AMNESTY JOURNAL - Amnesty International
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WWW.AMNESTY.DE/JOURNAL DAS MAGAZIN FÜR DIE MENSCHENRECHTE 03 AMNESTY JOURNAL 2021 MAI / JUNI 02R AN DIE ARBEIT MENSCHENRECHTE FÜR BESCHÄFTIGTE 60 JAHRE AMNESTY AFGHANISTAN RAUBKUNST IN FRANKREICH Immer wieder Mensch Abgeschoben in den Afrikanische Expert_innen für Mensch retten Terror von Kabul fordern Gerechtigkeit
INHALT Lockdown für Arbeitsrechte. Der Umgang mit Corona spaltet die Weltgesellschaft TITEL: AN DIE ARBEIT noch tiefer: Auf Schiffen, in Textil- Arbeit unter Corona-Bedingungen: Beschäftigte am Limit 12 fabriken, Kranken- häusern und auf UN-Jahr gegen Kinderarbeit: Kinder wollen mitreden 16 deutschen Erdbeer- Fischereibranche: Krasse Ausbeutung auf See Philippinen: Gewerkschafter_innen leben gefährlich 18 22 12 feldern verschärft sich die Ausbeu- tung. Union Busting: Amazon, Alphabet und Gewerkschaften 24 Graphic Report Katar: Misshandelt und überlastet 28 Zähmung der Giganten. Während sie immer Kommentar: Arbeitsschutz, Menschenrechte reicher und mächtiger und die Fußball-WM 2022 in Katar 30 werden, stellen sich zwei der einflussreichsten IG Metall und Amnesty: Jürgen Kerner im Interview 31 Unternehmen der Welt gegen Gewerkschafts- bestrebungen: Amazon POLITIK & GESELLSCHAFT und Alphabet. Doch der Widerstand wächst. 60 Jahre Amnesty I: Essay – Mensch für Mensch retten 60 Jahre Amnesty II: Interview – »Genauso alt wie ich« 34 36 24 Amnesty-Report: Weltweite Lage der Menschenrechte 38 Hass im Netz: HateAid steht Betroffenen bei 40 To-Dos gegen den Hass. Bergbau in Armenien: Gold oder Aprikosen? 44 Im Kampf gegen Anfeindungen hat Journalismus in Somalia: Berichten unter Lebensgefahr 46 die Organisation HateAid Routine. Sie hilft Menschen, Weltrechtsprinzip: Nirgendwo auf der Welt straffrei 50 die im Netz bedroht und Russland I: Kontrolle wird ausgeweitet 54 beleidigt werden, darunter auch die Politikerin Hannah Russland II: Alexej Nawalny muss freigelassen werden! 55 Neumann. Afghanistan: Abgeschoben und ausgeliefert 56 40 KULTUR Verschleppt, Kolumbien: Erinnerung an Verschwundene und Ermordete 62 62 nicht vergessen. Der Schriftsteller Erik Raubkunst in Frankreich: Rückgabe beginnt langsam 66 Arellana Bautista unter- Russland: Kritische Kulturschaffende unter Druck 68 stützt in Kolumbien die Hinterbliebenen von Klagelieder: Musik zum Genozid an den Armeniern 70 Verschwundenen und Ermordeten. Er gibt @engagiert: Menschenrechte auf Instagram 72 den Trauernden eine Lyrikerin Lina Atfah: Mit Worten nach Hause finden 74 Stimme, auch dank gemeinsamer Politisches Buch: Von Utopien und Realitäten 76 Erinnerungsarbeit. Dokumentarfilm: Journalistin Carmen Aristegui in Mexiko 79 Der Knochen, an dem die RUBRIKEN Scham nagt. Vor mehr als drei Jahren versprach der französi- Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 06 Markus N. Beeko über sche Präsident, koloniale Sport und Menschenrechte 07 Spotlight: Iran 08 Interview: Raubkunst aus Afrika zurück- Mariam Claren 09 Was tun 52 Porträt: Trude Simonsohn 60 zugeben. Viel geschehen ist Dranbleiben: Waffenexporte, Istanbul-Konvention 61 bislang nicht. Afrikanische Expert_innen sehen dennoch Rezensionen: Bücher 77 Rezensionen: Film & Musik 78 Briefe gegen das Vergessen 80 Aktiv für Amnesty 82 Impressum 83 einen kunsthistorischen Paradigmenwechsel. 66 2 AMNESTY JOURNAL | 03/2021
Ins Netz gegangen. Ausbeuterische Arbeitsbedingungen sind in der Fischereibranche weit verbreitet. Eine US-Nichtregierungsorganisation will nun mit Satellitenaufnahmen mehr Verdachtsfälle an Behörden melden. BLICK NACH VORN UND BLICK ZURÜCK 18 Aktualität ist im Journalismus Anlass zu Freude und Sorge zugleich. Neues zu entdecken, zu beschreiben und einzuordnen, ist für viele Journalist_innen ein täglicher Antrieb. Von Ereignissen überrollt zu werden, gehört im Journalismus ebenfalls zum Alltag. Was heute noch 34 aktuell ist, kann morgen schon Schnee von gestern sein. In einem Zweimonatsmagazin wie dem Amnesty Journal Etablierte Gegenkultur. ist Aktualität eine besondere Herausforderung. Im Fall 60 Jahre Amnesty International von Alexej Nawalny ist sie uns sehr wichtig. Wir konnten erzählen eine Geschichte von unsere Doppelseite zu Nawalny und Amnesty International Aufbrüchen und Rückschlägen. Und sie stecken voller Verwand- (Seiten 54/55) zuletzt am 21. April aktualisieren und da- lungen. Ein Essay des Historikers nach nur hoffen, zum Zeitpunkt der Auslieferung noch Jan Eckel. aktuell zu sein. Während das Schwerpunktthema dieser Ausgabe zu Jede Sendung Arbeits- und Menschenrechten entstand, haben uns 46 wird zum Risiko. aktuelle Entwicklungen gezeigt, wie richtig und wichtig Journalistinnen und Journalisten diese Themenwahl war: Mitte April wurde bekannt, dass leben in Somalia in Saudi-Arabien 41 Frauen aus Sri Lanka seit Monaten gefährlich. Dabei in Abschiebehaft festgehalten werden, nachdem man sie geht die Bedro- hung nicht nur zuvor als Hausangestellte im Rahmen des Kafala-Systems von islamistischen (Seiten 28/29) ausbeutete. Milizionären aus. Beim Thema 60 Jahre Amnesty International war Aktuali- tät mal nicht so wichtig. Im Mai 1961 entstand Amnesty, und das ist auf jeden Fall ein Grund zu feiern. Im Journal Plötzlich in Kabul. werden wir den Geburtstag auch in den kommenden Mo- 56 Trotz Pandemie und Bürgerkrieg werden weiterhin naten publizistisch begleiten – mit Berichten, Porträts, Menschen nach Afghanistan Interviews und Meinungsbeiträgen unter dem Motto »Mit abgeschoben. Vor Ort gibt es Menschlichkeit für die Menschenrechte«. Wir starten mit viele Hilfsprogramme, aber kaum Perspektiven. Es einem Essay des Historikers Jan Eckel (Seiten 34/35) drohen Verelendung und einem Interview: Die Amnesty-Förderin Sabine Zar- und sogar der Tod. mann und das Amnesty-Mitglied Detlef Roggenkemper werden, wie Amnesty, am 28. Mai 60 Jahre alt (Seiten 36/37). Das Doppelinterview hat meine Kollegin Lea De Gregorio redaktionell betreut. Seit dem 1. März ist sie Redakteurin des Journals, nachdem sie zuvor Volontärin war. Nun ist sie zuständig für Gesellschaftsthemen im Journal: Gen- der, Medien, Alltagsdiskriminierung, Gesundheit, Religion Titelbild: und vieles mehr. Ich freue mich sehr, mit Verkehrszeichen 123 »Arbeitsstelle« nach der Lea De Gregorio zusammenzuarbeiten, und Staßenverkehrsordnung möchte diese Freude mit Ihnen teilen! Foto: Gordon Welters Fotos oben: Jefferson Bernardes / AP / pa | Jens Bonnke | Bob Miller / The New York Times / Redux / laif Mike Schmidt / SZ Photo / pa | Tobin Jones / AU-UN IST (CC0 1.0) | Benjamin Thieme Maik Söhler ist verantwortlicher Redakteur Johanna-Maria Fritz | Gerard Julien / AFP / Getty Images des Amnesty Journals. INHALT | EDITORIAL 3
