des Aufsichtsrates            Vorstand

                                                                                      Klaus Hofmeister                           Axel Wirner
                                                                                      Vorstand                                   Vorstand

10                                                                                                                                                                         11
100 Jahre bwv München e.G.
1

                                     Gegen die Wohnungsnot
                                     Vorgeschichte und
                                     Gründung 1921

Die Häuser Ecke Lothstraße 32
und Kreittmayrstraße 33 und 35
Anfang der 1920er-Jahre.
100 Jahre bwv München e.G.
Die Wohnungsnot und ihre                                                                                                      Genossenschaften auf. Die Grund-
     Bekämpfung durch den                                                                                                          idee der Genossenschaft stammte
     Genossenschaftsgedanken                                                                                                       aus Großbritannien.5 In den zunächst
                                                                                                                                   entstehenden Konsum- und Produk-
                                                                                                                                   tionsgenossenschaften verteilten sich
     „Die Verbesserung der Wohnungsver-         Oberschicht entstanden. Der Bau von                                                die finanziellen Belastungen und die
     hältnisse im allgemeinen […] ist eine      Kleinwohnungen erschien den meis-                                                  Risiken auf mehrere Personen, die die-
     der wichtigsten sozialen Aufgaben der      ten Bauunternehmern unrentabel. Der                                                selben Interessen vertraten. Die Genos-
     Gegenwart.“1 Diese Aussage könnte          finanzielle Aufwand für den Bau vieler                                             senschaften funktionierten auf Basis
     aus der aktuellen Münchner Stadtpoli-      kleiner Wohneinheiten pro Etage war                                                von Selbsthilfe, Selbstverwaltung und
     tik stammen. Tatsächlich beschrieb         aufwendiger und gleichzeitig war die                                               Selbstverantwortung.
     jedoch der königlich bayerische Innen-     Gefahr von Mietausfällen höher als bei                                                  Der Gedanke hielt bald auch in
     minister Friedrich von Brettreich be-      großen Wohnungen für die Wohlha-                                                   Deutschland Einzug und fand zeitnah
     reits im Jahr 1909 die Wohnungssituati-    benden. Wenn dennoch Neubauten für                                                 Anwendung auf den Wohnungsbau.
     on in München mit diesen Worten. Das       die Ärmeren entstanden, galt hier das                                              Am 15. November 1847 wurde mit der
     Bevölkerungswachstum und die sich          Renditeprinzip: Möglichst viele Men-                                               „Berliner gemeinnützigen Baugesell-
     daraus ergebende Wohnungsnot sind          schen mussten auf möglichst engem                                                  schaft“ die erste dieser Art auf deut-
     also keine neuen Themen. Sie beschäf-      Raum leben.                                                                        schem Boden gegründet.6 Im Gegen-
     tigen die bayerische Landeshauptstadt           Arbeiterinnen und Arbeiter, klei-                                             satz zu privaten Bauherren waren
     bereits seit dem ausgehenden 18. Jahr-     ne Angestellte und Menschen in ein-                                                und sind Baugenossenschaften bis
     hundert. Auch im Verlauf des 19. und       fachen Dienstleistungsberufen lebten                                               heute nicht auf Gewinn ausgerichtet,
     20. Jahrhunderts stellten beide Aspek-     zur Untermiete oder im äußersten Fall                                              sondern betreiben Wohnungsbau aus
     te große Herausforderungen in der Ent-     als Schlafgängerin und Schlafgänger                                                sozialer Verantwortung. In München
     wicklung der Residenzstadt dar.2           – teilten sich also das Bett im Schicht-                                           entstand 1871 mit der Genossenschaft
                                                betrieb mit anderen. Andere mussten                                                „Arbeiterheim“ die erste Bau- und Spar-

                                                                                                                                                                                  Hinterhof am Münchner
                                                sich mit mehr oder minder bewohn-                                                  genossenschaft, die bis heute als Bau-
     Städtewachstum und Wohnungsnot             baren Behelfsbauten, Schuppen oder                                                 genossenschaft München von 1871 e.G.

                                                                                                                                                                                  Oberanger um 1900.
                                                provisorisch überdachten Winkeln in                                                aktiv ist.
     In ganz Europa wuchs ab dem Ende des       Innenhöfen begnügen. Die Lebensum-                                                      Mittlerweile war die Wohnungs-
     18. Jahrhunderts die Bevölkerung stark     stände in diesen Elendsquartieren wa-                                              not auch in den Fokus der kommu-
     an. Die zunehmende Industrialisierung      ren geprägt von winzigen, überbeleg-                                               nalen Politik gerückt. Zudem wurde
     veränderte die Wirtschafts- und Sozial-    ten Zimmern und mangelhaften oder                                                  die Idee des sozialen Wohnungsbaus
     struktur der vormals hauptsächlich         nicht vorhandenen Sanitäranlagen.                                                  nun von bürgerlichen Kreisen unter-
     agrarisch geprägten Staaten deutlich.      Die untragbaren hygienischen Zustän-                                               stützt.7 Dabei spielte die Vorstellung,
     Technische Erfindungen, neue Pro-          de begünstigten Krankheiten wie Tu-                                                die Arbeiterschicht nach bürgerlichen
     duktionsabläufe und Transportwege          berkulose oder Ruhr.                       war von der sich selbst regulierenden   Gesellschaftsvorstellungen zu formen,
     wie die Eisenbahn führten zur Entste-           Bald war auch die Mittelschicht       Entwicklung des Wohnungsmarkts          eine große Rolle. Denn die Wohnung
     hung von Industriezentren, meist im        von der Wohnungsnot betroffen – der        überzeugt.4                             galt als „die wesentliche Grundlage für
     Umfeld bereits existierender Städte.       Handwerkerstand, Angestellte in Ver-                                               die gesundheitliche und sittliche Ent-
     Die verarmte Landbevölkerung hoff-         waltungsberufen und Beamte3 der                                                    wicklung der Familie und der Kinder
     te auf Arbeit in der Stadt. In der Folge   mittleren Laufbahn. Der soziale Frie-      Die Genossenschaft –                    und [war] damit auch sehr wichtig für
     drängten immer mehr Menschen in            den in der Stadt geriet in Gefahr, zu-     Selbsthilfe, Selbstverwaltung,          die soziale Entwicklung der Gesamt-
     diese Industriegebiete. Bald herrschte     mal die städtischen Behörden kaum          Selbstverantwortung                     heit“8. Durch eine Verbesserung der
     Mangel an bezahlbarem Wohnraum,            reagierten und sich für den sozialen                                               Wohnsituation sollten darüber hinaus
     da im Zuge des privatwirtschaftlichen      Wohnungsbau (noch) nicht verant-           Mitte des 19. Jahrhunderts kamen        Entwicklungen innerhalb der Arbeiter-
     Wohnungsbaus in erster Linie Groß-         wortlich fühlten. Die politische und       unter den Betroffenen erstmals Ini-     schaft Richtung Sozialismus unterbun-
     raumwohnungen für die Mittel- und          wirtschaftliche Oberschicht wiederum       tiativen zur Selbsthilfe in Form von    den werden.

