Schmerztherapie - highlighted - Bayerisches Ärzteblatt

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Schmerztherapie - highlighted - Bayerisches Ärzteblatt
Schmerztherapie – highlighted
Allein in Deutschland leiden mehrere          Fall 1 – Paradoxer Effekt                              Stationärer Verlauf
Millionen Menschen unter chronischen                                                                 In der Aufnahmeuntersuchung zeigt sich die
                                              von Kopfschmerzmitteln                                 Patientin schmerz- und erschöpfungsbedingt
Schmerzen [1]. Die zugrunde liegenden
Schmerzsyndrome sind sehr vielfältig und      Anamnese                                               in einem reduzierten Allgemeinzustand. Kli-
                                              Eine 32-jährige Patientin wird uns von einer nieder-   nisch ergeben sich keine fokal-neurologischen
reichen vom nicht spezifischen Kreuz-
                                              gelassenen Schmerztherapeutin zur Durchführung         Auffälligkeiten. Das letzte ambulante cMRT war
schmerz über neuropathische Schmerzen
                                              einer stationären multimodalen Schmerztherapie         unauffällig. Durch unsere Psychologin wird eine
und Kopfschmerzen bis hin zum Schmerz         bei chronisch progredienten Kopfschmerzen vorge-       gegenwärtig mittelgradige depressive Episode
als Ausdruck einer psychischen Erkran-        stellt. Nebenbefundlich ist eine rezidivierende de-    diagnostiziert.
kung. Allen chronischen Schmerzen ist da-     pressive Störung bekannt. Die Patientin berichtet,
bei gemeinsam, dass sie sich ein Stück weit   dass sie seit ihrer Jugend an einer Migräne ohne       In der Analyse der „Kopfschmerzmittel“ ergibt
vom Auslöser abgekoppelt haben und nicht      Aura leidet. Diesbezüglich erfolgt seit mehreren       sich, dass die Patientin zuletzt seit über drei Mo-
monokausal zu erklären sind. Verschiedene     Jahren eine regelmäßige Injektionsbehandlung mit       naten ein Triptan an > 10 Tagen/Monat, Ibuprofen
Faktoren tragen zu dem Schmerz(erleben)       Botulinumneurotoxin (BoNT). Seit einer Infektions-     und Metamizol an > 15 Tagen/Monat sowie Na-
bei, insbesondere auch psychosoziale          erkrankung mit Erschöpfungssyndrom vor einem           proxen nahezu täglich einnimmt. Auf Grund der
Faktoren. Man spricht in diesem Zusam-        Jahr haben die Migräneattacken an Intensität           Anamnese, der klinischen Untersuchung sowie der
                                              und Frequenz deutlich zugenommen, außerdem             Vorbefunde bestätigen wir einen Kopfschmerz
menhang von dem biopsychosozialen
                                              hat sich zusätzlich ein Spannungskopfschmerz           durch Medikamentenübergebrauch (Medication
Schmerzmodell. Aus dieser Erkenntnis her-
                                              entwickelt. Weder die BoNT-Injektionen noch die        Overuse Headache = MOH) auf dem Boden einer
aus hat sich die interdisziplinäre multimo-   zunehmende Einnahme von „Kopfschmerzmitteln“           chronischen Migräne.
dale Schmerztherapie entwickelt.              bringen eine Linderung. Im Gegenteil: seit über
                                              drei Monaten besteht nun ein Dauerkopfschmerz.         Im Rahmen einer Teamsitzung unter Beteiligung
                                              Da es im Laufe des vergangenen Jahres zu einer         der verschiedenen Berufsgruppen wird ein indi-
                                              bis dato anhaltenden Arbeitsunfähigkeit gekom-         vidueller, multimodaler Therapieplan erstellt. Er
                                              men ist, leidet die Patientin unter zunehmenden        umfasst die regelmäßige Bewegungstherapie,
                                              finanziellen und existenziellen Sorgen. Es besteht     Übungen zur Körperwahrnehmung, Entspan-
                                              eine ausgeprägte psychophysische Erschöpfung           nungsverfahren sowie eine engmaschige psycho-
                                              mit sozialer Rückzugstendenz.                          logische Begleitung inklusive Psychoedukation.

592     Bayerisches Ärzteblatt 12/2020
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Titelthema

                                                                                            Dr. Felix Dörfler
                                                                                            Dr. Madlen Lahne