PANORAMA Foto: Marvin Ibo Guengoer / GES / pa AUF DEM WEG ZUR FUSSBALL-WM IN KATAR Human Rights – elf Buchstaben, von elf Fußballern getragen. Am 25. März zeigte die deutsche Nationalmann- schaft vor ihrem ersten WM-Qualifikationsspiel gegen Island plakativ, was sie vom Austragungsort der Fußball-WM im Herbst 2022 hält. Zahlreiche Arbeitsmigrant_innen sind in Katar in den vergangenen zehn Jahren ums Leben gekommen (siehe Seite 30), weil das Land ihre Arbeitsrechte nicht achtete. In den folgenden Länderspielen wurde die Botschaft leicht variiert wiederholt. Doch nicht alles, was plakativ ist, ist auch klar. Menschenrechte sind wichtig, so viel versteht man. Aber sind sie so wichtig, dass die Nationalelf deswegen ihre Teilnahme an der WM in Katar infrage stellt? Und: Sind Menschenrechte in Katar nur in Bezug auf die WM wichtig? Eine Antwort darauf steht noch aus, vor allem von jenen Spielern, die im Februar 2021 mit dem FC Bayern München die Klub-WM in Katar gewannen und auch sonst öfter mal zum Winter-Trainingslager in das Emirat reisen. Jenseits der unbeantworteten Fragen sendet das Bild aber eine einfache Botschaft: Human Rights, Menschenrechte! Dafür ist zu danken. 4 AMNESTY JOURNAL | 03/2021
AUF DEM WEG IN DIE USA US-Präsident Joe Biden hat Vizepräsidentin Kamala Harris mit einer heiklen Aufgabe betraut: Sie soll mit El Salvador, Guatemala und Honduras Mittel finden, um Menschen aus diesen Ländern davon abzuhalten, über Mexiko in die USA zu gelangen. Im April erklärte die US-Administration, Honduras, Guatemala und Mexiko würden ihre militärischen Einheiten zur Eindämmung von Migration aufstocken. Die US-Behörden nahmen im März mehr als 171.000 Menschen an der Grenze zu Mexiko fest – mehr als je zuvor in den vergangenen 15 Jahren. Tag für Tag kommen aus dem Süden weitere Menschen an. Die Herbergen in den mexikanischen Grenzstädten sind überfüllt. Ein besonderes Problem bereitet die Unterbringung von unbegleiteten Minderjährigen (Foto). Wegen der Corona-Pandemie bleibt das Recht auf Asyl auch unter der neuen US-Regierung ausgesetzt. Präsident Biden nahm zwar migrationspolitische Dekrete seines Vorgängers Trump zurück, doch der gesundheitspolitische »Titel 42« bleibt. Er erlaubt es der US-Grenzpolizei, alle an der Grenze festgenommenen Menschen direkt nach Mexiko abzuschieben. Foto: Go Nakamura / Reuters PANORAMA 5
POLEN Im Prozess gegen drei Menschen- EINSATZ MIT ERFOLG rechtsverteidigerinnen sind die Angeklagten Weltweit beteiligen sich Tausende am 2. März freigesprochen worden. Man hatte Menschen an den »Urgent Actions«, ihnen vorgeworfen, mit Plakaten, die die Jung- den »Briefen gegen das Vergessen« und frau Maria mit einem regenbogenfarbenen an Unterschriftenaktionen von Amnesty Heiligenschein zeigten, religiöse Gefühle ver- International. Dass dieser Einsatz Folter letzt zu haben. Elżbieta, Anna und Joanna verhindert, die Freilassung Gefangener drohten deswegen bis zu zwei Jahre Gefäng- bewirkt und Menschen vor unfairen nis. Die Anklage erfolgte auf der Grundlage Prozessen schützt, zeigt unsere Weltkarte. von Artikel 196 des polnischen Strafgesetz- Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge buches, der einen weiten Spielraum bietet, um Einzelpersonen zu verfolgen und zu kriminali- sieren. Er verstößt nach Auffassung von Am- nesty International und anderen Menschen- rechtsorganisationen gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung und ist nicht mit internationalen und polnischen Menschen- rechtsverpflichtungen vereinbar. USA Seit Februar ist Steven Tendo aus huma- ALGERIEN Nach fast einem Jahr Haft ist der MOSAMBIK Im Februar 2021 hat Papst nitären Gründen frei, bis über seinen Asylan- algerische Journalist Khaled Drareni wieder in Franziskus die Versetzung von Bischof Luis trag entschieden wird. Der 35-jährige Pastor Freiheit. Der algerische Präsident Abdelmadjid Fernando Lisboa nach Brasilien veranlasst. aus Uganda kam im Dezember 2018 als Asyl- Tebboune ordnete am 19. Februar 2021 an, In Mosambik war Lisboa wegen seiner Men- suchender in die USA, nachdem er vor Folter ihn und weitere politische Gefangene freizulas- schenrechtsarbeit zum Ziel einer Verleum- und anderen schweren Menschenrechtsverlet- sen. Der Oberste Gerichtshof hob am 25. März dungskampagne von Unterstützer_innen der zungen fliehen musste. Im Dezember 2018 seine zweijährige Haftstrafe auf und ordnete Regierung geworden. Seine Versetzung soll wurde er in Einwanderungshaft genommen. eine Wiederaufnahme des Verfahrens an. Dra- seine Sicherheit gewährleisten. Der Bischof Seine geplante Abschiebung konnte im Sep- reni ist ein unabhängiger Journalist, der 2019 von Pemba gehörte zu den wenigen Stimmen tember 2020 durch weltweite Aktionen verhin- über die landesweiten Proteste gegen die alge- in Mosambik, die sich zu den schlechten dert werden, doch sein Gesundheitszustand rische Regierung berichtet hatte. Im März humanitären und menschenrechtlichen verschlechterte sich wegen einer Diabetes- 2020 wurde er bei einer Demonstration festge- Bedingungen in der Provinz Cabo Delgado erkrankung und unzureichender medizini- nommen und kurz darauf wegen »Gefährdung äußerten. Dort herrscht seit 2017 ein bewaff- scher Versorgung. Neben Tendo wurden auch der nationalen Einheit« und »illegaler Ver- neter Konflikt. Nach einer Eilaktion von vier Familien aus der US-Einwanderungshaft sammlung« verurteilt. Amnesty hatte sich im Amnesty International hatte zuvor schon entlassen. Amnesty International hatte sich für Rahmen des Briefmarathons und der Briefe Mosambiks Präsident Filipe Nyusi seine ihre und für Tendos Freilassung eingesetzt. gegen das Vergessen für Drareni eingesetzt. Unterstützung für Lisboa ausgedrückt. 6 AMNESTY JOURNAL | 03/2021
