AMNESTY JOURNAL - Amnesty International

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AMNESTY JOURNAL - Amnesty International
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                            DAS MAGAZIN FÜR DIE MENSCHENRECHTE

                                                                                                      03
                            AMNESTY JOURNAL                                                           2021
                                                                                                      MAI / JUNI

                                     02R
                               AN DIE
                               ARBEIT
                               MENSCHENRECHTE
                               FÜR BESCHÄFTIGTE

                         60 JAHRE AMNESTY            AFGHANISTAN          RAUBKUNST IN FRANKREICH
                         Immer wieder Mensch         Abgeschoben in den   Afrikanische Expert_innen
                         für Mensch retten           Terror von Kabul     fordern Gerechtigkeit
AMNESTY JOURNAL - Amnesty International
INHALT                                                                                                Lockdown für
                                                                                                      Arbeitsrechte.
                                                                                                      Der Umgang mit
                                                                                                      Corona spaltet die
                                                                                                      Weltgesellschaft
TITEL: AN DIE ARBEIT                                                                                  noch tiefer: Auf
                                                                                                      Schiffen, in Textil-
Arbeit unter Corona-Bedingungen: Beschäftigte am Limit    12                                          fabriken, Kranken-
                                                                                                      häusern und auf
UN-Jahr gegen Kinderarbeit: Kinder wollen mitreden        16
                                                                                                      deutschen Erdbeer-
Fischereibranche: Krasse Ausbeutung auf See
Philippinen: Gewerkschafter_innen leben gefährlich
                                                          18
                                                          22
                                                                12                                    feldern verschärft
                                                                                                      sich die Ausbeu-
                                                                                                      tung.
Union Busting: Amazon, Alphabet und Gewerkschaften        24
Graphic Report Katar: Misshandelt und überlastet          28    Zähmung der Giganten.
                                                                     Während sie immer
Kommentar: Arbeitsschutz, Menschenrechte                          reicher und mächtiger
und die Fußball-WM 2022 in Katar                          30   werden, stellen sich zwei
                                                                   der einflussreichsten
IG Metall und Amnesty: Jürgen Kerner im Interview         31     Unternehmen der Welt
                                                                  gegen Gewerkschafts-
                                                                 bestrebungen: Amazon
POLITIK & GESELLSCHAFT                                          und Alphabet. Doch der
                                                                     Widerstand wächst.
60 Jahre Amnesty I: Essay – Mensch für Mensch retten
60 Jahre Amnesty II: Interview – »Genauso alt wie ich«
                                                          34
                                                          36
                                                                                           24
Amnesty-Report: Weltweite Lage der Menschenrechte         38
Hass im Netz: HateAid steht Betroffenen bei               40   To-Dos gegen den Hass.
Bergbau in Armenien: Gold oder Aprikosen?                 44   Im Kampf gegen
                                                               Anfeindungen hat
Journalismus in Somalia: Berichten unter Lebensgefahr     46   die Organisation HateAid
                                                               Routine. Sie hilft Menschen,
Weltrechtsprinzip: Nirgendwo auf der Welt straffrei       50   die im Netz bedroht und
Russland I: Kontrolle wird ausgeweitet                    54   beleidigt werden, darunter
                                                               auch die Politikerin Hannah
Russland II: Alexej Nawalny muss freigelassen werden!     55   Neumann.

Afghanistan: Abgeschoben und ausgeliefert                 56
                                                                                                              40
KULTUR
                                                                                                 Verschleppt,
Kolumbien: Erinnerung an Verschwundene und Ermordete      62
                                                                62
                                                                                                 nicht vergessen.
                                                                                                 Der Schriftsteller Erik
Raubkunst in Frankreich: Rückgabe beginnt langsam         66
                                                                                                 Arellana Bautista unter-
Russland: Kritische Kulturschaffende unter Druck          68                                     stützt in Kolumbien die
                                                                                                 Hinterbliebenen von
Klagelieder: Musik zum Genozid an den Armeniern           70                                     Verschwundenen und
                                                                                                 Ermordeten. Er gibt
@engagiert: Menschenrechte auf Instagram                  72
                                                                                                 den Trauernden eine
Lyrikerin Lina Atfah: Mit Worten nach Hause finden        74                                     Stimme, auch dank
                                                                                                 gemeinsamer
Politisches Buch: Von Utopien und Realitäten              76                                     Erinnerungsarbeit.
Dokumentarfilm: Journalistin Carmen Aristegui in Mexiko   79

                                                                   Der Knochen, an dem die
RUBRIKEN                                                       Scham nagt. Vor mehr als drei
                                                               Jahren versprach der französi-
Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 06 Markus N. Beeko über              sche Präsident, koloniale
Sport und Menschenrechte 07 Spotlight: Iran 08 Interview:       Raubkunst aus Afrika zurück-
Mariam Claren 09 Was tun 52 Porträt: Trude Simonsohn 60          zugeben. Viel geschehen ist
Dranbleiben: Waffenexporte, Istanbul-Konvention 61                bislang nicht. Afrikanische
                                                                Expert_innen sehen dennoch
Rezensionen: Bücher 77 Rezensionen: Film & Musik 78
Briefe gegen das Vergessen 80 Aktiv für Amnesty 82
Impressum 83
                                                                     einen kunsthistorischen
                                                                        Paradigmenwechsel.                    66
2                                                                                               AMNESTY JOURNAL | 03/2021
AMNESTY JOURNAL - Amnesty International
Ins Netz gegangen. Ausbeuterische
   Arbeitsbedingungen sind in der
   Fischereibranche weit verbreitet.
   Eine US-Nichtregierungsorganisation
   will nun mit Satellitenaufnahmen mehr
   Verdachtsfälle an Behörden melden.
                                                                                                                                         BLICK NACH VORN
                                                                                                                                         UND BLICK ZURÜCK
                                                                                                           18                            Aktualität ist im Journalismus Anlass zu Freude und
                                                                                                                                         Sorge zugleich. Neues zu entdecken, zu beschreiben und
                                                                                                                                         einzuordnen, ist für viele Journalist_innen ein täglicher
                                                                                                                                         Antrieb. Von Ereignissen überrollt zu werden, gehört im
                                                                                                                                         Journalismus ebenfalls zum Alltag. Was heute noch

                                                                                                           34                            aktuell ist, kann morgen schon Schnee von gestern sein.

                                                                                                                                         In einem Zweimonatsmagazin wie dem Amnesty Journal
                                                            Etablierte Gegenkultur.                                                      ist Aktualität eine besondere Herausforderung. Im Fall
                                                            60 Jahre Amnesty International                                               von Alexej Nawalny ist sie uns sehr wichtig. Wir konnten
                                                            erzählen eine Geschichte von                                                 unsere Doppelseite zu Nawalny und Amnesty International
                                                           Aufbrüchen und Rückschlägen.
                                                          Und sie stecken voller Verwand-                                                (Seiten 54/55) zuletzt am 21. April aktualisieren und da-
                                                        lungen. Ein Essay des Historikers                                                nach nur hoffen, zum Zeitpunkt der Auslieferung noch
                                                     Jan Eckel.                                                                          aktuell zu sein.

                                                                                                                                         Während das Schwerpunktthema dieser Ausgabe zu
                                                                                             Jede Sendung                                Arbeits- und Menschenrechten entstand, haben uns

   46
                                                                                             wird zum Risiko.
                                                                                                                                         aktuelle Entwicklungen gezeigt, wie richtig und wichtig
                                                                                             Journalistinnen
                                                                                             und Journalisten                            diese Themenwahl war: Mitte April wurde bekannt, dass
                                                                                             leben in Somalia                            in Saudi-Arabien 41 Frauen aus Sri Lanka seit Monaten
                                                                                             gefährlich. Dabei                           in Abschiebehaft festgehalten werden, nachdem man sie
                                                                                             geht die Bedro-
                                                                                             hung nicht nur                              zuvor als Hausangestellte im Rahmen des Kafala-Systems
                                                                                             von islamistischen                          (Seiten 28/29) ausbeutete.
                                                                                             Milizionären aus.
                                                                                                                                         Beim Thema 60 Jahre Amnesty International war Aktuali-
                                                                                                                                         tät mal nicht so wichtig. Im Mai 1961 entstand Amnesty,
                                                                                                                                         und das ist auf jeden Fall ein Grund zu feiern. Im Journal
           Plötzlich in Kabul.                                                                                                           werden wir den Geburtstag auch in den kommenden Mo-

                                                                                                           56
         Trotz Pandemie und
Bürgerkrieg werden weiterhin                                                                                                             naten publizistisch begleiten – mit Berichten, Porträts,
 Menschen nach Afghanistan                                                                                                               Interviews und Meinungsbeiträgen unter dem Motto »Mit
abgeschoben. Vor Ort gibt es                                                                                                             Menschlichkeit für die Menschenrechte«. Wir starten mit
  viele Hilfsprogramme, aber
       kaum Perspektiven. Es
                                                                                                                                         einem Essay des Historikers Jan Eckel (Seiten 34/35)
         drohen Verelendung                                                                                                              und einem Interview: Die Amnesty-Förderin Sabine Zar-
           und sogar der Tod.                                                                                                            mann und das Amnesty-Mitglied Detlef Roggenkemper
                                                                                                                                         werden, wie Amnesty, am 28. Mai 60 Jahre alt (Seiten
                                                                                                                                         36/37).