Von pharmakologischer Seite starten wir nach        betroffen sind – und zum Beispiel praktisch nie      schmerz ein Kopfschmerz vom Spannungstyp
ausführlicher Aufklärung über das Krankheitsbild    Patienten mit alleinigem Clusterkopfschmerz –        hinzukommen. In Fällen, in denen die bekannte,
mit einer strikten „Kopfschmerzmittelpause“. Zur    geht man davon aus, dass mögliche pathophy-          primäre Kopfschmerzerkrankung an Intensität/
medikamentösen Migräneprophylaxe erhält die         siologische Prozesse mit denen bei einer Migräne     Frequenz zunimmt oder ein „anderer“ Kopf-
Patientin Amitriptylin.                             oder dem Spannungskopfschmerz in Verbindung          schmerz hinzutritt, ist daher eine exakte Medi-
                                                    stehen. Auch werden mögliche genetische Risi-        kamentenanamnese wichtig. Selbstverständlich
Am dritten Tag setzt ein schwerer Rebound-          kofaktoren diskutiert [3].                           muss in solchen Fällen aber auch an weitere se-
Kopfschmerz mit Übelkeit und Erbrechen ein,                                                              kundäre Kopfschmerzarten (zum Beispiel Tumor/
welcher die einmalige i.v.-Infusionstherapie von    Bei Migränepatienten kann bei einem sich entwi-      Entzündung) gedacht und gegebenenfalls zeit-
Antiemetika, Metamizol und Prednisolon erfor-       ckelnden MOH zu dem migränetypischen Kopf-           nah eine weitere Diagnostik eingeleitet werden.
derlich macht. Zur weiteren Kupierung des Re-
bound-Kopfschmerzes erhält die Patientin noch
für drei Tage Prednisolon 50 mg p. o. 1-0-0. Ab
dem neunten Tag kommt es, zum ersten Mal seit        Kopfschmerz, zurückzuführen auf einen Medikamentenübergebrauch
vielen Monaten, zu vier aufeinanderfolgenden         Diagnostische Kriterien
kopfschmerzfreien Tagen. Im weiteren stationären
Aufenthalt kommt es lediglich kurz vor der Ent-      A   Kopfschmerz an ≥ 15 Tagen/Monat bei einem Patienten mit einer vorbestehenden Kopf-
                                                         schmerzerkrankung.
lassung, getriggert durch extern bedingten Stress
und Schlafentzug, zu einer akuten Migräne-           B   Regelmäßiger Übergebrauch für > 3 Monate eines oder mehrerer Medikamente, die zur Akut-
attacke, welche jedoch mit der einmaligen Gabe           therapie oder symptomatischen Behandlung von Kopfschmerzen eingesetzt werden können.
von Sumatriptan 100 mg vollständig durchbro-         C   Nicht besser erklärt durch eine andere ICHD-3-Diagnose.
chen werden kann. Die Patientin kann nach gut
                                                     Untergruppen: Kopfschmerz zurückzuführen auf einen: (Einnahme an)
zwei Wochen in deutlich gebessertem Allgemein-
zustand und mit entsprechenden Empfehlungen          – Ergotaminübergebrauch: ≥ 10 Tagen/Monat.
nach Hause entlassen werden.                         – Triptanübergebrauch: ≥ 10 Tagen/Monat.
                                                     – Übergebrauch von Nicht-Opioid-Analgetika (Paracetamol, NSAR, Acetylsalicylsäure,
Diskussion                                              andere Nicht-Opioid-Analgetika): ≥ 15 Tagen/Monat.
Der MOH selbst ist eine sekundäre Kopfschmerz-
                                                     – Opioidübergebrauch: ≥ 10 Tagen/Monat.
erkrankung, welche sich auf dem Boden einer
primären Kopfschmerzerkrankung entwickelt.           – Übergebrauch von Schmerzmittelmischpräparaten: ≥ 10 Tagen/Monat.
Die Kriterien sind in Tabelle 1 dargestellt.         – Übergebrauch von Medikamenten aus mehreren Klassen, ohne Übergebrauch der Einzelsubs-
                                                       tanzen: Regelmäßige Einnahme von Ergotaminen, Triptanen, Nicht-Opioid-Analgetika und/oder
Die genaue Pathophysiologie des MOH ist noch           Opioiden in beliebiger Kombination an ≥ 10 Tagen/Monat, ohne Übergebrauch einer Einzelsubs-
nicht verstanden. Da hiervon insbesondere Pati-        tanz oder Substanzklasse.
enten mit Migräne und Spannungskopfschmerz          Tabelle 1: Kopfschmerz, zurückzuführen auf einen Medikamentenübergebrauch [nach 2].

                                                                                                                Bayerisches Ärzteblatt 12/2020    593
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                                                                                                                                          Fall 2 - „Nur ein Schlag“
Foto: Carina Nimführ

                                                                                                                                          gegen das Sprunggelenk...
                                                                                                                                          Anamnese
                                                                                                                                          Eine 21-jährige Patientin bekommt beim Fuß-
                                                                                                                                          balltraining einen Schlag auf das linke Sprung-
                                                                                                                                          gelenk. In der Folge entwickelt sich am linken
                                                                                                                                          Fuß innerhalb von 14 Tagen eine ausgeprägte
                                                                                                                                          Funktionsstörung (unter anderem Dorsalext./
                                                                                                                                          Plantarflex.: 0/20/30°), begleitet von einer pro-
                                                                                                                                          gredienten Schmerzsymptomatik. Eine Röntgen-
                                                                                                                                          untersuchung bleibt unauffällig und in einem
                                                                                                                                          MRT zeigt sich lediglich ein geringes, unspezifi-
                                                                                                                                          sches subkutanes Weichteilödem. Die Patientin
                                                                                                                                          wird uns durch den behandelnden Orthopäden
                                                                                                                                          kurzfristig vorgestellt.