RUSSLAND Wie erst im Februar 2021 bekannt MARKUS N. BEEKO ÜBER Foto: Bernd Hartung / Amnesty wurde, hat der gewaltlose politische Gefange- ner Konstantin Kotov am 16. Dezember 2020 das Gefängnis verlassen, in dem er ein Jahr SPORT UND und vier Monate inhaftiert war. Er war am 10. August 2019 festgenommen und später MENSCHENRECHTE verurteilt worden, weil er wiederholt an »nicht genehmigten« Kundgebungen teilgenommen »No Sports«, so wird der ehemalige britische Premier Winston Churchill hatte. Kotov lebt in Moskau und beteiligte sich oft zitiert, auch wenn er das wohl nie gesagt hat. Heute ist bekannt, an zahlreichen friedlichen Demonstrationen dass er ritt, focht, schwamm, boxte. »No Sports« war früher auch oft gegen Menschenrechtsverletzungen und in meine Antwort, wenn Fragen nach meinen Hobbies aufkamen. Ich war Solidarität mit politischen Gefangenen. Kotov zwar kein »Turnbeutelvergesser«, musste mich aber in meiner Schulzeit dankte Amnesty und allen, die sich für ihn ein- eher tapfer durch den Sportunterricht kämpfen. Reck, Barren und gesetzt haben. Er wird vor dem Europäischen Hochsprung waren echte Herausforderungen. Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde Bewegung in mein Leben brachten Judo (einige Jahre), Volleyball gegen seine Verurteilung einlegen. (gelegentlich), ein wenig Tennis und im Studium sogar Eishockey (bewusst dilettierend). Und die Olympischen Sommerspiele: Gebannt verfolgte ich die Laufwettbewerbe, fieberte mit Hochspringern und fachsimpelte, ob Bob Beamons Weitsprungrekord fallen würde. Meine Begeisterung galt auch der internationalen Aura der Spiele, dem Starterfeld aus Ländern rund um den Globus, dem Mitfiebern mit den afrikanischen Läufern – wann konnte man je im Fernsehen mehr Schwarze sehen –, aber auch Stars wie Carl Lewis oder Michael Groß. Und die Eröffnungs- und Abschlussfeiern! Sie hatten, was Bundes- jugendspielen abging: Die Völker der Welt in fröhlichem Treiben, Musik, Drama, Pathos. Für einen Moment gab es eine friedliche, bunte, solida- rische Gemeinschaft netter Menschen, die der Politik vormachten, wie es sein sollte. Eine Welt, die mit der Eröffnungsfeier begann, bei den Wettbewerben latent im Hintergrund mitschwang, um dann mit dem Happy End der Abschlussfeier in den Winterschlaf zu gehen. Bis diese Welt bei den nächsten Spielen wieder wachgeküsst wurde. Aber ich wusste auch, dass der Sport für staatliche Propaganda genutzt wurde. Ich hatte den Olympia-Boykott 1980 in Moskau und die Fußball-WM 1978 während der Militärdiktatur in Argentinien gesehen. Und auch die Instrumentalisierung der Spiele 1936 durch Nazi- Deutschland erinnerte immer wieder daran: Sportereignisse sind politisch. Sie passieren nicht in einer Blase. Die aktuelle Diskussion um die Fußball-WM in Katar und die Olym- pischen Winterspiele in China, die Sportler_innen und Fans angestoßen haben, ist wichtig. Amnesty weist seit langem auf dortige Menschen- rechtsverletzungen hin. Das IOC, die großen Sportverbände im Fußball, Eishockey oder in der Formel 1 ordnen weiterhin die Menschenrechte, das Wohl der Athlet_innen und Transparenz dem Kommerz unter und TÜRKEI Der türkische Kassationsgerichtshof dienen sich Regierungen an. Im Januar führte die Strecke der Rallye hat im April die Haftstrafe des Schriftstellers Dakar in Saudi-Arabien an dem Gefängnis vorbei, in dem die Frauen- und Journalisten Ahmet Altan aufgehoben. rechtlerin Loujain al-Hathloul gefoltert wurde. Loujain hatte sich unter Das Gericht lieferte keine Begründung für die anderem gegen das Frauenfahrverbot eingesetzt. Annullierung. Altan war mehr als vier Jahre im Bevor internationale Sportereignisse vergeben werden, müssen men- Gefängnis, weil ihm eine Beteiligung am ge- schenrechtliche Mindeststandards zur Voraussetzung gemacht werden. scheiterten Putsch im Jahr 2016 unterstellt Und auch bei der Planung und Umsetzung muss die Einhaltung der wurde. Dies hat er stets bestritten. Der Frei- Menschenrechte überprüft und überwacht werden. lassung ging ein Urteil des Europäischen Es braucht Sportler wie Colin Kaepernick und Lewis Hamilton, es Gerichtshofs für Menschenrechte voraus, der braucht kritische Fans und uns alle, um weiter lästige Fragen an Ver- die Türkei wegen Altans Inhaftierung scharf bände, Sponsoren und Politik zu stellen. Amnesty fordert mit einer gerügt hatte. Amnesty International hatte Altan Kampagne von der FIFA lange überfällige Veränderungen ein. Es als gewaltlosen politischen Gefangenen be- braucht weiter Druck, damit das IOC-Motto »Building a better world trachtet und gefordert, ihn freizulassen. Nach through sport« in den Ohren der Opfer von Menschenrechtsverletzungen seiner Freilassung erinnerte Amnesty an weite- irgendwann nicht mehr wie Hohn klingt. re Journalist_innen und Aktivist_innen, die zu Unrecht in türkischen Gefängnissen inhaftiert Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion. sind. EINSATZ MIT ERFOLG 7
SPOTLIGHT: IRAN DOPPELSTAATSANGEHÖRIGE IM IRANISCHEN GEFÄNGNIS Foto: privat Wird seit einem halben Jahr im Iran festgehalten. Nahid Taghavi. Die 66-jährige iranisch-deutsche Staats- tiert. Das Land entlässt seine Staatsan- nen. Die Urteile erfolgen häufig wegen bürgerin Nahid Taghavi (siehe Seite 9) ist gehörigen fast nie aus der Staatsbürger- nebulöser Straftatbestände wie »Propa- seit Oktober 2020 in Teheran inhaftiert. schaft und betrachtet sie ausschließlich ganda gegen das System«. Gefangenen Sie hat ihren Wohnsitz in Deutschland, als Iraner_innen. Konsularischer Beistand wird der Zugang zu angemessener medizi- reist aber öfter in den Iran, um Familien- durch das Land ihrer zweiten Staatsbür- nischer Versorgung und Medikamenten angehörige zu besuchen. Zuvor gab es gerschaft wird ihnen verweigert. verwehrt. So auch im Fall Taghavi. dabei nie Probleme, doch dieses Mal wur- Die willkürliche Inhaftierung steht am Der UN-Sonderberichterstatter zur de sie in ihrer Teheraner Wohnung festge- Beginn weiterer Menschenrechtsverlet- Menschenrechtslage im Iran, Javaid Reh- nommen. Die Behörden verwiesen auf zungen: Die Strafverfolgungsbehörden man, äußerte sich 2019 besorgt über die »Sicherheitsgründe«, es lag jedoch bis verweigern Inhaftierten den Zugang zu Lage inhaftierter Doppelstaatsangehöri- Mitte April keine Anklage gegen sie vor. Rechtsbeiständen ihrer Wahl. Politische ger. Iranische Behörden würden gegen sie Amnesty International betrachtet Taghavi Häftlinge werden in Verhören gefoltert Scheinprozesse führen, die die Standards als gewaltlose politische Gefangene. und misshandelt. Gerichte verwenden für faire Gerichtsverfahren verletzten, sie Im Iran wurden in den vergangenen »Geständnisse«, die unter psychischem aufgrund konstruierter Beweise verurtei- Jahren mehr als zwei Dutzend Personen Druck oder Folter erzwungen wurden, als len und versuchen, diese Menschen als mit doppelter Staatsangehörigkeit inhaf- Beweise, die zur Verurteilung führen kön- diplomatische Druckmittel zu benutzen. Iranische Behörden IN EINZELNEN FÄLLEN KAM ES DER FALL TAGHAVI STEHT IN »versuchen, diese ZU VERHANDLUNGEN ÜBER DEN EINER REIHE MIT MEHR ALS Menschen als AUSTAUSCH ZWEI DUTZEND diplomatische Druck- GEGEN IM AUSLAND INHAFTIERTE INHAFTIERUNGEN mittel zu benutzen«. IRANER, DIE DER REGIERUNG VON BÜRGER_INNEN MIT NAHESTANDEN. DOPPELTER STAATSANGEHÖRIGKEIT. JAVAID REHMAN, UN-SONDERBERICHTERSTATTER ZUR MENSCHENRECHTSLAGE IM IRAN. 8 AMNESTY JOURNAL | 03/2021