14                                                                                                                                                                           15
100 Jahre bwv München e.G.
als gemeinsame Dachorganisation            den gar nicht leisten konnten. Dennoch
                                                                                                          gegründet. Immer mehr kommunale            war am Vorabend des Ersten Weltkriegs
                                                                                                          und staatliche Beamte entwickelten         ein Ende der Krise auf dem Wohnungs-
                                                                                                          sich zu Unterstützern eines von der        markt in Sicht. Mit Beginn des Krieges
                                                                                                          Öffentlichkeit geförderten sozialen        wurden sogar weitere Wohnungen frei.
                                                                                                          Wohnungsbaus. Davon profitierten Ge-       Viele Männer, die nun einrückten, konn-
                                                                                                          nossenschaften wie der BWV, die zum        ten sich die Wohnungen und Zimmer
                                                                                                          Teil beeindruckende Netzwerke in Re-       nicht mehr leisten und mussten kündi-
                                                                                                          gierungs- und Verwaltungskreisen auf-      gen.16 Frauen und Kinder zogen dann zu
                                                                                                          bauen konnten.                             den Eltern zurück. Diese Episode dauer-
                                                                                                               In den folgenden Jahren wuchs         te jedoch nicht lange an.
                                                                                                          der soziale Wohnungsbau stark an
                                                                                                          – ein regelrechter Bauboom setzte
                                                                                                          ein. Einige Genossenschaften bauten        Krieg und Krise
                                                                                                          mehr Wohnungen als sie Mitglieder
Karikatur auf die
Wohnungsnot in
München, 1918.

                                                                                                          hatten, so zum Beispiel die Münchner       Das bayerische Innenministerium
                                                                                                          Baugenossenschaft Familienheim, die        stellte bereits 1916 fest, dass nach
                                                                                                          für ihre 68 Mitglieder 300 Wohnungen       Ende des Krieges für München ein
                                                                                                          bereithielt.15 Diese Wohnungen stan-       Fehlbestand von mindestens 5.000 bis
                                                                                                          den dann oft längere Zeit leer und die     6.000 Wohnungen drohen werde.17 Zu-
                                                                                                          Finanzierung der Genossenschaften          dem gerieten während des Krieges
                                                                                                          geriet in Schieflage. Teilweise ging das   viele der noch jungen Baugenossen-
                          Kommunale und staatliche Stel-        Die Wohnungsnot in München – erste        Bauen aber auch am Bedarf vorbei, bei-     schaften durch Mietausfälle und die
                     len erkannten den Wert der Genossen-       Ansätze zur Lösung                        spielsweise wenn in einem Arbeitervier-    Voranstellung der kriegswichtigen
                     schaften für den Zusammenhalt und                                                    tel Großraumwohnungen entstanden,          Produktion in finanzielle Bedrängnis.18
                     die Stabilität in der Gesellschaft. Neue   München war im 19. Jahrhundert von        die sich die dortigen Wohnungssuchen-      Somit waren kaum noch Investitionen
                     gesetzliche Rahmenbedingungen, ins-        rund 40.000 Einwohnerinnen und Ein-

                                                                                                                                                                                                16. Februar 1919, Kurt Eisner mit
                     besondere das preußische Genossen-         wohner im Jahr 1800 auf 500.000 im Jahr
                     schaftsgesetz (als Vorbild für das ab      1900 angewachsen und 10 Jahre später

                                                                                                                                                                                                Demonstration in München,
                     1871 im ganzen Deutschen Reich gül-        lebten bereits knapp 600.000 Men-
                     tige Genossenschaftsgesetz), schufen       schen in der Stadt.12 Zeitgleich wurden

                                                                                                                                                                                                Hut im Wagen sitzend.
                     Rechtssicherheit für die Gründung von      zwischen 1900 und 1909 jedoch ledig-
                     Genossenschaften. Das Gesetz ermög-        lich 6.000 Wohnungen gebaut. Das war
                     lichte ab 1889 auch die Beschränkung       nicht annähernd ausreichend für den
                     der Haftpflicht für Mitglieder, die an-    tatsächlichen Bedarf, obwohl dieser
                     fänglich im Konkursfall noch mit ih-       auf nur drei Quadratmeter pro Erwach-
                     rem gesamten Privatvermögen haften         senem und anderthalb Quadratmeter
                     mussten.9 Außerdem entstanden erst-        pro Kind festgelegt worden war.13
                     mals staatliche Förderungs- und Finan-          Mit der 1903 erstmals erschiene-
                     zierungskonzepte. In der Folge stieg die   nen Zeitschrift für Wohnungswesen
                     Zahl der Neugründungen im gesamten         in Bayern traten die bayerischen Bau-
                     Deutschen Reich stark an. Gab es 1888      genossenschaften an den Staat und
                     gerade einmal 28 eingetragene Genos-       die Öffentlichkeit heran und forderten
                     senschaften, waren es um 1908 bereits      eine Neuorientierung hin zum sozialen
                     84810 und 1914, kurz vor Ausbruch des      Wohnungsbau.14 1909 wurde der Ver-
                     Ersten Weltkrieges, schon 1.402.11         band der bayerischen Baugenossen-
                                                                schaften, -gesellschaften und -vereine

                16                                                                                                                                                                             17
100 Jahre bwv München e.G.
in Neubauten möglich. Bei Kriegsende     ten jungen Beamten des unteren und       Exkurs: Karl Konrad Stützel
                                war die Situation dramatisch. Für die    mittleren Dienstes oft zur Untermiete    (1872 – 1944)
                                Masse an Kriegsheimkehrern und -ge-      mit einem möblierten Zimmer Vorlieb
                                schädigten, für die Witwen und Waisen    nehmen – beide Situationen waren auf
                                der Gefallenen und für die jungen Ehe-   Dauer belastend.20                       Eine christlich-soziale Grundhaltung
                                paare, die nach der Rückkehr der Sol-         Die Idee einer Wohnungsbauge-
                                daten eine Familie gegründet hatten,     nossenschaft, die sich spezifisch auf    Karl Konrad Stützel wurde 1872 in der
                                bestand die dringende Notwendigkeit,     die Bedürfnisse dieser Beamten kon-      bayerischen Pfalz, in Speyer, in eine alt-

                                                                                                                                                                                                                Stützel (1872 – 1944).
                                bezahlbaren Wohnraum zu finden. Vor      zentrieren sollte, gewann schnell auf    eingesessene, katholische Handwer-

