Sexuelle und reproduktive Gesundheit - RKI

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Sexuelle und
reproduktive
 Gesundheit

KAPITEL   7
▶▶ Sexualität findet meist in festen Beziehungen
   statt; im jungen und mittleren Lebensalter
   folgen häufig mehrere (monogame) Beziehungen
   aufeinander.

▶▶ Zur Verhütung nutzen sexuell aktive erwachsene
   Frauen am häufigsten die Pille und das Kondom;
   dabei ist die Anwendung der Pille insbesondere
   bei jungen Frauen in den letzten Jahren deutlich
   zurückgegangen.

▶▶ Das reproduktive Verhalten in Deutschland ist
   durch ein niedriges Geburtenniveau, den Auf-
   schub der ersten Geburt in ein höheres Alter
   und eine verbreitete Kinderlosigkeit gekennzeich-
   net; die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau
   beträgt 1,57.

▶▶ Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in
   Deutschland ist seit 2001 rückläufig; 2019 gab
   es 100.893 Schwangerschaftsabbrüche.

▶▶ Im Jahr 2018 haben 775.916 Frauen Kinder gebo-
   ren. 30,5 % der Geburten 2017 waren Kaiser-
   schnitte, rund 17.500 Geburten erfolgten nach
   künstlicher Befruchtung.
Sexuelle und reproduktive Gesundheit   |   Kapitel 7   265