                                                                                                                                         Das Doppelinterview hat meine Kollegin Lea De Gregorio
                                                                                                                                         redaktionell betreut. Seit dem 1. März ist sie Redakteurin
                                                                                                                                         des Journals, nachdem sie zuvor Volontärin war. Nun ist
                                                                                                                                         sie zuständig für Gesellschaftsthemen im Journal: Gen-
                                                                                                                                         der, Medien, Alltagsdiskriminierung, Gesundheit, Religion
                                                           Titelbild:                                                                                   und vieles mehr. Ich freue mich sehr, mit
                                                           Verkehrszeichen 123
                                                           »Arbeitsstelle« nach der                                                                     Lea De Gregorio zusammenzuarbeiten, und
                                                           Staßenverkehrsordnung                                                                        möchte diese Freude mit Ihnen teilen!
                                                                                                                  Foto: Gordon Welters

Fotos oben: Jefferson Bernardes / AP / pa | Jens Bonnke | Bob Miller / The New York Times / Redux / laif
Mike Schmidt / SZ Photo / pa | Tobin Jones / AU-UN IST (CC0 1.0) | Benjamin Thieme
                                                                                                                                                       Maik Söhler ist verantwortlicher Redakteur
Johanna-Maria Fritz | Gerard Julien / AFP / Getty Images                                                                                               des Amnesty Journals.

INHALT         |     EDITORIAL                                                                                                                                                                      3
AMNESTY JOURNAL - Amnesty International
PANORAMA

Foto: Marvin Ibo Guengoer / GES / pa

AUF DEM WEG ZUR FUSSBALL-WM IN KATAR
Human Rights – elf Buchstaben, von elf Fußballern getragen. Am 25. März zeigte die deutsche Nationalmann-
schaft vor ihrem ersten WM-Qualifikationsspiel gegen Island plakativ, was sie vom Austragungsort der Fußball-WM
im Herbst 2022 hält. Zahlreiche Arbeitsmigrant_innen sind in Katar in den vergangenen zehn Jahren ums Leben
gekommen (siehe Seite 30), weil das Land ihre Arbeitsrechte nicht achtete. In den folgenden Länderspielen
wurde die Botschaft leicht variiert wiederholt. Doch nicht alles, was plakativ ist, ist auch klar. Menschenrechte
sind wichtig, so viel versteht man. Aber sind sie so wichtig, dass die Nationalelf deswegen ihre Teilnahme an der
WM in Katar infrage stellt? Und: Sind Menschenrechte in Katar nur in Bezug auf die WM wichtig? Eine Antwort
darauf steht noch aus, vor allem von jenen Spielern, die im Februar 2021 mit dem FC Bayern München die
Klub-WM in Katar gewannen und auch sonst öfter mal zum Winter-Trainingslager in das Emirat reisen.
Jenseits der unbeantworteten Fragen sendet das Bild aber eine einfache Botschaft: Human Rights,
Menschenrechte! Dafür ist zu danken.

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AMNESTY JOURNAL - Amnesty International
AUF DEM WEG IN DIE USA
                              US-Präsident Joe Biden hat Vizepräsidentin Kamala Harris mit einer heiklen Aufgabe betraut:
                 Sie soll mit El Salvador, Guatemala und Honduras Mittel finden, um Menschen aus diesen Ländern davon
           abzuhalten, über Mexiko in die USA zu gelangen. Im April erklärte die US-Administration, Honduras, Guatemala
             und Mexiko würden ihre militärischen Einheiten zur Eindämmung von Migration aufstocken. Die US-Behörden
                    nahmen im März mehr als 171.000 Menschen an der Grenze zu Mexiko fest – mehr als je zuvor in den
                      vergangenen 15 Jahren. Tag für Tag kommen aus dem Süden weitere Menschen an. Die Herbergen in
                   den mexikanischen Grenzstädten sind überfüllt. Ein besonderes Problem bereitet die Unterbringung von
                unbegleiteten Minderjährigen (Foto). Wegen der Corona-Pandemie bleibt das Recht auf Asyl auch unter der
               neuen US-Regierung ausgesetzt. Präsident Biden nahm zwar migrationspolitische Dekrete seines Vorgängers
                 Trump zurück, doch der gesundheitspolitische »Titel 42« bleibt. Er erlaubt es der US-Grenzpolizei, alle an
                                                 der Grenze festgenommenen Menschen direkt nach Mexiko abzuschieben.
                                                                                                             Foto: Go Nakamura / Reuters

PANORAMA                                                                                                                              5
AMNESTY JOURNAL - Amnesty International
POLEN Im Prozess gegen drei Menschen-
EINSATZ MIT ERFOLG                                                                                  rechtsverteidigerinnen sind die Angeklagten
Weltweit beteiligen sich Tausende                                                                   am 2. März freigesprochen worden. Man hatte
Menschen an den »Urgent Actions«,                                                                   ihnen vorgeworfen, mit Plakaten, die die Jung-
den »Briefen gegen das Vergessen« und                                                               frau Maria mit einem regenbogenfarbenen
an Unterschriftenaktionen von Amnesty                                                               Heiligenschein zeigten, religiöse Gefühle ver-
International. Dass dieser Einsatz Folter                                                           letzt zu haben. Elżbieta, Anna und Joanna
verhindert, die Freilassung Gefangener                                                              drohten deswegen bis zu zwei Jahre Gefäng-
bewirkt und Menschen vor unfairen                                                                   nis. Die Anklage erfolgte auf der Grundlage
Prozessen schützt, zeigt unsere Weltkarte.                                                          von Artikel 196 des polnischen Strafgesetz-
Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge                                                                  buches, der einen weiten Spielraum bietet, um
                                                                                                    Einzelpersonen zu verfolgen und zu kriminali-
                                                                                                    sieren. Er verstößt nach Auffassung von Am-
                                                                                                    nesty International und anderen Menschen-
                                                                                                    rechtsorganisationen gegen das Recht auf
                                                                                                    freie Meinungsäußerung und ist nicht mit
                                                                                                    internationalen und polnischen Menschen-
                                                                                                    rechtsverpflichtungen vereinbar.
                                                                                                           

                                                                                                                    

                                                                                                                                

                                                                                                                        

USA Seit Februar ist Steven Tendo aus huma-       ALGERIEN Nach fast einem Jahr Haft ist der        MOSAMBIK Im Februar 2021 hat Papst
nitären Gründen frei, bis über seinen Asylan-     algerische Journalist Khaled Drareni wieder in    Franziskus die Versetzung von Bischof Luis
trag entschieden wird. Der 35-jährige Pastor      Freiheit. Der algerische Präsident Abdelmadjid    Fernando Lisboa nach Brasilien veranlasst.
aus Uganda kam im Dezember 2018 als Asyl-         Tebboune ordnete am 19. Februar 2021 an,          In Mosambik war Lisboa wegen seiner Men-
suchender in die USA, nachdem er vor Folter       ihn und weitere politische Gefangene freizulas-   schenrechtsarbeit zum Ziel einer Verleum-
und anderen schweren Menschenrechtsverlet-        sen. Der Oberste Gerichtshof hob am 25. März      dungskampagne von Unterstützer_innen der
zungen fliehen musste. Im Dezember 2018           seine zweijährige Haftstrafe auf und ordnete      Regierung geworden. Seine Versetzung soll
wurde er in Einwanderungshaft genommen.           eine Wiederaufnahme des Verfahrens an. Dra-       seine Sicherheit gewährleisten. Der Bischof
Seine geplante Abschiebung konnte im Sep-         reni ist ein unabhängiger Journalist, der 2019    von Pemba gehörte zu den wenigen Stimmen
tember 2020 durch weltweite Aktionen verhin-      über die landesweiten Proteste gegen die alge-    in Mosambik, die sich zu den schlechten
dert werden, doch sein Gesundheitszustand         rische Regierung berichtet hatte. Im März         humanitären und menschenrechtlichen
verschlechterte sich wegen einer Diabetes-        2020 wurde er bei einer Demonstration festge-     Bedingungen in der Provinz Cabo Delgado
erkrankung und unzureichender medizini-           nommen und kurz darauf wegen »Gefährdung          äußerten. Dort herrscht seit 2017 ein bewaff-
scher Versorgung. Neben Tendo wurden auch         der nationalen Einheit« und »illegaler Ver-       neter Konflikt. Nach einer Eilaktion von
vier Familien aus der US-Einwanderungshaft        sammlung« verurteilt. Amnesty hatte sich im       Amnesty International hatte zuvor schon
entlassen. Amnesty International hatte sich für   Rahmen des Briefmarathons und der Briefe          Mosambiks Präsident Filipe Nyusi seine
ihre und für Tendos Freilassung eingesetzt.       gegen das Vergessen für Drareni eingesetzt.       Unterstützung für Lisboa ausgedrückt.