MARIAM CLAREN »MAN KANN SICH DER ANGST NICHT ENTZIEHEN« Die Deutsch-Iranerin Nahid Taghavi befindet sich seit Oktober 2020 im Iran in Isolationshaft – lange Zeit ohne Anklage und Kontakt zu einem Rechtsbeistand. Ihre in Köln lebende Tochter Mariam Claren (40) kämpft seitdem für die Freilassung. Amnesty unterstützt sie dabei mit einer Eilaktion. Von der deutschen Bundesregierung fordert Claren ein entschlosseneres Foto: privat Vorgehen gegenüber den iranischen Behörden. Interview: Ralf Rebmann Ihre Mutter wurde am 16. Oktober 2020 in ihrer Wohnung in kann sie einmal pro Woche mit ihrem Bruder telefonieren. Ich Teheran festgenommen. Haben Sie seitdem mit ihr gesprochen? hoffe, dass sie nicht auf die Tricks und falschen Versprechun- Nein, das letzte Mal haben wir am Vormittag des 16. Okto- gen der Sicherheitsbeamten hereinfällt. Mal wird ihr verspro- ber 2020 telefoniert. Es war ein banales Gespräch über einen chen, sie käme gegen Kaution frei, dann wiederum soll es ein persischen Eintopf und die Zutaten. Sie sagte zu mir, lass uns Gerichtsverfahren geben. Über eine offizielle Anklage wussten morgen darüber sprechen, wenn du alle Zutaten besorgt hast. wir bis Mitte April nichts. Wir haben erfahren, dass ihr Anwalt Nach diesem Telefonat brach der Kontakt ab. abgelehnt wurde. Stattdessen soll meine Mutter einen Anwalt auswählen, dem »das Justizministerium vertraut«. Das ist ab- Wie haben Sie von ihrer Festnahme erfahren? surd. Seit mehr als vier Monaten hat sie keinen Rechtsbeistand. Meine Mutter hat einen deutschen und einen iranischen Dass ihr Verfahren nicht fair ablaufen wird, ist offensichtlich. Pass. Wenn sie in den Iran reist, schicken wir uns Sprachnach- richten. Nach unserem Telefonat erhielt ich keine Antwort mehr, Wie hat sich Ihr Leben seit der Festnahme verändert? auch am nächsten Tag nicht. Deswegen bat ich ihre Brüder, die Es ist ein Horrortrip. Man kann sich der Angst und Unge- im Iran leben, in der Wohnung nachzuschauen. Sie fanden dort wissheit nicht entziehen. Hinzu kommen ständige Zweifel: Wird Chaos vor: Die Regale waren umgeschmissen, die Teppiche her- genug über meine Mutter berichtet? Habe ich alles dafür getan, ausgerissen, alle Unterlagen weg. Die Nachbarin sagte, dass dass sie freikommt? Wir reden von einem Staat, der Menschen- Sicherheitsbeamte meine Mutter abgeholt hätten, mit dem rechte systematisch verletzt. Krankenwagen, um kein Aufsehen zu erregen. Wissen Sie, ob Ihr Engagement im Iran wahrgenommen wird? Wohin wurde sie gebracht? Jedes Mal, wenn ich mich öffentlich über meine Mutter In das berüchtigte Evin-Gefängnis. Dort saß sie zuerst in geäußert habe, durfte sie einen Anruf tätigen. Die Behörden Isolationshaft, im März wurde sie in den Frauentrakt und im haben sich bei meinem Onkel beschwert, dass es eine Unver- April zurück in Isolationshaft verlegt. Es ist unklar, warum sie schämtheit von mir sei, das Thema Menschenrechtsverletzun- ins Visier der Behörden geriet. Wegen ihrer politischen Meinung gen im Iran in den Mund zu nehmen. Die Behörden beobachten oder weil sie zwei Pässe besitzt? Offiziell wegen »Gefährdung das sehr genau. der Sicherheit«. Jedenfalls ist sie eine politische Gefangene. Was fordern Sie von der deutschen Regierung? Wissen Sie, wie es Ihrer Mutter geht? Ich erwarte, dass sie entschlossener gegen eine solch offen- Ihr geht es nicht gut. Sie ist 66 Jahre alt, ist in der Haft an sichtliche Willkür und Verletzung von Menschenrechten vorgeht Diabetes erkrankt und leidet unter Bluthochdruck. Mittlerweile und sich für die Freilassung meiner Mutter einsetzt. SPOTLIGHT: IRAN 9
An die Arbeit Unterbrochene Lieferketten, nicht ausgezahlte Löhne, Massenentlassungen: Frauen, Beschäftigte im Niedriglohnsektor, Kinder und Migrant_innen zahlen derzeit den höchsten Preis für die Corona-Folgen in der Arbeitswelt. Es häufen sich aber auch ausbeuterische Arbeitsbedingungen und die Einschüchterung von Beschäftigten und Gewerkschaften. Doch diese lassen sich nicht kleinkriegen und halten solidarisch dagegen. Eins ist klar: Arbeitsrechte sind Menschenrechte! Prekäre Arbeit mitten in Deutschland. Erdbeerernte im Rheinland, April 2020. Foto: Matthias Jung / laif 11
Lockdown für Arbeitsrechte Der Umgang mit Corona spaltet die Weltgesellschaft noch tiefer: Auf Schiffen, in Textilfabriken, Krankenhäusern und auf deutschen Erdbeerfeldern verschärft sich die Ausbeutung. Von Annette Jensen N eunzehn Männer stehen an Deck eines 186 Meter gleich geraten auch die Ablösemann- langen Schiffes und halten Pappschilder in die Höhe: schaften in finanzielle Schwierigkei- »Please help us«. Manche von ihnen haben mehr als ten, weil sie wegen des Lockdowns zwei Jahre lang geschuftet, ihr Arbeitgeber ist mit und der Grenzschließungen nicht zu 400.000 Dollar Heuer im Rückstand. Seit Monaten liegt der ihren Einsatzorten kommen. Massengutfrachter Ula in einem kleinen Hafen in Kuwait. Die Dagegen boomt das Geschäft vie- Reederei hat das Schiff aufgegeben – vermutlich wegen fehlen- ler großer Schiffseigner wieder, nach- der Ladung infolge der Pandemie. dem sie zu Beginn der Pandemie In ihrer Verzweiflung sind die Seeleute aus Indien, der Türkei, kurzfristig Umsatzeinbrüche hatten. Aserbaidschan und Bangladesch im Januar in den Hungerstreik Ein Großteil spart beim Personal. Um Foto: Jefferson Bernardes / AP / pa getreten. »Wir haben Schulden zu Hause, wir brauchen das deutsche Arbeitsschutzbestimmun- Geld«, erklärte Bhjanu Shakar Panda im Fernsehsender Al-Ara- gen zu umgehen, fahren derzeit nur biya zur Begründung, warum die Mannschaft das Schiff nicht noch 14 Prozent der deutschen Han- verlassen will. Ein Kollege berichtete, sein Vater sei wegen der delsflotte unter schwarz-rot-goldener Pandemie arbeitslos geworden und nun hänge der Lebensunter- Flagge, obwohl die Regierung mit halt der gesamten Familie von ihm ab. Solange ihre Verwandten Steuererleichterungen reagierte. Be- hungerten, wollten auch sie nichts mehr zu sich nehmen, ver- triebswirtschaftlich betrachtet macht kündete die Crew. Im März war noch keine Lösung in Sicht. das Sinn. »Man hat als Reeder keinen Normalerweise muss in solch einem Fall die Versicherung Vorteil, wenn man die deutsche Flag- einspringen und für die Heuer aufkommen – und wenn die ge hat – deshalb bekomme ich nicht die Ladung von Volkswagen nicht bezahlt, ist das Land in der Pflicht, in dem das Schiff ge- oder Mercedes«, erklärte Dirk Max Johns, ehemaliger Geschäfts- meldet ist. Doch der kleine Inselstaat Palau hat die Registrierung führer des Deutschen Reeder-Verbands im vergangenen Som- der Ula vor ein paar Monaten einfach gelöscht. mer im ZDF. Paddy Crumlin, Vorsitzender des Internationalen Gewerk- schaftsbunds der Transportarbeiter (ITF), weist auf windige Tricks Globale Antworten und gemeinsame hin, die in der globalen Schifffahrt üblich sind. »Es wird oft ab- Strategien sind nötig sichtlich verschleiert, wer für die Besatzungsmitglieder zuständig Weltweit hat die Corona-Pandemie Auswirkungen auf Arbeits- ist.