Sexuelle und reproduktive Gesundheit - RKI
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Sexuelle und reproduktive Gesundheit KAPITEL 7
▶▶ Sexualität findet meist in festen Beziehungen statt; im jungen und mittleren Lebensalter folgen häufig mehrere (monogame) Beziehungen aufeinander. ▶▶ Zur Verhütung nutzen sexuell aktive erwachsene Frauen am häufigsten die Pille und das Kondom; dabei ist die Anwendung der Pille insbesondere bei jungen Frauen in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. ▶▶ Das reproduktive Verhalten in Deutschland ist durch ein niedriges Geburtenniveau, den Auf- schub der ersten Geburt in ein höheres Alter und eine verbreitete Kinderlosigkeit gekennzeich- net; die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau beträgt 1,57. ▶▶ Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland ist seit 2001 rückläufig; 2019 gab es 100.893 Schwangerschaftsabbrüche. ▶▶ Im Jahr 2018 haben 775.916 Frauen Kinder gebo- ren. 30,5 % der Geburten 2017 waren Kaiser- schnitte, rund 17.500 Geburten erfolgten nach künstlicher Befruchtung.
Sexuelle und reproduktive Gesundheit | Kapitel 7 265 7 Sexuelle und reproduktive Gesundheit Nach der Definition der Weltgesundheitsorgani- Die 1960er- und 1970er-Jahre gelten als prä- sation (WHO) wird sexuelle Gesundheit in engem gende Zeit der „sexuellen Revolution“ und Libera- Zusammenhang und in Anlehnung an den allge- lisierung der Sexualität. Der Sexualkonservatismus meinen Gesundheitsbegriff definiert. Die Defini- der 1950er-Jahre wurde abgelöst durch das Leitbild tion aus dem Jahr 2015 lautet: „Sexuelle Gesund- des partnerschaftlichen, ggf. auch nicht-ehelichen heit ist untrennbar mit Gesundheit insgesamt, Geschlechtsverkehrs [6]. Hinzu kam, dass mit der mit Wohlbefinden und Lebensqualität verbunden. Pille ein sicheres Verhütungsmittel zugänglich war, Sie ist ein Zustand des körperlichen, emotionalen, in der damaligen Bundesrepublik Deutschland ab mentalen und sozialen Wohlbefindens in Bezug 1961 für verheiratete Frauen, ab 1966 auch außer- auf die Sexualität und nicht nur das Fehlen von halb der Ehe. In der ehemaligen DDR wurde die Krankheit, Funktionsstörungen oder Gebrechen“ Pille 1965 eingeführt [6, 7]. [1]. Demnach sind eine positive und respektvolle Innerhalb eines Jahrzehnts kam es in der Bun- Haltung zu Sexualität und sexuellen Beziehungen desrepublik Deutschland zu einer Vorverlegung des sowie die Möglichkeit, angenehme und sichere Alters beim ersten Geschlechtsverkehr um durch- sexuelle Erfahrungen zu machen, einschließlich schnittlich vier Jahre und zu einem Anstieg der Gewalt- und Diskriminierungsfreiheit, Vorausset- Anzahl von Sexualpartnerinnen bzw. Sexualpart- zungen für sexuelle Gesundheit [1]. Neben sexuel- nern im Lebensverlauf. Die Veränderungen des ler Selbstbestimmung, sexueller Bildung, sexueller Sexualverhaltens waren vor allem bei Mädchen und Zufriedenheit und Wohlbefinden umfasst sexuelle Frauen ausgeprägt. Auswirkungen auf das repro- Gesundheit auch die Möglichkeit, eine sexuelle duktive Verhalten zeigten sich z. B. in einem Auf- Identität zu entwickeln und zu leben [2]. schub der Geburt des ersten Kindes [8]. Weitere Die Themen Familienplanung, ungewollte Meilensteine der jüngeren Sexualgeschichte sind Kinderlosigkeit, Schwangerschaftsabbruch sowie das Aufkommen von AIDS in den 1980er- und der Schwangerschaft und Geburt sind eng mit Sexua- Beginn des Internetzeitalters in den 2000er-Jahren. lität verknüpft [3]. Neben der sexuellen Gesundheit Digitale Medien werden nicht nur für das Chat- ist daher auch die reproduktive Gesundheit von ten, Online-Flirten und die Partnersuche, sondern zentraler Bedeutung. In der Weltbevölkerungs- auch für vielfältige sexuelle Erfahrungen genutzt, konferenz 1994 in Kairo wurde sexuelle und repro- beispielsweise den Austausch erotischer Text- oder duktive Gesundheit erstmals definiert als „körper- Bildnachrichten (Sexting) [9]. Aus heutiger Sicht liches, seelisches und soziales Wohlbefinden in sind in den letzten Jahrzehnten Restriktionen Bezug auf Sexualität und Fortpflanzung“ (siehe zurückgegangen, individuelle Freiräume entstan- auch Kapitel 3.3) [4]. Dies markierte einen Wende- den und geschlechtsbezogene Benachteiligungen punkt von einem überwiegend demografisch aus- beginnen sich aufzulösen. Dennoch scheint auf gerichteten zu einem am Individuum orientierten beiden Geschlechtern ein neuer Druck zu lasten, und menschenrechtsbasierten Ansatz. Sexualität sexuell kompetent und erfolgreich zu handeln. und Reproduktion sind ineinander verschränkt Selbstbestimmte Sexualität und neue Freiheit dür- und gleichzeitig voneinander unabhängig. Sexu- fen also nicht nur gelebt werden, sie werden als elle Gesundheit ist als eigenständige Dimension soziales Muss wahrgenommen [10]. zu begreifen, die auch nicht-reproduktionsbezo- In diesem Kapitel werden ausgewählte Berei- gene Sexualität und Gesundheit erfasst [4]. So che der sexuellen und reproduktiven Gesundheit stehen die meisten sexuellen Aktivitäten nicht in von Frauen dargestellt. Hierzu gehören die Sexua- direktem Zusammenhang mit der Fortpflanzung lität von Frauen, Menstruation, Familienplanung, und sind während der gesamten Lebensdauer Schwangerschaftsabbruch, Kinderwunsch sowie einer Person von Bedeutung [5]. Auch die Repro- Schwangerschaft und Geburt. Gutartige Erkran- duktion enthält von Sexualität losgelöste Aspekte: kungen der Gebärmutter und gynäkologische Ope- Die menschliche Fortpflanzung ist heute auch rationen werden in Kapitel 2.1.8 behandelt. Infor- ohne Sexualität möglich [4]. mationen zu gynäkologischen Krebserkrankungen