6                                                                                                                       AMNESTY JOURNAL | 03/2021
AMNESTY JOURNAL - Amnesty International
RUSSLAND Wie erst im Februar 2021 bekannt                             MARKUS N. BEEKO ÜBER

                                                                                                                                 Foto: Bernd Hartung / Amnesty
wurde, hat der gewaltlose politische Gefange-
ner Konstantin Kotov am 16. Dezember 2020
das Gefängnis verlassen, in dem er ein Jahr
                                                                      SPORT UND
und vier Monate inhaftiert war. Er war am
10. August 2019 festgenommen und später                               MENSCHENRECHTE
verurteilt worden, weil er wiederholt an »nicht
genehmigten« Kundgebungen teilgenommen            »No Sports«, so wird der ehemalige britische Premier Winston Churchill
hatte. Kotov lebt in Moskau und beteiligte sich   oft zitiert, auch wenn er das wohl nie gesagt hat. Heute ist bekannt,
an zahlreichen friedlichen Demonstrationen        dass er ritt, focht, schwamm, boxte. »No Sports« war früher auch oft
gegen Menschenrechtsverletzungen und in           meine Antwort, wenn Fragen nach meinen Hobbies aufkamen. Ich war
Solidarität mit politischen Gefangenen. Kotov     zwar kein »Turnbeutelvergesser«, musste mich aber in meiner Schulzeit
dankte Amnesty und allen, die sich für ihn ein-   eher tapfer durch den Sportunterricht kämpfen. Reck, Barren und
gesetzt haben. Er wird vor dem Europäischen       Hochsprung waren echte Herausforderungen.
Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde             Bewegung in mein Leben brachten Judo (einige Jahre), Volleyball
gegen seine Verurteilung einlegen.                (gelegentlich), ein wenig Tennis und im Studium sogar Eishockey
                                                  (bewusst dilettierend). Und die Olympischen Sommerspiele: Gebannt
                                                  verfolgte ich die Laufwettbewerbe, fieberte mit Hochspringern und
                                                  fachsimpelte, ob Bob Beamons Weitsprungrekord fallen würde.
                                                      Meine Begeisterung galt auch der internationalen Aura der Spiele,
                                                  dem Starterfeld aus Ländern rund um den Globus, dem Mitfiebern mit
                                                  den afrikanischen Läufern – wann konnte man je im Fernsehen mehr
                                                  Schwarze sehen –, aber auch Stars wie Carl Lewis oder Michael Groß.
                                                      Und die Eröffnungs- und Abschlussfeiern! Sie hatten, was Bundes-
                                                  jugendspielen abging: Die Völker der Welt in fröhlichem Treiben, Musik,
                                                  Drama, Pathos. Für einen Moment gab es eine friedliche, bunte, solida-
                                                  rische Gemeinschaft netter Menschen, die der Politik vormachten, wie
                                                  es sein sollte. Eine Welt, die mit der Eröffnungsfeier begann, bei den
                                                  Wettbewerben latent im Hintergrund mitschwang, um dann mit dem
                                                  Happy End der Abschlussfeier in den Winterschlaf zu gehen. Bis diese
                                                  Welt bei den nächsten Spielen wieder wachgeküsst wurde.
                                                      Aber ich wusste auch, dass der Sport für staatliche Propaganda
                                                  genutzt wurde. Ich hatte den Olympia-Boykott 1980 in Moskau und die
                                                  Fußball-WM 1978 während der Militärdiktatur in Argentinien gesehen.
                                                  Und auch die Instrumentalisierung der Spiele 1936 durch Nazi-
                                                  Deutschland erinnerte immer wieder daran: Sportereignisse sind
                                                  politisch. Sie passieren nicht in einer Blase.
                                                      Die aktuelle Diskussion um die Fußball-WM in Katar und die Olym-
                                                  pischen Winterspiele in China, die Sportler_innen und Fans angestoßen
                                                  haben, ist wichtig. Amnesty weist seit langem auf dortige Menschen-
                                                  rechtsverletzungen hin. Das IOC, die großen Sportverbände im Fußball,
                                                  Eishockey oder in der Formel 1 ordnen weiterhin die Menschenrechte,
                                                  das Wohl der Athlet_innen und Transparenz dem Kommerz unter und
TÜRKEI Der türkische Kassationsgerichtshof        dienen sich Regierungen an. Im Januar führte die Strecke der Rallye
hat im April die Haftstrafe des Schriftstellers   Dakar in Saudi-Arabien an dem Gefängnis vorbei, in dem die Frauen-
und Journalisten Ahmet Altan aufgehoben.          rechtlerin Loujain al-Hathloul gefoltert wurde. Loujain hatte sich unter
Das Gericht lieferte keine Begründung für die     anderem gegen das Frauenfahrverbot eingesetzt.
Annullierung. Altan war mehr als vier Jahre im        Bevor internationale Sportereignisse vergeben werden, müssen men-
Gefängnis, weil ihm eine Beteiligung am ge-       schenrechtliche Mindeststandards zur Voraussetzung gemacht werden.
scheiterten Putsch im Jahr 2016 unterstellt       Und auch bei der Planung und Umsetzung muss die Einhaltung der
wurde. Dies hat er stets bestritten. Der Frei-    Menschenrechte überprüft und überwacht werden.
lassung ging ein Urteil des Europäischen              Es braucht Sportler wie Colin Kaepernick und Lewis Hamilton, es
Gerichtshofs für Menschenrechte voraus, der       braucht kritische Fans und uns alle, um weiter lästige Fragen an Ver-
die Türkei wegen Altans Inhaftierung scharf       bände, Sponsoren und Politik zu stellen. Amnesty fordert mit einer
gerügt hatte. Amnesty International hatte Altan   Kampagne von der FIFA lange überfällige Veränderungen ein. Es
als gewaltlosen politischen Gefangenen be-        braucht weiter Druck, damit das IOC-Motto »Building a better world
trachtet und gefordert, ihn freizulassen. Nach    through sport« in den Ohren der Opfer von Menschenrechtsverletzungen
seiner Freilassung erinnerte Amnesty an weite-    irgendwann nicht mehr wie Hohn klingt.
re Journalist_innen und Aktivist_innen, die zu
Unrecht in türkischen Gefängnissen inhaftiert     Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.
sind.

EINSATZ MIT ERFOLG                                                                                                           7
AMNESTY JOURNAL - Amnesty International
SPOTLIGHT: IRAN

                                                        DOPPELSTAATSANGEHÖRIGE
                                                        IM IRANISCHEN GEFÄNGNIS

                                                                                                                                             Foto: privat
Wird seit einem halben Jahr im Iran festgehalten. Nahid Taghavi.

Die 66-jährige iranisch-deutsche Staats-         tiert. Das Land entlässt seine Staatsan-     nen. Die Urteile erfolgen häufig wegen
bürgerin Nahid Taghavi (siehe Seite 9) ist       gehörigen fast nie aus der Staatsbürger-     nebulöser Straftatbestände wie »Propa-
seit Oktober 2020 in Teheran inhaftiert.         schaft und betrachtet sie ausschließlich     ganda gegen das System«. Gefangenen
Sie hat ihren Wohnsitz in Deutschland,           als Iraner_innen. Konsularischer Beistand    wird der Zugang zu angemessener medizi-
reist aber öfter in den Iran, um Familien-       durch das Land ihrer zweiten Staatsbür-      nischer Versorgung und Medikamenten
angehörige zu besuchen. Zuvor gab es             gerschaft wird ihnen verweigert.             verwehrt. So auch im Fall Taghavi.
dabei nie Probleme, doch dieses Mal wur-             Die willkürliche Inhaftierung steht am       Der UN-Sonderberichterstatter zur
de sie in ihrer Teheraner Wohnung festge-        Beginn weiterer Menschenrechtsverlet-        Menschenrechtslage im Iran, Javaid Reh-
nommen. Die Behörden verwiesen auf               zungen: Die Strafverfolgungsbehörden         man, äußerte sich 2019 besorgt über die
»Sicherheitsgründe«, es lag jedoch bis           verweigern Inhaftierten den Zugang zu        Lage inhaftierter Doppelstaatsangehöri-
Mitte April keine Anklage gegen sie vor.         Rechtsbeiständen ihrer Wahl. Politische      ger. Iranische Behörden würden gegen sie
Amnesty International betrachtet Taghavi         Häftlinge werden in Verhören gefoltert       Scheinprozesse führen, die die Standards
als gewaltlose politische Gefangene.             und misshandelt. Gerichte verwenden          für faire Gerichtsverfahren verletzten, sie
    Im Iran wurden in den vergangenen            »Geständnisse«, die unter psychischem        aufgrund konstruierter Beweise verurtei-
Jahren mehr als zwei Dutzend Personen            Druck oder Folter erzwungen wurden, als      len und versuchen, diese Menschen als
mit doppelter Staatsangehörigkeit inhaf-         Beweise, die zur Verurteilung führen kön-    diplomatische Druckmittel zu benutzen.

