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II 2021 A N A LY S E N I M AT E R I A L I E N I A R B E I T S H I L F E N Z U M J U G E N D S C H U T Z Schwer in Ordnung! Barbara Methfessel Katrin Ziser, Florian Junne Esskulturelle Entwicklungen „Dicke Kinder sind faul.“ Stigmatisierung und andere Jugendlicher zwischen Familie psychosoziale Folgen von Übergewicht und Adipositas und Peers im Kindes- und Jugendalter
Impressum Inhalt Herausgeber: Barbara Methfessel 4 Präsidium der Aktion Jugendschutz Esskulturelle Entwicklungen Jugendlicher zwischen Familie und Peers Landesarbeitsstelle Baden-Württemberg Marion v. Wartenberg, Angela Blonski, Katrin Ziser, Florian Junne 10 Wolfgang Borkenstein, Marion Steck, „Dicke Kinder sind faul.“ Petra Weiser Stigmatisierung und andere psychosoziale Folgen von Übergewicht Redaktion: und Adipositas im Kindes- und Jugendalter Elke Sauerteig (verantw.) Ursula Kluge Katrin Ziser, Florian Junne 15 Stufenmodell Adipositasprävention und -therapie im Kindes- und Unter Mitarbeit der Fachreferent:innen: Jugendalter (STARKIDS) Henrik Blaich, Ute Ehrle, Silke Grasmann, Lothar Wegner, Petra Wolf Tom Hauber, Isabell Mentor, Nadine Preisach-Podchull 18 2 Die mit Namen versehenen Beiträge geben STARK – Ein Gruppenangebot des GesundheitsLaden e.V. für Mädchen * die Meinung der Autor:innen wieder. und Jungen* mit Übergewicht und deren Eltern Alle Rechte sind vorbehalten, Ute Ehrle 22 Vervielfältigungen sind nur mit Genehmigung Padlet zum Theama „Schwer in Ordnung“ der Aktion Jugendschutz gestattet. Medien und Materialien 23 Konto: Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE75 6012 0500 0008 7018 00 Aus der Arbeit der ajs 27 BIC: BFSWDE33STG Bezugspreis (2021): Einzelheft E 4,00; Vorankündigungen 31 Abonnement E 7,50 jährlich inkl. Versand Auflage: 1.800 Erscheinungsweise: 2 x jährlich ISSN 0720-3551 Titelbild: iStock, LuisALouro Layout: Kreativ plus – Gesellschaft für Werbung und Kommunikation mbH Hauptstraße 28, 70563 Stuttgart www.kreativplus.com Druck: Offizin Scheufele Druck und Medien GmbH & Co. KG Stuttgart Aktion Jugendschutz Landesarbeitsstelle Baden-Württemberg Jahnstraße 12, 70597 Stuttgart-Degerloch Tel. (07 11) 2 37 37-0 Fax (07 11) 2 37 37-30 info@ajs-bw.de, www.ajs-bw.de Gefördert durch Mittel aus dem baden- württembergischen Staatshaushalt, den der Landtag von Baden-Württemberg beschlossen hat. Die Mittel sind dem Ertrag der Staatlichen Wetten und Lotterien entnommen.
Editorial Liebe Leser:innen, Die Zahl der übergewichti Ursachen und Folgen von Übergewicht bei Kindern und gen Kinder und Jugendlichen Jugendlichen sind komplex. Dies ist aus pädagogischer hat nicht – wie vielfach kol Sicht und bei der Entwicklung von Angeboten zu be portiert – zugenommen. Sie rücksichtigen. Psychosoziale Aspekte sind ebenso ein stagniert auf einem hohen zubeziehen wie die Bereiche Ernährung und Bewegung. Niveau. Dies zeigen die Daten der zweiten Folgeerhebung Prof. Dr. Barbara Methfessel stellt in ihrem Beitrag dar, der Studie zur Gesundheit von wie Esskulturen sich in Familie und Peers entwickeln. Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS Welle Das subjektive Erleben ist entscheidend, denn Ess 2, 2014 – 2017): etwa 15,4 % der Heranwachsenden sind gewohnheiten werden von psychischen und sozialen von Übergewicht und 5,9 % von Adipositas betroffen. Es Faktoren beeinflusst. gibt keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Allerdings steigen die Übergewichts- und Adipositasprä Prof. Dr. Florian Junne und Katrin Ziser beschreiben aus valenzen mit zunehmendem Alter an. Heranwachsende medizinischer Sicht die heute bekannten Ursachen und mit niedrigem sozioökonomischen Status sind deutlich die Auswirkungen des kindlichen Übergewichts sowie häufiger von Übergewicht und Adipositas betroffen als wirksame Präventions- und Interventionsmaßnahmen. Gleichaltrige mit hohem sozioökonomischen Status. In diesem Zusammenhang stellt Katrin Ziser in ihrem Praxisbeitrag das Stufenmodell zur Adipositasprävention Neben den körperlichen Beeinträchtigungen leiden und -therapie im Kindes- und Jugendalter (STARKIDS) betroffene Kinder und Jugendliche unter psychischen vor. und psychosozialen Folgen wie z. B. Essstörungen oder affektive Störungen wie Angst- und Aufmerk Der zweite Praxisartikel veranschaulicht das Projekt samkeitsstörungen. Hinzu kommen die Gefahren einer „stark 2“ des GesundheitsLadens Stuttgart e.V. Nadine gewichtsbezogenen Stigmatisierung, der Entwicklung Preisach-Podchull, Isabel Mentor und Tom Hauber arbei eines negativen Selbstwerts, einer erhöhten Körperun ten hier mit übergewichtigen Kindern und Jugendlichen zufriedenheit, des sozialen Rückzugs und verschiedene und geben einen Einblick. Formen der Depression. In unserem Padlet (https://padlet.com/ajsbw1/ajs_ „Dicksein“ bedeutet heute Schwäche, Versagen, Sich- Info_2_2021) finden Sie zahlreiche Informationen zum nicht-im-Griff-haben. Es steht im Widerspruch zu einer Thema dieser ajs-informationen. Schauen Sie sich um. leistungsorientierten Kultur des unbegrenzten Machbar Wie gewohnt gibt es Hinweise auf aktuelle Materialien keitswahns, der Verfügbarkeit von Schlankmacheran und Aktuelles aus der Arbeit der ajs. Wir wünschen geboten, der allgegenwärtigen Körperinszenierung und Ihnen interessante Anregungen für Ihren Arbeitsalltag! permanenten Zurschaustellung perfekter junger Körper in den Medien. Ute Ehrle Fachreferentin F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 2 | 5 7 . J a h r g a n g · N o v e m b e r 2 0 2 1 · S t u t t g a r t ajs-informationen 3