266 Kapitel 7 | Sexuelle und reproduktive Gesundheit sind in Kapitel 2.1.4 und zu sexuell übertragenen 7.1.1 Sexualität von Frauen Infektionen in Kapitel 2.1.9 zu finden. Sexualität wird überwiegend in festen Beziehun- gen gelebt. Dies gilt bereits im Jugendalter. Stu- 7.1 Sexuelle Gesundheit dien zeigen, dass Beziehungen von Jugendlichen häufig eng, romantisch und durch die Ideale Liebe Nach einer Definition der Deutschen STI-Gesell- und Treue geprägt sind [16, 17]. Single-Sein ist im schaft (STI: sexually transmitted infections) Jugendalter meist als temporäre Phase zwischen und der Deutschen Gesellschaft für Sexuelle zwei Beziehungen anzusehen, die oftmals sexuell Gesundheit kann die Sexualität jedes Menschen eher zurückhaltend verbracht wird [17]. Mädchen als „Schlüsselelement für die eigene Identität“ beginnen im Durchschnitt früher damit, sexuell betrachtet werden [11]. Sexualität wird somit als aktiv zu sein als Jungen. Das mittlere Alter für den „zentrale Lebensäußerung, Ausdruck erfüllten ersten Geschlechtsverkehr beträgt bei Frauen 17,4 Lebens und Grundbestandteil der Gesundheit in und bei Männern 18,3 Jahre [8]. Einer Befragung einem umfassenden Sinn“ verstanden [11]. Sexu- von Studierenden aus dem Jahr 2012 zufolge fin- elle Gesundheit, körperliche Gesundheit, men- den rund 90 % der von ihnen berichteten Sexu- tale Gesundheit und allgemeines Wohlbefinden alakte in festen Beziehungen statt. Unter „serieller sind positiv mit sexueller Befriedigung, sexuellem Monogamie“ wird Dauerhaftigkeit im Beziehungs- Selbstwertgefühl und sexueller Lust assoziiert [12]. leben verstanden, trotz regelmäßiger Trennungen. Zur Beschreibung der sexuellen Gesundheit Dabei werden immer neue, feste und treue Bezie- von Frauen werden verschiedene Datenquel- hungen eingegangen [8]. len herangezogen. Neben den repräsentativen Dauerhaftigkeit und Treue in einer Partnerschaft Daten zum Sexual- und Verhütungsverhalten von werden auch im mittleren Lebensalter hoch bewer- Jugendlichen in Deutschland [13], die regelmäßig tet. Die „Liebesleben“-Studie gibt Hinweise darauf, von der Bundeszentrale für gesundheitliche Auf- dass die Jüngeren überwiegend in mehreren, eher klärung (BZgA) erhoben werden, wird die Studie kurzen, meist nicht-ehelichen Beziehungen sexuell „frauen leben 3 – Familienplanung im Lebens- aktiv sind; Ältere dagegen in wenigen, eher langen lauf von Frauen“ [14] der BZgA einbezogen, in und meist ehelichen Beziehungen. Eine längere der die Familienplanung im Lebenslauf von 20- Beziehungsdauer ist häufig mit einer geringeren bis 44-jährigen Frauen untersucht wird. Umfas- sexuellen Frequenz verbunden. Die Häufigkeit sende repräsentative Studien zur Sexualität von des Geschlechtsverkehrs sinkt in den ersten sechs Erwachsenen ab dem mittleren Lebensalter fehlen Beziehungsjahren deutlich ab und bleibt dann in in Deutschland bisher. Daher wurde von 2018 bis den folgenden 15 Beziehungsjahren relativ stabil 2019 vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppen- [17]. Zudem deuten die Ergebnisse einer qualita- dorf (UKE), gefördert von der BZgA, eine Studie tiven Studie aus dem Jahr 2002 darauf hin, dass zur Gesundheit und Sexualität in Deutschland Frauen und Männer am Anfang der Beziehung (GeSiD) durchgeführt [2]. In Vorbereitung fand ein gleich starkes Verlangen nach Sexualität und 2017 die Pilotstudie „Liebesleben“ statt, in der Zärtlichkeit haben. Bei Paaren, die länger zusam- Personen im Alter von 18 bis 75 Jahren zu sexu- men sind, ist der Wunsch nach Sexualität bei den ellen Erfahrungen, Einstellungen und Beziehun- Männern größer als bei ihren Partnerinnen. Der gen befragt wurden. Weitere Datenquellen sind Wunsch nach Zärtlichkeit ist dagegen bei den Krankenkassendaten der BARMER und der Tech- Frauen ausgeprägter [18]. niker Krankenkasse sowie Abrechnungsdiagnosen Auch im höheren Lebensalter haben viele aus gynäkologischen Praxen [15], die vom Zen Paare noch Geschlechtsverkehr. Es ist davon aus- tralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in zugehen, dass Zärtlichkeit lebenslang von hoher Deutschland (Zi) zur Verfügung gestellt wurden. Bedeutung ist [19, 20]. Auch wenn die sexuel- Diese basieren auf Abrechnungsdatensätzen, die len Interessen und Bedürfnisse von Frauen mit quartalsweise von den niedergelassenen Ärztin- zunehmendem Alter grundsätzlich erhalten blei- nen und Ärzten an die Kassenärztlichen Vereini- ben, so ist bei einigen Frauen ein Rückgang der gungen (KVen) übermittelt werden. sexuellen Lust und eine Abnahme der sexuellen
Sexuelle und reproduktive Gesundheit | Kapitel 7 267 Aktivität festzustellen. Hier können psychische, Sexuelle Orientierung beschreibt, zu Menschen soziale und partnerschaftliche Gründe, aber auch welchen Geschlechts sich eine Person hingezogen hormonelle Umstellungsprozesse und Allgemein fühlt, mit wem sie sexuelle Kontakte pflegt und ob erkrankungen [21], Harnwegsbeschwerden [19] dies auch einen Teil ihrer Identität ausmacht (siehe sowie Operationen oder Krebserkrankungen [22] Infobox 7.1.1.1). Es werden drei Dimensionen der eine Rolle spielen. Studien deuten darauf hin, sexuellen Orientierung unterschieden: die sexuelle dass sexuelle Probleme älterer Frauen vor allem Identität (z. B. hetero-, bi- oder homosexuell), die in einem Mangel an Zärtlichkeit oder einem sexuelle Attraktion oder Anziehung sowie das sexu- Mangel an sexuellen Kontakten bestehen, die elle Verhalten. Die drei Dimensionen müssen nicht beispielsweise durch Partnerlosigkeit, aber auch übereinstimmen. Zum Beispiel muss sich eine Frau, durch Unlust, Potenzprobleme oder Krankheit des die Sex mit Frauen hat, nicht unbedingt als lesbisch Mannes bedingt sein können. Hinzu kommt, dass oder bisexuell begreifen. Auch handelt es sich bei sich viele Frauen Sorgen um die eigene Attrakti- den verschiedenen Dimensionen nicht um starre vität und andere Auswirkungen des körperlichen Kategorien, sondern vielmehr um wandelbare und Alterungsprozesses machen [23]. Insgesamt gese- über die Lebenszeit veränderliche Phänomene [31]. hen, gewinnen sowohl im mittleren als auch im Bei der Geschlechtsidentität geht es dagegen um die höheren Alter Beziehungsaspekte für die sexuelle Frage, ob sich ein Mensch selbst mit dem ihm zuge- Zufriedenheit an Bedeutung. Kommunikative und wiesenen Geschlecht identifiziert, ob es ihn passend partnerschaftliche Aspekte sind für die sexuelle und ausreichend beschreibt. Die Geschlechtsidenti- Zufriedenheit genauso bedeutend wie die sexu- tät sagt nichts über die sexuelle Orientierung aus [32]. elle Aktivität [24]. Die Vielfalt der Geschlechter (siehe Infobox 7.1.1.2), Trotz der Veränderungen seit der sexuellen sexuellen Orientierungen und Lebensweisen ist Teil Revolution scheint weibliches und männliches der gesellschaftlichen Diversität. Sexualverhalten immer noch anhand unterschied- Zur sexuellen Orientierung von Frauen in licher Standards bewertet zu werden (sogenannter Deutschland gibt es nur wenige Daten. Eine 1966 „sexueller Doppelstandard“) [25]. Darunter ver- begonnene und bis heute laufende Studie zur steht man, dass z. B. vorehelicher Geschlechtsver- Sexualität von Studierenden zeigt im