« Seine Organisation ist international bestens vernetzt und bedingungen und Menschenrechte. Wie gravierend die Folgen versucht, Seeleuten in schwierigen Situationen zu helfen. ausfallen, ist unterschiedlich. »Allen, denen es vorher schon Dies betrifft gegenwärtig besonders viele Crews. Wegen der schlecht ging, geht es jetzt noch schlechter«, so fasst es Annette Corona-Schutzmaßnahmen dürfen Seeleute oft nicht an Land Hartmetz von der Amnesty-Themenkoordinationsgruppe Ge- gehen; im Herbst 2020 saßen 400.000 auf Frachtern fest. Viele werkschaften zusammen. Die Internationale Arbeitsorganisa- haben schon viel länger an Bord gearbeitet als die international tion (ILO) beobachtete zuletzt immer mehr Arbeitsrechtsverlet- zulässigen elf Monate. »Nach so langer Zeit sind die Seeleute er- zungen. schöpft und ausgelaugt – und dann steigt nachweislich auch die Während die Länder des globalen Nordens aus der Finanz- Zahl der Konflikte und Unfälle. Vielen fehlt auch medizinische krise 2009 die Lehre gezogen haben, Entlassungen möglichst Hilfe. Und wir bekommen mit, dass Suizidgedanken und sogar zu verhindern, und dafür üppige Konjunkturpakete schnüren, Suizide zunehmen«, berichtet Rory McCourt von der ITF. Zu- trifft die Krise im globalen Süden viele Menschen mit voller 12 AMNESTY JOURNAL | 03/2021
Kleine Arbeitspause unter widrigen Bedingungen. Krankenhausmitarbeiterin in Porto Alegre, Brasilien, März 2021. Wucht. Fast zwei Drittel der arbeitenden Bevölkerung weltweit Vollman, DGB-Expertin für Internationales. Die Bekleidungs- sind im informellen Sektor beschäftigt und haben in der Regel industrie ist ein Beispiel dafür: Als die Läden in Europa dicht- keinerlei soziale Absicherung. machten, stornierten große Textil- und Schuhhändler einen Als Indiens Regierungschef Narendra Modi am 24. März 2020 Großteil ihrer Aufträge, wodurch allein in Bangladesch zwei spontan eine Ausgangssperre verhängte, standen die Tagelöhner Millionen Näherinnen ihre Arbeit verloren. Einige wollten sogar vor dem Nichts. Millionen versuchten, sich zu Fuß in ihre Hei- bereits produzierte Ware nicht mehr abnehmen. matdörfer durchzuschlagen. Wie viele von ihnen auf den langen In Deutschland machten viele Firmen außerdem Front ge- Märschen verhungert und verdurstet sind, ist nicht bekannt. gen das geplante Lieferkettengesetz – und fanden Gehör bei Nicht nur in Indien sind viele auf das Geld angewiesen, das Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), der davor warnte, die Familienmitglieder in der Ferne verdienen. In Ländern wie Se- Unternehmen während der Pandemie zusätzlich zu belasten. negal, Simbabwe oder Kirgisistan besteht das Bruttoinlands- Nach langer Verzögerung liegt nun ein schwacher Gesetzent- produkt zu etwa einem Drittel aus Überweisungen aus dem wurf vor. Ausland. Diese Zahlungen sind in der Pandemie deutlich einge- brochen, weil Migrant_innen meist als erste entlassen wurden. Weltweite Armut könnte wieder anwachsen Die Weltbank schätzt, dass die private Finanzhilfe aus dem Aus- Die Kosten müssen die Schwächsten tragen, wie eine Studie der land 2020 um etwa 20 Prozent zurückgegangen ist. Nichtregierungsorganisationen Südwind und Inkota über die Gegen die Corona-Krise bräuchte es globale Antworten und Lederindustrie in Indien belegt. Zwei Monate lang standen alle gemeinsame Strategien – doch tatsächlich verschärfen sich Beschäftigten der Schuhfabriken ohne Einkommen da, manche Nationalisierungs- und Abschottungstendenzen, sagt Carolin erhielten nicht einmal mehr den Lohn für bereits geleistete AN DIE ARBEIT 13
Foto: Sanchit Khanna / Hindustan Times / Getty Images Teil der globalen Lieferkette. Sportschuhproduktion in Neu-Delhi, Indien, März 2021. Ihnen wurde der Lohn vorenthalten. Dem Arbeit. Im Juni lief die Produktion dann mit 40 Prozent weniger anschwoll, spart der Versandhändler am Infektionsschutz für Personal wieder an. Wer weiter dabei ist, muss sich oft mit weni- das Personal. In mehreren französischen Logistikzentren kam es ger Geld begnügen als vor der Pandemie – und das, obwohl viele deshalb zu wilden Streiks, berichtete die französische Gewerk- Beschäftigte noch nie den gesetzlichen Mindestlohn erhalten schaft CNT-AIT. In den USA laufen mehrere Arbeitsgerichtspro- haben, der im Bundesstaat Uttar Pradesh bei umgerechnet zesse, weil Amazon Menschen entlassen hat, die gegen man- 112,90 Euro pro Monat für angelernte Arbeiter_innen liegt. gelnden Corona-Schutz protestiert hatten. Die dortige Regierung nutzte die Krise außerdem, um einen Großteil der Arbeitsschutzgesetze für drei Jahre außer Kraft zu Beschäftigte im Gesundheitssektor unter Druck setzen. Dahinter steht die Hoffnung, von den wachsenden Vor- Unmittelbar von der Pandemie betroffen sind die Beschäftigten behalten gegenüber China als Lieferland zu profitieren und im Gesundheitswesen. Mindestens 17.000 Pfleger_innen und neue Investoren nach Uttar Pradesh zu locken. Ärzt_innen sind bis März 2021 an Covid-19 gestorben, belegt Unter solchen Umständen erstaunt es nicht, dass die Welt- eine aktuelle Untersuchung von Amnesty in Zusammenarbeit bank davon ausgeht, die Armut werde erstmals seit 1998 wieder mit den internationalen Gewerkschaftsverbänden PSI und UNI. deutlich anwachsen. Bereits in den vergangenen Jahren fielen Die Organisationen fordern, das Krankenhaus- und Pflegeperso- die Erfolge bei der Umsetzung der UN-Ziele für nachhaltige Ent- wicklung immer kleiner aus: Der Klimawandel macht viele An- strengungen zunichte. Und nun drohen sogar Rückschritte. Dabei muss man nicht einmal in die Ferne schweifen, um ausbeuterische Arbeitsbedingungen zu beobachten. Es reicht AMNESTY ZUM LIEFERKETTENGESETZ ein Blick auf die Spargel- und Erdbeerfelder in Deutschland. Jahr Dass es endlich ein Lieferkettengesetz geben wird, ist ein his- für Jahr kommen Hunderttausende Saisonkräfte aus Osteuropa. torischer Schritt. Doch der Entwurf der Bundesregierung hat Und obwohl in Deutschland offiziell der Mindestlohn gezahlt Lücken: Denn er erfasst nur große Unternehmen. Damit gilt werden muss, verdienen die Menschen aus Bulgarien und Ru- das geplante Gesetz für die meisten deutschen Unternehmen mänien manchmal nur etwa vier Euro pro Stunde. Getrickst nicht – selbst wenn sie zu Branchen gehören, in denen es ein wird bei den Arbeitszeiten und den Kosten für die oft miserable hohes Risiko für Menschenrechtsverletzungen gibt. Außer- Unterkunft. dem müssen Firmen nur ihre direkten Zulieferer selbstständig Während es für die Schlachthöfe wegen der Skandale um auf Verstöße hin untersuchen. Die meisten Menschenrechts- hohe Infektionszahlen seit Anfang des Jahres ein Gesetz gibt, verletzungen finden jedoch bereits am Anfang