Barbara Methfessel Esskulturelle Entwicklungen Jugend licher zwischen Familie und Peers E ssverhalten von Menschen wird durch zwei Faktoren beeinflusst: die genetische Disposition und die soziokulturelle Umwelt. Dabei bestimmt die soziokulturelle Umwelt, welche Bedeutung die genetische Disposition bekommen und auch, wie sie sich vererben kann. Zum Verständnis der Entwicklung des Essverhaltens Jugendlicher sollen im Folgenden beide Faktoren beachtet werden. „Der Mensch ist, was er isst“ – Diese angeborenen Vorlieben und Abneigungen dienten Aber nicht alle Menschen sind gleich in der Menschheitsgeschichte dem Überleben; sie leiten heute aber in die Irre. In der „westlichen Überfluss Mit der Feststellung, dass der Mensch ist, was er isst, gesellschaft“ begünstigen sie die Wahl von süßen und wollte der Philosoph Feuerbach (1850) verdeutlichen, fetten Lebensmitteln, die arm an notwendigen und reich dass ein Mensch nur aus dem bestehen kann, was er isst. an weniger gesundheitsförderlichen Inhaltsstoffen sind Der gesamte Körper wird – abgesehen von den Gehirn- und daher u. a. Adipositas fördern. Dies trifft vor allem zellen – ein Leben lang auf-, um- und abgebaut. Die Quali den genetischen Typus von Menschen, die als „Energiekon tät dieses Prozesses wird dabei durch eine ausreichende servierer“ gelten, die schnell zunehmen und auch schwie- Zufuhr der Vielzahl der Inhaltsstoffe unserer Nahrung riger abnehmen als andere. Sie konnten in Notzeiten die bestimmt. Menschheit vor dem Verhungern retten und müssen heute gegen die Versuchungen des Überflusses angehen und Für die Nahrungsauswahl gibt frustrierende Kämpfe gegen das Übergewicht 1 führen Schon in der die Evolution den Menschen (Blundell, 2018; Peters, 2012). Genetische Unterschiede Schwangerschaft lernt ein allerdings keine ausreichenden gibt es auch bei Reaktionen des Körpers auf Essverhalten. Fötus den Geschmack des Instinkte, dafür aber ein prob- So ist z. B. die Veranlagung zu Diabetes Typ II oder Fett- lematisches Erbe mit: Von Ge- stoffwechselstörungen unterschiedlich ausgeprägt. Daher Essens der Mutter kennen burt an bevorzugen Menschen reagieren Menschen auch unterschiedlich auf die „western und kann sich dadurch die Geschmacksrichtungen diet“, eine energiereiche, aber – bezogen auf die Breite an spezifische Aromen süß, eiweißreich und reagieren der Makro- und Mikronährstoffe – nährstoffarme Kost. gewöhnen. positiv auf die Wahrnehmung Schlanke, gesund wirkende Jugendliche müssen nicht von Fett. Abgelehnt wird zu- unbedingt gesundheitsförderlicher ernährt sein und über- nächst der Geschmack bitter (Signal für Gift) und sauer gewichtige können dies durchaus sein. Letztere haben (Signal für Verderb und Unreife). Angeboren ist auch, dass auch nicht unbedingt viel mehr gegessen. Übergewichtige der Körper die Zufuhr von Nahrung durch die Ausschüttung haben aber unter Vorverurteilung und Diskriminierung zu von Stoffen, die positive Gefühle vermitteln, belohnt und, leiden (Methfessel, 2022a, 2022b; Methfessel et al., dass Fett (als Sicherheit vor dem Verhungern) leichter ge- 2020, 2021; Zwick et al., 2011). speichert als abgebaut wird (Blundell, 2018; Methfessel et al., 2020; Peters, 2012). 1 Im Weiteren wird immer der Begriff Übergewicht bei einem Gewicht oberhalb des jeweils definierten „Normalgewichts“ genutzt, unabhängig davon, ob das Gewicht mit gesundheitlichen Folgen verbunden ist. 4 ajs-informationen F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 2 | 5 7 . J a h r g a n g · N o v e m b e r 2 0 2 1 · S t u t t g a r t
Esskulturelle Entwicklungen Jugendlicher zwischen Familie und Peers Angesichts des Zusammentreffens von genetisch gege- den (Methfessel, 2020, 2022a, 2022b; Methfessel et al., benen Präferenzen und gesundheitlichen Entwicklungen 2020, 2021). sowie der Bedeutung einer soziokulturellen Umwelt, die mit adipogenen Nahrungsangeboten und Essweisen lockt, Familienmahlzeiten sind für die Familienmitglieder (meist) sind daher Maßnahmen zur Verhältnisprävention die wichtige soziale Treffpunkte und bieten regelmäßige Kom- wesentliche politische Aufgabe, d. h. gesundheitsförder- munikationszeiten. Durch die Verknüpfung von Geschmack liche Bedingungen zu schaffen und die „bessere Wahl“ mit sozialen und psychischen Erfahrungen ist nicht nur der zur „einfacheren Wahl“ zu machen. Leider steht diese Geschmack des Familienessens für eine Essbiografie be- Aufgabe weniger im gesundheitspolitischen Fokus, son- deutsam; auch die Mahlzeitenkultur, die jeweilige Art des dern Aufgaben der Verhaltensprävention, vor allem durch Zusammenseins und des ge- Information und Belehrungen – und damit auch die Zu- meinsamen Genießens (oder weisung der „Schuld“ an die Individuen. nicht), beeinflusst das weitere Familienmahlzeiten sind Ess- und Sozialverhalten. Im für die Familienmitglieder Zur Bedeutung physischer, psychischer vertrauten Bereich angenom- (meist) wichtige soziale und sozialer Einflüsse auf das Essverhalten men und beteiligt zu sein, stärkt Treffpunkte und bieten Kinder und Jugendliche. Daher regelmäßige Schon in der Schwangerschaft lernt ein Fötus den Ge- setzen sie sich auch gerne an schmack des Essens der Mutter kennen und kann sich den Familientisch, wenn sie Kommunikationszeiten. dadurch an spezifische Aromen gewöhnen. Auch die nicht oder nicht sehr hungrig Muttermilch beinhaltet solche Aromen (die Flaschenmilch sind. Da Familienkultur und Esserziehung insgesamt libe- meist nur Vanille). Mit dem Füttern erlebt ein Säugling raler geworden sind, hat die Zeit für die einzelnen Mahl- (im positiven Fall) neben der Erlösung vom Schmerz des zeiten zugenommen, obwohl Arbeits- und Schulzeiten die Hungers auch Geborgenheit und Zuwendung. Diese Er- Strukturen der Mahlzeiten verändert haben (Bartsch, 2008, fahrungen werden zusammen mit dem Geschmack (im 2022b; Klünder, 2020; Methfessel, 2022a). Limbischen System) gespeichert. Mit Essen wird also von Beginn an physische, psychische und soziale Bedürfnis- In Familien lernen Kinder und Jugendliche auch, wie und befriedigung verknüpft. Darüber wird auch „Geschmack über welche Wege psychische und soziale Bedürfnisse gelernt“, d. h. kennen – und durch Verträglichkeit und Ge- befriedigt werden. wohnheit akzeptieren gelernt. Zudem werden Essen (als Prozess und als spezifische Nahrung) und Geschmack über Auch die Freude am Essen entspricht nach Grawe (2004) das Zusammentreffen physischer, psychischer und sozia- einem Bedürfnis, nämlich Unlust zu vermeiden und Lust ler Eindrücke auch immer mit Gefühlen verbunden: bei zu suchen. Essen ist mit Lust und Genuss verbunden. Essen negativen Erlebnissen (Stress am Esstisch) mit Ablehnung generell und die „angegessene“ Verknüpfung von positiven und bei positiven (angenehme Situationen und Personen) Gefühlen und Geschmack führen zur Ausschüttung von auch mit Sicherheit, Zugehörigkeit und Identität. Botenstoffen (Hormone, Neurotransmitter), die die Psyche Geschmack lernt