                                                                                                                                          Stationärer Verlauf
                                                                                                                                          Zur Aufnahme erscheint die Patientin an Unter-
                                                                                                                                          armgehstützen im 3-Punkt-Gang; den linken Fuß
                                                                                                                                          komplett entlastend. Sie berichtet über „fies-
                                                                                                                                          ziehende“ Schmerzen. Die subjektive Schmerzin-
                                                                                                                                          tensität bei Belastung wird auf der Numerischen
                                                                                                                                          Rating Skala (NRS; eindimensionale Schmerzskala
                       Abbildung 1: BVP-Biofeedback. Insbesondere für Migränepatienten im schmerzfreien Intervall. Sensor über der        von 0 [kein Schmerz] bis 10 [stärkster vorstellbarer
                       (hier linken) A. temporalis superficialis. Der BVP ist ein Maß für die Weite des Blutgefäßes, welche den Patien-   Schmerz]) mit 7–9/10 angegeben. Das Aufsetzen
                       ten als roter Ring mit entsprechend unterschiedlichem Durchmesser dargestellt wird.                                des linken Fußes ist nur kurz auf dem lateralen
                                                                                                                                          Fußrand möglich. Der linke Fuß ist livide verfärbt,
                                                                                                                                          mit einem leichten Ödem am Fußrücken sowie auf
                                                                                                                                          Sprunggelenksebene und einer diffusen Hyper-
                                                                                                                                          algesie. Die Temperaturmessung der Hautoberflä-
                                                                                                                                          che mittels Infrarotthermometer ergibt links 28,1 °C
                       Die Therapie des MOH umfasst zunächst die                Im Rahmen der Medikamentenpause kann es                   und rechts 29,8 °C. Klinisch zeigt sich eine deut-
                       intensive Patientenaufklärung über das Krank-            zu Entzugssymptomen und einem Rebound-                    lich eingeschränkte neuromuskuläre Ansteuer-
                       heitsbild und die Notwendigkeit einer Reduktion          Kopfschmerz kommen. Zu deren Behandlung                   barkeit des linken Fußes; so besteht zum Bei-
                       der Kopfschmerzmitteleinnahme. Wir empfehlen             werden unter anderem Flüssigkeitsersatz, An-              spiel hinsichtlich der Fußhebung und -senkung
                       hierbei die 10-20-Regel, wonach an weniger als           tiemetika und die zurückhaltende(!) Gabe von              ein formaler Kraftgrad von 2/5 BMRC (British
                       zehn Tagen/Monat Akutschmerzmittel und/oder              Analgetika (zum Beispiel kurzzeitige i.v.-Gabe            Medical Research Council). Schweißproduktion
                       spezifische Migränemittel eingenommen wer-               von Acetylsalicylsäure) empfohlen. Obwohl die             oder Behaarungsmuster zeigen keine Seitendif-
                       den sollten; an mindestens 20 Tagen sollte keine         wissenschaftliche Evidenz bezüglich der Ga-               ferenz. Die Patientin macht sich große Sorgen
                       Einnahme stattfinden [4]. Soweit noch nicht ge-          be von Glukokortikoiden eher spärlich ausfällt,           hinsichtlich Alltag und Ausbildung, die Stimmung
                       schehen, wird ferner eine nichtmedikamentöse             hat sich der zeitlich befristete Einsatz klinisch         ist niedergedrückt.
                       und medikamentöse Prophylaxe der primären                bewährt [6]. Bezüglich Dauer und Dosis gibt es
                       Kopfschmerzen begonnen. Zu den nicht medika-             unterschiedliche Empfehlungen. Wir favorisieren           Bei fehlendem Hinweis auf eine isolierte Ner-
                       mentösen Maßnahmen, deren Bedeutung nicht                entweder die Gabe von Prednisolon 250 mg i.v.             venläsion (unter anderem unauffällige somato-
                       genug betont werden kann, gehören zum Beispiel           als Kurzinfusion und/oder die orale Gabe von              sensibel evozierte Potenziale) stellen wir die
                       Entspannungsverfahren und die kognitive Verhal-          50 mg 1-0-0 über drei bis fünf Tage.                      Diagnose eines akuten, primär kalten kom-
                       tenstherapie inklusive Biofeedback (Abbildung 1).                                                                  plexen regionalen Schmerzsyndroms („com-
                       Das Grundprinzip von Biofeedback ist es, Körper-         Trotz aller Therapiemaßnahmen ist eine kom-               plex regional pain syndrome“, CRPS) Typ 1 und
                       funktionen (Muskelspannung, Blutvolumenpuls              plette und anhaltende Kopfschmerzfreiheit nicht           beginnen umgehend mit der multimodalen
                       [BVP] etc.) zu messen und den Patienten visuell          realistisch, da einzelne Episoden der zugrunde            Schmerztherapie.
                       und/oder akustisch „wahrnehmbar“ zu machen,              liegenden primären Kopfschmerzerkrankung
                       mit dem Ziel, dass die Patienten lernen, die Kör-        weiter auftreten können. Wichtig ist daher, die           Pharmakotherapeutisch erfolgt unter PPI-Pro-
                       perfunktionen bewusst zu steuern [5].                    Patienten gut zu informieren und die Erwartun-            phylaxe die orale Prednisolongabe. Zusätzlich
                                                                                gen in realistische Bahnen zu lenken.                     erhält die Patientin N-Acetylcystein und Meta-
                       Die Therapie kann in unkomplizierten Fällen zu-                                                                    mizol sowie Clexane zur Thromboseprophylaxe.
                       nächst ambulant oder im Rahmen einer Schmerz-            Dieser Fall zeigt, welche Auswirkungen eine               Von nicht-medikamentöser Seite erfolgen phy-
                       tagesklinik durchgeführt werden. Bei kompli-             Schmerzerkrankung auf Psyche und soziales                 sikalische sowie physio- und ergotherapeuti-
                       zierten Verläufen, mit zum Beispiel relevanten           Verhalten haben kann, die wiederum den Schmerz            sche Maßnahmen. Ein Fokus liegt dabei auf der
                       psychischen Begleiterkrankungen oder dem Über-           (und den Umgang damit) negativ beeinflussen               sogenannten „Graded Motor Imagery“ inklusive
                       gebrauch von Opioiden, sollte zeitnah an eine            können. Daher ist die multimodale und interdis-           Spiegeltherapie (Erklärung siehe Seite 596). Die
                       stationäre Schmerztherapie gedacht werden.               ziplinäre Therapie essenziell.                            psychologische Mitbetreuung umfasst unter