der Lieferkette das solche Zustände verhindern soll, ist die Lage in der Land- statt: Kinder, die in Minen arbeiten, oder Näherinnen in wirtschaft unverändert. Zumindest fast. Die Arbeitgeber nutz- Bangladesch liefern nicht direkt an deutsche Unternehmen. ten die Pandemie, um durchzusetzen, dass Saisonarbeitskräfte Außerdem sieht das Gesetz zwar Sanktionen bei Fehlverhal- in Deutschland nun 115 statt wie bisher 70 Tage sozialversiche- ten der Firmen vor, aber keine zivilrechtliche Haftung. Die rungsfrei beschäftigt werden können. hätte es ermöglicht, dass Betroffene in Deutschland gegen So verschärft Corona die Spaltung der Gesellschaften: Die die Unternehmen klagen können. Immerhin: Deutsche zivil- Armen werden ärmer, die Reichen reicher. Während die Gewin- gesellschaftliche Organisationen und Gewerkschaften sollen ne bei Amazon durch die Decke gehen und das Vermögen von künftig im Namen der Betroffenen klagen dürfen. Es geht Gründer Jeff Bezos binnen Jahresfrist um 72 Milliarden Dollar vorwärts – leider in zu kleinen Schritten. 14 AMNESTY JOURNAL | 03/2021
Mindestens 17.000 Pfleger_innen und Ärzt_innen sind an Covid-19 gestorben. ne Warnungen für falsch zu erklären – wenige Wochen später starb der 34-Jährige selbst an Covid-19. Gegen die Ärztin Tatyana Revva aus dem südrussischen Wol- gograd wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet, nachdem sie Foto: Kanti Das Suvra / Abaca / pa in einem Video auf mangelnde Ausrüstung und fehlende Schu- lungen in ihrem Krankenhaus hingewiesen hatte. In Nicaragua verbot die Regierung zunächst sogar die Nutzung von Masken. Kaum im Fokus stehen die Reinigungskräfte in Kliniken, die häufig ohne Schutzkleidung und ausreichende Desinfektions- onstrierende Textilarbeiter_innen in Bangladesch, Mai 2020. mittel putzen müssen. Ein Arzt aus Honduras berichtet, dass die Frauen oft mit bloßen Händen arbeiteten. Besonders hart geht Venezuela vor: Mehrere Beschäftigte im Gesundheitssektor wur- nal weltweit vorrangig zu impfen. Doch davon kann keine Rede den vor Zivil- oder Militärgerichte gestellt, weil sie auf Gefahren sein. »Mehr als die Hälfte der global verfügbaren Impfdosen ge- für sich und die Patient_innen hingewiesen hatten. gen Covid-19 wurde bisher in nur zehn wohlhabenden Ländern Nach Angaben der ILO zahlen Frauen, Beschäftigte im Nie- verabreicht. In mehr als 100 Ländern hingegen wurde bis An- driglohnsektor, Kinder und Migrant_innen den höchsten Preis fang Februar 2021 noch keine einzige Person geimpft«, bilan- für die Corona-Folgen in der Arbeitswelt. Binnen Monaten wur- ziert Steve Cockburn, Amnesty-Experte für wirtschaftliche und den positive Entwicklungen von Jahrzehnten zerstört, stellte der soziale Menschenrechte. UN-Koordinator für humanitäre Angelegenheiten, Mark Low- Ärzt_innen und Krankenpfleger_innen, die auf Gefahren für cock fest. Für Mädchen wirken sich die Schulschließungen ex- ihren Berufsstand hinweisen, sind häufig Repressalien ausge- trem nachteilig aus, was ihre berufliche Zukunft angeht. Im glo- setzt. Der chinesische Augenarzt Li Wenliang aus dem Zentral- balen Süden würden wahrscheinlich viele Kinder nie mehr ins krankenhaus in Wuhan war der erste, der das erfahren musste: Klassenzimmer zurückfinden, eine Zunahme von Kinderehen Er hatte Kolleg_innen geraten, Schutzkleidung zu tragen, wenn und häuslicher Gewalt sei absehbar, warnt die Weltgesundheits- sie mit Infizierten des neuartigen Lungenvirus zu tun hätten. organisation (WHO). Eines scheint leider sicher: Corona und der Die Polizei und ein lokales »Sicherheitsbüro« zwangen ihn, sei- Umgang damit vertiefen die Spaltung der Welt immer weiter. ITUC GLOBAL RIGHTS INDEX Rechte nicht garantiert wegen Zusammenbruchs der Rechtsstaatlichkeit Rechte nicht garantiert Systematische Rechtsverletzungen Regelmäßige Rechtsverletzungen Wiederholte Rechtsverletzungen Sporadische Rechtsverletzungen Keine Daten Viel zu viel rot. Der Globale Rechts- index des Internationalen Gewerk- schaftsbundes IGB (englisch: Inter- national Trade Union Confederation, ITUC) zeigt die schlimmsten Länder Quelle: ITUC 2020 der Welt für Arbeitnehmer_innen. AN DIE ARBEIT 15
Sie wollen mitreden Etwa eine Million Kinder und Jugendliche müssen in Bolivien arbeiten. Einige von ihnen haben sich zu einer Gewerkschaft zusammengetan, um für ihre Rechte zu kämpfen. Ihre Forderungen weichen von internationalen Konventionen ab. Von Wolf-Dieter Vogel S ie putzen Schuhe, verkaufen Gemüse, helfen bei der Zu- das Edelmetall aus den Minen zu holen. Die Konvention 182 der ckerrohrernte und schuften in den Schächten des Berg- Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) verbietet potenziell baus: Schätzungen zufolge arbeiten in Bolivien 800.000 gesundheitsschädliche Tätigkeiten für Kinder, also auch die Kinder und Jugendliche. Sie gehören zu den weltweit 152 Arbeit im Bergbau. Millionen Kindern, die von Kinderarbeit betroffen sind. Die UN Auch die UNATSBO ist dagegen, dass Minderjährige in die haben 2021 zum Internationalen Jahr zur Abschaffung von Gruben steigen, betont Yucra. »Diese Arbeit ist extrem gefähr- Kinderarbeit ausgerufen. lich.« Dennoch ist sie gegen ein Verbot der Kinderarbeit: »Wir Im Vergleich zu vielen Gleichaltrigen, die in anderen Län- sind nicht dafür, das radikal zu verbieten, weil viele von uns ge- dern in jungen Jahren ihren Lebensunterhalt verdienen müs- zwungen sind, dort zu arbeiten.« Häufig müssten Kinder Geld sen, haben die Kinder in Bolivien jedoch einen Vorteil: Sie kön- verdienen, damit das Familieneinkommen für alle reiche. nen sich in einer Gewerkschaft organisieren. Seit mehr als 20 Yucras Ortsverband will dafür sorgen, dass junge Menschen Jahren setzt sich die Union der arbeitenden Kinder und Jugend- bei der Arbeit sicher sind und ihre Tätigkeiten weniger Gefah- lichen Boliviens (UNATSBO) für die Rechte von Kinderarbei- ren bergen. Zudem bietet UNATSBO Weiterbildungen an, damit ter_innen ein. die Kinder später in Bäckereien, Schneidereien oder der Gastro- »Wir haben in allen Städten lokale Gruppen und vertreten nomie Geld verdienen können. »Sie sollen ja nicht ihr Leben alle Departements des Landes«, sagt Gewerkschaftssekretärin lang im Bergbau schuften«, sagt Yucra. Estefani Yucra. Sie ist 19 Jahre alt und studiert Wirtschaftswissen- Unter dem sozialistischen Präsidenten Evo Morales, der von schaften. Auch Yucra hat bereits mit zehn Jahren Kleidung ver- 2006 bis 2019 regierte, sollte Kinderarbeit zunächst verboten kauft und später als Kindermädchen gearbeitet. Sie ist für ihren werden – entsprechend der ILO-Konvention 138, die Bolivien Posten genau genommen zu alt. »Eigentlich sollte ich durch Jün- unterzeichnet hat. Die Minderjährigen stellten sich gegen ein gere ersetzt werden, aber wegen der Pandemie haben wir zurzeit grundsätzliches Arbeitsverbot. »Es konnte nicht sein, dass eine keine Treffen«, sagt sie. Schließlich sind bei der UNATSBO nur Reform verabschiedet wird, ohne die Kinder in die Debatte ein- Foto: Juan Karita / AP / pa Kinder und Jugendliche aktiv. »Ein paar Ältere beraten uns.