man also durch Essen, ebenso Ge- schmacksvorlieben (Dr. Rainer Wild-Stiftung, 2013; Methfessel et al., 2021). Dieses Lernen kann in den Fami- Die Autorin lien sehr unterschiedlich sein. Im „normalen“ Verlauf er- fahren Kinder nicht nur eine „Enkulturation“ in die fami- Professorin (i. R.) liale Esskultur (die wiederum Teil einer regionalen oder Drin. Barbara Methfessel milieuspezifischen Kultur ist). Sie können mit spezifischen Pädagogische Hochschule Heidelberg, Institut für Gesellschafts Geschmacksarten durch Kräuter und Gewürze (im arabi- wissenschaften, Abteilung Alltagskultur und Gesundheit schen Raum u. a. Kreuzkümmel) und Gerichten (in Schwa- ben u. a. Linsen mit Spätzle) auch Gefühle von Vertrautheit Kontakt und Sicherheit erreichen („soul food“). In Lebenssitua methfessel@ph-heidelberg.de tionen, die verunsichern, kann darauf zurückgegriffen wer- F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 2 | 5 7 . J a h r g a n g · N o v e m b e r 2 0 2 1 · S t u t t g a r t ajs-informationen 5
Esskulturelle Entwicklungen Jugendlicher zwischen Familie und Peers positiv beeinflussen. Die Suche nach dem beruhigenden Essen kann daher als „Kanal“ für die Befriedigung fast und lustgebenden Gefühl, das – allerdings nur kurz aller Bedürfnisse dienen: Es bietet fristig – durch Essen erreicht werden kann, kann von Kind- heit an erlernt werden. Unter anderem kann man täglich ■ über vertrauten Geschmack Sicherheit und soziale in Bussen oder auf Spielplätzen beobachten, dass einem Geborgenheit, unruhigen oder weinenden Kind als erstes Essen gereicht ■ über Essmoden und Essstile (wie vegetarisches/ wird. In sozial benachteiligten Familien ist Essen auch veganes Essen oder – auch als Widerstand dage- häufig die einzige selbstbestimmte Freude, die man sich gen – Fleisch) Identitäts- und Zugehörigkeitsgefühle. leisten kann. Auch nicht zu essen bietet – wie bei Magersucht – Grundbedürfnisse ■ die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Selbst Grundbedürfnisse sind dadurch bestimmt, dass sie bei bestimmung. allen Menschen, d. h. auch in allen Kulturen, festzu- stellen sind. Sie sind gekennzeichnet durch ein Gefühl Essen kann also zur Befriedigung aller Grundbedürfnisse eines Mangels, das dazu führt, dass man diesen Man- beitragen. Übergewicht kann manchmal auch über Bedürf- gel beheben will. Unbestritten ist, dass alle Menschen nisse und deren Wege zur Befriedigung Auskunft geben. ■ physische (wie Hunger, Durst, körperliche Werbung und Moden suggerieren schon Kindern, dass Sicherheit) Bedürfnisse (u. a. nach Anerkennung) über Konsum zu be- ■ sozialpsychologische (wie nach Zugehörigkeit, friedigen sind. Für die Entwicklung Jugendlicher ist wich- soziale Beziehung) und tig, dass diese ihre jeweiligen (physischen, psychischen ■ individualpsychologische (wie nach Entwicklung, und sozialen) Bedürfnisse wahrnehmen und von Wünschen Achtung) und kurzfristigen Zielen unterscheiden lernen. Dies ist Voraussetzung, um die verschiedenen Wege zur Bedürf- Bedürfnisse haben, wenn auch deren Bezeichnung und nisbefriedigung reflektieren, bewerten und selbstbestimmt Strukturierung unterschiedlich sind. Umstritten ist u. a., wählen zu können (Bartsch, 2022; Methfessel, 2020). ob Bedürfnisse hierarchisch zu ordnen sind, ob also die Erfüllung eines Bedürfnisses eine (relative) Befrie- Essverhalten ist zugleich individuell und digung anderer voraussetzt. Allerdings ist zu beachten, sozial beeinflusst dass Entwicklung und Bedeutung von Bedürfnissen und Möglichkeiten eines selbstbestimmten Umganges Essverhalten wird von zahlreichen Faktoren beeinflusst. damit an Stufen der menschlichen Entwicklung ge- Naturgegebene, historische, ökonomische, technische bunden sind (Maslow, 2018; Methfessel, 2020). Der oder kulturelle Bedingungen für die Nahrungsproduktion Pubertät kommt dabei eine bedeutende Rolle zu, weil sowie soziokulturelle oder religiöse Einflüsse auf Werte in dieser Entwicklungsstufe Identität und Selbstkon- und Bewertungen führen zu sehr unterschiedlichen Nah- zept auf- und ausgebaut werden sowie die Fähigkeit rungsangeboten und auch zu unterschiedlichen Vorstel- zur Reflexion ausgebildet wird. lungen von „richtigem Essen“. Zwischen Gesellschaften und auch innerhalb einer Gesellschaft bildeten sich so Sich aus diesen Bedürfnissen entwickelnde Wünsche sehr unterschiedliche Esskulturen und Essstile heraus, die und Ziele, über die man die Befriedigung erreichen will sich im Laufe der Geschichte auch veränderten und ge- (der sog. Bedarf), sind allerdings kulturell sehr unter- genseitig beeinflussten. schiedlich. Die Bedarfsdeckung ist auch abhängig davon, wie man in der individuellen Entwicklung gelernt hat, Durch Wissenschaft und Technologieentwicklungen hat Bedürfnisse zu befriedigen und wie das soziokulturelle sich das Nahrungsangebot ebenso verändert wie die Vor- Umfeld Werte, Wünsche, Interessen, Moden etc. be- stellungen davon, was ein „richtiges“ und gesundheits- einflusst (Maslow, 2018; Methfessel, 2020). förderliches Essen ist. Je vielfältiger und dynamischer 6 ajs-informationen F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 2 | 5 7 . J a h r g a n g · N o v e m b e r 2 0 2 1 · S t u t t g a r t
Esskulturelle Entwicklungen Jugendlicher zwischen Familie und Peers ■ das Angebot an Nahrungsmitteln ist, ■ der Körpergestaltung, auch in Verbindung mit einer ■ neue Erkenntnisse die Einzelnen erreichen, sexuellen Identität (Schlankheit, Muskelbildung) ■ die sozialen Kontakte – auch im Rahmen der ■ der Identitätsentwicklung, z. B. durch neue Wertorien- eigenen Biografie – sind, tierungen wie Nachhaltigkeit und Tierschutz, die zu vegetarischen oder veganen Essstilen führen oder – im desto mehr Impulse gibt es zur Veränderung des Essver- Gegenteil als Widerstand gegen solche Essstile – durch haltens und umso „dynamischer“ können sich Essbiogra- explizit fleischorientierte oder „ungesunde“ Ernährung fien entwickeln. Vermutlich hat keine Generation so viele ■ Selbstständigkeit, u. a. durch Suche nach Unabhängig- Möglichkeiten der Veränderung ihres Essverhaltens erlebt keit von den Familienmahlzeiten. wie die „Nachkriegsgenerationen“ der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts im Rahmen der Internationalisierung Der Wunsch nach „Erwachsensein“ und die Suche nach des Nahrungsangebotes. Identität fördern auch die Bereitschaft, sich neuem Ge- schmack und neuen Essgewohnheiten zu öffnen. Neben Peers, d. h. im weiteren Sinn Vertreter und Vertreterinnen der Annäherung an das bittere Bier und aktuell angesag- von Gruppen, die jeweils soziale Bedeutung haben, be- tem Fast Food können auch der Wurm im Tequila oder einflussen ebenfalls das Essverhalten. Über solche Ein- Insektenburger dazu dienen. Solche Entwicklungen können flüsse fanden ab dem 16. Jahrhundert „Kolonialwaren“ durch Peers angestoßen und verstärkt werden. Sie können ebenso den Weg in Küchen schwäbischer Dörfer wie Ende auch zur Suche nach neuen Peer-Gruppen und zur Distink- des letzten Jahrhunderts Kiwis und Mangos. Von der Kin- tion (Abgrenzung) zum bisher „Normalen“ und zu Integra- dertagesstätte bis zum Altenheim bekommen Menschen tion in neue soziale Gruppen führen. heute Impulse, sich Neuem zu öffnen und darüber auch ihre Wertungen und ihre Zugehörigkeiten zu verändern: Durch Peers bekommen Jugendliche neue Informationen sich „moderner“, „gesünder“, „praktischer“, „nachhalti- über angesagte Essstile, Lebensmittel, Speisen, Nahrungs- ger“ etc. zu ernähren. Dabei werden sie zunehmend auch ergänzungsmittel (wie Eiweiß nicht nur durch Personen im sozialen Umkreis, sondern zum Muskelaufbau) oder auch über Medien, insbesondere über die sogenannten „neue“ Wege zur Körperge Der Wunsch nach sozialen Medien durch „virtuelle Peers“ angesprochen. staltung, die sie auch mit an- „Erwachsensein“ und die Sie beeinflussen besonders Jugendliche, die in Folge durch deren zusammen ausprobieren. Suche nach Identität fördern ihre Wünsche und Vorschläge wiederum auch die famili- Gemeinsam werden „in“ und die Bereitschaft, sich ale Esskultur beeinflussen können. „out“ Wertungen ausgetauscht. neuem Geschmack und Mit Peers wird Ess- und Trink- Die familiale Esskultur begleitet die Entwicklung der Ess- verhalten eingeübt, das in der neuen Essgewohnheiten biografien von Kindern und Jugendlichen. Sie bestimmt Familie noch nicht erlaubt ist. zu öffnen. zunächst auch, wie offen Kinder und Jugendliche neuen Gemeinsam erproben sie so das Esserfahrungen gegenübertreten und wieviel sie wiederum „Erwachsenwerden“. Nicht zuletzt stillen sie gemeinsam in die Familie zurücktragen. Die Bedeutung von Peers für auch den Hunger: möglichst preiswert und unkompliziert, die esskulturelle Entwicklung im Jugendalter geht meist d. h. unter Bedingungen, die durch viele Fast Food-Angebote darüber hinaus. erfüllt werden (Bartsch, 2008, 2022a). Die Bedeutung von Peers für die Jugendliche zwischen Familie und Peers esskulturelle Entwicklung Jugendlicher Familie und Peers sind beide für die Entwicklung von Ess- Zu den Entwicklungsaufgaben Jugendlicher gehört die verhalten Jugendlicher bedeutsam. Wieweit sie „neben- Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit, zum Teil einander bestehen“, sich ergänzen oder widersprechen, auch in Abgrenzung zur Herkunftsfamilie. Essen hat in hängt von vielen Bedingungen ab. Generell gilt, dass Fast diesem Prozess unterschiedliche Funktionen: Es dient u. a. Food-Zwischenmahlzeiten zwar Selbstständigkeit und Selbstbestimmung bieten, aber meist nur die Familien- mahlzeiten ergänzen. Sie können zu Veränderungen der F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 2 | 5 7 . J a h r g a n g · N o v e m b e r 2 0 2 1 · S t u t t g a r t ajs-informationen 7
Esskulturelle Entwicklungen Jugendlicher zwischen Familie und Peers Essstile der Jugendlichen und auch anderer Familienmit- wahrzunehmen und angemessene Wege zur Befriedigung glieder führen. Neue Essstile können zu finden. Für Jugendliche, die Schwierigkeiten mit den Herausforderungen der Pubertät haben und nicht wissen, ■ dem Kampf zwischen den Generationen dienen wie sie damit umgehen können, kann Essen daher auch ■ zum „Nebeneinander“ bei gemeinsamem Familienes- eine größere Bedeutung bekommen und zugleich zum gro- sen führen (meist zu Lasten der Elternteile, die für die ßen Problem werden. Alltagsküche verantwortlich sind und allen gerecht werden wollen) In sozial höhergestellten Familien wird von Kindern er- ■ oder auch das Familienessen verändern, wenn der Rest wartet, dass sie die gesellschaftlichen Normen erfüllen. der Familie den neuen Werten und Wünschen entge- Wenn sie keine Unterstützung bekommen, sondern Druck, genkommt. auch die (häufig weder alters- noch Gen-Typus gerechten) „Figur-Normen“ zu erfüllen, kann dies zu Essstörungen Auch ohne unterschiedliche Vorstellungen vom „richtigen“ führen. In sozial benachteiligten Familien ist Übergewicht Essen kann das Verhalten Jugendlicher zu Konflikten füh- stärker verbreitet. Für viele ihrer Eltern ist Essen ein we- ren, z. B. wenn sich hungrige Teenager an der Reserve-Pizza sentlicher Teil von selbstbestimmter Lebensqualität, den bedienen und dann beim gemeinsamen Essen nicht mehr Kampf um eine „gute Figur“ haben sie nie aufgenommen hungrig sind. Erfreulich ist aber, dass sich viele Jugendli- oder längst aufgegeben. Sie können ihre Kinder zur Ak- che dennoch am Familienessen beteiligen, zum einen, weil zeptanz ihrer Figur oder zu Widerstand ermutigen. es ihnen schmeckt und zum anderen, weil sie sich an den Gesprächen beteiligen wollen. Letztlich brauchen sie bei- Viele Jugendliche haben – unabhängig von ihrem Ge- des: die Familie als Rückgrat und die Peers zur Ablösung wicht – Probleme mit der Akzeptanz ihres Körpers und von der Familie (Bartsch, 2008; Klünder, 2020). dem Umgang damit (Finne et al., 2020; Methfessel, 2013). Sie finden aber häufig keine ausreichende Unterstützung, Übergewicht führt zum Ausschluss wie sie mit den Wünschen nach einer anderen Figur um- Wissen unterstützt Selbstwahrnehmung gehen können. Jugendarbeit hat hier eine besondere Be- und Selbstbewusstsein deutung. Dabei geht es zunächst nicht vorrangig um In- formationen über eine gesundheitsförderliche Ernährung, Übergewichtige Jugendliche durchleben im Prinzip die- sondern um ein Verständnis davon, welche Faktoren Ein- selben Entwicklungsprozesse. Für sie ist die Zugehörigkeit fluss auf das (auch eigene) Essverhalten haben, welche zu Peer-Gruppen jedoch häufig begrenzt. Schon in der KiTa Bedeutung Essen im Rahmen der Entwicklung hat und was ist der Satz „Du bist fett!