       Iranische Behörden                           IN EINZELNEN FÄLLEN KAM ES                  DER FALL TAGHAVI STEHT IN
         »versuchen, diese                          ZU VERHANDLUNGEN ÜBER DEN                   EINER REIHE MIT MEHR ALS
             Menschen als
                                                    AUSTAUSCH                                   ZWEI DUTZEND
     diplomatische Druck-                           GEGEN IM AUSLAND INHAFTIERTE                INHAFTIERUNGEN
      mittel zu benutzen«.                          IRANER, DIE DER REGIERUNG                   VON BÜRGER_INNEN MIT
                                                    NAHESTANDEN.                                DOPPELTER STAATSANGEHÖRIGKEIT.
                          JAVAID REHMAN,
              UN-SONDERBERICHTERSTATTER
         ZUR MENSCHENRECHTSLAGE IM IRAN.

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AMNESTY JOURNAL - Amnesty International
MARIAM CLAREN

»MAN KANN SICH
DER ANGST NICHT
ENTZIEHEN«
Die Deutsch-Iranerin Nahid Taghavi befindet sich seit Oktober
2020 im Iran in Isolationshaft – lange Zeit ohne Anklage und
Kontakt zu einem Rechtsbeistand. Ihre in Köln lebende
Tochter Mariam Claren (40) kämpft seitdem für die Freilassung.
Amnesty unterstützt sie dabei mit einer Eilaktion. Von der
deutschen Bundesregierung fordert Claren ein entschlosseneres

                                                                                                                                        Foto: privat
Vorgehen gegenüber den iranischen Behörden.

Interview: Ralf Rebmann

Ihre Mutter wurde am 16. Oktober 2020 in ihrer Wohnung in            kann sie einmal pro Woche mit ihrem Bruder telefonieren. Ich
Teheran festgenommen. Haben Sie seitdem mit ihr gesprochen?          hoffe, dass sie nicht auf die Tricks und falschen Versprechun-
    Nein, das letzte Mal haben wir am Vormittag des 16. Okto-        gen der Sicherheitsbeamten hereinfällt. Mal wird ihr verspro-
ber 2020 telefoniert. Es war ein banales Gespräch über einen         chen, sie käme gegen Kaution frei, dann wiederum soll es ein
persischen Eintopf und die Zutaten. Sie sagte zu mir, lass uns       Gerichtsverfahren geben. Über eine offizielle Anklage wussten
morgen darüber sprechen, wenn du alle Zutaten besorgt hast.          wir bis Mitte April nichts. Wir haben erfahren, dass ihr Anwalt
Nach diesem Telefonat brach der Kontakt ab.                          abgelehnt wurde. Stattdessen soll meine Mutter einen Anwalt
                                                                     auswählen, dem »das Justizministerium vertraut«. Das ist ab-
Wie haben Sie von ihrer Festnahme erfahren?                          surd. Seit mehr als vier Monaten hat sie keinen Rechtsbeistand.
    Meine Mutter hat einen deutschen und einen iranischen            Dass ihr Verfahren nicht fair ablaufen wird, ist offensichtlich.
Pass. Wenn sie in den Iran reist, schicken wir uns Sprachnach-
richten. Nach unserem Telefonat erhielt ich keine Antwort mehr,      Wie hat sich Ihr Leben seit der Festnahme verändert?
auch am nächsten Tag nicht. Deswegen bat ich ihre Brüder, die           Es ist ein Horrortrip. Man kann sich der Angst und Unge-
im Iran leben, in der Wohnung nachzuschauen. Sie fanden dort         wissheit nicht entziehen. Hinzu kommen ständige Zweifel: Wird
Chaos vor: Die Regale waren umgeschmissen, die Teppiche her-         genug über meine Mutter berichtet? Habe ich alles dafür getan,
ausgerissen, alle Unterlagen weg. Die Nachbarin sagte, dass          dass sie freikommt? Wir reden von einem Staat, der Menschen-
Sicherheitsbeamte meine Mutter abgeholt hätten, mit dem              rechte systematisch verletzt.
Krankenwagen, um kein Aufsehen zu erregen.
                                                                     Wissen Sie, ob Ihr Engagement im Iran wahrgenommen wird?
Wohin wurde sie gebracht?                                               Jedes Mal, wenn ich mich öffentlich über meine Mutter
    In das berüchtigte Evin-Gefängnis. Dort saß sie zuerst in        geäußert habe, durfte sie einen Anruf tätigen. Die Behörden
Isolationshaft, im März wurde sie in den Frauentrakt und im          haben sich bei meinem Onkel beschwert, dass es eine Unver-
April zurück in Isolationshaft verlegt. Es ist unklar, warum sie     schämtheit von mir sei, das Thema Menschenrechtsverletzun-
ins Visier der Behörden geriet. Wegen ihrer politischen Meinung      gen im Iran in den Mund zu nehmen. Die Behörden beobachten
oder weil sie zwei Pässe besitzt? Offiziell wegen »Gefährdung        das sehr genau.
der Sicherheit«. Jedenfalls ist sie eine politische Gefangene.
                                                                     Was fordern Sie von der deutschen Regierung?
Wissen Sie, wie es Ihrer Mutter geht?                                    Ich erwarte, dass sie entschlossener gegen eine solch offen-
   Ihr geht es nicht gut. Sie ist 66 Jahre alt, ist in der Haft an   sichtliche Willkür und Verletzung von Menschenrechten vorgeht
Diabetes erkrankt und leidet unter Bluthochdruck. Mittlerweile       und sich für die Freilassung meiner Mutter einsetzt.

SPOTLIGHT: IRAN                                                                                                                     9
AMNESTY JOURNAL - Amnesty International
TITEL

10      AMNESTY JOURNAL | 03/2021
An die Arbeit

                                 Unterbrochene Lieferketten, nicht ausgezahlte
                             Löhne, Massenentlassungen: Frauen, Beschäftigte
                      im Niedriglohnsektor, Kinder und Migrant_innen zahlen
                        derzeit den höchsten Preis für die Corona-Folgen in der
                          Arbeitswelt. Es häufen sich aber auch ausbeuterische
                             Arbeitsbedingungen und die Einschüchterung von
                          Beschäftigten und Gewerkschaften. Doch diese lassen
                        sich nicht kleinkriegen und halten solidarisch dagegen.
                              Eins ist klar: Arbeitsrechte sind Menschenrechte!

Prekäre Arbeit mitten in Deutschland.
Erdbeerernte im Rheinland, April 2020.
Foto: Matthias Jung / laif

                                                                              11
Lockdown für
Arbeitsrechte
Der Umgang mit Corona spaltet die Weltgesellschaft noch
tiefer: Auf Schiffen, in Textilfabriken, Krankenhäusern
und auf deutschen Erdbeerfeldern verschärft sich
die Ausbeutung. Von Annette Jensen

N
            eunzehn Männer stehen an Deck eines 186 Meter              gleich geraten auch die Ablösemann-
            langen Schiffes und halten Pappschilder in die Höhe:       schaften in finanzielle Schwierigkei-
            »Please help us«. Manche von ihnen haben mehr als          ten, weil sie wegen des Lockdowns
            zwei Jahre lang geschuftet, ihr Arbeitgeber ist mit        und der Grenzschließungen nicht zu
400.000 Dollar Heuer im Rückstand. Seit Monaten liegt der              ihren Einsatzorten kommen.
Massengutfrachter Ula in einem kleinen Hafen in Kuwait. Die                Dagegen boomt das Geschäft vie-
Reederei hat das Schiff aufgegeben – vermutlich wegen fehlen-          ler großer Schiffseigner wieder, nach-
der Ladung infolge der Pandemie.                                       dem sie zu Beginn der Pandemie
     In ihrer Verzweiflung sind die Seeleute aus Indien, der Türkei,   kurzfristig Umsatzeinbrüche hatten.
Aserbaidschan und Bangladesch im Januar in den Hungerstreik            Ein Großteil spart beim Personal. Um