« zubeziehen«, erinnert sich Luz Rivera, die für ein Sozialprojekt Sie lebt in Llallagua, einer Kleinstadt im Departement Potosí. der Caritas in Potosí arbeitet. Ihre Einrichtung hatte die Kinder- Bis heute wird in der traditionellen Bergbauregion Silber geför- gewerkschaft unterstützt. Im Gesetz 548 schrieb die Regierung dert. Und noch immer steigen Jugendliche in die Schächte, um 2014 schließlich fest, dass Kinder unter bestimmten Vorausset- zungen doch arbeiten dürfen – ab dem zehnten Lebensjahr. Rivera hielt die Entscheidung für richtig. »Das entspricht einfach der Realität«, sagt sie. »Ob legal oder illegal, die Kinder arbeiten sowieso, es geht darum, dass sie geschützt sind.« Die GANZ ANDERE KINDERSTARS Reform schrieb unter anderem vor, dass die Minderjährigen Sie sind Kinder, aber sie sind in ihrem politischen Kampf eine Gesundheitsversorgung haben und in die Schule gehen. mindestens so überzeugend wie Erwachsene: Der Film Die Beschäftigung im Bergwerk war verboten. »Morgen gehört uns« widmet sich politisch denkenden Die ILO hingegen sah das anders. »Kinderarbeit hindert Kin- jungen Menschen. Einer von ihnen ist Kevin, Kinderarbei- der daran, Bildung und Fertigkeiten zu erwerben, die sie zum ter in einer Mine in Bolivien. Er hat die Kindergewerk- Erlangen von menschenwürdiger Arbeit als Erwachsene benöti- schaft UNATSBO mitgegründet. Von diesem Film und sei- gen«, hieß es. Zudem bestehe bei einer Erlaubnis der Kinderar- nen Hauptdarsteller_innen bleibt man nicht unberührt. beit das Risiko, dass Minderjährige für gefährliche Tätigkeiten Regisseur Gilles De Maistre hat einen wunderbaren Film eingesetzt würden. Der internationale Druck wuchs. Als die USA über extreme Charaktere geschaffen: Sie sind Teil einer mit Zollverschärfungen drohten, gab die Regierung nach. 2018 Generation von jungen Menschen, die ihre Anliegen for- hob das Parlament das Gesetz auf und verbot die Kinderarbeit. mulieren können und wissen, wie sie sie im persönlichen »Jetzt arbeiten Kinder unter 14 Jahren wieder illegal und ver- Gespräch oder per Social Media in die Welt lieren dadurch alle Rechte, die das Gesetz garantiert hatte«, kri- bringen. Ein mitreißender Dokumentarfilm! tisiert Sozialarbeiterin Rivera. Wenn sie ausgebeutet würden, Jürgen Kiontke trauten sich weder sie noch ihre Familien, das zu melden. Dem Bildungsargument kann Rivera ebenso wenig folgen. »Wir be- »Morgen gehört uns«. F 2019. Regie: Gilles treuen 843 arbeitende Mädchen und Jungen, und 99,9 Prozent de Maistre. Video on Demand und DVD von ihnen gehen in die Schule«, sagt sie. Jorge Domic von der 16 AMNESTY JOURNAL | 03/2021
Mit Schutzmasken, aber arbeitsrechtlich weitgehend ungeschützt. Kinder in einer Schreinerei in El Alto, Bolivien, April 2020. Stiftung Fundación La Paz geht noch weiter: »In der Anden- habe gegen alle internationalen Kinderrechtskonventionen ver- kultur wird Kinderarbeit als sehr wertvoll angesehen und ist stoßen. »Wir sollten dafür sorgen, dass die Kinder für eine gute grundlegend wichtig für die Entwicklung und Sozialisation von Ausbildung kämpfen, nicht dafür, im Alter von zehn Jahren gute Mädchen und Jungen«, sagt der Psychologe. Die Arbeit müsse Arbeitschancen zu bekommen«, sagt sie mit Blick auf die Forde- unter kulturellen, sozialen und historischen Aspekten betrach- rungen der Kindergewerkschaft UNATSBO. Yucra und Rivera sind tet werden. sich mit UNICEF und ILO darin einig, dass die Armut bekämpft Kinderarbeit als Kulturgut? Georg Schäfer von der Themen- werden muss, die Kinderarbeit erst nötig macht. Aber Rivera koordinationsgruppe Kinderrechte von Amnesty Deutschland sagt: »Wie die Dinge stehen, wird das nicht passieren.« teilt diese Haltung nicht. »Auch in unseren Ländern war es ein- mal gesellschaftliche Tradition, dass Jungen und Mädchen arbei- ten«, sagt er. »Heute ist es eine große Errungenschaft, dass wir das abgeschafft haben.« Kinderarbeit in Bolivien zu erlauben, könnte zu einem Dammbruch führen. »Damit könnte ein müh- Es muss die Armut sam erkämpfter internationaler Konsens bezüglich des Verbots von Kinderarbeit kippen«, befürchtet Schäfer. Und auch das UN- bekämpft werden, Kinderhilfswerk macht sich für diesen Konsens stark. Die UNI- CEF-Sprecherin in Bolivien, Virginia Perez, erklärt, ihre Organisa- die Kinderarbeit erst tion habe sich bei der bolivianischen Regierung dafür eingesetzt, dass die Reform von 2014 rückgängig gemacht werde. Das Gesetz nötig macht. AN DIE ARBEIT 17
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Ins Netz gegangen Ausbeuterische Arbeitsbedingungen sind in der Fischereibranche weit verbreitet. Eine US-amerikanische Nichtregierungsorganisation will nun mit Satellitenaufnahmen mehr Verdachtsfälle an Behörden melden. Von Frank Odenthal mit Illustrationen von Jens Bonnke A ls Gani sich auf der Brücke meldet, hat er starke Jahre nicht mehr an Land gelassen wurden. Die 22 Stunden pro Schmerzen in der Brust. Er bittet den Kapitän des Tag arbeiteten und die, wenn sie großen Fischschwärmen folg- Trawlers, der unter südkoreanischer Flagge fährt, ten, auch mal fünf Tage ohne Pause durchhalten mussten. Die ihn in ein Krankenhaus zu bringen. Er leide unter bei jedem Anzeichen von Schwäche getreten oder ausgepeitscht Perikarditis, sagt er, auch Herzbeutelentzündung genannt. wurden. Die nach ihren Arbeitsschichten in ihre Kabinen ein- Doch der Kapitän weigert sich, in den Hafen zurückzukehren; gesperrt wurden, um Fluchtversuche zu verhindern. Oder die wahrscheinlich weil er die Kosten für den Treibstoff nicht über- auf eine abgelegene indonesische Insel gebracht und dort in nehmen will. Er beschuldigt den philippinischen Fischer, die glühender Hitze und unter katastrophalen hygienischen Bedin- Krankheit nur vorzutäuschen, um sich vor der Arbeit zu drü- gungen bis zu ihrem nächsten Einsatz in Käfige gesperrt wur- cken. Besatzungsmitglieder berichten später, er habe ihn sogar den. geschlagen. »Einmal hatte sich ein Fangnetz in der Schiffsschraube ver- Einen Monat später ist Gani tot. Der Kapitän meldet der süd- fangen«, berichtet ein Betroffener. »Da haben sie mich ange- koreanischen Küstenwache als Todesursache einen Herzinfarkt bunden und über Bord geworfen, um das Netz zu bergen.