“ eine gängige Beschimpfung daraus für die Gestaltung der eigenen Essbiografie folgt. geworden. Die Figur und das Aussehen sind häufig ge- Es geht um ein Verständnis der eigenen Bedürfnisse, der nutzte Mittel, um zu mobben. Übergewichtige Jugendliche Möglichkeiten, sie ernst zu nehmen und Wege für ihre erfahren dabei auch, dass sie aufgrund ihres Gewichtes Befriedigung zu finden. schnell als weniger sympathisch, intelligent oder kompe- tent beurteilt werden. Sie benötigen viel Kraft, um sich Um die eigene Essbiografie selbstbestimmter gestalten, dagegen zu wehren und sich durchzusetzen. Sie haben sich auf dem Markt selbstbewusst behaupten und sich häufig nur die Chance, sich untereinander zusammen genussvoll ernähren zu können, ist Wissen über die Qua- zuschließen oder sich einer Gruppe anzuschließen, in der lität von Nahrungsmitteln und zur Bewertung von Essstilen Äußeres weniger relevant ist, wie bei Computernerds, notwendig. An beidem mangelt es häufig und wird zum Spielefreaks etc. (Barlösius, 2014; Bartsch, 2022a; Schmidt- Teil sogar durch Peers und „virtuelle Peers“ oder durch Semisch & Schorb, 2008; Zwick et al., 2011). jeweils „angesagte“ und auch problematische Ernährungs- moden und Strategien zur Körperveränderung ersetzt. n Übergewicht gibt ebenso wie Untergewicht auch Hinweise dazu, ob Jugendliche Probleme damit haben, Bedürfnisse 8 ajs-informationen F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 2 | 5 7 . J a h r g a n g · N o v e m b e r 2 0 2 1 · S t u t t g a r t
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K a t r i n Z i s e r, P r o f e s s o r D r. m e d . F l o r i a n J u n n e „Dicke Kinder sind faul.“ Stigmatisierung und andere psychosoziale Folgen von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter Ü bergewicht und Adipositas sind ein globales Gesundheitsproblem, das auch Kinder aller Altersklassen betrifft. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verzeichnet einen Anstieg an Überwicht und Adipositas bei Kindern zwischen 5 und 19 Jahren von über 14 Prozent in 41 Jahren (WHO, 2020). Neben den körperlichen Auswirkungen auf die Gesundheit der Kinder und Jugend lichen, wie beispielsweise spätere Fettleber-, Herz-Kreislauf- oder Diabetes-Erkrankungen (Niehoff, 2009), spielen auch psychosoziale Auswirkungen von Übergewicht und Adipositas eine wichtige Rolle (Sahoo et al., 2015) wie Stigmatisierung, soziale Isolation, Scham und die Unzu friedenheit mit dem eigenen Körper. Stigmatisierung bei Übergewicht direkten Austausch mit Gleichaltrigen erfahren überge- und Adipositas wichtige Kinder und Jugendliche diese Stigmatisierung, sondern auch durch die Medien, z. B. in Fernsehsendungen Der Begriff Stigmatisierung beschreibt die Zuschreibung mit und für Kinder oder im Gesundheitswesen durch me- oder Aberkennung bestimmter Merkmale und Eigenschaf- dizinisches Personal. Stigmatisierungen aufgrund des Ge- ten einer Person, die sich negativ auf diese auswirkt und wichts scheinen sich aufrecht zu erhalten, da teilweise in Folge zur Ausgrenzung der betroffenen Personen führen immer noch davon ausgegangen wird, dass das Stigma kann (Goffmann, 2016), beispielsweise die Zuschreibung die übergewichtigen Personen dazu motiviert, Gewicht „Dicke Kinder sind faul“. Insbesondere bei Kindern und abzunehmen (Callahan, 2013). Stattdessen bewirkt die Jugendlichen führt Stigmatisierung häufig zu Ausgrenzung Stigmatisierung jedoch häufig das Gegenteil und führt und Mobbing durch Gleichaltrige (Pont et al., 2017). Ins- beispielsweise zu Essattacken, sozialer Isolation, verrin- gesamt gilt Adipositas als „eine der stigmatisierendsten gerter körperlicher Aktivität und Gewichtszunahme (Puhl und am wenigsten sozialverträglichen Bedingungen in der & Suh, 2015). Kindheit“ (Schwimmer et al., 2003). Psychische Auswirkungen Auch nach Berichten von Erzie- gewichtsbezogener Stigmatisierung herInnen, LehrerInnen und Eltern Bei Kindern und ist Übergewicht und Adipositas Stigmatisierung und damit einhergehende Schikane von Jugendlichen führt der häufigste Grund für Mobbing Kindern und Jugendlichen kann zu psychischen Problemen Stigmatisierung häufig bei Kindern und Jugendlichen. Die wie Depressionen, Angststörungen, Körperunzufriedenheit Wahrscheinlichkeit von verbaler und einem niedrigeren Selbstwertgefühl bei den Betrof- zu Ausgrenzung oder physischer Viktimisierung fenen führen (Puhl & Lessard, 2020). Bei Adipositas im und Mobbing durch nimmt mit steigender BMI-Per- Kindesalter und Depression wird dabei von einem bidirek- Gleichaltrige. zentile zu (Pont el al., 2017). Doch tionalen Zusammenhang ausgegangen. Das bedeutet, dass nicht nur in der Schule oder im Depressionen im Kindes- und Jugendalter sowohl zu Über- 10 ajs-informationen F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 2 | 5 7 . J a h r g a n g · N o v e m b e r 2 0 2 1 · S t u t t g a r t
„Dicke Kinder sind faul.“ Stigmatisierung und andere psychosoziale Folgen von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter gewicht und Adipositas führen können als auch der um- gibt ein Großteil der darin befragten 19 – 29-Jährigen gekehrte Zusammenhang zutreffen kann und Übergewicht/ an, dass sie aufgrund ihrer Mobbing-Erfahrungen in der Adipositas ein Risikofaktor für die Entstehung von Depres- Kindheit nach wie vor mit Ängsten, Depressionen, Gefüh- sionen sein kann (Goldfield et al., 2010). Das erhöhte Risiko len von Scham und Wut, Rachefantasien, Suizidalität und für Depressionen und Angststörungen aufgrund von Über- posttraumatischen Belastungsstörungen zu kämpfen ha- gewicht und Adipositas zeigt sich auch nach Einbeziehung ben. Insbesondere die Personen, die Erfahrungen mit ge- anderer Risikofaktoren wie familiär-psychiatrischer Hin- wichtsbezogenem Mobbing gemacht haben, haben auch tergrund, neuropsychiatrischen Erkrankungen oder sozio- im Erwachsenenalter Körperbildstörungen bis hin zu Ess- ökonomischer Status (Lindberg et al., 2020). Hier zeigte störungen. Neben den psychischen und physischen Aus- eine Studie, dass Mädchen mit Adipositas ein um 43 Pro- wirkungen von Mobbing in der Kindheit sei aber auch das zent erhöhtes Risiko aufweisen, an Depressionen oder Sozialverhalten in Bezug auf Bindungen