Zeitverlauf kehr und Sex außerhalb von festen Beziehungen nur geringe Unterschiede hinsichtlich der sexu- bei Frauen anders beurteilt wird als bei Männern. ellen Orientierung: Der Anteil der ausschließlich Im Allgemeinen ist dies zwar für beide Geschlech- oder vorwiegend homosexuellen Frauen liegt bei ter akzeptiert [25], jedoch scheint ein Großteil der 1 % bis 2 % (Männer: 2 % bis 4 %). Bisexualität ist Menschen die Wahrnehmung zu haben, dass das bei Frauen mit 2 % bis 4 % geringfügig häufiger gesellschaftliche Wertesystem viele wechselnde als bei Männern (1 % bis 2 %) [8]. In einer Befra- Partnerschaften bei Männern eher toleriert als gungsstudie zum Sexualverhalten aus dem Jahr bei Frauen. Zudem wird Männern ein stärkerer, 2016 beschrieben sich 82 % der Frauen als aus- aktiver Drang zur Sexualität zugeschrieben, wäh- schließlich, weitere 4 % als überwiegend heterose- rend Frauen als eher passiv angesehen werden, xuell [43]. Erste Ergebnisse der Pilotstudie „Liebes- die auf den Wunsch der Männer reagieren [26]. leben“ zur Sexualität von Erwachsenen zeigen, dass Bedingt durch diesen Doppelstandard fühlen sich sich 88,1 % der befragten Frauen als heterosexuell Frauen möglicherweise gehemmt, ihre sexuellen definieren, 1,8 % als bisexuell, 1,4 % als homosexuell Wünsche zu äußern. Einige Frauen priorisieren und 0,5 % als asexuell. 8,2 % der Frauen haben sich das sexuelle Vergnügen des Mannes und stellen keiner der vorgegeben Antwortalternativen zuge- es über ihr eigenes Lusterleben [27, 28]. Es wird ordnet [17]. Ähnliche und teilweise höhere Anga- vermutet, dass der sexuelle Doppelstandard so u. a. ben finden sich in der Untersuchung zur Jugend- dazu beitragen kann, bei Frauen sexuelle Lust und sexualität der BZgA (siehe Kapitel 3.3): 3 % der 21- deren Ausleben einzuschränken [29, 30]. Neben bis 25-jährigen Frauen gaben an, homosexuell zu vielen weiteren Faktoren wird er als ein Grund sein, 6 % identifizierten sich als bisexuell und 14 % dafür diskutiert, dass Frauen seltener als Männer berichteten von gleichgeschlechtlichen Sexualkon- davon berichten, während sexueller Aktivitäten takten. Die Zahlen zeigen, dass viele Menschen einen Orgasmus zu bekommen. gleichgeschlechtliche Sexualkontakte erleben,
268 Kapitel 7 | Sexuelle und reproduktive Gesundheit ohne sich als homo- oder bisexuell zu verorten [13]. Insgesamt scheint die Variabilität zwischen sexu- LSBTIQ: Unter der Abkürzung LSBTIQ werden eller Identität, Attraktion und sexuellem Verhalten unterschiedliche sexuelle Orientierungen und bei Frauen etwas größer zu sein als bei Männern. Lebensweisen sowie geschlechtliche Identitäten zusammengefasst: lesbische, schwule, bisexuel- Möglicherweise trägt eine zumeist größere gesell- le, trans- und intergeschlechtliche sowie queere schaftliche Offenheit gegenüber gleichgeschlecht- Menschen. licher Intimität und Sexualität von Frauen [30, 44] dazu bei, dass es bei Frauen einen größeren Erle- Lesbisch: Lesbisch beschreibt das romantisch und sexuelle Hingezogen-Sein von Frauen zu bens- und damit auch Antwortspielraum bei Befra- Frauen. gungen gibt [31]. Queer: Queer ist ein Sammelbegriff, der ge- schlechtliche Identitäten und sexuelle Orientie- rungen umfasst, die sich nicht an einer hetero- Infobox 7.1.1.1 sexuellen Zweigeschlechtlichkeit orientieren. Definitionen zur sexuellen Orientierung und Gerade jüngere LSBTI-Personen bezeichnen sich Lebensweise (in Anlehnung an [33, 34]) eher als queer. Asexuell: Als asexuell definieren sich vor allem Schwul: Schwul beschreibt das romantische Menschen, die kein Interesse an sexuellen Kon- und sexuelle Hingezogen-Sein von Männern zu takten verspüren [35]. Männern. Bisexuell: Bisexuelle Menschen haben Liebesbe- ziehungen sowohl mit Männern als auch mit Frauen. Manche benutzen den Begriff bisexuell Infobox 7.1.1.2 auch, um zu beschreiben, dass sie Menschen ver- Vielfalt der Geschlechter [34] schiedener Geschlechter begehren. Neben Män- Geschlecht umfasst eine soziale und eine anhand nern und Frauen können das z. B. auch trans- von biomedizinischen Merkmalen konstruierte oder intergeschlechtliche Menschen (siehe Dimension [36, 37]. Beide Dimensionen beein- Infobox 7.1.1.2) sein. Geschlechtsunabhängiges flussen sich wechselseitig [38]. Die biologische Begehren wird auch mit dem Begriff Pansexuali- Geschlechterdimension umfasst genetische, ana- tät bezeichnet. tomische, physiologische und hormonelle Merk- Coming-out: In einer Gesellschaft, in der Zweige- male. Die soziale Geschlechterdimension bezieht schlechtlichkeit und Heterosexualität die domi- sich auf gesellschaftliche Vorstellungen von Ge- nierende Norm ist, erleben viele LSBTIQ-Men- schlecht, die kulturelle Konventionen, soziale Rol- schen eine längere Phase des innerlichen len und Identitäten beeinflussen. Auf der indivi- Bewusstwerdens ihrer geschlechtlichen Identität duellen Ebene können sich Menschen in Einklang und/oder sexuellen Orientierung. Dies anderen mit oder auch in Modifikation und Abgrenzung Menschen mitzuteilen, wird als Coming-out be- zu gesellschaftlichen Vorstellungen einem oder schrieben. keinem Geschlecht zugehörig fühlen. In beiden Geschlechterdimensionen finden sich große Vari- Heterosexuell: Als heterosexuell werden Men- ationen [39–41], sodass Geschlecht als nicht binär schen beschrieben, die sich als Frauen oder als begriffen wird. Männer verstehen und sich zu Personen des je- weils anderen Geschlechts romantisch und sexu- Intergeschlechtliche Menschen werden mit ge- ell hingezogen fühlen. netischen, anatomischen oder hormonellen Vari- ationen der Geschlechtsmerkmale geboren [42]. Homosexuell: Homosexuelle Menschen fühlen Diese Variationen können bereits bei Geburt sich romantisch und sexuell zu Menschen des sichtbar sein, sich erst im Laufe des Lebens zei- gleichen Geschlechts hingezogen. Die Bezeich- gen oder zeitlebens unerkannt bleiben. Bei Inter- nung homosexuell wird teilweise abgelehnt, weil geschlechtlichkeit handelt es sich nicht um ein sie zu stark auf Sexualität fokussiert und weniger drittes Geschlecht, sondern um eine Vielzahl emotionale Aspekte und Lebensweisen einbe- angeborener Variationen der Geschlechtsmerk zieht. Gleichgeschlechtlich lebende Menschen male. Intergeschlechtliche Menschen können bezeichnen sich daher häufig eher als lesbisch unterschiedliche geschlechtliche Identitäten und bzw. als schwul. sexuelle Orientierungen haben [34].