                       594       Bayerisches Ärzteblatt 12/2020
Schmerztherapie - highlighted - Bayerisches Ärzteblatt
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anderem Entspannungsverfahren und (kogni-             Budapest-Kriterien
tive) Übungen bezüglich der Bewegungsangst.
                                                      1. Anhaltender Schmerz, der unverhältnismäßig zu jedwedem schädigenden Ereignis steht.
Zum Entlasszeitpunkt nach 16 Tagen sind die           2. M
                                                          indestens ein Symptom aus mindestens 3 der 4 Kategorien muss anamnestisch vorliegen
Schmerzen (NRS 0–1/10) sowie die autonomen               oder vorgelegen haben:
und sensiblen Störungen subtotal regredient.             » Sensorisch: Hyperalgesie/Allodynie
Die Beweglichkeit ist deutlich verbessert (unter
                                                         » Vasomotorisch: Temperaturasymmetrien, Veränderungen/Asymmetrien der Hautfarbe
                                                         » Sudomotorisch/Ödem: Ödeme, Veränderungen/Asymmetrien der lokalen
anderem Dorsalext./Plantarflex.: 15/0/35°), Hilfs-    		 Schwitzeigenschaften
mittel zum Gehen werden nicht mehr benötigt.             » Motorisch/trophisch: Motorische Dysfunktionen (Schwäche, Tremor, Dystonie),
Es bestehen jedoch noch eine leicht verminderte       		 Abnahme des Bewegungsausmaßes oder trophische Veränderungen (Haare, Nägel, Haut)
Kraft (KG 4/5 BMRC) und Koordinationsstörun-
                                                      3. M
                                                          indestens ein klinisches Zeichen aus mindestens 2 der 4 Kategorien muss zum Zeitpunkt
gen. Die Patientin setzt die Therapiemaßnahmen           der Untersuchung vorliegen:
im ambulanten Setting intensiv fort.                     » Sensorisch: Hyperalgesie/Allodynie
                                                         » Vasomotorisch: Temperaturasymmetrien (> 1 °C), Veränderungen/Asymmetrien
Diskussion                                            		 der Hautfarbe
Das komplexe regionale Schmerzsyndrom (CRPS)             » Sudomotorisch/Ödem: Ödeme, Veränderungen/Asymmetrien der lokalen
kann sich nach einer Verletzung oder Operation        		 Schwitzeigenschaften
der Extremität sowie einer zentralen oder peri-          » Motorisch/trophisch: Motorische Dysfunktionen (Schwäche, Tremor, Dystonie),
pheren Nervenverletzung entwickeln. Charakte-         		 Abnahme des Bewegungsausmaßes oder trophische Veränderungen (Haare, Nägel, Haut)
ristisch findet sich dabei eine Trias aus autono-     4. E
                                                          s darf keine andere Erkrankung vorliegen, welche die Symptome und klinischen Zeichen
men, sensorischen und motorischen Störungen              besser erklären würde.
sowie Schmerzen, die in Diskrepanz zum auslö-        Tabelle 2: Budapest-Kriterien [nach 8].
senden Ereignis stehen und keinem Innervati-
onsgebiet eines spezifischen Nerven zuzuord-
nen sind [7, 8].

                                                                                                                                                                      Foto: Carina Nimführ
Pathophysiologisch tragen verschiedene, sich
ergänzende Mechanismen zu dem Krankheits-
bild bei. Dabei werden als „Hauptmechanismen“

a) (neurogene) Entzündungsvorgänge,

b) maladaptive Veränderungen im ZNS (insbe-
    sondere im sensomotorischen Netzwerk) sowie

c) eine sympathische Funktionsstörung

genannt, wobei Punkt c) seit einigen Jahren eher
als Folge, denn als Ursache gesehen wird. Mög-
licherweise spielen auch Autoimmunprozesse
eine Rolle [8, 9].

Inwieweit psychosoziale Belastungsfaktoren eine
ursächliche Rolle spielen, ist bis dato fraglich.
Es gibt jedoch starke Hinweise darauf, dass bei
gleichzeitigem Auftreten mit einem CRPS, der
Heilungsverlauf negativ beeinflusst wird [10].

Das CRPS wird in einen Typ 1 (ohne) und einen
Typ 2 (mit nachweisbarer Nervenläsion) unter-
teilt. Abhängig von der Hauttemperatur lässt
sich ferner ein primär warmes von einem pri-
mär kalten CRPS differenzieren. Die Diagnose
CRPS wird in erster Linie klinisch gestellt, die
sogenannten Budapest-Kriterien sind dabei es-
senziell (Tabelle 2).