                                                                                                                                                                                                                Dr. Karl Konrad
                                allem Kleinwohnungen fehlten, sodass     allen Verwaltungsebenen an Unter-        kerfamilie geboren. Er bewies bereits
                                in der Stadt 12.000 Einquartierungen     stützung. Da jedoch die finanziellen     in früher Jugend ausgeprägten Ehrgeiz
                                der Wohnungssuchenden behördlich         Mittel für derartige Projekte nach dem   und Zielstrebigkeit. Nach einem Abitur
                                durchgesetzt werden mussten.19           Ersten Weltkrieg und der anschließen-    mit Bestnoten begann er 1891 ein Jura-
                                                                         den Wirtschaftskrise nicht ohne Wei-     studium, das ihn an die Universitäten
                                                                         teres zu beschaffen waren, traten die    von München, Berlin, Erlangen und
                                Die Wohnbaugenossenschaft für            Betroffenen an staatliche und kom-       Heidelberg führte. 1895 schloss Stützel
                                Beamte                                   munale Stellen heran. Für die Münch-     sein Studium mit dem ersten Staats-          tiz- und Verwaltungsdienst befähigt.
                                                                         ner Beamten wurde schon bald das         examen ab. Dabei engagierte er sich          1901 trat Stützel das Amt des Bezirks-
                                Zunehmend waren auch Beamte von          Bayerische Staatsministerium für So-     besonders bei der Katholischen Deut-         amtsassessors im oberfränkischen
                                der Wohnungsnot betroffen. Neue          ziale Fürsorge mit seinem Referat für    schen Studentenverbindung (KDStV).           Ebermannstadt an, wodurch er auf
                                staatliche und kommunale Aufgaben-       Wohnungswesen zur zentralen Anlauf-      Stützel bekannte sich damit offen zu         Lebenszeit verbeamtet wurde.23 Bis
                                bereiche, wie zum Beispiel die Kriegs-   stelle. Mit Regierungsrat Karl Stützel   dem katholisch-konservativen Milieu,         zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs
                                fürsorge, erforderten die Ausbildung     wurde dieses Ressort von einem Mann      aus dem er stammte und das ihn zeit          sammelte er Erfahrungen und Ver-
                                und Einstellung neuer sowie die Ver-     geführt, der für die Gründung und die    seines Lebens sowohl gegenüber völ-          dienste in verschiedenen Ämtern. Da-
                                setzung erfahrener Beamter. Während      Anfangsjahre des Beamtenwohnungs-        kisch-nationalen wie auch marxisti-          bei blieb ihm auch die Sozialpolitik ein
                                eine Versetzung oft zu einer langwie-    vereins München wichtig werden soll-     schen oder sozialistischen Ideen eine        wichtiges Anliegen. So schloss Stützel
                                rigen Trennung von der Familie führ-     te.                                      distanzierte bis konträre Haltung ein-       1911 eine Zusatzausbildung in den Be-
                                te, mussten viele der neu eingestell-                                             nehmen ließ.21 Darüber hinaus prägte         reichen Armenpflege, soziale Fürsorge
                                                                                                                  ihn seine katholische Herkunft auch im       und Wohltätigkeit erfolgreich ab.24
                                                                                                                  Hinblick auf sein späteres Wirken als
                                                                                                                  Beamter und Staatsmann. Hier vertrat
                                                                                                                  er die Überzeugung, „dass eine Preisga-      Der „unpolitische“ Beamte
                                                                                                                  be der Sozialpolitik gleichbedeutend
                                                                                                                  […] mit der Preisgabe des christlichen       Karl Stützel verstand sich – trotz seiner
                                                                                                                  Staatsgedankens [sei]“.22 Stützel posi-      christlich-sozialen Haltung – als dezi-
                                                                                                                  tionierte sich stets als Verfechter einer    diert „unpolitischer“ Verwaltungsbe-
                                                                                                                  christlichen Sozialpolitik.                  amter. Schon während seiner Zeit als
                                                                                                                       Ausgesprochenen Ehrgeiz entwi-          Bezirksamtsassessor im pfälzischen
                                                                                                                  ckelte Stützel bei der Planung seiner        Neustadt an der Haardt stellte er bei
im Hof des Münchner Polizei-
Beamte bei Aufräumarbeiten

                                                                                                                  zukünftigen Beamtenlaufbahn. Zwi-            der Bewerbung um eines der Bürger-
präsidiums nach dem Ende

                                                                                                                  schen 1895 und 1899 absolvierte er           meisterämter in seiner Geburtsstadt
der Revolution, Mai 1919.

                                                                                                                  seinen Wehrdienst und anschließend           Speyer heraus, dass er sich „aus Rück-
                                                                                                                  parallel zu seiner Verwaltungstätigkeit      sicht auf [seine] Stellung als Verwal-
                                                                                                                  eine Ausbildung zum Reserveoffizier.         tungsbeamter […] niemals politisch
                                                                                                                  1899 legte er als einer der besten seines    betätigt und auch keinem politischen
                                                                                                                  Jahrgangs die zweite Staatsprüfung           Verein angehört [habe]“ und er es
                                                                                                                  ab. Damit war er für den höheren Jus-        auch weiterhin „als selbstverständli-