                                                                                                                Foto: Jefferson Bernardes / AP / pa
getreten. »Wir haben Schulden zu Hause, wir brauchen das               deutsche Arbeitsschutzbestimmun-
Geld«, erklärte Bhjanu Shakar Panda im Fernsehsender Al-Ara-           gen zu umgehen, fahren derzeit nur
biya zur Begründung, warum die Mannschaft das Schiff nicht             noch 14 Prozent der deutschen Han-
verlassen will. Ein Kollege berichtete, sein Vater sei wegen der       delsflotte unter schwarz-rot-goldener
Pandemie arbeitslos geworden und nun hänge der Lebensunter-            Flagge, obwohl die Regierung mit
halt der gesamten Familie von ihm ab. Solange ihre Verwandten          Steuererleichterungen reagierte. Be-
hungerten, wollten auch sie nichts mehr zu sich nehmen, ver-           triebswirtschaftlich betrachtet macht
kündete die Crew. Im März war noch keine Lösung in Sicht.              das Sinn. »Man hat als Reeder keinen
     Normalerweise muss in solch einem Fall die Versicherung           Vorteil, wenn man die deutsche Flag-
einspringen und für die Heuer aufkommen – und wenn die                 ge hat – deshalb bekomme ich nicht die Ladung von Volkswagen
nicht bezahlt, ist das Land in der Pflicht, in dem das Schiff ge-      oder Mercedes«, erklärte Dirk Max Johns, ehemaliger Geschäfts-
meldet ist. Doch der kleine Inselstaat Palau hat die Registrierung     führer des Deutschen Reeder-Verbands im vergangenen Som-
der Ula vor ein paar Monaten einfach gelöscht.                         mer im ZDF.
     Paddy Crumlin, Vorsitzender des Internationalen Gewerk-
schaftsbunds der Transportarbeiter (ITF), weist auf windige Tricks     Globale Antworten und gemeinsame
hin, die in der globalen Schifffahrt üblich sind. »Es wird oft ab-     Strategien sind nötig
sichtlich verschleiert, wer für die Besatzungsmitglieder zuständig     Weltweit hat die Corona-Pandemie Auswirkungen auf Arbeits-
ist.« Seine Organisation ist international bestens vernetzt und        bedingungen und Menschenrechte. Wie gravierend die Folgen
versucht, Seeleuten in schwierigen Situationen zu helfen.              ausfallen, ist unterschiedlich. »Allen, denen es vorher schon
     Dies betrifft gegenwärtig besonders viele Crews. Wegen der        schlecht ging, geht es jetzt noch schlechter«, so fasst es Annette
Corona-Schutzmaßnahmen dürfen Seeleute oft nicht an Land               Hartmetz von der Amnesty-Themenkoordinationsgruppe Ge-
gehen; im Herbst 2020 saßen 400.000 auf Frachtern fest. Viele          werkschaften zusammen. Die Internationale Arbeitsorganisa-
haben schon viel länger an Bord gearbeitet als die international       tion (ILO) beobachtete zuletzt immer mehr Arbeitsrechtsverlet-
zulässigen elf Monate. »Nach so langer Zeit sind die Seeleute er-      zungen.
schöpft und ausgelaugt – und dann steigt nachweislich auch die             Während die Länder des globalen Nordens aus der Finanz-
Zahl der Konflikte und Unfälle. Vielen fehlt auch medizinische         krise 2009 die Lehre gezogen haben, Entlassungen möglichst
Hilfe. Und wir bekommen mit, dass Suizidgedanken und sogar             zu verhindern, und dafür üppige Konjunkturpakete schnüren,
Suizide zunehmen«, berichtet Rory McCourt von der ITF. Zu-             trifft die Krise im globalen Süden viele Menschen mit voller

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Kleine Arbeitspause unter widrigen Bedingungen. Krankenhausmitarbeiterin in Porto Alegre, Brasilien, März 2021.

Wucht. Fast zwei Drittel der arbeitenden Bevölkerung weltweit         Vollman, DGB-Expertin für Internationales. Die Bekleidungs-
sind im informellen Sektor beschäftigt und haben in der Regel         industrie ist ein Beispiel dafür: Als die Läden in Europa dicht-
keinerlei soziale Absicherung.                                        machten, stornierten große Textil- und Schuhhändler einen
    Als Indiens Regierungschef Narendra Modi am 24. März 2020         Großteil ihrer Aufträge, wodurch allein in Bangladesch zwei
spontan eine Ausgangssperre verhängte, standen die Tagelöhner         Millionen Näherinnen ihre Arbeit verloren. Einige wollten sogar
vor dem Nichts. Millionen versuchten, sich zu Fuß in ihre Hei-        bereits produzierte Ware nicht mehr abnehmen.
matdörfer durchzuschlagen. Wie viele von ihnen auf den langen             In Deutschland machten viele Firmen außerdem Front ge-
Märschen verhungert und verdurstet sind, ist nicht bekannt.           gen das geplante Lieferkettengesetz – und fanden Gehör bei
    Nicht nur in Indien sind viele auf das Geld angewiesen, das       Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), der davor warnte, die
Familienmitglieder in der Ferne verdienen. In Ländern wie Se-         Unternehmen während der Pandemie zusätzlich zu belasten.
negal, Simbabwe oder Kirgisistan besteht das Bruttoinlands-           Nach langer Verzögerung liegt nun ein schwacher Gesetzent-
produkt zu etwa einem Drittel aus Überweisungen aus dem               wurf vor.
Ausland. Diese Zahlungen sind in der Pandemie deutlich einge-
brochen, weil Migrant_innen meist als erste entlassen wurden.         Weltweite Armut könnte wieder anwachsen
Die Weltbank schätzt, dass die private Finanzhilfe aus dem Aus-       Die Kosten müssen die Schwächsten tragen, wie eine Studie der
land 2020 um etwa 20 Prozent zurückgegangen ist.                      Nichtregierungsorganisationen Südwind und Inkota über die
    Gegen die Corona-Krise bräuchte es globale Antworten und          Lederindustrie in Indien belegt. Zwei Monate lang standen alle
gemeinsame Strategien – doch tatsächlich verschärfen sich             Beschäftigten der Schuhfabriken ohne Einkommen da, manche
Nationalisierungs- und Abschottungstendenzen, sagt Carolin            erhielten nicht einmal mehr den Lohn für bereits geleistete

AN DIE ARBEIT                                                                                                                              13
Foto: Sanchit Khanna / Hindustan Times / Getty Images
Teil der globalen Lieferkette. Sportschuhproduktion in Neu-Delhi, Indien, März 2021.                                                                                     Ihnen wurde der Lohn vorenthalten. Dem

Arbeit. Im Juni lief die Produktion dann mit 40 Prozent weniger            anschwoll, spart der Versandhändler am Infektionsschutz für
Personal wieder an. Wer weiter dabei ist, muss sich oft mit weni-          das Personal. In mehreren französischen Logistikzentren kam es
ger Geld begnügen als vor der Pandemie – und das, obwohl viele             deshalb zu wilden Streiks, berichtete die französische Gewerk-
Beschäftigte noch nie den gesetzlichen Mindestlohn erhalten                schaft CNT-AIT. In den USA laufen mehrere Arbeitsgerichtspro-
haben, der im Bundesstaat Uttar Pradesh bei umgerechnet                    zesse, weil Amazon Menschen entlassen hat, die gegen man-
112,90 Euro pro Monat für angelernte Arbeiter_innen liegt.                 gelnden Corona-Schutz protestiert hatten.
    Die dortige Regierung nutzte die Krise außerdem, um einen
Großteil der Arbeitsschutzgesetze für drei Jahre außer Kraft zu            Beschäftigte im Gesundheitssektor unter Druck
setzen. Dahinter steht die Hoffnung, von den wachsenden Vor-               Unmittelbar von der Pandemie betroffen sind die Beschäftigten
behalten gegenüber China als Lieferland zu profitieren und                 im Gesundheitswesen. Mindestens 17.000 Pfleger_innen und
neue Investoren nach Uttar Pradesh zu locken.                              Ärzt_innen sind bis März 2021 an Covid-19 gestorben, belegt
    Unter solchen Umständen erstaunt es nicht, dass die Welt-              eine aktuelle Untersuchung von Amnesty in Zusammenarbeit
bank davon ausgeht, die Armut werde erstmals seit 1998 wieder              mit den internationalen Gewerkschaftsverbänden PSI und UNI.
deutlich anwachsen. Bereits in den vergangenen Jahren fielen               Die Organisationen fordern, das Krankenhaus- und Pflegeperso-
die Erfolge bei der Umsetzung der UN-Ziele für nachhaltige Ent-
wicklung immer kleiner aus: Der Klimawandel macht viele An-
strengungen zunichte. Und nun drohen sogar Rückschritte.
    Dabei muss man nicht einmal in die Ferne schweifen, um
ausbeuterische Arbeitsbedingungen zu beobachten. Es reicht                             AMNESTY ZUM LIEFERKETTENGESETZ
ein Blick auf die Spargel- und Erdbeerfelder in Deutschland. Jahr                      Dass es endlich ein Lieferkettengesetz geben wird, ist ein his-
für Jahr kommen Hunderttausende Saisonkräfte aus Osteuropa.                            torischer Schritt. Doch der Entwurf der Bundesregierung hat
Und obwohl in Deutschland offiziell der Mindestlohn gezahlt                            Lücken: Denn er erfasst nur große Unternehmen. Damit gilt
werden muss, verdienen die Menschen aus Bulgarien und Ru-                              das geplante Gesetz für die meisten deutschen Unternehmen
mänien manchmal nur etwa vier Euro pro Stunde. Getrickst                               nicht – selbst wenn sie zu Branchen gehören, in denen es ein
wird bei den Arbeitszeiten und den Kosten für die oft miserable                        hohes Risiko für Menschenrechtsverletzungen gibt. Außer-
Unterkunft.                                                                            dem müssen Firmen nur ihre direkten Zulieferer selbstständig
    Während es für die Schlachthöfe wegen der Skandale um                              auf Verstöße hin untersuchen. Die meisten Menschenrechts-
hohe Infektionszahlen seit Anfang des Jahres ein Gesetz gibt,                          verletzungen finden jedoch bereits am Anfang der Lieferkette
das solche Zustände verhindern soll, ist die Lage in der Land-                         statt: Kinder, die in Minen arbeiten, oder Näherinnen in
wirtschaft unverändert. Zumindest fast. Die Arbeitgeber nutz-                          Bangladesch liefern nicht direkt an deutsche Unternehmen.
ten die Pandemie, um durchzusetzen, dass Saisonarbeitskräfte                           Außerdem sieht das Gesetz zwar Sanktionen bei Fehlverhal-
in Deutschland nun 115 statt wie bisher 70 Tage sozialversiche-                        ten der Firmen vor, aber keine zivilrechtliche Haftung. Die
rungsfrei beschäftigt werden können.                                                   hätte es ermöglicht, dass Betroffene in Deutschland gegen
    So verschärft Corona die Spaltung der Gesellschaften: Die                          die Unternehmen klagen können. Immerhin: Deutsche zivil-
Armen werden ärmer, die Reichen reicher. Während die Gewin-                            gesellschaftliche Organisationen und Gewerkschaften sollen
ne bei Amazon durch die Decke gehen und das Vermögen von                               künftig im Namen der Betroffenen klagen dürfen. Es geht
Gründer Jeff Bezos binnen Jahresfrist um 72 Milliarden Dollar                          vorwärts – leider in zu kleinen Schritten.