Laborchemische und bildgebende Verfahren
dienen eher dem Ausschluss von Differenzial-
diagnosen (zum Beispiel venöse/arterielle Durch-     Abbildung 2: Beispiele für sogenannte „Fußfunktionskarten“. Die Karten werden nacheinander von den Patien-
blutungsstörungen, aktivierte Arthrose) als dem      ten aufgedeckt, in Phase 1 mit jeweils (zügiger) „Links-Rechts-Entscheidung“. In Phase 2 sollen sich die Pati-
direkten Diagnosebeweis [8, 9]. So sind zum          enten in Gedanken vorstellen, wie sie mit der betroffenen Extremität die abgebildete Position einnehmen.

                                                                                                                    Bayerisches Ärzteblatt 12/2020           595
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                                                                                                                                       Fall 3 – Phantomschmerz nach
Fotos: Carina Nimführ

                                                                                                                                       Oberschenkelamputation
                                                                                                                                       Anamnese
                                                                                                                                       Ein 77-jähriger Patient stellt sich aufgrund eines
                                                                                                                                       stark beeinträchtigenden Phantomschmerzes im
                                                                                                                                       Bereich des linken Beines vor. Nach einem Ver-
                                                                                                                                       kehrsunfall als Fußgänger im Alter von 41 Jah-
                                                                                                                                       ren, mit Oberschenkelamputation in der Folge,
                                                                                                                                       verlief die Heilung und Rehabilitation zunächst
                                                                                                                                       unproblematisch. Unangenehme Muskelzuckun-
                                                                                                                                       gen im Bereich des Oberschenkels und im Verlauf
                                                                                                                                       zunehmende linksseitige Beinschmerzen tra-
                                                                                                                                       ten erstmals ein Jahr nach der Amputation auf.
                                                                                                                                       Multiple medikamentöse Behandlungsversuche
                                                                                                                                       (unter anderem Amitriptylin, Tilidin, Carbama-
                                                                                                                                       zepin) blieben jeweils ohne Wirkung. Zusätzliche
                                                                                                                                       mehrfache ambulante Physiotherapie sowie zwei
                                                                                                                                       interdisziplinäre multimodale Schmerztherapien
                                                                                                                                       brachten einen jeweils nur kurzfristigen Benefit.
                                                                                                                                       Eine Beschwerdelinderung zeigte sich auf Fenta-
                                                                                                                                       nyl TTS ab einer Dosierung von 75 µg/h (Wechsel
                        Abbildung 3 a/b: Spiegeltherapie. Verschiedene Übungsformen möglich. Entscheidend ist, dass dem Patienten
                                                                                                                                       alle zwei Tage bei vorzeitigem Wirkungsverlust)
                        (und seinem Gehirn) im Spiegelbild die gesunde Extremität dargeboten wird; die erkrankte Extremität (hier im   in Kombination mit Pregabalin 150 mg/Tag. Der
                        Bild rechter Fuß) wird hinter dem Spiegel platziert.                                                           Patient leidet jedoch an Müdigkeit, Übelkeit und
                                                                                                                                       Inappetenz und nimmt deswegen Pregabalin nur
                                                                                                                                       unregelmäßig ein. Der konsekutive Gewichts-
                                                                                                                                       verlust hat eine zweimalige Unterfütterung der
                        Beispiel das C-reaktive Protein (CRP) und die           schmerzbedingt weitgehende Schonung der                Prothese innerhalb des letzten Jahres erfordert.
                        Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG) bei einem             Extremität. Dies zu balancieren stellt in der
                        alleinigen CRPS nicht erhöht. Bei unklaren Fällen       Praxis oft einen schmalen Grat dar, der nur von        Stationärer Verlauf
                        sollte an eine 3-Phasen-Knochenszintigraphie            erfahrenen Therapeuten und immer zusammen              Zur Aufnahme beklagt der Patient fluktuierende
                        gedacht werden. Typisch für ein CRPS sind dabei         mit dem Patienten begangen werden sollte.              stechend-brennende Dauerschmerzen im Be-
                        bandenförmige, gelenknahe Anreicherungen in             Ein aus unserer Sicht wichtiger Punkt ist auch         reich des amputierten Beines (p. m. ehemaliges
                        der Spätphase [8]. Die Sensitivität des Verfahrens      das „Graded Motor Imagery“-Training, welches           Kniegelenk) mit Schmerzintensitäten zwischen
                        ist jedoch eingeschränkt und nimmt nach acht            erstmalig 2004 von G. L. Moseley beschrieben           7–9/10 NRS. Schmerzverstärkend sind Wetterum-
                        bis zwölf Monaten weiter ab [7, 9].                     wurde. Dieses mehrwöchige Programm wird                schwünge, schmerzlindernd moderate Bewegung.
                                                                                in drei Phasen eingeteilt und besteht aus (i)          Die Alltagsfunktionen sind nur unter Schmerzen
                        Zur systemischen medikamentösen Therapie                der Links/Rechts-Diskrimination von visuell            selbstständig möglich, die maximale Gehstrecke
                        werden Glukokortikoide oder Bisphosphonate              dargebotenen Extremitäten (Abbildung 2), (ii)          mit Prothese beträgt ca. einen Kilometer. Zu-
                        eingesetzt. Bei frühen entzündlichen Fällen ar-         konkreten Bewegungsvorstellungen und (iii)             sätzlich bestehen vorwiegend schmerzbedingte
                        beiten wir gerne mit Prednisolon. Diesbezüglich         der Spiegeltherapie (Abbildung 3 a/b) [8, 11]. Es      Schlafstörungen. Die Schmerzen werden ferner
                        werden in der Literatur verschiedene Schema-            normalisiert das Zusammenspiel von Sensorik            häufig von Gefühlen wie Traurigkeit, Verzweiflung
                        ta vorgeschlagen; wir starten in der Regel mit          und Motorik auf kortikaler Ebene [7] und kann          und Hilfslosigkeit mit wiederkehrenden passiven
                        100 mg 1 x täglich und schleichen es über 2 bis         teilweise auch gut von den Patienten selbst-           Todeswünschen begleitet. Die Kriterien einer
                        2,5 Wochen aus. Die medikamentöse analgetische          ständig durchgeführt werden, zum Beispiel              mittelgradigen depressiven Episode sind erfüllt.
                        Versorgung orientiert sich an den Empfehlungen          mittels App. Interventionelle Verfahren wie zum
                        für neuropathische Schmerzen wie zum Beispiel           Beispiel Sympathikusblockaden oder die Spinal          Wir sehen einen Patienten in schmerzbedingt
                        trizyklischer Antidepressiva oder Gabapentinoi-         Cord Stimulation bleiben besonderen Fällen             reduziertem Allgemeinzustand und leicht unter-
                        den. Bei einem primär kalten CRPS gibt es auch          und dafür spezialisierten Zentren vorbehalten.         gewichtigem Ernährungszustand. Am Amputa-
                        Hinweise, dass die Einnahme von N-Acetylcystein                                                                tionsstumpf zeigt sich eine Atrophie des Mus-
                        als freiem Radikalfänger mit 3 x 600 mg/Tag die         Insgesamt sollte die Therapie immer multimodal         kel- und Fettgewebes mit dadurch gelockertem
                        Genesung unterstützen kann. Topisch kann eine           sowie individuell auf den Patienten und den ak-        Prothesensitz, die Haut ist gerötet, aber intakt
                        50-prozentige DMSO-Creme (Dimethylsulfoxid)             tuellen Krankheitsstand angepasst sein.                und es ergeben sich keine Einschränkungen der
                        versucht werden [7].                                                                                           Ästhesie oder Algesie, keine Paresen.
                                                                                Dieser Fall demonstriert sehr anschaulich, dass
                        Von nicht-medikamentöser Seite spielen physi-           sich ein CRPS auch nach einem „Bagatelltrauma“         Aufgrund einer neu entdeckten leichten Aniso-
                        kalische, physio- und ergotherapeutische Maß-           entwickeln kann, zu welch teils gravierenden           korie und der morgendlich betonten Übelkeit
                        nahmen eine entscheidende Rolle. Im Zentrum             funktionellen Einschränkungen es führt und wie         erfolgt eine Computertomografie des Schädels
                        steht dabei die funktionelle Wiederherstel-             wichtig eine gute interdisziplinäre Kommunika-         ohne Hinweis auf eine Hirndruckerhöhung. Die
                        lung. Eine Schmerzzunahme unter der Thera-              tion mit frühzeitiger Diagnose und adäquatem           Übelkeit wird am ehesten als medikamenten-
                        pie ist dabei ebenso kontraproduktiv wie die            Therapiebeginn ist.                                    induziert gewertet.