Sexuelle und reproduktive Gesundheit | Kapitel 7 269 die Krämpfe zudem Übelkeit, Erbrechen oder Ein Mensch kann, aber muss sich nicht mit dem Durchfall aus. Schmerzhafte Regelblutungen wer- Geschlecht identifizieren, das bei der Geburt zu- den als Dysmenorrhoe bezeichnet [47]. 2017 wurde gewiesen wurde. Die geschlechtliche Identität bei 8,7 % der bei der BARMER versicherten Frauen beschreibt die individuell empfundene ge- die Diagnose „Schmerz und andere Zustände im schlechtliche Zugehörigkeit z. B. als Frau, als Zusammenhang mit den weiblichen Genitalor- Mann, als ein Geschlecht dazwischen, außerhalb ganen und dem Menstruationszyklus“ (ICD-10: dieser beiden Kategorien (z. B. questioning, nicht N94) mindestens einmal in der ambulanten ärzt- binär) oder auch zu keinem Geschlecht (z. B. lichen Versorgung abgerechnet. Vor allem jüngere agender). Für die unterschiedlichen geschlecht Frauen waren betroffen: 27,9 % der 15- bis 24-Jäh- lichen Identitäten gibt es unterschiedliche Selbst- bezeichnungen. Transgeschlechtlichkeit ist eine rigen und 18,1 % der 25- bis 39-Jährigen erhielten Sammelbezeichnung für sehr unterschiedliche diese Diagnose [48]. Mit 7,1 % der Behandlungs- geschlechtliche (Selbst-)Verortungen von Men- fälle im Jahr 2018 zeigen die durch das Zentral- schen, die sich nicht oder nicht vollständig mit institut für die Kassenärztliche Versorgung (Zi) ihrem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht zur Verfügung gestellten Abrechnungsdaten der identifizieren (z. B. transident, transgender, KVen eine Häufigkeit in ähnlicher Größenord- Trans-Frau, Trans-Mann) [34]. nung (siehe auch Kapitel 2.3.4) [15]. Behandlun- Menschen, deren Geschlechtsidentität mit dem gen von Frauen in gynäkologischen Praxen auf- bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht über- grund von Beschwerden in Zusammenhang mit einstimmt, werden cisgeschlechtlich oder cis- dem Menstruationszyklus waren in den jüngeren ident genannt [32]. Altersgruppen am häufigsten (Abb. 7.1.2.1). Am höchsten sind die Fallzahlen bei Frauen im Alter von 20 bis 29 Jahren. Mit zunehmendem Alter ist eine kontinuierliche Abnahme zu beobachten. 7.1.2 Menstruation und Wechseljahre In einer internationalen Studie wurde geschätzt, dass 5 % bis 20 % der Frauen im reproduktiven Der Menstruationszyklus ist eine spezifisch weib- Alter durch die Beschwerden in ihren täglichen liche Erfahrung für Frauen im gebärfähigen Alter Aktivitäten beeinträchtigt sind [49]. [45]. Bei den meisten Mädchen und Frauen dauert die Menstruation drei bis fünf Tage. Knapp die Zyklusstörungen Hälfte der Mädchen (46 %) hat mit zwölf Jahren Zyklusstörungen können die Stärke oder die die erste Regelblutung (Menarche). 15 % sind elf Dauer der Blutung sowie die Länge des Zyklusin- Jahre und jünger (siehe Kapitel 3.3.1) [13]. Mit dem tervalls (Blutungsrhythmik) betreffen [50]. Unter Beginn der Wechseljahre werden die Regelblutun- einer verlängerten Blutung (Menorrhagie) wird gen bei den meisten Frauen unregelmäßig, dann eine Regelblutung verstanden, die länger als fünf hören sie schließlich ganz auf. Die letzte Regel- bis sieben Tage andauert. Eine zu starke Regel- blutung wird als Menopause bezeichnet und fin- blutung (Hypermenorrhoe) liegt vor, wenn der det etwa im Alter von 50 Jahren statt [46]. Insge- Blutverlust während der Menstruation mehr als samt zählen eine zu starke, zu häufige oder unre- 80 ml beträgt (als normal gelten etwa 60 ml) [51]. gelmäßige Menstruation sowie Beschwerden im Starke oder verlängerte Blutungen können auch Zusammenhang mit dem Menstruationszyklus zu ein Hinweis auf Endometriose oder Myome sein den häufigsten Gründen, weshalb Frauen gynäko- (siehe Kapitel 2.1.8), in vielen Fällen ist allerdings logische Praxen aufsuchen. Zu diesen wichtigen keine Ursache bekannt oder feststellbar [52]. Mög- gynäkologischen Themen liegen jedoch nur wenig liche Folgen einer zu starken Regelblutung sind belastbare Daten vor. infolge eines Eisenmangels bzw. einer Eisenman- gelanämie Beeinträchtigungen im Alltag, Müdig- Menstruationsschmerzen keit und mangelnde körperliche Belastbarkeit [51]. Viele Mädchen und Frauen haben während ihrer Der Anteil der bei der BARMER versicherten Regelblutung Beschwerden wie Krämpfe oder Frauen mit der Diagnose „Zu starke, zu häufige Unterleibsschmerzen. Bei einigen Frauen lösen oder unregelmäßige Menstruation“ (ICD-10: N92)
270 Kapitel 7 | Sexuelle und reproduktive Gesundheit Abbildung 7.1.2.1 Anzahl der Frauen, bei denen im Rahmen eines Kontakts mit einer gynäkologischen Praxis mindestens einmal die Diagnose Menstruationsstörungen (ICD-10: N92), Menstruationsschmerzen (N94) bzw. Wechseljahresbeschwerden (N95) kodiert wurde, 2018 Datenbasis: Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi) [15] Fälle 2.000.000 1.600.000 1.200.000 800.000 400.000 20 − 29 30 − 39 40 − 49 50 − 59 60 − 69 70 −79 20 − 29 30 − 39 40 − 49 50 − 59 60 − 69 70 −79 20 − 29 30 − 39 40 − 49 50 − 59 60 − 69 70 −79 Altersgruppe (Jahre) Zu starke, zu häufige oder Schmerz und andere Zustände im Klimakterische Störungen (N95) unregelmäßige Menstruation (N92) Zusammenhang mit den weiblichen Genitalorganen und dem Menstruationszyklus (N94) im Rahmen der ambulanten ärztlichen Versorgung 51 Jahren angegeben. Während Rauchen mit einem lag 2017 bei 7,7 %. In den Altersgruppen 15 bis 24 früheren Eintritt in die Menopause in Verbindung und 25 bis 39 Jahre gehörte sie mit jeweils etwa gebracht wird, zeigt sich ein Zusammenhang von 16 % zu den zehn häufigsten Diagnosen [48]. Nach moderatem Alkoholkonsum und einem späteren den Abrechnungsdaten der KVen 2018 wurde die Eintritt [55, 56]. Die Assoziationen mit sportlicher Diagnose bei 6,8 % der Patientinnen dokumentiert Aktivität und Body-Mass-Index (BMI) sind dage- (siehe auch Kapitel 2.3.4) [15]. Die Fallzahlen für gen nicht eindeutig [57]. Behandlungen von Frauen aufgrund zu starker, Die Wechseljahre werden von der überwiegen- zu häufiger oder unregelmäßiger Menstruation lie- den Zahl der Frauen als natürliche Lebensphase gen in den Altersgruppen 20 bis 29, 30 bis 39 und wahrgenommen, die mit mehr oder weniger star- 40 bis 49 Jahre auf einem ähnlichen Niveau (Abb. ken Beeinträchtigungen einhergehen kann [58]. 7.1.2.1). Bei den 50- bis 59-Jährigen ist eine Abnahme Nach der aktuellen Studienlage werden jedoch nicht zu verzeichnen. alle körperlichen und psychischen Beschwerden, die von Frauen in Zusammenhang mit den Wech- Wechseljahre seljahren berichtet werden, zwangsläufig auch Die Wechseljahre sind ein natürlicher Prozess im durch diese verursacht [59]. Am häufigsten werden Leben von Frauen, der durch hormonelle Umstel- vasomotorische Symptome wie Hitzewallungen lungen gekennzeichnet ist. Im weiblichen Kör- und Schweißausbrüche berichtet. Der Zusammen- per verringert sich in dieser Lebensphase u. a. die hang weiterer Beschwerden wie Schlafstörungen, Produktion des weiblichen Geschlechtshormons Niedergeschlagenheit, Stimmungsschwankungen, Östrogen. Damit werden die Regelblutungen unre- Ängste, sexuelle Probleme und Gelenkbeschwerden gelmäßig und hören schließlich ganz auf [53]. mit den hormonellen Veränderungen in den Wech- Nach Auswertungen des Bundes-Gesundheitssur- seljahren ist nicht eindeutig belegt, kann aber auch veys 1998 und der Studie zur Gesundheit Erwach- nicht ausgeschlossen werden [60]. sener in Deutschland (DEGS1, 2008 – 2011) beträgt Wechseljahresbeschwerden sind bei Frauen das mittlere Alter bei der letzten Regelblutung über 50 Jahren der häufigste Grund für das Aufsu- (Menopause) in Deutschland 49,7 Jahre. Frauen chen einer gynäkologischen Praxis. Nach KV-Daten aus jüngeren Geburtsjahrgängen kommen später liegen vor allem bei den 50- bis 59-jährigen Frauen im Leben in die Wechseljahre als ältere Frauen die Fallzahlen mit der Abrechnungsdiagnose „Kli- [54]. Nach internationalen Studien wird der Eintritt makterische Störungen“ in gynäkologischen Praxen der Menopause für Frauen in Industrieländern mit auf hohem Niveau (Abb. 7.1.2.1). Mit zunehmendem