im Erwachsenen- Angststörungen zu erkranken im Vergleich zu normal alter beeinträchtigt. Dies betrifft sowohl freundschaftliche gewichtigen Mädchen, ähnliche Zahlen gelten auch für als auch intime Beziehungen Jungen (Lindberg et al., 2020). und äußere sich insbesondere in Vertrauensproblemen, Ängs- Bedingt durch die erhöhte Als weitere Faktoren, die einen starken Einfluss auf den ten und Vorurteilen, weshalb Viktimisierung und das Zusammenhang zwischen Adipositas im Jugendalter und es für viele frühere Mobbingo- Mobbing durch Gleichaltrige depressiven Symptomen nehmen, wurden Schamgefühle, pfer schwer sei, im Erwachse- zeigen übergewichtige Trennung der Eltern und Erwerbstätigkeit der Eltern iden- nenalter enge Beziehungen mit Jugendliche eine doppelt tifiziert (Sjöberg et al., 2005). Stigmatisierung ist daher anderen Personen einzugehen nicht als einzelnes Phänomen zu sehen, sondern kann nach (deLara, 2019). so hohe Wahrscheinlichkeit dem Schneeballprinzip zu einer Reihe unterschiedlicher für selbstverletzendes und psychischer Folgen führen wie Scham oder soziale Isola- Ausgehend von Übergewicht in suizidales Verhalten. tion. Auch der Selbstwert und das allgemeine Empfinden der Kindheit zeigt sich auch ein von Glücklichsein sind in Schulkindern deutlich verringert, erhöhter Substanzkonsum und -missbrauch bei Jugend wenn diese übergewichtig oder adipös sind (Floody et al., lichen, die Opfer von gewichtsbezogener Viktimisierung 2018). Das erhöhte Risiko für psychische Schwierigkeiten wurden. Bei 1.344 untersuchten Kindern zwischen 11 und bis hin zu Erkrankungen gilt nicht nur bei einer direkten 14 Jahren zeigte sich ein eklatanter Anstieg im Alkohol- und persönlichen Konfrontation der betroffenen Kinder konsum und dem sogenannten Binge-Drinking (starker und Jugendlichen mit ihrem Gewicht. Eine Studie zeigte, Alkoholkonsum innerhalb kurzer Zeit mit dem Ziel, sich dass sich Mädchen, die zu einem höheren Ausmaß ge- möglichst schnell zu betrinken) im Folgejahr (Klinck et al., wichtsbezogenen, wertenden TV-Inhalten ausgesetzt sind, 2020). Neben Alkohol steigen außerdem auch der Nikotin- unzufriedener in ihren Körpern fühlten, unabhängig von und Marihuana-Konsum bei Jugendlichen mit gewichts- ihrem eigenen Gewicht (Eisenberg et al., 2017). bezogener Viktimisierung stark an (Puhl & Lessard, 2020). Wenn Mobbing extreme Folgen hat Als weitere psychosoziale Folgen weisen Kinder und Ju- gendliche mit gewichtsbezogenen Mobbingerfahrungen Bedingt durch die erhöhte Viktimisierung und das Mobbing auch Schwierigkeit in ihrer akademischen Laufbahn auf durch Gleichaltrige zeigen übergewichtige Jugendliche (Puhl & Lessard, 2020). Verschiedene Studien zeigen auf, eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit für selbstverlet- dass Kinder mit Übergewicht schlechtere schulische Leis- zendes und suizidales Verhalten (Sutin et al., 2018). Grund tungen erzielen als ihre normalgewichtigen Klassenkame- für die psychischen Probleme seien dabei laut einer längs- raden und die Gewichtsstigmatisierung bzw. das gewichts- schnittlichen Studie weniger das Übergewicht als solches, bezogene Mobbing diesen Zusammenhang beeinflusst sondern vielmehr das damit verbundene gesellschaftliche (Krukowski et al., 2009; Martin et al., 2017). Speziell zeigte Stigma (Qualter et al., 2018). Retrospektive Studien zeigen sich, dass Kinder, die gewichtsbezogenes Mobbing erfah- auf, dass die Folgen von Mobbing in der Kindheit weitrei- ren, eine über 50 Prozent erhöhte Wahrscheinlichkeit ha- chende psychische, physische und soziale Probleme bis ben, weniger gute schulische Leistungen zu haben als die ins Erwachsenenalter nach sich ziehen (deLara, 2019). So Kinder, die keinem gewichtsbezogenen Mobbing ausgesetzt F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 2 | 5 7 . J a h r g a n g · N o v e m b e r 2 0 2 1 · S t u t t g a r t ajs-informationen 11
„Dicke Kinder sind faul.“ Stigmatisierung und andere psychosoziale Folgen von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter sind (Krukowski et al., 2009). Es scheinen dabei ebenfalls Gewichtsstatus umfassen (Buttitta et al., 2013). In einem fortbestehende Auswirkungen auf das Erwachsenenalter Übersichtsartikel über verschiedene Studien zur Lebens- zu bestehen. In einer Follow-Up qualität bei Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht/ Studie mit Kindern zeigte sich Adipositas zeigte sich, dass die subjektiv erhobene Es zeigt sich, dass Kinder unter anderem, dass jene Kin- Lebensqualität mit zunehmendem Gewicht abnimmt (But- und Jugendliche mit der, die in Mobbing involviert titta et al., 2013). Übergewicht oder waren (sowohl als Täter als auch als Opfer) im jungen Er- Ansätze zur Intervention Adipositas einer Vielzahl wachsenenleben einem höhe- erhöhter Risiken für ren Risiko ausgesetzt sind, zu Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Übergewicht psychosoziale verarmen, ihren Beruf nicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter verheerende Folgebeeinträchtigungen aufrechtzuerhalten oder keinen Folgen haben, die über die physischen Erkrankungsaspekte ausgesetzt sind. Schulabschluss zu erlangen weit hinausgehen. Psychosoziale Folgen machen einen (Wolke et al., 2013). Großteil der negativen Konsequenzen von Übergewicht und Adipositas aus und beschränken sich nicht nur auf Allgemeine Beeinträchtigung der das Kindes- und Jugendalter, sondern können sich insbe- Lebensqualität sondere bei Nichtbeachtung und Nichtbehandlung bis ins Erwachsenenalter fortsetzen, selbst wenn das Übergewicht Es zeigt sich daher, dass Kinder und Jugendliche mit Über- bereits nicht mehr vorliegt (deLara, 2019). Umso wichtiger gewicht oder Adipositas einer Vielzahl erhöhter Risiken sind multidimensionale Ansätze, Übergewicht und Adipo- für psychosoziale Folgebeeinträchtigungen ausgesetzt sind. sitas im Kindes- und Jugendalter vorzubeugen, zu behan- Als übergreifender Hinweis für eine Vielzahl dieser ge- deln und neben dem Gewicht auch die Begleiterkrankun- nannten Faktoren kann die Erfassung der Lebensqualität gen und psychischen Beeinträchtigungen der Betroffenen betroffener Kinder und Jugendlicher dienen. Diese können zu adressieren. Interventionen, die sowohl Ernährung, als zum Beispiel das