                           18                                                                                                                                                                              19
che Pflicht erachte […] [,] sich jeglicher   Der unentbehrliche Experte                obwohl er Ende des Jahres 1918 in die      dach bot. Bis Juli 1924 entstanden hier
     politischer Betätigung zu enthalten“.25                                                Bayerische Volkspartei (BVP) eintrat,      558 Häuser für 2.860 Menschen.31 Auch
     Dass seine Leistungen seinen Vorge-          Am 7. November 1918, vier Tage vor        weiterhin als (im Sinne einer Parteipo-    die Bereitschaft, andere vergleichbare
     setzten auffielen und so bis in höhere       dem endgültigen Waffenstillstand          litik) „unpolitischer“ Beamter verstand,   Projekte zu fördern, war unter Stützels
     Dienststellen bekannt wurden, belegt         und dem Ende der Kämpfe, stürzte der      arbeitete unter der neuen Regierung        Federführung groß, obwohl eine rapide
     der Bericht anlässlich einer Inspek-         Sozialdemokrat Kurt Eisner mit einer      mit gleicher Kompetenz und Pflicht-        steigende Inflationsrate die Investitio-
     tion im Bezirk Neustadt. So gab der          kleinen Gruppe sozialdemokratischer       erfüllung wie bisher. Trotz seiner per-    nen erschwerte.
     Amtsvorstand zu Protokoll, dass Stüt-        und linker Politiker den bayerischen      sönlichen Prägung arbeitete Stützel
     zel „der beste Assessor [sei], den er je     König Ludwig III. vom Thron. Darauf-      auf fachlicher Ebene problemlos mit
     gehabt [habe]. [...] Stützel zeig[e] sich    hin führte Eisner als Ministerpräsident   seinem neuen Vorgesetzten Hans Un-         Stützel und der BWV
     entschieden befähigt, den schon höher        eine provisorische Regierung an. Die      terleitner, Mitglied der USPD und Ra-
     gehenden Anforderungen […] vollkom-          bisher bestehenden Ministerien beka-      dikalsozialist, zusammen. Dabei war        Die politischen Wirren der Jahre
     men gerecht zu werden, und zwar nach         men neue Strukturen und es entstand       ihm die Bekämpfung der Wohnungsnot         1918/19 begannen mit der Absetzung
     der fachwissenschaftlichen wie nach          bereits Mitte November das Ministeri-     nicht nur ein berufliches, sondern auch    des bayerischen Königs im Novem-
     der praktischen, rein geschäftlichen         um für Soziale Fürsorge, Stützels neue    ein persönliches Anliegen.                 ber 1918. Die Ermordung Kurt Eisners
     Seite. […] Auch als Redner in der Öffent-    Wirkungsstätte. Im zweiten Gesetz-                                                   im Februar 1919 führte daraufhin zur
     lichkeit versteh[e] es Stützel […] aufzu-    und Verordnungsblatt des Volksstaa-                                                  kurzlebigen, bald niedergeschlagenen
     treten.“26                                   tes Bayern wurde „die oberste Leitung     Im Kampf gegen die Wohnungsnot             Räterepublik Bayern, was schließlich
          Nach Beginn des Ersten Welt-            der sozialen Angelegenheiten und die                                                 in das zweite Kabinett von Minister-
     kriegs wechselte der Reserveoffizier         oberste Aufsicht auf die der sozialen     Unmittelbar nachdem die Behörde ihre       präsident Johannes Hoffmann mün-
     Stützel in den aktiven Dienst. Im No-        Fürsorge dienenden Einrichtungen“         Tätigkeit aufgenommen hatte, trat am       dete. All das überstand Stützel ohne
     vember 1914 kam er als Kompanie-             als Kompetenz der neuen Behörde           28. November 1918 ein von Stützel er-      größere Schwierigkeiten. Er verblieb
     führer im Rang eines Hauptmanns              proklamiert.30 Neben der „Behandlung      arbeiteter Entwurf als „Verordnung be-     weiterhin im Ministerium für Sozia-
     an die Westfront. Bis zum September          der rechtlichen und wirtschaftlichen      treffend der Maßnahmen gegen Woh-          le Fürsorge und wurde bis 1920 vom
     1916 blieb er, ausgezeichnet mit dem         Angelegenheiten der Arbeiter und          nungsmangel und Obdachlosigkeit“ in        Regierungsrat zum Oberregierungs-
     Eisernen Kreuz II. Klasse, im aktiven        Angestellten“, der „Leitung der Ge-       Kraft. Die Verordnung sollte vor allem     rat und schließlich zum Ministerialrat
     Dienst. Dann gelang es dem Innen-            werbeaufsicht“, der „Überwachung          Arbeiterinnen und Arbeitern sowie          befördert. Auch weiterhin blieb die
     ministerium, ihn wieder in den Zivil-        des Arbeitsmarktes“ und der „Durch-       Kriegsheimkehrern zugutekommen,            Beseitigung der Wohnungsnot eines
     dienst zu überführen – Brigade- und          führung der Sozialversicherungen“         wohingegen Arbeitgeber und Gemein-         seiner zentralen Anliegen. Er trug in
     Divisionskommando protestierten, sie         galt als weitere zentrale Aufgabe „die    den stärker zur Kasse gebeten wurden.      München selbst im entscheidenden
     wollten auf Stützel nicht verzichten.27      Regelung des Wohnungswesens“. Um          Auch ordnungspolitische Maßnahmen          Maße zur Gründung des Beamtenwoh-
     Schließlich versetzte ihn der Staatsmi-      dies aber möglichst rasch und wirksam     wie die zwangsweise Unterbringung          nungsvereins (BWV) bei. Die Anregung
     nister von Brettreich zum Mai 1918 als       durchführen zu können, wurde es als       von Wohnungslosen in ungenutzten           für die Gründung ging vom Staatsmi-
     Regierungsrat ins Innenministerium,          absolut notwendig angesehen, „dem         Wohnungen, in saisonal freien Frem-        nisterium für Soziale Fürsorge aus. Un-
     wo er das Referat für Wohnungswesen          Ministerium für Soziale Fürsorge […]      denzimmern oder in Fabrik-, Lager-,        ter der Führung Stützels traten am 19.
     leiten sollte.28 Wie wichtig er auf die-     die erforderliche Anzahl von Beamten“     Geschäfts- und Werkstatträumen wur-        Februar 1921 Vertreter der Beamten-
     sem Posten war, wird aus den Reaktio-        zuzuteilen.                               den angeordnet. Neben diesen kurz-         organisationen zusammen und grün-
     nen des Ministeriums darauf deutlich,             Das bedeutete, dass der neue Freie   fristigen Lösungsversuchen gab es          deten den Beamtenwohnungsverein
     dass Stützel als erfahrener Offizier im      Volksstaat Bayern im Wesentlichen auf     auch längerfristige Wohnbauprojekte.       München als Genossenschaft. Aus den
     Rahmen der Offensiven im August 1918         die Staatsverwaltung des Königreichs      Als solches kann beispielsweise das        Sitzungsprotokollen geht hervor, dass
     noch einmal für den Kriegseinsatz vor-       zurückgreifen musste. So wurde das        im Mai 1919 gegründete Siedlungs-          Stützel vor allem als Vermittler zwi-
     gesehen war. Unter Verweis auf die           Referat für Wohnungswesen unter           werk Nürnberg gelten, dessen Verwal-       schen dem Beamtenwohnungsverein
     „gegenwärtig herrschende Wohnungs-           Stützel dem Innenministerium aus-         tungsratsvorsitz Stützel übernahm          und dem Ministerium für Soziale Für-
     not“ erklärte das Innenministerium           und dem neuen Ministerium für Sozia-      und das durch die Urbarmachung und         sorge in Erscheinung trat, bzw. Bitten
     ihn sofort für „unentbehrlich“ – Stützel     le Fürsorge eingegliedert, in Arbeits-    Bebauung der nahe der Stadt gelege-        und Forderungen der Genossenschaft
     wurde dementsprechend nicht mehr             weise und Personal blieb es allerdings    nen Reichswälder Arbeits- und Woh-         an das Ministerium herantrug. Von der
     reaktiviert.29                               unverändert. Stützel selbst, der sich,    nungslosen Beschäftigung und Ob-           Gründung bis ins Jahr 1924 fungierte