Sexuelle und reproduktive Gesundheit | Kapitel 7 271 Abbildung 7.1.2.2 Anteil an 45- bis 65-jährigen Frauen, denen eine Hormontherapie verordnet wurde im Zeitverlauf Datenbasis: Zusatzauswertungen zum Gesundheitsreport 2019 der Techniker Krankenkasse [64] 40 Anteil (%) 35 30 25 20 15 10 5 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 Jahr Alter sinken die Fallzahlen stetig. Auch in einem die im Alter von 40 bis 59 Jahren mit einer 5- bis Alter von über 70 Jahren wird bei Frauen die Diag- 14-jährigen Hormontherapie begannen, hatten ein nose „Klimakterische Störungen“ abgerechnet [15]. höheres Risiko als Frauen im Alter von 60 bis 69 Mitte der 1960er-Jahre kamen erstmalig Hor- Jahren [62]. monpräparate zur Linderung von Wechseljahres- Nach der aktuellen S3-Leitlinie „Peri- und beschwerden auf den Markt. Dies trug dazu bei, Postmenopause – Diagnostik und Interventio- dass diese Lebensphase zunehmend aus medizi- nen“ sollte sich die Therapie von Wechseljahres- nisch-biologischer Perspektive betrachtet und als beschwerden an den Bedürfnissen der betroffe- medizinisches Problem definiert wurde [58]. Zur nen Frauen und der sich im Verlauf ändernden Therapie von Wechseljahresbeschwerden, aber Symptome orientieren. Eine Hormontherapie auch als Schutz vor koronarer Herzkrankheit oder kann gesunden Frauen mit behandlungsbedürfti- Osteoporose wurden der Hormontherapie zahlrei- gen Wechseljahresbeschwerden nach Aufklärung che gesundheitliche Vorteile zugeschrieben. In der über Nutzen und Risiken angeboten werden. Die Women’s Health Initiative (WHI)-Studie zeigte sich Beratung zur Hormontherapie sollte auch Infor- im Jahr 2002 jedoch, dass Östrogene und Östrogen- mationen darüber enthalten, dass je nachdem, wie Gestagen-Kombinationen mit zunehmender Dauer lange die Behandlung dauert und welche Hormone der Einnahme eine Reihe von Nachteilen haben: eingesetzt werden, eine Erhöhung des Brustkrebs- Sie erhöhten u. a. die Wahrscheinlichkeit für die risikos möglich ist [63]. Entstehung von Blutgerinnseln (Thrombosen), für Die beschriebene Entwicklung spiegelt sich auch Schlaganfälle und Brustkrebs [53]. 2013 und 2016 in der Anwendungshäufigkeit der Hormonthera- wurden die Ergebnisse der WHI-Studie neu bewer- pie wider. Nach Daten der Techniker Krankenkasse tet; bei Frauen unter 60 Jahren schien demnach nimmt der Anteil der Frauen, die Hormonpräparate das absolute Risiko für koronare Herzkrankheit, gegen Beschwerden in den Wechseljahren einneh- Blutgerinnsel, Schlaganfälle und Brustkrebs sehr men, kontinuierlich ab (Abb. 7.1.2.2). Die Zusatz- gering und die Mortalität unter einer Hormonthe- auswertungen zum Gesundheitsreport 2019 zeigen rapie neutral oder geringer zu sein [61]. In einer einen stetigen Rückgang von 37 % im Jahr 2000 bis Meta-Analyse aus dem Jahr 2019 wurde dagegen auf 6,6 % im Jahr 2018. Besonders auffällig ist der gezeigt, dass eine Hormontherapie mit Östrogenen Rückgang ab dem Jahr 2003. (vor allem in der Kombination mit einem Gestagen) das Risiko für Brustkrebs erhöht. Das Risiko ist bei jüngeren Frauen höher als bei älteren: Frauen,
272 Kapitel 7 | Sexuelle und reproduktive Gesundheit 7.1.3 Infektionen der Scheide und der wird die Infektion zu den sexuell übertragbaren Harnwege Erkrankungen gezählt. Zu den Krankheitssympto- men gehören stark riechender, dünnflüssiger Aus- Zu den häufigsten Infektionen der Scheide (Kol- fluss und Juckreiz [66]. pitiden) gehören Pilzinfektionen und Infektionen Harnwegsinfektionen gehören zu den häufigs- mit Trichomonaden. Ebenfalls eine große Rolle ten bakteriell bedingten Erkrankungen [74]. Zu den spielt die bakterielle Vaginose – diese ist aber unkomplizierten Harnwegsinfektionen gehören die eigentlich keine Infektion, sondern eine Störung Blasenentzündung (akute Zystitis) und die Nieren der Scheidenflora (sogenannte Dysbiose) [65]. Nor- beckenentzündung (akute Pyelonephritis). Von einer malerweise ist die Scheide von Milchsäurebak- wiederkehrenden Harnwegsinfektion wird gespro- terien besiedelt, die mit anderen Bakterien die chen, wenn zwei oder mehrere Blasenentzündungen Scheidenflora bilden und einen bestimmten Säu- pro Halbjahr (oder drei oder mehr pro Jahr) vorliegen regrad (pH-Wert) in der Scheide bewirken. Durch [74]. Vor allem Frauen sind von Harnwegsinfektio- eine Schädigung der Scheidenflora (z. B. durch nen betroffen, da bei ihnen die Harnröhre kürzer Antibiotika), Veränderungen des sauren Scheiden- ist und Bakterien leichter als bei Männern bis in die milieus oder Östrogenmangel werden Scheidenin- Blase gelangen können. Eine untere Harnwegsin- fektionen begünstigt [66]. Schätzungen aus wis- fektion (Zystitis) wird angenommen, wenn sich die senschaftlichen Studien zufolge wird bei Frauen Symptome nur auf den unteren Harntrakt begren- mit Beschwerden im Bereich der Scheide in 22 % zen, z. B. Schmerzen beim Wasserlassen, schwer bis 50 % eine bakterielle Vaginose, in 17 % bis 39 % beherrschbarer Harndrang und häufiges Wasser- eine Pilzinfektion und in 4 % bis 35 % eine Infek- lassen in kleinen Mengen. Wenn zusätzlich weitere tion mit Trichomonaden festgestellt [67]. Beschwerden wie Schmerzen im Nierenlager oder Bei der bakteriellen Vaginose siedeln sich ver- Fieber auftreten, kann auch eine obere Harnwegsin- mehrt Bakterien in der Scheide an, die dort sonst fektion (Pyelonephritis) vorliegen [75]. nur vereinzelt vorkommen, vor allem sogenannte Nach Auswertungen von Routinedaten für Ver- Gardnerellen und andere anaerob wachsende Bakte- sicherte der BARMER wurde 2013 bei 9 % der Mäd- rien [65, 66, 68]. Ursache ist eine Veränderung der chen und Frauen ab zwölf Jahren die Diagnose einer Scheidenflora. Bakterielle Vaginosen können durch Harnwegsinfektion gestellt. In der Altersgruppe der Geschlechtsverkehr ausgelöst werden, gehören aber 20- bis 29-Jährigen beträgt die Abrechnungspräva- nicht zu den sexuell übertragbaren Infektionen. Das lenz dieser Diagnose etwa 12 %. Dies könnte mit bedeutet, dass die Erkrankung auch ohne vorange- dem Beginn eines regelmäßigen Sexualverkehrs gangenen Sexualkontakt auftreten kann [69]. Bei zusammenhängen. Geschlechtsverkehr erhöht das Frauen, die Sex mit