                        596       Bayerisches Ärzteblatt 12/2020
Schmerztherapie - highlighted - Bayerisches Ärzteblatt
Titelthema

Im Rahmen unseres multimodalen Settings erhält        » Die zugrunde liegenden pathophysiologi-                gnose und nicht interventionelle Therapie
der Patient regelmäßig Physiotherapie zur Hal-          schen Mechanismen des als neuropathi-                  neuropathischer Schmerzen“. Primärer Ein-
tungs- und Gangschulung sowie muskulären Re-            scher Schmerz klassifizierten Phantom-                 satz von Antikonvulsiva (vorzugsweise Ga-
konditionierung. Limitierend wirkt sich hierbei das     schmerzes sind nicht vollständig geklärt.              bapentin, Pregabalin) und Antidepressiva
gesperrte Kniegelenk der Oberschenkelprothese           Man geht davon aus, dass unter anderem                 (insbesondere trizyklische Antidepressiva,
aus. Erneute Versuche der Passformoptimierung           die Reorganisation (sub)kortikaler neurona-            selektive Serotonin- und Noradrenalin-
durch einen Orthopädietechniker können weder            ler Netzwerke sowie eine Störung der                   Wiederaufnahmehemmer). Opioide können
Tragekomfort noch Gangbild verbessern, sodass           Signalinhibition auf Rückenmarksebene ei-              unter Beachtung von Nebenwirkungen und
die Anfertigung einer neuen Beinprothese mit            ne wichtige Rolle spielen [12, 13].                    ihres Abhängigkeitspotenzials zum Einsatz
flexiblem Kniegelenk empfohlen wird. Weitere                                                                   kommen. Nichtopioidanalgetika sind in al-
Schwerpunkte der nichtmedikamentösen Behand-          » Wie andere chronische Schmerzen ist der                ler Regel unwirksam.
lung sind die Spiegeltherapie, die Verbesserung         Phantomschmerz ein biopsychosoziales
der Entspannungsfähigkeit sowie die Vermittlung         Phänomen mit somatischen, psychologi-             » Die Anwendung von medizinischem Can-
einer adäquaten Leistungsdosierung im Alltag.           schen und sozialen Faktoren, die eine re-              nabis ist bei Versagen anderer Schmerz-
                                                        duzierte Lebensqualität bedingen. Die Be-              therapien im Rahmen eines multimodalen
Pharmakotherapeutisch beginnen wir eine                 handlung erfordert ein interdisziplinäres              Schmerztherapiekonzeptes eine weitere
Therapie mit medizinischem Cannabis in Form             multimodales Schmerzmanagement unter                   Therapieoption [14].
von Dronabinol in öliger Lösung 2,5 Prozent             Einbezug von ärztlichen Schmerztherapeu-
(Tetrahydrocannabinol [THC] 25 mg/ml) zur Re-           ten, Ergo-, Physiotherapeuten sowie Psy-          Einsatz von medizinischem Cannabis in der
duktion der Schmerzen, Linderung der Übel-              chologen.                                         Schmerztherapie
keit und Inappetenz, Verminderung des hohen                                                               » In Deutschland sind Nabiximols (Sativex®)
psychomotorischen Anspannungsniveaus und              » Voraussetzung für den Behandlungserfolg              für die Zusatzbehandlung einer mittel-
Affektstabilisation. Die Dronabinol-Startdosis          ist die optimale Prothesenversorgung.                schweren bis schweren Spastik bei Multip-
liegt bei 5 mg/Tag. Innerhalb des zweiwöchigen                                                               ler Sklerose und Nabilon (Canemes®) für die
Behandlungszeitraums wird das Medikament              » Die medikamentöse Therapie erfolgt gemäß             Behandlung von chemotherapiebedingter
auf die vorläufige Erhaltungsdosis von 45 mg/           den Empfehlungen der S2k-Leitlinie „Dia-             Emesis und Nausea zugelassen.
Tag (verteilt auf drei Einzeldosen) ohne Auftre-
ten von unerwünschten Arzneimittelwirkungen
gesteigert. Die Übelkeit ist bereits wenige Ta-                  Anzeige
ge nach Therapiebeginn vollständig rückläu-