20                                                                                                                                                                                21
er darüber hinaus als Vorsitzender des      Innenminister des Freistaats Bayern      der, der dem Volke dienen will, auch       Demütigung und Tod
                             Aufsichtsrates. Die 10-Jahres-Chronik                                                dem Staate dienen und den Staat und
                             des BWV spricht von ihm als „eigent-        1924 wurde Stützel zum bayerischen       die Staatsgewalt respektieren muss.“34     Als die Nationalsozialisten 1933 an die
                             lichem Vater des Vereins“, dem es zu        Innenminister unter der Regierung        Insbesondere das Einvernehmen und          Macht kamen, dauerte es nur wenige
                             verdanken gewesen sei, dass der BWV         Heinrich Held berufen. Die Position      gegenseitige Vertrauen zwischen der        Wochen, bis die neue Reichsregierung
                             trotz der schwierigen Phase der Infla-      behielt er bis 1933. Es zeichnete sich   staatlichen Beamtenschaft und der          die bayerische Staatsregierung abge-
                             tion zum Zeitpunkt seiner Gründung          bereits früh ab, dass er trotz seines    Polizei war ihm wichtig. Die Polizeige-    setzt hatte. Nach dem Wahlsieg der
                             eine „gesunde und widerstandsfähige         bemerkenswerten Arbeitspotenzials        walt war dabei für ihn nicht als Selbst-   NSDAP in Berlin wuchs auch in Bayern
                             Natur“ entwickelt habe.32                   die Aufgaben als Vorsitzender des Auf-   zweck gedacht. Als erster und wichtigs-    der Druck auf die Staatsregierung, mit
                                  Besonderes Engagement bewies           sichtsrates des BWV nicht mehr weiter    ter Repräsentant des Staates sollte der    den neuen Machthabern zusammenzu-
                             Stützel auch im Rahmen seiner Tätig-        wahrnehmen konnte. Daher bat er im       Polizist genauestens die Vorschriften      arbeiten. Am Mittag des 9. März 1933
                             keit als Staatskommissar im Zuge der        September 1924 um eine Entbindung        einhalten und vor jedem Eingriff eine      wollte die NSDAP die bayerische Regie-
                             Explosion des Oppauer Stickstoff-           vom Amt des Aufsichtsratsvorsitzen-      kluge und umsichtige Einschätzung          rung zum Rücktritt bewegen, das baye-
                             werks der BASF im September 1921. Die       den. Mit dem Ausdruck des Bedauerns      des jeweiligen Falles treffen. In diesem   rische Kabinett lehnte aber ab. Stützel
                             Explosion gehörte zu den schlimmsten        und unter Danksagungen für die bis-      Geiste reformierte Stützel in seiner       versuchte, die „Gleichschaltung“ Bay-
                             Chemieunfällen des 20. Jahrhunderts.        herige „großartige umsichtige Leitung    Amtszeit das bayerische Polizeiwesen.      erns mit einem Polizeiaufgebot zu ver-
                             Selbst im noch 25 Kilometer entfern-        des Vereins“ verabschiedete sich der                                                hindern. Am Abend des gleichen Tages
                             ten Heidelberg richtete sie Schäden an.     Aufsichtsrat des BWV von Stützel und                                                wurde schließlich Franz Ritter von Epp
                             Oppau befindet sich in der Pfalz, die da-   schlug vor, ihn zum Ehrenmitglied zu     Im Kampf gegen den Extremismus             auf Basis der Notstandsgesetze zum
                             mals noch zu Bayern gehörte. Somit fiel     erheben.33 Der neu ernannte Innenmi-                                                Reichskommissar für Bayern ernannt.
                             die Explosion in den Zuständigkeits-        nister nahm weiterhin Anteil an den      Besonders hervorzuheben in Stüt-           Die Regierung war damit entmachtet.
                             bereich der Münchner Ministerien.           Belangen der Genossenschaft und          zels Zeit als Innenminister ist auch       Auch Stützel bekam das zu spüren.
                             Stützel leistete nicht nur rasche und       stand mit Rat und Förderung zur Ver-     sein Engagement gegen politisch ex-        Eine Gruppe von SA- und SS-Leuten
                             wirksame Soforthilfe, sondern förder-       fügung.                                  tremistische Strömungen, besonders         brachte ihn noch in derselben Nacht
                             te eine mittel- und langfristige Organi-         Stützels Amtsverständnis war ge-    gegen KPD und NSDAP. 1925 verhäng-         ins „Braune Haus“. Dort demütigten
                             sationsstruktur in Form des Hilfswerks      prägt von der Idee, dass „der Verwal-    te Stützel ein Redeverbot gegen Adolf      und misshandelten sie Stützel schwer.
                             Oppau, dessen allein verantwortlicher       tungsbeamte mithelfen [müsse], das       Hitler und bemühte sich um dessen          Bald nach seiner Freilassung floh er
                             Leiter er war. Diese Tätigkeit hatte er     Volk zum Staatsgedanken zu erziehen.     Ausweisung. Auch stoppte er 1929 den       zunächst nach Österreich und dann
                             parallel zu seiner Stellung im Wohn-        Das wird er am besten tun, wenn er       Versuch der Einbürgerung Hitlers in        nach Italien. Später kehrte er mora-
                             baureferat inne.                            das Gefühl wecken und pflegen hilft,     Bayern. 1930/31 erließ Stützel ein Uni-    lisch gebrochen nach München zurück,
                                                                         dass der Staat nichts anderes als das    formverbot, welches sich vor allem an      wo er schließlich nach zermürbenden
                                                                         geeinigte Volk selbst ist und dass je-   extremistische Verbände richtete. Mit      gerichtlichen Auseinandersetzungen
                                                                                                                  dem Uniformverbot sowie dem Ver-           mit den neuen Machthabern eine Pen-
                                                                                                                  bot der SA und der SS schöpfte Stüt-       sion als ehemaliger Staatsbeamter be-
                                                                                                                  zel alle polizeilichen und rechtlichen     zog. Er starb 1944 an den Folgen einer
                                                                                                                  Möglichkeiten aus, konnte aber den         Darmoperation, seiner Beerdigung
                                                                                                                  Aufstieg der NSDAP nicht verhindern.       durften nur die engsten Familienange-
                                                                                                                  Außerdem dachten nicht alle Mitglie-       hörigen beiwohnen. Heute erinnert ein
                                                                                                                  der des Regierungskabinetts so wie er.     zentraler Platz am Alten Botanischen
                                                                                                                  Während Stützel sich bei seinem Amts-      Garten an Stützel, dessen Leben und
                                                                                                                  antritt selbst zu einem Kämpfer gegen      politisches Handeln von zwei Prämis-
Explosion des Oppauer

                                                                                                                  die nationalsozialistische Ideologie er-   sen geprägt war: der Durchsetzung der
Stickstoffwerks 1921.

                                                                                                                  klärte, sympathisierte der bayerische      staatlichen Autorität und dem christli-
                                                                                                                  Justizminister Franz Gürtner (von 1932     chen Sozialgedanken.
Die Folgen der

                                                                                                                  bis 1941 Reichsjustizminister) mit den
                                                                                                                  Zielen der Nationalsozialisten.