Frauen haben, gibt es Hinweise Risiko für eine Blasenentzündung, weil dabei Bak- auf häufigere bakterielle Vaginosen [70, 71]. Einziges terien in die Harnröhre gelangen können. In der Symptom ist in der Regel grau-weißlicher dünnflüs- Menopause treten Blasenentzündungen durch die siger Ausfluss mit fischartigem Geruch. Veränderung der Scheidenflora häufiger auf. In der Eine genitale Pilzinfektion wird in etwa 80 % der Altersgruppe der 60- bis 69-Jährigen sind 17 %, in Fälle durch den weitverbreiteten Pilz Candida albi- der Altersgruppe der 70- bis 79-Jährigen 11 % der cans verursacht. Candida-Subtypen gehören aber Frauen betroffen. Mit etwa 20 % liegt die Prävalenz auch zur normalen Scheidenflora. Erst bei hoher bei den 80-Jährigen und Älteren am höchsten [74]. Keimzahl oder Abwehrschwäche kommt es zu einer symptomatischen Entzündung. Zu den typischen Beschwerden gehören Juckreiz und brennendes 7.1.4 Sexuelle Funktionsstörungen Gefühl sowie Rötungen und grau-weißliche Beläge mit krümeligem Ausfluss [66]. Etwa drei Viertel Über die Lebensspanne betrachtet ist Sexuali- aller Frauen haben irgendwann in ihrem Leben tät mit Veränderungen verbunden. So berichtet eine Pilzinfektion [72, 73]. die Mehrzahl der Frauen von Phasen mit weni- Trichomonaden sind einzellige Parasiten; eine ger ausgeprägtem sexuellen Verlangen oder einer Infektion mit ihnen wird Trichomoniasis genannt. Abnahme sexueller Lust, vor allem in längeren Die Übertragung erfolgt vorwiegend sexuell, daher Beziehungen [29]. Körperliche Erkrankungen wie
Sexuelle und reproduktive Gesundheit | Kapitel 7 273 eine Gebärmuttersenkung, aber auch Endometriose Frauen gaben an, stark oder sehr stark unter den (siehe Kapitel 2.1.8), Diabetes mellitus, Hormonver- sexuellen Schwierigkeiten in der Partnerschaft änderungen in den Wechseljahren oder psychische zu leiden [80]. Die Ergebnisse zeigen auch, dass Erkrankungen wie Depressionen können das sexu- Sexualität in festen Beziehungen von belastenden elle Wohlbefinden beeinflussen. Auch Operationen Lebensumständen, Stress, Zeitmangel, Erkrankun- aufgrund einer Krebserkrankung wie die Entfer- gen, Verhütungsproblemen, Ängsten, Erwartungen nung der Brust oder der Gebärmutter können bei und anderen Faktoren beeinflusst sein kann [80]. Frauen das eigene Körperempfinden verändern und Wie bereits im Kapitel 7.1.1 beschrieben, hat sich negativ auf die Sexualität auswirken. Organi- sich die Bedeutung der Sexualität, bedingt durch sche Ursachen für sexuelle Funktionsstörungen die sogenannte sexuelle Revolution, im zeitlichen können, müssen aber nicht vorhanden sein. Verlauf deutlich gewandelt. Im Zuge der sexuel- International werden sexuelle Funktionsstö- len Liberalisierung ist offenbar auch der Druck rungen bei Frauen als „female sexual disorders“ auf Frauen gestiegen, neuen sexuellen Normen bezeichnet. Hierzu zählen ein vermindertes sexu- zu entsprechen und Sexualität als etwas Lust- und elles Verlangen, sexuelle Aversion, sexuelle Erre- Genussvolles zu erleben. Dies kann mit Frustration gungsstörung, Orgasmusstörungen oder Schmerz- einhergehen und somit das Risiko für die Entste- störungen wie Vaginismus (Verkrampfung der hung von sexuellen Funktionsstörungen erhöhen Scheide) und Dyspareunie (Schmerzen beim [78]. Die in der oben genannten Studie befragten Geschlechtsverkehr). Eine sexuelle Funktionsstö- Studentinnen formulierten aber auch Erwartungen: rung besteht per Definition nur dann, wenn die Viele gaben an, dass es für sie nicht ausreicht, beim Frau unter ihr leidet [76]. Können die betroffenen partnerschaftlichen Geschlechtsverkehr nur selten Frauen mit den beschriebenen Phänomenen gut zum Orgasmus kommen. Sie sahen es als Frage leben, dann besteht keine behandlungsbedürftige der Gleichberechtigung, den weiblichen Orgasmus Funktionsstörung [77]. Laut Studien berichten 25 % nicht hinter den männlichen zurückzustellen [80]. bis 63 % der Frauen über ein sexuelles Problem; sexuelle Funktionsstörungen, die einer klinischen Diagnose entsprechen, sind jedoch deutlich selte- Exkurs: Körpermodifikationen und Schön- ner [78]. Diagnosedaten der Krankenhausstatistik heitsoperationen zeigen bei Frauen einen Rückgang der stationä- Physische Schönheit ist ein Ideal, das von vielen ren Behandlungen aufgrund von sexuellen Funk- Menschen angestrebt wird. Dies äußert sich z. B. tionsstörungen als Hauptdiagnose. Eine weitaus im Streben nach und in der Arbeit an der eigenen höhere Zahl an Krankenhauspatientinnen weist Attraktivität. Eine besondere Form der Verände- eine Nebendiagnose auf, wobei spezifische Diagno- rungen des menschlichen Körpers aus ästheti- sen und behandelnde Fachdisziplinen den Daten schen Gründen sind sogenannte Körpermo difikationen, zu denen z. B. Tätowierungen oder nicht zu entnehmen sind. Möglicherweise wird ein Piercings gehören. Körpermodifikationen schei- größerer Anteil der Nebendiagnosen in den psy- nen als Mittel zum Ausdruck der Persönlichkeit, chiatrischen bzw. psychotherapeutischen Fächern aber auch zur Steigerung der sexuellen Attraktivi- gestellt (z. B. sexuelle Funktionsstörungen in Ver- tät und als Quelle für sexuelles Vergnügen ange- bindung mit Depressionen) [79]. sehen zu werden [81]. Eine repräsentative Erhe- Sexuelle Schwierigkeiten kommen in allen bung der Prävalenz von Tätowierungen von in Alters- und Bildungsgruppen vor. Einer Befra- Deutschland lebenden Personen ab 14 Jahren gung von Studierenden aus dem Jahr 2012 zufolge zeigt, dass Tätowierungen vor allem bei Frauen berichten viele heterosexuelle Studentinnen in zugenommen haben: Der Anteil an Frauen mit Beziehungen über sexuelle Probleme, z. B. dass mindestens einem Tattoo stieg von 6 % im Jahr 2003 auf 11 % (2009) an und verdreifachte sich sie zu selten Lust auf Sex haben (46 %), von Orgas- im Jahr 2016 auf 18 %. Bei den jungen Frauen ist musschwierigkeiten (45 %), Schmerzen beim Sex der Anstieg noch deutlicher: Während 2003 13 % (40 %) oder Erregungsproblemen (39 %). Männer der Frauen im Alter von 25 bis 34 Jahren tätowiert geben dagegen häufiger an, zu schnell zum Orgas- waren, waren es 2009 bereits 26 % und 2016 mus zu kommen (49 %) oder häufiger Sex zu wol- 44 % [82]. len als ihre Partnerin (47 %). 14 % der befragten