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Mindestens 17.000
                                                                                                                                  Pfleger_innen
                                                                                                                            und Ärzt_innen sind
                                                                                                                          an Covid-19 gestorben.

                                                                                                                ne Warnungen für falsch zu erklären – wenige Wochen später
                                                                                                                starb der 34-Jährige selbst an Covid-19.
                                                                                                                    Gegen die Ärztin Tatyana Revva aus dem südrussischen Wol-
                                                                                                                gograd wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet, nachdem sie

                                                                           Foto: Kanti Das Suvra / Abaca / pa
                                                                                                                in einem Video auf mangelnde Ausrüstung und fehlende Schu-
                                                                                                                lungen in ihrem Krankenhaus hingewiesen hatte. In Nicaragua
                                                                                                                verbot die Regierung zunächst sogar die Nutzung von Masken.
                                                                                                                    Kaum im Fokus stehen die Reinigungskräfte in Kliniken, die
                                                                                                                häufig ohne Schutzkleidung und ausreichende Desinfektions-
onstrierende Textilarbeiter_innen in Bangladesch, Mai 2020.                                                     mittel putzen müssen. Ein Arzt aus Honduras berichtet, dass die
                                                                                                                Frauen oft mit bloßen Händen arbeiteten. Besonders hart geht
                                                                                                                Venezuela vor: Mehrere Beschäftigte im Gesundheitssektor wur-
         nal weltweit vorrangig zu impfen. Doch davon kann keine Rede                                           den vor Zivil- oder Militärgerichte gestellt, weil sie auf Gefahren
         sein. »Mehr als die Hälfte der global verfügbaren Impfdosen ge-                                        für sich und die Patient_innen hingewiesen hatten.
         gen Covid-19 wurde bisher in nur zehn wohlhabenden Ländern                                                 Nach Angaben der ILO zahlen Frauen, Beschäftigte im Nie-
         verabreicht. In mehr als 100 Ländern hingegen wurde bis An-                                            driglohnsektor, Kinder und Migrant_innen den höchsten Preis
         fang Februar 2021 noch keine einzige Person geimpft«, bilan-                                           für die Corona-Folgen in der Arbeitswelt. Binnen Monaten wur-
         ziert Steve Cockburn, Amnesty-Experte für wirtschaftliche und                                          den positive Entwicklungen von Jahrzehnten zerstört, stellte der
         soziale Menschenrechte.                                                                                UN-Koordinator für humanitäre Angelegenheiten, Mark Low-
             Ärzt_innen und Krankenpfleger_innen, die auf Gefahren für                                          cock fest. Für Mädchen wirken sich die Schulschließungen ex-
         ihren Berufsstand hinweisen, sind häufig Repressalien ausge-                                           trem nachteilig aus, was ihre berufliche Zukunft angeht. Im glo-
         setzt. Der chinesische Augenarzt Li Wenliang aus dem Zentral-                                          balen Süden würden wahrscheinlich viele Kinder nie mehr ins
         krankenhaus in Wuhan war der erste, der das erfahren musste:                                           Klassenzimmer zurückfinden, eine Zunahme von Kinderehen
         Er hatte Kolleg_innen geraten, Schutzkleidung zu tragen, wenn                                          und häuslicher Gewalt sei absehbar, warnt die Weltgesundheits-
         sie mit Infizierten des neuartigen Lungenvirus zu tun hätten.                                          organisation (WHO). Eines scheint leider sicher: Corona und der
         Die Polizei und ein lokales »Sicherheitsbüro« zwangen ihn, sei-                                        Umgang damit vertiefen die Spaltung der Welt immer weiter. 

         ITUC GLOBAL RIGHTS INDEX
                                                                                                                                                  Rechte nicht garantiert
                                                                                                                                                     wegen Zusammenbruchs
                                                                                                                                                     der Rechtsstaatlichkeit
                                                                                                                                                    Rechte nicht garantiert
                                                                                                                                                    Systematische
                                                                                                                                                     Rechtsverletzungen
                                                                                                                                                    Regelmäßige
                                                                                                                                                     Rechtsverletzungen
                                                                                                                                                    Wiederholte Rechtsverletzungen
                                                                                                                                                    Sporadische Rechtsverletzungen
                                                                                                                                                    Keine Daten

                                                                                                                                                 Viel zu viel rot. Der Globale Rechts-
                                                                                                                                                 index des Internationalen Gewerk-
                                                                                                                                                 schaftsbundes IGB (englisch: Inter-
                                                                                                                                                 national Trade Union Confederation,
                                                                                                                                                 ITUC) zeigt die schlimmsten Länder
         Quelle: ITUC 2020                                                                                                                       der Welt für Arbeitnehmer_innen.

         AN DIE ARBEIT                                                                                                                                                              15
Sie wollen mitreden
Etwa eine Million Kinder und Jugendliche müssen in Bolivien arbeiten.
Einige von ihnen haben sich zu einer Gewerkschaft zusammengetan,
um für ihre Rechte zu kämpfen. Ihre Forderungen weichen von
internationalen Konventionen ab. Von Wolf-Dieter Vogel

S
         ie putzen Schuhe, verkaufen Gemüse, helfen bei der Zu-        das Edelmetall aus den Minen zu holen. Die Konvention 182 der
         ckerrohrernte und schuften in den Schächten des Berg-         Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) verbietet potenziell
         baus: Schätzungen zufolge arbeiten in Bolivien 800.000        gesundheitsschädliche Tätigkeiten für Kinder, also auch die
         Kinder und Jugendliche. Sie gehören zu den weltweit 152       Arbeit im Bergbau.
Millionen Kindern, die von Kinderarbeit betroffen sind. Die UN             Auch die UNATSBO ist dagegen, dass Minderjährige in die
haben 2021 zum Internationalen Jahr zur Abschaffung von                Gruben steigen, betont Yucra. »Diese Arbeit ist extrem gefähr-
Kinderarbeit ausgerufen.                                               lich.« Dennoch ist sie gegen ein Verbot der Kinderarbeit: »Wir
    Im Vergleich zu vielen Gleichaltrigen, die in anderen Län-         sind nicht dafür, das radikal zu verbieten, weil viele von uns ge-
dern in jungen Jahren ihren Lebensunterhalt verdienen müs-             zwungen sind, dort zu arbeiten.« Häufig müssten Kinder Geld
sen, haben die Kinder in Bolivien jedoch einen Vorteil: Sie kön-       verdienen, damit das Familieneinkommen für alle reiche.
nen sich in einer Gewerkschaft organisieren. Seit mehr als 20              Yucras Ortsverband will dafür sorgen, dass junge Menschen
Jahren setzt sich die Union der arbeitenden Kinder und Jugend-         bei der Arbeit sicher sind und ihre Tätigkeiten weniger Gefah-
lichen Boliviens (UNATSBO) für die Rechte von Kinderarbei-             ren bergen. Zudem bietet UNATSBO Weiterbildungen an, damit
ter_innen ein.                                                         die Kinder später in Bäckereien, Schneidereien oder der Gastro-
    »Wir haben in allen Städten lokale Gruppen und vertreten           nomie Geld verdienen können. »Sie sollen ja nicht ihr Leben
alle Departements des Landes«, sagt Gewerkschaftssekretärin            lang im Bergbau schuften«, sagt Yucra.
Estefani Yucra. Sie ist 19 Jahre alt und studiert Wirtschaftswissen-       Unter dem sozialistischen Präsidenten Evo Morales, der von
schaften. Auch Yucra hat bereits mit zehn Jahren Kleidung ver-         2006 bis 2019 regierte, sollte Kinderarbeit zunächst verboten
kauft und später als Kindermädchen gearbeitet. Sie ist für ihren       werden – entsprechend der ILO-Konvention 138, die Bolivien
Posten genau genommen zu alt. »Eigentlich sollte ich durch Jün-        unterzeichnet hat. Die Minderjährigen stellten sich gegen ein
gere ersetzt werden, aber wegen der Pandemie haben wir zurzeit         grundsätzliches Arbeitsverbot. »Es konnte nicht sein, dass eine
keine Treffen«, sagt sie. Schließlich sind bei der UNATSBO nur         Reform verabschiedet wird, ohne die Kinder in die Debatte ein-