                                                                                                MEDICA AKTION
fig und führt bei gebessertem Appetit zu einer
Gewichtszunahme. Fentanyl setzen wir daher
unverändert fort. Pregabalin wird nach festem
Schema zweimal täglich à 50 mg eingenommen.                                                                                  ----------                     -104
Zur Entlassung ist die durchschnittliche Schmer-                                                                               N
zintensität um gute 20 Prozent reduziert, bei nur
noch vereinzelten Schmerzspitzen und einzelnen
schmerzfreien Intervallen.

Resümierend gibt der Patient eine Steigerung
seines Wohlbefindens im Rahmen des multimo-
dalen Therapieansatzes an. Er ist gelassener und
in seiner Stimmung ausgeglichener. Der Patient
wirkt weniger fokussiert auf seine Defizite, wo-
durch der gezielte Einsatz von Ablenkungsstra-
tegien und die Konzentration auf Ressourcen im
Alltag zunehmend besser möglich sind.

Die Wirkung von Dronabinol bewertet der Patient
als nützlich und wünscht dessen Weiterverord-
nung. Bis zur Bestätigung der Kostenübernahme
                                                                                                                                   11.997 € -.          .
durch die gesetzliche Krankenkasse muss Dro-
nabinol pausiert werden, weshalb die geplante
weitere Pregabalin-Reduktion als Empfehlung
an den Hausarzt weitergegeben wird.
                                                                                                   Sonderaktion nur gültig
                                                                                                       bis 24.12.2020
Phantomschmerzen                                                                                   - begrenzte Stückzahl -

» Auftreten in etwa 60 bis 80 Prozent der                                                                                        Ihr Medizintechnikexperte in Bayern
  Fälle nach Amputation [12].
                                                                                                                                             09681 796910

» Differenzialdiagnostisch sind Stumpf-                                                                                                      www.4medic.de

   schmerzen abzugrenzen.

                                                                                                                   Bayerisches Ärzteblatt 12/2020              597
Schmerztherapie - highlighted - Bayerisches Ärzteblatt
Titelthema

» Mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Ände-
   rung betäubungsmittelrechtlicher und an-
                                                     Das Wichtigste in Kürze
   derer Vorschriften („Cannabisgesetz“) im
   März 2017 wurden die Möglichkeiten zur
                                                     Durch eine zu häufige Einnahme von Kopfschmerzmitteln kann sich, insbesondere bei Pati-
   Verschreibung von Cannabisarzneimitteln
                                                     enten mit einer Migräne und/oder einem Spannungskopfschmerz, zusätzlich ein sogenannter
   erweitert.
                                                     Kopfschmerz durch Medikamentenübergebrauch (Medication Overuse Headache = MOH) ent-
                                                     wickeln. Eine exakte Erhebung der Medikamenteneinnahme erleichtert die Diagnosestellung.
» Unter dem Begriff Cannabisarzneimittel             Im Sinne der Prävention, sollten die Patienten durch den behandelnden Arzt frühzeitig über
   werden derzeit, neben den Fertigarzneimit-
                                                     den richtigen Umgang mit Kopfschmerzmitteln und das potenzielle Krankheitsbild des MOH
   teln Sativex® und Canemes®, Rezepturen
                                                     informiert werden.
   von Dronabinol, Nabilon, Cannabisblüten
   und weiteren Cannabisextrakten zusam-
                                                     Das komplexe regionale Schmerzsyndrom („complex regional pain syndrome“, CRPS) ist ei-
   mengefasst [15].
                                                     ne wichtige Differenzialdiagnose bei anhaltenden Schmerzen, autonomen, sensorischen und
                                                     motorischen Störungen, welche unverhältnismäßig zum „schädigenden“ Ereignis (Verletzung,
» Voraussetzungen für die (Off-Label) Ver-           Operation) stehen.
   ordnung eines Cannabispräparates zu Las-
   ten der GKV:
                                                     Bei schwerwiegenden chronischen Schmerzsyndromen, insbesondere mit einer neuropathi-
   a) Schwerwiegende Erkrankung: eine Krank-
                                                     schen Schmerzkomponente, kann in Fällen, in denen die Standardtherapie nicht ausreichend
       heit ist schwerwiegend, wenn sie lebensbe-
                                                     wirkt oder kontraindiziert ist, an einen individuellen Heilversuch mit Cannabisarzneimitteln
       drohlich ist oder aufgrund der Schwere der
                                                     gedacht werden.
       durch sie verursachten Gesundheitsstörung
       die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig
                                                     Alle drei Fälle veranschaulichen die Bedeutung des biopsychosozialen Schmerzmodells.
       beeinträchtigt [16]. Konkrete Indikationen
       wurden vom Gesetzgeber nicht festgelegt.
   b) Eine dem allgemein anerkannten medizi-
       nischen Standard entsprechende Thera-
       pieoption steht nicht zur Verfügung oder
       kann im Einzelfall nicht zur Anwendung
       kommen (zum Beispiel bei zu erwartender         konnten einen eindeutig positiven Effekt       Das Literaturverzeichnis kann im Internet
       Nebenwirkung).                                  aufzeigen.                                     unter www.bayerisches-aerzteblatt.de
   c) Zudem muss eine nicht entfernt liegende                                                        (Aktuelles Heft) abgerufen werden.
       Aussicht auf eine positive Einwirkung auf    » Bei chronischen neuropathischen Schmer-
      den Krankheitsverlauf oder schwerwiegende        zen kann der Einsatz als Drittlinientherapie   Die Autoren erklären, dass sie keine finan-
      Symptome bestehen [17].                          erwogen werden [22].                           ziellen oder persönlichen Beziehungen zu
                                                                                                      Dritten haben, deren Interessen vom Ma-
» Bei Verordnung zu Lasten der Krankenkasse         » Ferner kann der Einsatz insbesondere als        nuskript positiv oder negativ betroffen sein
   ist ein Antrag vorab erforderlich, der von          Teil eines individuellen Heilversuchs bei      könnten.
   der Krankenkasse nur in begründeten Aus-            Krebsschmerzen ohne ausreichende Linde-
   nahmefällen abgelehnt werden darf und               rung durch Opioide oder andere etablierte
   einer Fristenregelung unterliegt. Die Ent-          Analgetika [24] sowie in Ausnahmefällen
   scheidung muss innerhalb von drei bzw.              und nach sorgfältiger Prüfung bei chro-
   fünf Wochen (bei Einbeziehung des MDK)              nisch nichtneuropathischen und nichttu-
   erfolgen. Im Rahmen der spezialisierten             morbedingten Schmerzen [22] erwogen
   ambulanten palliativmedizinischen Versor-           werden.
   gung und bei stationär eingestellter Can-
   nabinoid-Therapie muss die Entscheidung          » Ein Teil der Patienten mit chronischen
   innerhalb von drei Tagen nach Eingang ei-           Schmerzen profitiert trotz unveränderter        Autoren
   nes Kostenübernahmeantrages vorliegen               oder nur wenig veränderter Schmerzin-
   oder die Verzögerung schriftlich begründet          tensität von der Behandlung aufgrund der        Dr. Felix Dörfler
   werden. Andernfalls gilt der Antrag als ge-         Verbesserung von Schmerzakzeptanz, Stim-        Dr. Madlen Lahne
   nehmigt.                                            mung, Antrieb und Schlafqualität [24].
                                                                                                       Abteilung für Schmerztherapie,
» Der verordnende Arzt verpflichtet sich zur        » Absolute Kontraindikationen für eine Can-        Helios Amper-Klinikum Dachau,
   Teilnahme an einer Begleiterhebung anony-           nabistherapie: Schwangerschaft, Stillzeit       Krankenhausstraße 15, 85221 Dachau
   misierter Patientendaten [18].                      und die Gabe bei Kindern und Jugendlichen
                                                       (< 25 Jahren).                                  Korrespondenzadresse:
» Systematische Übersichtsarbeiten der ver-                                                            Dr. Felix Dörfler, Abteilung für Schmerz-
   gangenen Jahre zur Wirksamkeit bei chro-         » Relative Kontraindikationen: psychiatrische      therapie, Helios Amper-Klinikum Dachau,
   nischen Schmerzen erbrachten wider-                 Erkrankungen (aktuell oder in der Vorge-        Krankenhausstraße 15, 85221 Dachau,
   sprüchliche Ergebnisse [19, 20, 21], wobei          schichte), Substanzmissbrauch und -abhän-       Tel. 08131 764030, Fax 08131 764060
   Qualität und Vergleichbarkeit Einschrän-            gigkeit, epileptische Anfälle und schwere       E-Mail: felix.doerfler@helios-gesundheit.de
   kungen aufwiesen. Nur wenige Studien                Herzkreislauferkrankungen [22].

598      Bayerisches Ärzteblatt 12/2020
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