274 Kapitel 7 | Sexuelle und reproduktive Gesundheit Die ästhetisch-plastische Chirurgie umfasst Der Wunsch nach einer Veränderung des Kör- formverändernde Eingriffe am menschlichen pers aus ästhetischen Gründen kann auch den Körper. Zu den ästhetisch-plastischen Operatio- Intimbereich betreffen. Intimmodifikationen nen zählen z. B. die Brustvergrößerung mit Im- bei Frauen reichen von Scheidenverengung, plantat, die Augenlidkorrektur und die Fettab plastischer Neugestaltung der Schamlippen bis saugung. Nicht-operative Methoden sind die hin zur Verkleinerung der inneren und Vergrö- Injektionstherapien, z. B. die Faltenbehandlung ßerung der äußeren Schamlippen [81]. Nach Da- mit Botulinumtoxin oder Hyaluronsäure [81]. ten der DGÄPC sind 1,2 % der Eingriffe bei Frauen Operationen im Intimbereich [85]. Als Nach Ergebnissen der jährlichen Mitglieder- Grund für Intimmodifikationen wird u. a. ge- befragung der Vereinigung der Deutschen nannt, dass sich neue Schönheitsideale entwi- Ästhetisch-Plastischen Chirurgen (VDÄPC) ckeln; es entstehen normative Vorstellungen wurden 2018 insgesamt 77.485 gemeldete Ein- vom Genitalbereich, nicht zuletzt durch die In- griffe durchgeführt; im Vergleich zum Vor- ternetpornografie [81]. jahr ist dies eine Steigerung von etwa 9 %. Der Großteil (86,3 %) derjenigen, die diese Sowohl bei Körpermodifikationen als auch bei Eingriffe durchführen ließen, waren Frauen. operativen und nicht-operativen ästhetisch-plas- Die häufigsten Anwendungen bei Frauen sind tischen Eingriffen können Komplikationen auf- Behandlungen mit Botulinumtoxin und Hyalu- treten. So zeigte eine englische Studie, dass bei ronsäure. Es folgen Lippenkorrektur, Brustver- Piercings in etwa ein Drittel der Fälle Komplika- größerung sowie Oberlidstraffung [83]. tionen wie Schwellungen, Infektionen oder Blu- tungen auftraten [86]. Unerwünschte Effekte im Ähnliche Ergebnisse zeigen sich auch in der Sta- Bereich der nicht-operativen Methoden kom- tistik 2018 der Deutschen Gesellschaft für Ästhe- men vor allem bei Unterspritzungen mit soge- tisch-Plastische Chirurgie (DGÄPC), die auf ei- ner Befragung der Patientinnen und Patienten nannten Fillern (z. B. mit Hyaluronsäure) vor; der DGÄPC-Mitglieder basiert. Das Durch- hierzu zählen stärkere Lokalreaktionen, Knöt- schnittsalter der befragten Frauen, die sich für chenbildung und Ulzerationen [87]. Laut einem eine ästhetisch-plastische Behandlung entschie- Forschungsbericht der Bundesanstalt für Ernäh- den hatten, lag bei 41,2 Jahren (Männer: 41,4 Jah- rung und Landwirtschaft aus dem Jahr 2007 re). Gefragt nach der Motivation, gaben sowohl zählen Schwellungen, Blutergüsse und Taub- Frauen als auch Männer als Hauptgrund an, dass heitsgefühle zu häufigeren Komplikationen bei sie sich von dem ästhetisch-plastischen Eingriff ästhetisch-plastischen Operationen [88]. Aktuel- eine körperliche Verbesserung erhofften. Im Ver- le belastbare Daten zu dieser Thematik liegen gleich zu Männern wünschten sich Frauen häufi- nicht vor. ger sowohl eine körperliche als auch eine psychi- sche Veränderung zum Positiven [84]. Aktuelle Daten der DGÄPC zeigen, dass auch bearbeitete Fotos der eigenen Person, sogenannte Selfies, die 7.2 Familienplanung und Verhütung Ansprüche an den eigenen Körper verändern können. So berichteten etwa zwei Drittel der Eine wichtige Forderung im Hinblick auf die befragten Fachärztinnen und Fachärzte der reproduktive Gesundheit ist, dass Menschen frei ästhetisch-plastischen Chirurgie, dass Patientin- entscheiden können, ob, wann und wie viele Kin- nen und Patienten mit einem über ein Bild der sie haben möchten. Dazu gehört auch der bearbeitungsprogramm veränderten Selfie als Zugang zur Empfängnisverhütung. Familienpla- Vorlage für eine Behandlung in ihre Praxis ge- nung im weiteren Sinn wird nicht als separater kommen sind. Dies betraf vor allem Frauen im Lebensabschnitt der Familiengründungsphase Alter von 18 bis 29 Jahren [85]. aufgefasst, sondern als integraler Bestandteil der gesamten Lebensplanung verstanden [14]. Insgesamt ist die Familienplanung in Deutsch- land von einem niedrigen Geburtenniveau, dem Aufschub der ersten Geburt in ein höheres Alter, einer verbreiteten Kinderlosigkeit und vergleichs- weise wenigen kinderreichen Familien geprägt
Sexuelle und reproduktive Gesundheit | Kapitel 7 275 (siehe Kapitel 7.4 und 7.5) [89]. In den vergange- können sich tendenziell vorstellen, auch mehr als nen Jahren sind sowohl ein leicht ansteigender zwei Kinder zu bekommen. Dies gilt ebenfalls für Trend beim Geburtenniveau als auch eine steigende Frauen und Männer mit höherer Schulbildung [13]. Geburtenhäufigkeit bei Frauen ab 40 Jahren zu Zum idealen Zeitpunkt der Familiengründung beobachten [90]. Im folgenden Abschnitt werden gefragt, gibt ein Großteil der 18- bis 25-jährigen Kennzahlen zu Familienplanung und -realisierung Frauen und Männer mit Kinderwunsch an, dass sowie zur Empfängnisverhütung vorgestellt. Als sie vor dem ersten Kind zunächst eine Ausbildung Datenquellen werden vor allem die Statistik der abschließen und mehrere Jahre Berufserfahrung natürlichen Bevölkerungsbewegung des Statisti- sammeln möchten [13]. Dies führt zu einem Auf- schen Bundesamtes [91] und Studien der BZgA schub der ersten Geburt bis zu einem Zeitpunkt, herangezogen. Zu nennen sind hier die Daten zum an dem eine finanzielle Absicherung zumindest in Sexual- und Verhütungsverhalten von Jugendlichen Aussicht gestellt ist. Weitere Gründe für die Zurück- in Deutschland [13], die Studie „frauen leben 3“ [14] stellung eines Kinderwunsches können eine unsi- sowie die repräsentative Studie Verhütungsverhal- chere berufliche Zukunft, die fehlende Vereinbar- ten Erwachsener 2018 [92]. keit von Familie und Beruf und vor allem das Feh- len einer festen Partnerschaft sein [89]. Da die erste Menstruation immer früher eintritt, ist die Tendenz 7.2.1 Familienplanung und -realisierung festzustellen, dass der zeitliche Abstand zwischen dem Beginn der körperlichen Möglichkeit zur Mut- Acht von zehn Mädchen und jungen Frauen im terschaft und ihrer Erwünschtheit größer wird [93]. Alter von 14 bis 25 Jahren wünschen sich Kinder. Im Jahr 2018 wurden in Deutschland 787.523 Lediglich 10 % sprechen sich in der Repräsenta- Kinder lebend geboren [94]. Die durchschnittliche tivbefragung Jugendsexualität 2015 explizit gegen Kinderzahl (zusammengefasste Geburtenziffer) Kinder aus. Einen großen Einfluss auf den Kin- betrug 1,57 Kinder je Frau. Die zusammengefasste derwunsch hat das Alter (Abb. 7.2.1.1). Mit 14 oder Geburtenziffer gibt an, wie viele Kinder eine Frau 15 Jahren ist noch etwa ein Fünftel der Mädchen im Laufe ihres Lebens bekäme, wenn ihr Gebur- unentschieden, im Alter von 21 bis 25 Jahren liegt tenverhalten so wäre wie das aller Frauen zwischen dieser Anteil bei 9 % [13]. 15 und 49 Jahren im jeweils betrachteten Jahr [90]. Gefragt nach der gewünschten Kinderzahl, Von 1990 bis 2010 lag die Geburtenziffer auf einem spricht sich etwa die Hälfte der Frauen und Män- Niveau von ungefähr 1,4 Kindern je Frau [91]. In ner ab 18 Jahren für zwei Kinder aus. Etwa ein Fünf- der ehemaligen DDR war sie vor der Wende 1989 tel konnte sich noch nicht auf eine Zahl festlegen, deutlich höher (1980: 1,94 [95]), brach dann ein 13 % hätten gerne drei, 3 % vier oder mehr Kinder und stieg bis 2016 auf einen Wert von 1,64 an [96]. und 7 % gaben an, ein Kind bekommen zu wol- In den letzten Jahren ist ein leicht ansteigender len. Junge Erwachsene mit Migrationshintergrund Trend bei der zusammengefassten Geburtenziffer Abbildung 7.2.1.1 Grundsätzlicher Kinderwunsch* bei 14- bis 25-jährigen Mädchen Datenbasis: Studie Jugendsexualität 2015 [13] Altersgruppe (Jahre) 14 –15 16 –17 18 – 20 21 – 25 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Möchte Kinder Anteil (%) Möchte keine Kinder Weiß nicht *Frage: Möchten Sie einmal Kinder haben, sind Sie bzw. ist Ihre Freundin zurzeit schwanger oder haben Sie bereits ein Kind?