                                                                                                                                             Foto: Juan Karita / AP / pa
Kinder und Jugendliche aktiv. »Ein paar Ältere beraten uns.«           zubeziehen«, erinnert sich Luz Rivera, die für ein Sozialprojekt
    Sie lebt in Llallagua, einer Kleinstadt im Departement Potosí.     der Caritas in Potosí arbeitet. Ihre Einrichtung hatte die Kinder-
Bis heute wird in der traditionellen Bergbauregion Silber geför-       gewerkschaft unterstützt. Im Gesetz 548 schrieb die Regierung
dert. Und noch immer steigen Jugendliche in die Schächte, um           2014 schließlich fest, dass Kinder unter bestimmten Vorausset-
                                                                       zungen doch arbeiten dürfen – ab dem zehnten Lebensjahr.
                                                                           Rivera hielt die Entscheidung für richtig. »Das entspricht
                                                                       einfach der Realität«, sagt sie. »Ob legal oder illegal, die Kinder
                                                                       arbeiten sowieso, es geht darum, dass sie geschützt sind.« Die
GANZ ANDERE KINDERSTARS                                                Reform schrieb unter anderem vor, dass die Minderjährigen
Sie sind Kinder, aber sie sind in ihrem politischen Kampf              eine Gesundheitsversorgung haben und in die Schule gehen.
mindestens so überzeugend wie Erwachsene: Der Film                     Die Beschäftigung im Bergwerk war verboten.
»Morgen gehört uns« widmet sich politisch denkenden                        Die ILO hingegen sah das anders. »Kinderarbeit hindert Kin-
jungen Menschen. Einer von ihnen ist Kevin, Kinderarbei-               der daran, Bildung und Fertigkeiten zu erwerben, die sie zum
ter in einer Mine in Bolivien. Er hat die Kindergewerk-                Erlangen von menschenwürdiger Arbeit als Erwachsene benöti-
schaft UNATSBO mitgegründet. Von diesem Film und sei-                  gen«, hieß es. Zudem bestehe bei einer Erlaubnis der Kinderar-
nen Hauptdarsteller_innen bleibt man nicht unberührt.                  beit das Risiko, dass Minderjährige für gefährliche Tätigkeiten
Regisseur Gilles De Maistre hat einen wunderbaren Film                 eingesetzt würden. Der internationale Druck wuchs. Als die USA
über extreme Charaktere geschaffen: Sie sind Teil einer                mit Zollverschärfungen drohten, gab die Regierung nach. 2018
Generation von jungen Menschen, die ihre Anliegen for-                 hob das Parlament das Gesetz auf und verbot die Kinderarbeit.
mulieren können und wissen, wie sie sie im persönlichen                    »Jetzt arbeiten Kinder unter 14 Jahren wieder illegal und ver-
               Gespräch oder per Social Media in die Welt              lieren dadurch alle Rechte, die das Gesetz garantiert hatte«, kri-
               bringen. Ein mitreißender Dokumentarfilm!               tisiert Sozialarbeiterin Rivera. Wenn sie ausgebeutet würden,
                                              Jürgen Kiontke           trauten sich weder sie noch ihre Familien, das zu melden. Dem
                                                                       Bildungsargument kann Rivera ebenso wenig folgen. »Wir be-
              »Morgen gehört uns«. F 2019. Regie: Gilles               treuen 843 arbeitende Mädchen und Jungen, und 99,9 Prozent
              de Maistre. Video on Demand und DVD                      von ihnen gehen in die Schule«, sagt sie. Jorge Domic von der

16                                                                                                               AMNESTY JOURNAL | 03/2021
Mit Schutzmasken, aber arbeitsrechtlich weitgehend ungeschützt. Kinder in einer Schreinerei in El Alto, Bolivien, April 2020.

Stiftung Fundación La Paz geht noch weiter: »In der Anden-                  habe gegen alle internationalen Kinderrechtskonventionen ver-
kultur wird Kinderarbeit als sehr wertvoll angesehen und ist                stoßen. »Wir sollten dafür sorgen, dass die Kinder für eine gute
grundlegend wichtig für die Entwicklung und Sozialisation von               Ausbildung kämpfen, nicht dafür, im Alter von zehn Jahren gute
Mädchen und Jungen«, sagt der Psychologe. Die Arbeit müsse                  Arbeitschancen zu bekommen«, sagt sie mit Blick auf die Forde-
unter kulturellen, sozialen und historischen Aspekten betrach-              rungen der Kindergewerkschaft UNATSBO. Yucra und Rivera sind
tet werden.                                                                 sich mit UNICEF und ILO darin einig, dass die Armut bekämpft
     Kinderarbeit als Kulturgut? Georg Schäfer von der Themen-              werden muss, die Kinderarbeit erst nötig macht. Aber Rivera
koordinationsgruppe Kinderrechte von Amnesty Deutschland                    sagt: »Wie die Dinge stehen, wird das nicht passieren.« 
teilt diese Haltung nicht. »Auch in unseren Ländern war es ein-
mal gesellschaftliche Tradition, dass Jungen und Mädchen arbei-
ten«, sagt er. »Heute ist es eine große Errungenschaft, dass wir
das abgeschafft haben.« Kinderarbeit in Bolivien zu erlauben,
könnte zu einem Dammbruch führen. »Damit könnte ein müh-                                       Es muss die Armut
sam erkämpfter internationaler Konsens bezüglich des Verbots
von Kinderarbeit kippen«, befürchtet Schäfer. Und auch das UN-                                 bekämpft werden,
Kinderhilfswerk macht sich für diesen Konsens stark. Die UNI-
CEF-Sprecherin in Bolivien, Virginia Perez, erklärt, ihre Organisa-                          die Kinderarbeit erst
tion habe sich bei der bolivianischen Regierung dafür eingesetzt,
dass die Reform von 2014 rückgängig gemacht werde. Das Gesetz                                        nötig macht.

AN DIE ARBEIT                                                                                                                             17
18   AMNESTY JOURNAL | 03/2021
Ins Netz gegangen
Ausbeuterische Arbeitsbedingungen sind in der Fischereibranche weit verbreitet.
Eine US-amerikanische Nichtregierungsorganisation will nun mit
Satellitenaufnahmen mehr Verdachtsfälle an Behörden melden.
Von Frank Odenthal mit Illustrationen von Jens Bonnke