                        22                                                                                                                                                                             23
Die Gründungsphase des                                                                  bzw. -geschädigte bevorzugt werden.43      und erschwinglichen Mietsatz sorgen
     Beamtenwohnungsvereins München                                                          Um Zuschüsse und Spenden möglich           zu können, lag die Dividende entspre-
                                                                                             zu machen, ließ die Satzung auch ge-       chend der gesetzlichen Vorgaben bei
                                                                                             meinnützige Gesellschaften, Vereine,       maximal vier Prozent. Gleichzeitig haf-
     Zu Beginn des Jahres 1921 war Karl Stüt-    17.255 Wohnungsgesuche als dringlich        Stiftungen und Körperschaften des öf-      tete jede Genossin und jeder Genosse
     zel der führende Mann im Ministerium        oder sogar vordringlich klassifiziert,      fentlichen Rechts als Mitglieder zu.       mit einem Anteil von bis zu 500 M für
     für Soziale Fürsorge und ausgewiese-        darunter 4.362 Wohnungsgesuche von                                                     ausstehende Verbindlichkeiten des
     ner Experte in den Belangen des sozia-      Reichs-, Staats-, Kommunal- oder sons-                                                 BWV, nicht jedoch über diese Summe hi-
     len Wohnungsbaus. Stolz verkündete          tigen öffentlichen Beamten.40               Die Leistungen der Mitglieder              naus.46 Die Genossenschaft warb inten-
     das Ministerium, dass bereits zwei Jah-                                                                                            siv unter den in Betracht kommenden
     re nach der wesentlich von Stützel ge-                                                  Mitglieder mussten ein Beitrittsgeld       Beamten in München für das Projekt,
     prägten „Verordnung betreffend Maß-         Die Konstitution des                        von 20 M entrichten und mindestens         um möglichst schnell genügend
     nahmen gegen Wohnungsmangel und             Beamtenwohnungsvereins                      einen Geschäftsanteil zu 500 M zeich-      Kapital für die ersten Bauvorhaben
     Obdachlosigkeit“ 16.000 neue Wohnun-                                                    nen.44 Aufgrund der Höhe des Anteils       zu beschaffen. Die Neubauten waren
     gen geschaffen werden konnten bzw.          Am 19. Februar 1921 trafen sich Vertre-     war auch die Möglichkeit vorgesehen,       nicht als geschlossene „Beamtenstadt“
     sich im Bau befanden.35 Der Minister        ter der Münchner Beamtenverbände            diesen in Raten zu mindestens 20 M         an einer zentralen Stelle gedacht, son-
     für Soziale Fürsorge Heinrich Oswald        im Sitzungsaal des Ministeriums für         pro Monat einzuzahlen.45 Als Obergren-     dern die einzelnen Wohnhäuser und
     führte aus, dass der Boom an Neu-           Soziale Fürsorge in der Brienner Stra-      ze wurden 50 Anteile je Mitglied festge-   Wohnhausgruppen sollten sich viel-
     gründungen gemeinnütziger Bauge-            ße 20. Die Gründungsversammlung             legt. Diese Geschäftsanteile bildeten      mehr so in der Stadt verteilen, dass sie
     nossenschaften für diese Entwicklung        des Beamtenwohnungsvereins Mün-             das Eigenkapital der Genossenschaft.       den unterschiedlichen Bedürfnissen
     von großer Bedeutung sei, während           chen verstand sich – ganz in genossen-           Im Sinne der auf Gemeinnützig-        der Mitglieder, speziell der Nähe zu
     die private Bautätigkeit beinahe ganz       schaftlicher Tradition – in erster Linie    keit ausgelegten Ausrichtung und um        den jeweiligen Arbeitsplätzen, genü-
     zum Erliegen gekommen sei.36 Andere         als Selbsthilfeorganisation.41 In Anbe-     präventiv dauerhaft für einen festen       gen würden.47
     Experten sahen das kritischer: Viele        tracht der auf Solidarität innerhalb der

                                                                                                                                                                                        Sitzung am 14. März 1921.
     der geradezu inflationär entstehenden       Beamtenschaft ausgelegten Zwecke
     Neugründungen galten wirtschaftlich         wählte die Versammlung dann auch

                                                                                                                                                                                        Protokoll der ersten
     und organisatorisch als kaum überle-        die Rechtsform der Genossenschaft.
     bensfähig. Dennoch blieb das Ziel, den      Ziel sollte es sein, „den Mitgliedern ge-
     „gemeinnützige[n] Wohnungsbau […]           sunde und zweckmäßig eingerichtete
     auf jede nur mögliche Weise“ zu för-        Wohnungen in eigens erbauten oder
     dern, wobei man vor allem der Beschaf-      erworbenen Häusern zu verschaffen.“42
     fung von Geldmitteln und Baustoffen         Dabei sollten die Wohnungen sowohl
     hohe Priorität einräumte.37                 an einzelne Mitglieder vermietet als
          Eine Sonderrolle nahm die Woh-         auch diesen als Eigentum überlassen
     nungsfürsorge für Beamte ein, hier          werden können. Unter der Vorausset-
     engagierte sich die öffentliche Hand        zung, dass die Mieterinnen und Mieter
     noch stärker. Bereits am 2. Juli 1920 be-   die in der Satzung und im Mietvertrag
     willigte der Bayerische Landtag 12 Mil-     festgelegten Bedingungen erfüllten,
     lionen Mark38 an Zuschüssen für die         sollten die Wohnungen vonseiten
     Beamtenwohnungsfürsorge,          wovon     der Genossenschaft unkündbar sein.
     allein 3 Millionen M als verzinsliche       Mitglied konnten alle Beamten auf
     Baukostendarlehen für gemeinnützi-          Reichs-, Landes- und Gemeindeebene
     ge Beamten- und Arbeiterbauvereine          werden, die ihren Dienst- oder Wohn-
     dienen sollten.39 Der Neubau von Woh-       sitz in München hatten. Dies galt auch
     nungen war nach wie vor dringend            für Beamte im Ruhestand. Dabei soll-
     notwendig: Allein in München wurden         ten besonders Beamtenfamilien mit
     zum 31. Dezember 1920 insgesamt             vielen Kindern und Kriegsheimkehrer

24                                                                                                                                                                                 25
Der erste Aufsichtsrat und Vorstand       übernahmen. Die Wahl für den ersten        Anteilen und dem Zuschuss besaß die       Die Wohnungsbedürfnisse der
                                                                     Vorstand fiel auf Oberregierungsrat        Genossenschaft zu diesem Zeitpunkt        Mitglieder
                           Der erstmals gewählte Aufsichtsrat be-    Otto Edelmann, den Geheimen Minis-         ein Kapital von 150.520 M.52
                           stand laut Satzung aus 12 Mitgliedern.    terialsekretär Luitpold Saur und Ober-          Die Mitgliederzahlen wuchsen in      Eine damalige Befragung der Mitglie-
                           Den ersten Vorsitz übernahm Ministe-      sekretär Jakob Egger. Edelmann hielt       den ersten Monaten nicht nur durch        der ergab, dass 76 Prozent eine Miet-
                           rialrat Stützel, der diese Position bis   seine Position durchgehend bis 1956        einzelne Beamte, die der Genossen-        wohnung und 17 Prozent ein eigenes
                           1924 innehatte. Der Aufsichtsrat war      und prägte so die Ausrichtung der Ge-      schaft beitraten. Auch bereits be-        Haus bevorzugten, wobei vor allem die
                           ein Abbild der Zusammensetzung der        nossenschaft.49                            stehende Genossenschaften, die sich       Lage zum Zentrum (circa zwei bis zwei-
                           Genossenschaft. Er bestand aus Ver-                                                  für die Beschäftigten verschiedener       einhalb Kilometer vom Marienplatz)
                           tretern der Regierung von Oberbayern,                                                Behörden gebildet hatten, traten der      ein wichtiges Kriterium für den Kauf
                           der verschiedenen bayerischen Minis-      Die ersten Beitritte                       Organisation geschlossen bei, so wie      von Bauplätzen sein sollte.56 In Bezug
                           terien (insbesondere des Ministeriums                                                zum Beispiel die Baugenossenschaft        auf die Größe der Wohnungen sprach
                           für Soziale Fürsorge), verschiedener      Im Anschluss an die Gründungsver-          des Landesfinanzamts München.53 Dies      sich der Hauptteil der Mitglieder für
                           Reichsministerien und -institutionen      sammlung bestand die Tätigkeit des         führte einerseits zur Steigerung des      Zwei- (30 Prozent) und Dreizimmerwoh-
                           wie der Post oder der Eisenbahn bis hin   Vorstands in erster Linie in der aktiven   Kapitals, andererseits kamen damit        nungen (50 Prozent) aus.57 Dementspre-
                           zu Beamten des Schuldiensts. Für den      Anwerbung von Mitgliedern.50 Neben         auch Bauplätze, die von diesen Genos-     chend gestalteten Aufsichtsrat und
                           Vollzug der Geschäfte richteten der       Veröffentlichungen in Tages- und Wo-       senschaften bereits erworben worden       Vorstand das Bauprogramm für 1921.
                           Aufsichtsrat und der Vorstand drei Aus-   chenzeitungen wie der Bayerischen          waren, in den Besitz des Beamtenwoh-      Als erstes Bauprojekt begann der BWV
                           schüsse ein. Dies geschah in ihrer ers-   Staatszeitung wurden Werbeschrei-          nungsvereins.54 Der baldige Beginn ers-   mit 39 Wohnungen in der Schwabin-
                           ten gemeinsamen Sitzung am 14. März       ben in Behörden und Institutionen          ter Bauprojekte wurde dadurch sehr        ger Herzogstraße 16 und 18, von denen
                           1921 und in der dritten Sitzung vom       ausgelegt. Bereits zum 14. März 1921       erleichtert. Dazu trugen auch Spen-       19 auf zwei Zimmer und zehn auf drei
                           2. Juli 1921. Die Ausschüsse kümmerten    waren der Genossenschaft 201 Mit-          den von Baustoffen bei, zum Beispiel      Zimmer ausgelegt waren.58 Der Voran-
                           sich speziell um die Finanzen, den Bau    glieder beigetreten, die Anteile zu ins-   von 1.000 Kubikmetern Holz durch die      schlag für diese 3.030 Quadratmeter
                           und die Verwaltung und waren jeweils      gesamt 143.500 M gezeichnet hatten.        staatliche Forstabteilung.55 Bauplätze    Wohnraum belief sich auf 2.770.000 M,
                           mit drei Vertretern des Aufsichtsrats     Unter ihnen war auch der Minister für      und Rohstoffe waren in der beginnen-      der Bau begann im Juli.59 Im Oktober
                           besetzt.48 Den Vorstand bildeten drei     Soziale Fürsorge Oswald, der neben ei-     den Inflation schon deutlich teurer ge-   1921 startete das zweite Projekt: zwei
                           gewählte Mitglieder der Genossen-         nem Zuschuss von 3.000 M noch weite-       worden.                                   Häuser in der Kreittmayrstraße 33 und
                           schaft, die die Leitung nach innen und    re 50 Geschäftsanteile aufnahm.51 Mit                                                35, mit jeweils acht Wohnungen auf
                           die gesetzliche Vertretung nach außen     den Beitrittsgeldern, den gezeichneten                                               insgesamt 1.312,3 Quadratmetern.60