276 Kapitel 7 | Sexuelle und reproduktive Gesundheit Abbildung 7.2.1.2 Entwicklung der zusammengefassten Geburtenziffer im Zeitverlauf (alte Länder ohne Berlin-West, neue Länder ohne Berlin-Ost) Datenbasis: Statistik der natürlichen Bevölkerungsbewegung [96] Geburtenziffer je Frau 1,8 1,6 1,4 1,2 1,0 0,8 0,6 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2018 Jahr Alte Länder Deutschland Neue Länder zu beobachten. Derzeit liegt sie in den neuen Län- zwei Kinder geboren werden, verändert sich hin- dern (ohne Berlin-Ost) mit 1,60 Kindern je Frau gegen kaum [97]. etwas höher als in den alten Ländern (ohne Ber- Paare, die drei oder mehr gemeinsame Kinder lin-West) mit 1,58 (Abb. 7.2.1.2). Insgesamt gehört haben, oder Personen mit drei oder mehr leiblichen Deutschland seit den 1970er-Jahren zu den Ländern Kindern werden im Allgemeinen als kinderreich mit einem sehr niedrigen Geburtenniveau [89]. bezeichnet [100]. Für Deutschland werden unter- Das Geburtengeschehen sollte jedoch nicht nur schiedliche Gruppen von kinderreichen Familien anhand von Geburtenraten beschrieben werden, beschrieben. Neben Eltern mit geringer Bildung sondern auch anhand der Zahlen, wie viele Kin- und mit Migrationshintergrund können dies auch der Frauen jeweils zur Welt bringen (Paritäten), einkommensstarke Eltern oder Stieffamilien sein da sonst die dahinterliegenden Unterschiede im (Familien, in welche die Partnerin oder der Partner Zusammenhang mit der Kinderzahl verdeckt wer- Kinder aus einer früheren Beziehung mitgebracht den [97]. Die endgültige Kinderzahl je Frau wird haben). Nach einer Trennung, Scheidung oder Ver- bei Frauen mit abgeschlossener Familienplanung witwung entscheiden sich Personen zunehmend betrachtet. Dabei zeigt sich, dass die Kinderlosen- für ein weiteres Kind mit ihrer neuen Partnerin quote zwischen den Jahrgängen 1937 und 1967 kon- oder ihrem neuen Partner. Betrachtet man dabei tinuierlich zunahm und sich von 11 % auf 21 % fast Bildungsunterschiede im Zusammenhang mit verdoppelt hat. Dieser Anstieg scheint sich jedoch dem Geschlecht, so zeigt sich, dass kinderreiche bei den zwischen 1967 und 1974 geborenen Frauen Frauen deutlich häufiger ein niedriges Bildungsni- nicht weiter fortzusetzen [98]. Nach den Ergebnis- veau haben als kinderreiche Männer [100]. sen des Mikrozensus lebten 2016 mehr als die Im europäischen Vergleich ist der Anteil an kin- Hälfte der Familien mit einem Kind im Haushalt derreichen Familien in Deutschland eher gering (52 %), entweder weil (noch) keine Geschwister hin- [100]. Auch ist die Kinderlosigkeit in Deutschland zugekommen sind oder weil ältere Geschwister das weiter verbreitet als in anderen europäischen Län- Elternhaus bereits wieder verlassen haben. Mit 36 % dern, obwohl dieser Trend mittlerweile für die meis- lebte etwa ein Drittel der Familien mit zwei Kindern ten europäischen Länder gilt [101]. Dies hängt u. a. und 12 % mit drei oder mehr Kindern unter einem mit einem kontinuierlich steigenden Alter bei der Dach [99]. Insgesamt gesehen zeigt sich, dass das ersten Geburt zusammen. Als Gründe für den Auf- Geburtenniveau in Deutschland sowohl durch den schub der ersten Geburt werden die Länge der Aus- Anteil an kinderreichen Familien als auch durch bildung und unsichere Zukunftsbedingungen dis- Kinderlosigkeit geprägt ist. Die Häufigkeit, mit der kutiert. Vor allem gut ausgebildete Frauen reagieren
Sexuelle und reproduktive Gesundheit | Kapitel 7 277 auf Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt mit einer wurde, 46 % nutzten das Kondom. Während in den Verschiebung der ersten Geburt. Dagegen erhöhen Altersgruppen der 18- bis 29-Jährigen und 30- bis sich bei Frauen mit geringerem Bildungsstand die 39-Jährigen das Kondom ebenso häufig wie die Pille Geburtenziffern in Zeiten wirtschaftlicher Unsi- genutzt wird und die Intrauterinspirale (mit 5 % cherheit oder bleiben erhalten [89]. bis 6 %) eine eher untergeordnete Bedeutung hat, ändert sich dies bei den 40- bis 49-Jährigen. In dieser Altersgruppe wird die Spirale mit 20 % deut- 7.2.2 Verhütung lich häufiger genutzt (Abb. 7.2.2.1). Dabei zeigt sich ein Anstieg in der Nutzung der Spirale von sieben Über drei Viertel der Frauen in Deutschland wen- Prozentpunkten im Vergleich zur vorhergehenden den Methoden zur Empfängnisverhütung an. Je Studie aus dem Jahr 2011 [92]. nach Lebensform und Partnerschaft sind Gründe, Im Vergleich zur Studie von 2011 wird das Kon- nicht zu verhüten, z. B. das Fehlen einer Bezie- dom deutlich häufiger als Verhütungsmittel genutzt hung oder sexueller Kontakte, ein Kinderwunsch (Anstieg von 37 % auf 46 %). Dagegen ging der oder eine Schwangerschaft [89]. Anteil der Frauen, die die Pille nutzen, von 53 % Beim ersten Geschlechtsverkehr verhüten laut auf 47 % zurück. Dies zeigt sich vor allem bei den der Repräsentativbefragung der BZgA etwa drei Vier- 18- bis 29-Jährigen: In dieser Altersgruppe nahm tel der 14- bis 25-jährigen Mädchen und Frauen mit die Nutzung der Pille von 72 % auf 56 % ab. Als dem Kondom und 48 % mit der Pille (siehe Kapitel Grund für diesen Rückgang wird in der Studie eine 3.3.3). Mit zunehmender sexueller Erfahrung werden eher kritische Einstellung zu hormonellen Verhü- Kondome seltener und die Pille häufiger genutzt. tungsmethoden angeführt. So stimmten 48 % der Auch werden Pille und Kondom häufig kombiniert. Befragten der Aussage zu, dass eine hormonelle Die übrigen eingesetzten Verhütungsmethoden Verhütung negative Auswirkungen auf Körper und sind in Deutschland derzeit eher von untergeord- Seele habe. 43 % lehnten die Aussage ab, dass die neter Bedeutung [13]. Ähnliches zeigen Daten der Pille auch für sehr junge Mädchen geeignet sei, Techniker Krankenkasse: Demnach lag der Anteil und 55 % die Aussage, man könne die Pille über an Anwenderinnen der Pille unter den 14-jährigen Jahre hinweg unbedenklich anwenden. Je jünger Versicherten im Jahr 2013 bei etwa 6,5 %. Mit zuneh- die Altersgruppe, desto höher war der Anteil der- mendem Alter stieg er auf rund 40 % bei den 16-Jäh- jenigen mit einer eher kritischen Einstellung [92]. rigen und bis zu 74 % bei den 19-Jährigen [102]. Für die BZgA-Studie „frauen leben 3“ wurden Daten der BZgA zum Verhütungsverhalten 20- bis 44-jährigen Frauen in vier Ländern (Baden- Erwachsener aus dem Jahr 2018 zeigen, dass die Württemberg, Berlin, Niedersachsen, Sachsen) zum Pille und das Kondom die wichtigsten Verhütungs- Thema Familienplanung befragt. Es zeigt sich, dass mittel sexuell aktiver Frauen und Männer im Alter die Wahl des Verhütungsmittels von verschiede- von 18 bis 49 Jahren sind [92]. 47 % der Frauen nen Faktoren wie dem Alter, der partnerschaftlichen und Männer gaben an, dass mit der Pille verhütet Lebensform (und damit der sexuellen Aktivität) Abbildung 7.2.2.1 Genutzte Verhütungsmittel bei 18- bis 49-jährigen Frauen und Männern Datenbasis: Verhütungsverhalten Erwachsener 2018 [92] Altersgruppe (Jahre) 18 –29 30 –39 40 – 49 Gesamt 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Pille Anteil (%) Kondom Spirale
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