« Bei – und fährt weiter. Erst als das Schiff im Hafen von Busan fest- dem Einsatz sei er in die Schraube geraten und habe bis auf den macht, können die Behörden eine Autopsie durchführen. Das Daumen alle Finger der rechten Hand verloren. Ergebnis: eine unbehandelte, fortgeschrittene Perikarditis. Rossen Karavatchev ist der für Fischereiwirtschaft zuständi- Das Schicksal des philippinischen Fischers ist kein Einzelfall. ge Sektionsleiter der International Transport Workers Federa- Die Nichtregierungsorganisation Global Fishing Watch hat von tion (ITF), der für Schiffsbesatzungen weltweit zuständigen Ge- 2012 bis 2018 rund 16.000 Schiffe untersucht und kam zu dem werkschaft mit Sitz in London. Er erklärt, welche Formen der Ergebnis, dass bei gut einem Viertel der Verdacht auf miss- Missbrauch von Seeleuten in der Fischereibranche haben kann. bräuchliche Arbeitsbedingungen besteht. Hochgerechnet wären »Die Schiffe sind überfüllt, die Kabinen überbelegt; den Arbei- davon bis zu 100.000 Seeleute betroffen. Die Dunkelziffer dürf- ter_innen werden die Pässe abgenommen, die Bezahlung ist te weitaus höher liegen. außerordentlich schlecht, vor allem bei Besatzungsmitgliedern Die Internationale Seeschifffahrtsorganisation (IMO), eine aus asiatischen Billiglohnländern wie den Philippinen, Malaysia Unterorganisation der Vereinten Nationen, schätzt die Anzahl und vor allem Indonesien. Die Arbeitszeiten pro Tag können 20 der Fischereifahrzeuge, die weltweit unterwegs sind, auf 4,6 Stunden und mehr betragen.« Millionen. Bei der Mehrzahl handelt es sich um sehr kleine Boo- Außerdem erwarten manche Schiffseigner_innen von ihrer te. Rund 64.000 Schiffe von mehr als 24 Metern Länge fischen Besatzung eine Kaution, wenn sie an Bord kommt, sagt Karavat- laut IMO auf den Weltmeeren. Eine Vertrauensperson, an die chev. Das könne eine Vorauszahlung sein, oder es werde in den sich Mannschaftsmitglieder wenden könnten, sucht man auf ersten Monaten der Lohn einbehalten. Ob die Seeleute das Geld diesen Schiffen vergeblich. Die erste Anlaufstelle für die Besat- zum Ende der Vertragslaufzeit ausbezahlt bekommen, sei oft- zung sind die Behörden in den Häfen. mals fraglich und hänge von ihrem Stillschweigen über die Doch was, wenn die Schiffe gar keine Häfen anlaufen? Man- Arbeitsbedingungen an Bord ab. che bleiben mehrere Jahre auf See, um Treibstoff und Zeit zu Die Undercover-Journalist_innen der Associated Press sparen und manchmal auch um ihr illegales Treiben auf dem recherchierten zudem, dass Migrant_innen verschleppt und Meer zu verbergen. Sie treffen sich dann fernab der Küsten mit anschließend Schiffseigner_innen angeboten wurden. Für See- großen Versorgungsschiffen, um ihren Fang zu übergeben und leute würden bis zu 1.000 US-Dollar gezahlt. Nahrung für die Crew an Bord zu nehmen. Oder auch um die Crew an das nächste Schiff zu übergeben. Entführt und verkauft Als die Nachrichtenagentur Associated Press im Jahr 2015 eine Auf See herrscht ein Enthüllungsgeschichte über sklavenartige Arbeitsbedingungen an Bord thailändischer Fischtrawler veröffentlichte, war der Unterbietungswettbewerb weltweite Aufschrei groß. Und was die Journalisten berichteten, war in der Tat haarsträubend. zulasten des Von burmesischen und kambodschanischen Migrant_innen war die Rede, die gewaltsam an Bord gebracht und bis zu zehn Arbeitsschutzes. AN DIE ARBEIT 19
Knowhow mit Hilfe von Google nen lassen. Wie lange bleibt ein Schiff auf See? Welche Häfen Global Fishing Watch hat sich vorgenommen, alle ausbeuteri- läuft es an, welche meidet es? Trifft es sich mit anderen Schiffen schen Arbeitsbedingungen in der internationalen Fischereiflotte auf hoher See? Die Stärke der Schiffsmotoren spielt eine Rolle, aufzudecken. Die Organisation arbeitet dabei mit Hightech. »Wir weil sie Rückschlüsse auf die Größe der Schiffe zulassen; auch werten öffentlich zugängliche Satellitenfotos aus und verknüp- der Kurs der Schiffe, vor allem der Abstand zu den Häfen – je fen sie mit den Automatischen Identifikationssignalen der Schif- größer die Distanz, desto geringer die Gefahr, bei illegalen Akti- fe«, sagt Courtney Farthing, die Projektleiterin bei Global Fishing vitäten überrascht zu werden – und natürlich die Frage, in wel- Watch. Solche Identifikationsgeräte (AIS, Automatic Identification chen Hoheitsgewässern sich das Schiff gerade befindet. System), die ebenfalls über Satellit übertragen werden, sind seit Denn dies führt zu einer sehr wichtigen Frage: Wer ist zu- 2000 von der IMO als Standard in der kommerziellen Seefahrt ständig? »Zunächst einmal ist es der Kapitän des Schiffes«, sagt vorgeschrieben. Sie dienen vor allem der Vermeidung von Kolli- Courtney Farthing. »In dieser besonderen Situation auf See, in sionen auf hoher See und als Mittel der Küstenstaaten, um den der die Besatzung eine Schicksalsgemeinschaft auf Zeit bildet, Verkehr in ihren Hoheitsgewässern zu überwachen. der sie sich für die Dauer der Fahrt nicht entziehen kann, gilt: »Ohne die Daten der AIS-Geräte lassen sich verdächtige Be- Der Kapitän ist für seine Mannschaft verantwortlich.« wegungen auf hoher See nur schwer feststellen«, erklärt Far- Davon abgesehen gibt die Position des Schiffes vor, welcher thing, »etwa das Treffen mit anderen Schiffen, um Crewmitglie- Gesetzbarkeit es unterliegt. Innerhalb der Zwölfmeilenzone ist der auszutauschen oder illegal gefangenen Fisch zu verladen, es die des jeweiligen Küstenstaates; außerhalb, also in interna- ohne dafür einen Hafen anlaufen zu müssen.« Dass das nötige tionalen Gewässern, die des Flaggenstaates. Unter welcher Flag- technische Know-how zur Verfügung steht, dafür sorgen Sky- ge ein Schiff fährt, hat nur wenig mit dem Sitz der Reederei oder truth, eine Nichtregierungsorganisation, die auf die Auswertung der Herkunft der Eigner_innen zu tun. Mitunter haben die Flag- von Satellitenaufnahmen spezialisiert ist, und der Konzern Goo- gen und deren Schiffsregister nicht einmal etwas mit dem Staat gle. Zusammen mit der Meeresschutzorganisation Oceana ha- zu tun, den sie vertreten. Oft sind es private Firmen, die dem ben sie 2016 Global Fishing Watch gegründet. jeweiligen Staat das Recht abgekauft haben, in seinem Namen Farthing und ihre Kolleg_innen machen sich dabei For- Schiffe zu registrieren. schungsergebnisse zunutze, die nahelegen, dass sich Schiffe, auf Solche Register unterscheiden sich neben der Steuerhöhe denen die Crew Zwangsarbeit leisten muss oder missbräuchlich vor allem in den Regulierungen und Standards, etwa in Sachen eingesetzt wird, anders verhalten als andere Schiffe. Es geht um Umweltverträglichkeit oder eben Arbeitsbedingungen. »Billig- Manöver und Merkmale, die solche Schiffe verdächtig erschei- flaggen« wird dieses Phänomen genannt oder »Flags of Conve- 20 AMNESTY JOURNAL | 03/2021
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