Selbstbild, Mobbing, körperliche Schmer- auch physische Aktivität und Verhaltenskomponenten mit zen, Qualität der Nahrungsaufnahme, physische Aktivitä- einbeziehen, sind daher in der Praxis und auch aufgrund ten, Bildschirmzeit, Bildungsgrad der Eltern und auch den der wissenschaftlichen Befundlage die beste Möglichkeit Die Autor:innen Prof. Dr. med. Florian Junne, Katrin Ziser, M.Sc. Psych. M.Sc. IHP (LSE) ist seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für ist seit 2021 Direktor der Universitätsklinik für Psychosomatische Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitäts- Medizin und Psychotherapie in Magdeburg. Davor war er viele klinikums Tübingen und beschäftigt sich im Schwerpunkt mit der Jahre am Universitätsklinikum Tübingen in der Abteilung für Veränderungsbereitschaft im Bereich Ess- und Gewichtsstörun- Psychosomatische Medizin und Psychotherapie tätig, wo er die gen. Sie ist außerdem die Projektkoordinatorin des STARKIDS- Arbeitsgruppe Versorgungsforschung und Prävention leitete und Projekts. sich mit Ess- und Gewichtsstörungen, Stressfolgestörungen sowie Traumafolgestörungen beschäftigte. Kontakt katrin.ziser@med.uni-tuebingen.de Kontakt florian.junne@med.ovgu.de 12 ajs-informationen F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 2 | 5 7 . J a h r g a n g · N o v e m b e r 2 0 2 1 · S t u t t g a r t
„Dicke Kinder sind faul.“ Stigmatisierung und andere psychosoziale Folgen von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter in der Behandlung von Adipositas bei Kindern und Ado- Häufig können solche Programme aktuell leider nur an leszenten unter 18 Jahren (Oude Luttikhuis et al., 2009; ausgewählten Standorten angeboten werden, eine flä- WHO 2015). chendeckende ambulante Versorgung fehlt. Eine Möglich- keit zur Teilnahme an einem ambulanten niederschwelli- Bisherige Behandlungsansätze in Deutschland setzen diese gen Versorgungsangebot, das neben den Themen Ernährung Multidimensionalität um, wie beispielsweise das einjäh- und Bewegung auch viele der rige, ambulante Behandlungsprogramm „Moby Dick/Moby weiteren relevanten Einfluss- Kids“, das sowohl Ernährung und Bewegung als auch das faktoren wie Medienkonsum Zusammenfassend lässt psychosoziale Wohl der teilnehmenden Kinder und Ju- und Familienleben (z. B. Um- sich feststellen, dass gendlichen fokussiert. Es besteht aus ein- bis zwei gang mit Stress, Schlaf) mitein- Übergewicht und Adipositas wöchentlichen gruppenbasierten Treffen über ein Jahr bezieht, ist das „Stufenmodell im Kindes- und Jugendalter hinweg. In der Evaluation des Programms bestätigte sich Adipositasprävention und -in- verheerende Folgen haben, zum einen, dass die Gruppe der übergewichtigen Kinder tervention im Kindes- und Ju- in den meisten Aspekten der gesundheitsbezogenen Le- gendalter (STARKIDS)“. Das die über die physischen bensqualität vor Beginn der Behandlung schlechter ab- STARKIDS Programm wird in Erkrankungsaspekte weit schnitten als die verglichenen Schulkinder. Zum anderen einer ersten Erprobung in aus- hinausgehen. zeigte sich, dass sich die selbstwahrgenommene Gesund- gewählten Kinder- und Jugend- heit, das emotionale Wohlbefinden sowie die Lebensqua- arztpraxen in Baden-Württemberg angeboten und erstreckt lität nach der Behandlung bedeutsam verbessert hatten sich über den Zeitraum von eineinhalb Jahren. Neben (Wille et al., 2008). einer gesunden Gewichtsentwicklung hat das Programm zum Hauptziel, vor allem psychosoziale Faktoren und damit die Lebensqualität teilnehmender Familien positiv zu be- einflussen. n Referenzen Buttitta, M., Iliescu, C., Rousseau, A., & Guerrien, A. (2014). and low levels of self-esteem in children of public schools. Quality of life in overweight and obese children and adole- Nutricion hospitalaria, 35(3), 533 – 537. scents: a literature review. Quality of life research, 23(4), https://doi.org/10.20960/nh.1424 1117 – 1139. https://doi.org/10.1007/s11136-013-0568-5 Goffman, E. (2016). Stigma. Über Techniken der Bewältigung Callahan, D. (2013). Obesity: Chasing an elusive epidemic. beschädigter Identität. In Kriminologische Grundlagentexte Hastings Center Report, 43(1), 34 – 40. (pp. 149 – 167). Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1002/hast.114 Goldfield, G. S., Moore, C., Henderson, K., Buchholz, A., deLara, E.W. Consequences of Childhood Bullying on Mental Obeid, N., & Flament, M. F. (2010). Body dissatisfaction, Health and Relationships for Young Adults. J Child Fam Stud dietary restraint, depression, and weight status in 28, 2379 – 2389 (2019). adolescents. Journal of school health, 80(4), 186 – 192. https://doi.org/10.1007/s10826-018-1197-y https://doi.org/10.1111/j.17461561.2009.00485.x Eisenberg, M. E., Ward, E., Linde, J. A., Gollust, S. E., & Klinck, M., Vannucci, A., Fagle, T., & Ohannessian, C. M. (2020). Neumark-Sztainer, D. (2017). Exposure to teasing on popular Appearance-related teasing and substance use during early television shows and associations with adolescent body adolescence. Psychology of addictive behaviors, 34(4), 541. satisfaction. Journal of psychosomatic research, 103, https://doi.org/10.1037/adb0000563 15 – 21. https://doi.org/10.1016/j.jpsychores.2017.09.014 Krukowski, R. A., Smith West, D., Philyaw Perez, A., Bursac, Z., Phillips, M. M., & Raczynski, J. M. (2009). Overweight Floody, D., Caamaño-Navarrete, F., Martínez-Salazar, C., children, weight-based teasing and academic performance. Jerez-Mayorga, D., & Carter Thuiller, B. (2018). Childhood International Journal of Pediatric Obesity, 4(4), 274 – 280. obesity and its association with the feeling of unhappiness https://doi.org/10.3109/17477160902846203 F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 2 | 5 7 . J a h r g a n g · N o v e m b e r 2 0 2 1 · S t u t t g a r t ajs-informationen 13