                                                                                                                                                                                                    Lothstraße 30/32
Lothstraße 30/32 in den

                                                                                                                                                                                                    Der Garten der

                                                                                                                                                                                                    im Jahr 2020.
Der Hinterhof der

1920er-Jahren.

                      26                                                                                                                                                                           27
Solidarität als Prinzip

                                                                                                                                                                                                                              Wohnungsvergabe in
                                                                                                                                                                                                                              Punktesystem für die

                                                                                                                                                                                                                              den 1930er-Jahren.69
                                                                                                                                                                       Familien mit 3 im Familienverbund
                                                                                                                                                                  a.                                           3 Punkte
                                                                                                                       Um eine gerechte und auf Solidari-              lebenden Kindern
                                                                                                                       tät beruhende Wohnungsverteilung
                                                                                                                       unter den Mitgliedern zu gewährleis-       b.   Kriegsgeschädigte, Flüchtlinge          2 Punkte
                                                                                                                       ten, führten der Vorstand und der Auf-
                                                                                                                       sichtsrat ein Punktesystem ein. Ziel            Familien mit getrennten Haushalten
                                                                                                                                                                  c.                                           2 Punkte
                                                                                                                       war es, nicht die Genossinnen und Ge-           und Kindern
                                                                                                                       nossen zu bevorzugen, die viele Anteile
                                                                                                                                                                       Verheiratete, welche sich mit Kin-
                                                                                                                       gezeichnet hatten. Vielmehr sollte die     d.                                           2 Punkte
                                                                                                                                                                       dern in einer Notwohnung befinden
                                                                                                                       Dringlichkeit der Wohnungsnot jedes
                                                                                                                       einzelnen Mitglieds berücksichtigt              Verheiratete, welche sich ohne Kin-
                                                                                                                                                                  e.                                           1 Punkt
                                                                                                                       werden. So wurden die Wohnungen                 der in einer Notwohnung befinden
in der Kreittmayrstraße 33 und
1. Obergeschoss des Gebäudes

                                  Hierfür beliefen sich die Kosten auf       Förderungen, Zuschüsse und                vor ihrer Bezugsfertigkeit frühzeitig           Bewerbungen, denen besonders
                                  2.700.000 M.                               Darlehen                                  in einem Rundbrief an die Mitglieder            dringende Verhältnisse zugrunde
                                       Die ersten Projekte verzögerten                                                 ausgeschrieben und hinsichtlich ihrer      f.   liegen, die nicht unter die Regelun-    2 Punkte
                                  sich aufgrund eines Streiks der Bau-       Der finanzielle Vorschub und die Sach-    Lage, Raumzahl und -größe, Ausstat-             gen a – d fallen, können bewertet
                                  arbeiter und durch das baupolizeili-       spenden in Form von Grundstücken          tung und Miete beschrieben. Anschlie-           werden mit bis zu
                                  che Verfahren. Insbesondere bei der        und Baustoffen reichten nicht lange       ßend konnte sich bewerben, wer Inte-            Bei gleicher Punktzahl wird der Zeit-
35 (Grundriss).