A
            ls Gani sich auf der Brücke meldet, hat er starke          Jahre nicht mehr an Land gelassen wurden. Die 22 Stunden pro
            Schmerzen in der Brust. Er bittet den Kapitän des          Tag arbeiteten und die, wenn sie großen Fischschwärmen folg-
            Trawlers, der unter südkoreanischer Flagge fährt,          ten, auch mal fünf Tage ohne Pause durchhalten mussten. Die
            ihn in ein Krankenhaus zu bringen. Er leide unter          bei jedem Anzeichen von Schwäche getreten oder ausgepeitscht
Perikarditis, sagt er, auch Herzbeutelentzündung genannt.              wurden. Die nach ihren Arbeitsschichten in ihre Kabinen ein-
Doch der Kapitän weigert sich, in den Hafen zurückzukehren;            gesperrt wurden, um Fluchtversuche zu verhindern. Oder die
wahrscheinlich weil er die Kosten für den Treibstoff nicht über-       auf eine abgelegene indonesische Insel gebracht und dort in
nehmen will. Er beschuldigt den philippinischen Fischer, die           glühender Hitze und unter katastrophalen hygienischen Bedin-
Krankheit nur vorzutäuschen, um sich vor der Arbeit zu drü-            gungen bis zu ihrem nächsten Einsatz in Käfige gesperrt wur-
cken. Besatzungsmitglieder berichten später, er habe ihn sogar         den.
geschlagen.                                                                »Einmal hatte sich ein Fangnetz in der Schiffsschraube ver-
     Einen Monat später ist Gani tot. Der Kapitän meldet der süd-      fangen«, berichtet ein Betroffener. »Da haben sie mich ange-
koreanischen Küstenwache als Todesursache einen Herzinfarkt            bunden und über Bord geworfen, um das Netz zu bergen.« Bei
– und fährt weiter. Erst als das Schiff im Hafen von Busan fest-       dem Einsatz sei er in die Schraube geraten und habe bis auf den
macht, können die Behörden eine Autopsie durchführen. Das              Daumen alle Finger der rechten Hand verloren.
Ergebnis: eine unbehandelte, fortgeschrittene Perikarditis.                Rossen Karavatchev ist der für Fischereiwirtschaft zuständi-
     Das Schicksal des philippinischen Fischers ist kein Einzelfall.   ge Sektionsleiter der International Transport Workers Federa-
Die Nichtregierungsorganisation Global Fishing Watch hat von           tion (ITF), der für Schiffsbesatzungen weltweit zuständigen Ge-
2012 bis 2018 rund 16.000 Schiffe untersucht und kam zu dem            werkschaft mit Sitz in London. Er erklärt, welche Formen der
Ergebnis, dass bei gut einem Viertel der Verdacht auf miss-            Missbrauch von Seeleuten in der Fischereibranche haben kann.
bräuchliche Arbeitsbedingungen besteht. Hochgerechnet wären            »Die Schiffe sind überfüllt, die Kabinen überbelegt; den Arbei-
davon bis zu 100.000 Seeleute betroffen. Die Dunkelziffer dürf-        ter_innen werden die Pässe abgenommen, die Bezahlung ist
te weitaus höher liegen.                                               außerordentlich schlecht, vor allem bei Besatzungsmitgliedern
     Die Internationale Seeschifffahrtsorganisation (IMO), eine        aus asiatischen Billiglohnländern wie den Philippinen, Malaysia
Unterorganisation der Vereinten Nationen, schätzt die Anzahl           und vor allem Indonesien. Die Arbeitszeiten pro Tag können 20
der Fischereifahrzeuge, die weltweit unterwegs sind, auf 4,6           Stunden und mehr betragen.«
Millionen. Bei der Mehrzahl handelt es sich um sehr kleine Boo-            Außerdem erwarten manche Schiffseigner_innen von ihrer
te. Rund 64.000 Schiffe von mehr als 24 Metern Länge fischen           Besatzung eine Kaution, wenn sie an Bord kommt, sagt Karavat-
laut IMO auf den Weltmeeren. Eine Vertrauensperson, an die             chev. Das könne eine Vorauszahlung sein, oder es werde in den
sich Mannschaftsmitglieder wenden könnten, sucht man auf               ersten Monaten der Lohn einbehalten. Ob die Seeleute das Geld
diesen Schiffen vergeblich. Die erste Anlaufstelle für die Besat-      zum Ende der Vertragslaufzeit ausbezahlt bekommen, sei oft-
zung sind die Behörden in den Häfen.                                   mals fraglich und hänge von ihrem Stillschweigen über die
     Doch was, wenn die Schiffe gar keine Häfen anlaufen? Man-         Arbeitsbedingungen an Bord ab.
che bleiben mehrere Jahre auf See, um Treibstoff und Zeit zu               Die Undercover-Journalist_innen der Associated Press
sparen und manchmal auch um ihr illegales Treiben auf dem              recherchierten zudem, dass Migrant_innen verschleppt und
Meer zu verbergen. Sie treffen sich dann fernab der Küsten mit         anschließend Schiffseigner_innen angeboten wurden. Für See-
großen Versorgungsschiffen, um ihren Fang zu übergeben und             leute würden bis zu 1.000 US-Dollar gezahlt.
Nahrung für die Crew an Bord zu nehmen. Oder auch um die
Crew an das nächste Schiff zu übergeben.

Entführt und verkauft
Als die Nachrichtenagentur Associated Press im Jahr 2015 eine                Auf See herrscht ein
Enthüllungsgeschichte über sklavenartige Arbeitsbedingungen
an Bord thailändischer Fischtrawler veröffentlichte, war der           Unterbietungswettbewerb
weltweite Aufschrei groß. Und was die Journalisten berichteten,
war in der Tat haarsträubend.                                                        zulasten des
    Von burmesischen und kambodschanischen Migrant_innen
war die Rede, die gewaltsam an Bord gebracht und bis zu zehn                    Arbeitsschutzes.

AN DIE ARBEIT                                                                                                                        19
Knowhow mit Hilfe von Google                                          nen lassen. Wie lange bleibt ein Schiff auf See? Welche Häfen
Global Fishing Watch hat sich vorgenommen, alle ausbeuteri-           läuft es an, welche meidet es? Trifft es sich mit anderen Schiffen
schen Arbeitsbedingungen in der internationalen Fischereiflotte       auf hoher See? Die Stärke der Schiffsmotoren spielt eine Rolle,
aufzudecken. Die Organisation arbeitet dabei mit Hightech. »Wir       weil sie Rückschlüsse auf die Größe der Schiffe zulassen; auch
werten öffentlich zugängliche Satellitenfotos aus und verknüp-        der Kurs der Schiffe, vor allem der Abstand zu den Häfen – je
fen sie mit den Automatischen Identifikationssignalen der Schif-      größer die Distanz, desto geringer die Gefahr, bei illegalen Akti-
fe«, sagt Courtney Farthing, die Projektleiterin bei Global Fishing   vitäten überrascht zu werden – und natürlich die Frage, in wel-
Watch. Solche Identifikationsgeräte (AIS, Automatic Identification    chen Hoheitsgewässern sich das Schiff gerade befindet.
System), die ebenfalls über Satellit übertragen werden, sind seit         Denn dies führt zu einer sehr wichtigen Frage: Wer ist zu-
2000 von der IMO als Standard in der kommerziellen Seefahrt           ständig? »Zunächst einmal ist es der Kapitän des Schiffes«, sagt
vorgeschrieben. Sie dienen vor allem der Vermeidung von Kolli-        Courtney Farthing. »In dieser besonderen Situation auf See, in
sionen auf hoher See und als Mittel der Küstenstaaten, um den         der die Besatzung eine Schicksalsgemeinschaft auf Zeit bildet,
Verkehr in ihren Hoheitsgewässern zu überwachen.                      der sie sich für die Dauer der Fahrt nicht entziehen kann, gilt:
    »Ohne die Daten der AIS-Geräte lassen sich verdächtige Be-        Der Kapitän ist für seine Mannschaft verantwortlich.«
wegungen auf hoher See nur schwer feststellen«, erklärt Far-              Davon abgesehen gibt die Position des Schiffes vor, welcher
thing, »etwa das Treffen mit anderen Schiffen, um Crewmitglie-        Gesetzbarkeit es unterliegt. Innerhalb der Zwölfmeilenzone ist
der auszutauschen oder illegal gefangenen Fisch zu verladen,          es die des jeweiligen Küstenstaates; außerhalb, also in interna-
ohne dafür einen Hafen anlaufen zu müssen.« Dass das nötige           tionalen Gewässern, die des Flaggenstaates. Unter welcher Flag-
technische Know-how zur Verfügung steht, dafür sorgen Sky-            ge ein Schiff fährt, hat nur wenig mit dem Sitz der Reederei oder
truth, eine Nichtregierungsorganisation, die auf die Auswertung       der Herkunft der Eigner_innen zu tun. Mitunter haben die Flag-
von Satellitenaufnahmen spezialisiert ist, und der Konzern Goo-       gen und deren Schiffsregister nicht einmal etwas mit dem Staat
gle. Zusammen mit der Meeresschutzorganisation Oceana ha-             zu tun, den sie vertreten. Oft sind es private Firmen, die dem
ben sie 2016 Global Fishing Watch gegründet.                          jeweiligen Staat das Recht abgekauft haben, in seinem Namen
    Farthing und ihre Kolleg_innen machen sich dabei For-             Schiffe zu registrieren.
schungsergebnisse zunutze, die nahelegen, dass sich Schiffe, auf          Solche Register unterscheiden sich neben der Steuerhöhe
denen die Crew Zwangsarbeit leisten muss oder missbräuchlich          vor allem in den Regulierungen und Standards, etwa in Sachen
eingesetzt wird, anders verhalten als andere Schiffe. Es geht um      Umweltverträglichkeit oder eben Arbeitsbedingungen. »Billig-
Manöver und Merkmale, die solche Schiffe verdächtig erschei-          flaggen« wird dieses Phänomen genannt oder »Flags of Conve-

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