„Dicke Kinder sind faul.“ Stigmatisierung und andere psychosoziale Folgen von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter Lindberg, L., Hagman, E., Danielsson, P. et al. Anxiety and Sahoo, K., Sahoo, B., Choudhury, A. K., Sofi, N. Y., Kumar, R., & depression in children and adolescents with obesity: Bhadoria, A. S. (2015). Childhood obesity: causes and conse- a nationwide study in Sweden. BMC Med 18, 30 (2020). quences. Journal of family medicine and primary care, 4(2), 187. https://doi.org/10.1186/s12916-020-1498-z https://doi.org/10.4103/2249-4863.154628 Martin, A., Booth, J. N., McGeown, S., Niven, A., Schwimmer, J. B., Burwinkle, T. M., & Varni, J. W. (2003). Sproule, J., Saunders, D. H., & Reilly, J. J. (2017). Health-related quality of life of severely obese children Longitudinal associations between childhood obesity and adolescents. Jama, 289(14), 1813 – 1819. and academic achievement: systematic review with focus https://doi.org/10.1001/jama.289.14.1813 group data. Current obesity reports, 6(3), 297 – 313. https://doi.org/10.1007/s13679-017-0272-9 Sjöberg, R. L., Nilsson, K. W., & Leppert, J. (2005). Obesity, shame, and depression in school aged children: Niehoff, V. (2009). Childhood obesity: A call to action. a population-based study. Pediatrics, 116(3), e389-e392. Bariatric Nursing and Surgical Patient Care, 4(1), 17 – 23. https://doi.org/10.1542/peds.2005-0170 https://doi.org/10.1089/bar.2009.9996 Sutin, A. R., Robinson, E., Daly, M., & Terracciano, A. (2018). Oude Luttikhuis, H., Baur, L., Jansen, H., Shrewsbury, V. A., Perceived body discrimination and intentional self-harm O’malley, C., Stolk, R. P., & Summerbell, C. D. (2009). and suicidal behavior in adolescence. Childhood obesity, Cochrane review: Interventions for treating obesity in 14(8), 528 – 536. children. Evidence-based Child Health: A Cochrane Review https://doi.org/10.1089/chi.2018.0096 Journal, 4(4), 1571 – 1729. https://doi.org/10.1002/ebch.462 Wille, N., Erhart, M., Petersen, C., & Ravens-Sieberer, U. (2008). The impact of overweight and obesity on Pont, S. J., Puhl, R., Cook, S. R., & Slusser, W. (2017). health-related quality of life in childhood–results from Stigma experienced by children and adolescents with an intervention study. BMC Public Health, 8(1), 1 – 9. obesity. Pediatrics, 140(6). https://doi.org/10.1186/1471-2458-8-421 https://doi.org/10.1542/peds.2017-3034 Wolke, D., Copeland, W. E., Angold, A., & Costello, E. J. Puhl, R., & Suh, Y. (2015). Health consequences of weight (2013). Impact of bullying in childhood on adult health, stigma: implications for obesity prevention and treatment. wealth, crime, and social outcomes. Psychological science, Current obesity reports, 4(2), 182 – 190. 24(10), 1958 – 1970. https://doi.org/10.1007/s13679-015-0153-z https://doi.org/10.1177/0956797613481608 Puhl, R.M., Lessard, L.M. Weight Stigma in Youth: World Health Organization. (2015, 5 Juni). Interim Report Prevalence, Consequences, and Considerations for of the Commission on Ending Childhood Obesity: Open for Clinical Practice. Curr Obes Rep 9, 402 – 411 (2020). comment. Abgerufen am 25.05.2021 von: https://doi.org/10.1007/s13679-020-00408-8 http://www.who.int/end-childhood-obesity/interim-report- for-comment/en/. Qualter, P., Hurley, R., Eccles, A., Abbott, J., Boivin, M., & T remblay, R. (2018). Reciprocal prospective relationships World Health Organization. (2020, 1 April). Obesity and between loneliness and weight status in late childhood and overweight. Abgerufen am 25.05.2021 von: early adolescence. Journal of youth and adolescence, https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/obesity- 47(7), 1385 – 1397. and overweight. https://doi.org/10.1007/s10964-018-0867-9 14 ajs-informationen F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 2 | 5 7 . J a h r g a n g · N o v e m b e r 2 0 2 1 · S t u t t g a r t
K a t r i n Z i s e r, P r o f e s s o r D r. m e d F l o r i a n J u n n e Praxisbeitrag Stufenmodell Adipositasprävention und -therapie im Kindes- und Jugendalter (STARKIDS) E twa 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen sind von Übergewicht oder Adipositas betroffen und daher von Kindesbeinen an einem erhöhten Risiko für körperliche und seelische Begleit- und Folgeerkrankungen ausgesetzt. Insbesondere psychosoziale Auswirkungen von Übergewicht und Adipositas wie Stigmatisierung, ein negatives Verhältnis zum eigenen Körper und Schwierigkeiten im Sozialverhalten (z. B. Vertrauensprobleme, Ängste und Vorurteile) können bis ins Erwachsenenalter fortbestehen. In STARKIDS werden Familien für eine gesunde Gewichts- Das Programm entwicklung ihrer übergewichtigen und adipösen Kinder und Jugendlichen gestärkt. Damit sollen mit dem Über- Das STARKIDS-Programm nutzt die Kinder- und Jugend- gewicht/der Adipositas zusammenhängende Folgeerkran- arztpraxis als erste und häufig wichtigste Anlaufstelle für kungen verringert und die Lebensqualität der Betroffenen Familien bei Gesundheitsfragen ihrer Kinder und Jugend- und ihrer Familien verbessert werden. Das übergeordnete lichen. Hierzu arbeiten sowohl die Kinder- und Jugendärzte Ziel ist die Etablierung eines ambulanten, strukturierten, und -ärztinnen sowie speziell für das Programm geschulte niederschwelligen und bedarfsgerechten Versorgungsmo- medizinische Fachangestellte innerhalb des Programms dells als Teil der Regelversorgung der gesetzlichen Kran- mit den Familien zusammen. Das STARKIDS-Programm kenkassen. erstreckt sich über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren und besteht aus zwei verschiedenen Stufen. Die Autor:innen Prof. Dr. med. Florian Junne, Katrin Ziser, M.Sc. Psych. M.Sc. IHP (LSE) ist seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für ist seit 2021 Direktor der Universitätsklinik für Psychosomatische Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitäts- Medizin und Psychotherapie in Magdeburg. Davor war er viele klinikums Tübingen und beschäftigt sich im Schwerpunkt mit der Jahre am Universitätsklinikum Tübingen in der Abteilung für Veränderungsbereitschaft im Bereich Ess- und Gewichtsstörun- Psychosomatische Medizin und Psychotherapie tätig, wo er die gen. Sie ist außerdem die Projektkoordinatorin des STARKIDS- Arbeitsgruppe Versorgungsforschung und Prävention leitete und Projekts. sich mit Ess- und Gewichtsstörungen, Stressfolgestörungen sowie Traumafolgestörungen beschäftigte. Kontakt katrin.ziser@med.uni-tuebingen.de Kontakt florian.junne@med.ovgu.de F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 2 | 5 7 . J a h r g a n g · N o v e m b e r 2 0 2 1 · S t u t t g a r t ajs-informationen 15
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