                                  Kreittmayrstraße gab es längere Aus-       aus. Bald musste der BWV neue Geld-       resse hatte. Der Vorstand prüfte dann      g.   punkt des Eintritts und die Höhe der    1 Punkt
                                                                                                                                                                       gezeichneten Anteile mitbewertet.
                                  einandersetzungen mit dem Stadtrat.        quellen erschließen, um weiter bauen      die Bewerbungen auf ihre Dringlich-
                                  Das führte dazu, dass die Genossen-        zu können. Neben den Förderungen          keit, wobei er sie nach verschiedenen
                                                                                                                                                                  h.   Im Übrigen entscheidet das Los.
                                  schaft die für das Baujahr 1921 be-        durch Reich, Land und Kommune in          Kriterien punktemäßig gestaffelt ein-
                                  reitgestellten Mittel bereits vorzeitig    Form von Zuschüssen und der Zeich-        stufte.
                                  verbrauchen und die Gelder für das         nung von Geschäftsanteilen machten             Der Vorstand leitete seine sich
                                  nächste Jahr früher als geplant an-        die Arbeitgeberzuschüsse der Behör-       daraus ergebenden Vorschläge für           notwendig sei, da nach Stand zum Ende
                                  brechen musste.61 Erst im Laufe des        den an ihre Beamten einen wichtigen       die Wohnungszuweisungen an den             des Jahres höchstens für 50 Genossin-
                                  Jahres 1922 konnten die Herzogstraße       Teil der Finanzierung aus. Dennoch riet   Verwaltungsausschuss. Dessen Ent-          nen und Genossen pro Jahr überhaupt
                                  16 und 18 sowie die Kreittmayrstraße       der Aufsichtsratsvorsitzende Stützel      scheidungen waren dann endgültig.          die Chance auf eine Wohnungszuwei-
                                  33 und 35 fertiggestellt und bezogen       zur Aufnahme von Darlehen zu mög-         Bis zum zehnjährigen Bestehen 1931         sung gegeben sei und theoretisch auch
                                  werden.                                    lichst günstigen Konditionen.62 Gleich-   musste das Kriterium der Anteilshöhe       eine Wartezeit von bis zu zehn Jahren
                                       Für beide Wohnanlagen hatte die       zeitig müsse darauf geachtet werden,      bei keiner Entscheidung herangezogen       möglich sei.66 Trotz einiger Teilerfolge
                                  Genossenschaft den Münchner Archi-         die Voranschläge für die Bauten nicht     werden – ein deutlicher Hinweis auf        schilderte der Vorstand die Situation
                                  tekten Franz Deininger (1878 – 1926)       zu überschreiten, damit von Anfang an     die soziale Ausrichtung der Genossen-      im ersten Geschäftsbericht als „trost-
                                  verpflichtet. Deininger war bereits vor    ein trotz der Inflation einigermaßen      schaft und die Wirksamkeit des Punk-       los“.67 Insbesondere die „lawinenarti-
                                  dem Krieg ausführender Architekt bei       stabiler Mietpreis festgesetzt werden     tesystems.64                               ge“ Verteuerung für den Kubikmeter
                                  einigen Wohnhäusern in der Stadt ge-       könne. Auch merkten mehrere Mit-                                                     umbauten Wohnraum von 180 M im
                                  wesen. Dazu gehörten unter anderem         glieder des Aufsichtsrats an, dass, bei                                              Januar bis hin zu 447 M im Oktober und
                                  Mehrfamilienhäuser in der Leopold-,        12.000 Beamten in München, die bis-       Die Bilanz des ersten Jahres               der weiter erwartbare rapide Kosten-
                                  Prinzregenten- und Widenmayerstra-         herige Zahl an Beitritten noch ausbau-                                               anstieg infolge der Inflation machten
                                  ße. Nach dem Ersten Weltkrieg baute        fähig sei und die Genossenschaft ent-     Bis zum Ende des Jahres 1921 waren         deutlich, dass der Beamtenwohnungs-
                                  er hauptsächlich für den Beamtenwoh-       sprechend wesentlich aktiver Werbung      der Genossenschaft 652 Mitglieder bei-     verein bereits in seinen Anfangsjahren
                                  nungsverein. 1922 errichtete er für Erz-   für ihre Zwecke betreiben müsse. Erst     getreten. Die Zahl der gezeichneten        äußerst schwer auf die Probe gestellt
                                  herzogin Franziska von Österreich (die     dadurch könne die Genossenschaft für      Anteile belief sich auf insgesamt 872.65   wurde.68
                                  Schwägerin des letzten Kaisers von Ös-     größere zukünftige Investitionen eine     Kurzfristig diskutierten Aufsichtsrat
                                  terreich, Karl I.) das Wernbergschlöss-    Basis erhalten.63                         und Vorstand darüber, ob nicht eine
                                  chen in Starnberg.                                                                   Mitgliedersperre für Neubewerbende

                             28                                                                                                                                                                                          29
Die erste Wohnanlage,

                                                                                                Die Herzogstraße 16 und
                                                                                                18, das erste Bauprojekt
     Herzogstraße 16 und 18

                                                                                                des BWV, 1921.
     Das erste Haus des Beamtenwoh-                   Bezugsfertig waren die zwei Mehr-
     nungsvereins konnte erst nach der           familienhäuser mit insgesamt 39 Woh-
     Überwindung von diversen Hinder-            nungen dann im Mai des folgenden
     nissen gebaut werden. Dabei war die         Jahres.72 Die Wohnanlage wurde von
     Ausgangslage günstig: Schon in der          einem Hausmeister betreut, der dort
     gemeinsamen Sitzung von Aufsichts-          eine Dienstwohnung zur Verfügung ge-
     rat und Vorstand im März 1921 wurde         stellt bekam.73
     berichtet, dass ein Gespräch beim Bür-           Zur Sanierung und Instandhaltung
     germeister der Stadt München bezüg-         der Anlage: Von den Bombenangriffen

                                                                                                Grundriss 1. Obergeschoss
     lich der „Überlassung von geeigneten        des Zweiten Weltkriegs blieben die

                                                                                                des Gebäudes Herzog-
     gemeindlichen Grundstücken“ ein             Häuser verschont. Im Jahr 1969 wurden
     „befriedigendes Ergebnis“ gebracht          den Unterlagen des BWV zufolge 21

                                                                                                straße 16 und 18.
     hatte.70 In derselben Sitzung wurde be-     neue Bäder in der Herzogstraße 16 und
     reits konkret ein „Bauangebot“ in der       18 eingebaut und 14 bestehende Bä-
     Herzogstraße diskutiert, das allerdings     der modernisiert.74 Fast zwanzig Jahre
     vom Aufsichtsrat zunächst abgelehnt         später gestaltete die Genossenschaft
     wurde.                                      den Innenhof neu. Laut Prüfungsbe-
          Offensichtlich beschloss der BWV       richt beliefen sich die Kosten für die
     in den folgenden Wochen doch noch,          Begrünung und Neugestaltung der An-
     das Angebot des Architekten Dei-            lage des Jahres 1987 auf 121.300,00 DM,
     ninger anzunehmen. Der Baubeginn            beantragt wurde dafür ein Zuschuss
     verzögerte sich jedoch durch den Ge-        von der Stadt München in Höhe von
     nehmigungsprozess. Im Protokoll der         25.600,00 DM.75 Für die „vorbildliche
     Aufsichtsratssitzung vom 2. Juli 1921       Gestaltung der Hofräume“ wurde der
     heißt es dazu: „Ausdrücklich wird fest-     Hof 1990 von der Stadt ausgezeich-
     gestellt, daß die Verzögerung der Inan-     net.76 Bei der Sanierung von Dach und
     griffnahme des Baus auf den Stadtrat        Fassaden in den Jahren 2003 und 2004
     zurückzuführen ist, der der Genehmi-        wurden auch die Speicher isoliert. 2020
     gung die unglaublichsten Schwierig-         restaurierte man die historischen Fens-
     keiten entgegensetzte. Nur auf das um-      ter fachgemäß. Die Neugestaltung des
     sichtige Handeln des Vorstandes mit         Hofes wird im Jahr 2021 abgeschlossen.
     Architekt Deininger, der vom Vorstand
     als tatkräftiger für alle Sachen als ver-
     ständnisvoller Architekt geschildert
     wird, ist die endliche Genehmigung
     des Plans zurückzuführen.“
          Nun konnte also mit dem Bauen
     begonnen werden. Einen Monat später,
     Mitte August, kam die Baustelle wieder
     zum Stillstand: Wegen eines Streiks tat
     sich fünf Wochen lang nichts. Nur die
     Schreiner- und Schlosserarbeiten wur-
     den fertiggestellt.71

30                                                                                         31
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