7      Sexuelle und reproduktive Gesundheit

Nach der Definition der Weltgesundheitsorgani-            Die 1960er- und 1970er-Jahre gelten als prä-
sation (WHO) wird sexuelle Gesundheit in engem        gende Zeit der „sexuellen Revolution“ und Libera-
Zusammenhang und in Anlehnung an den allge-           lisierung der Sexualität. Der Sexualkonservatismus
meinen Gesundheitsbegriff definiert. Die Defini-      der 1950er-Jahre wurde abgelöst durch das Leitbild
tion aus dem Jahr 2015 lautet: „Sexuelle Gesund-      des partnerschaftlichen, ggf. auch nicht-ehelichen
heit ist untrennbar mit Gesundheit insgesamt,         Geschlechtsverkehrs [6]. Hinzu kam, dass mit der
mit Wohlbefinden und Lebensqualität verbunden.        Pille ein sicheres Verhütungsmittel zugänglich war,
Sie ist ein Zustand des körperlichen, emotionalen,    in der damaligen Bundesrepublik Deutschland ab
mentalen und sozialen Wohlbefindens in Bezug          1961 für verheiratete Frauen, ab 1966 auch außer-
auf die Sexualität und nicht nur das Fehlen von       halb der Ehe. In der ehemaligen DDR wurde die
Krankheit, Funktionsstörungen oder Gebrechen“         Pille 1965 eingeführt [6, 7].
[1]. Demnach sind eine positive und respektvolle          Innerhalb eines Jahrzehnts kam es in der Bun-
Haltung zu Sexualität und sexuellen Beziehungen       desrepublik Deutschland zu einer Vorverlegung des
sowie die Möglichkeit, angenehme und sichere          Alters beim ersten Geschlechtsverkehr um durch-
sexuelle Erfahrungen zu machen, einschließlich        schnittlich vier Jahre und zu einem Anstieg der
Gewalt- und Diskriminierungsfreiheit, Vorausset-      Anzahl von Sexualpartnerinnen bzw. Sexualpart-
zungen für sexuelle Gesundheit [1]. Neben sexuel-     nern im Lebensverlauf. Die Veränderungen des
ler Selbstbestimmung, sexueller Bildung, sexueller    Sexualverhaltens waren vor allem bei Mädchen und
Zufriedenheit und Wohlbefinden umfasst sexuelle       Frauen ausgeprägt. Auswirkungen auf das repro-
Gesundheit auch die Möglichkeit, eine sexuelle        duktive Verhalten zeigten sich z. B. in einem Auf-
Identität zu entwickeln und zu leben [2].             schub der Geburt des ersten Kindes [8]. Weitere
     Die Themen Familienplanung, ungewollte           Meilensteine der jüngeren Sexualgeschichte sind
Kinderlosigkeit, Schwangerschaftsabbruch sowie        das Aufkommen von AIDS in den 1980er- und der
Schwangerschaft und Geburt sind eng mit Sexua-        Beginn des Internetzeitalters in den 2000er-Jahren.
lität verknüpft [3]. Neben der sexuellen Gesundheit   Digitale Medien werden nicht nur für das Chat-
ist daher auch die reproduktive Gesundheit von        ten, Online-Flirten und die Partnersuche, sondern
zentraler Bedeutung. In der Weltbevölkerungs-         auch für vielfältige sexuelle Erfahrungen genutzt,
konferenz 1994 in Kairo wurde sexuelle und repro-     beispielsweise den Austausch erotischer Text- oder
duktive Gesundheit erstmals definiert als „körper-    Bildnachrichten (Sexting) [9]. Aus heutiger Sicht
liches, seelisches und soziales Wohlbefinden in       sind in den letzten Jahrzehnten Restriktionen
Bezug auf Sexualität und Fortpflanzung“ (siehe        zurückgegangen, individuelle Freiräume entstan-
auch Kapitel 3.3) [4]. Dies markierte einen Wende-    den und geschlechtsbezogene Benachteiligungen
punkt von einem überwiegend demografisch aus-         beginnen sich aufzulösen. Dennoch scheint auf
gerichteten zu einem am Individuum orientierten       beiden Geschlechtern ein neuer Druck zu lasten,
und menschenrechtsbasierten Ansatz. Sexualität        sexuell kompetent und erfolgreich zu handeln.
und Reproduktion sind ineinander verschränkt          Selbstbestimmte Sexualität und neue Freiheit dür-
und gleichzeitig voneinander unabhängig. Sexu-        fen also nicht nur gelebt werden, sie werden als
elle Gesundheit ist als eigenständige Dimension       soziales Muss wahrgenommen [10].
zu begreifen, die auch nicht-reproduktionsbezo-           In diesem Kapitel werden ausgewählte Berei-
gene Sexualität und Gesundheit erfasst [4]. So        che der sexuellen und reproduktiven Gesundheit
stehen die meisten sexuellen Aktivitäten nicht in     von Frauen dargestellt. Hierzu gehören die Sexua-
direktem Zusammenhang mit der Fortpflanzung           lität von Frauen, Menstruation, Familienplanung,
und sind während der gesamten Lebensdauer             Schwangerschaftsabbruch, Kinderwunsch sowie
einer Person von Bedeutung [5]. Auch die Repro-       Schwangerschaft und Geburt. Gutartige Erkran-
duktion enthält von Sexualität losgelöste Aspekte:    kungen der Gebärmutter und gynäkologische Ope-
Die menschliche Fortpflanzung ist heute auch          rationen werden in Kapitel 2.1.8 behandelt. Infor-
ohne Sexualität möglich [4].                          mationen zu gynäkologischen Krebserkrankungen
266    Kapitel 7   |   Sexuelle und reproduktive Gesundheit

      sind in Kapitel 2.1.4 und zu sexuell übertragenen       7.1.1 Sexualität von Frauen
      Infektionen in Kapitel 2.1.9 zu finden.
                                                              Sexualität wird überwiegend in festen Beziehun-
                                                              gen gelebt. Dies gilt bereits im Jugendalter. Stu-
      7.1    Sexuelle Gesundheit                              dien zeigen, dass Beziehungen von Jugendlichen
                                                              häufig eng, romantisch und durch die Ideale Liebe
      Nach einer Definition der Deutschen STI-Gesell-         und Treue geprägt sind [16, 17]. Single-Sein ist im
      schaft (STI: sexually transmitted infections)           Jugendalter meist als temporäre Phase zwischen
      und der Deutschen Gesellschaft für Sexuelle             zwei Beziehungen anzusehen, die oftmals sexuell
      Gesundheit kann die Sexualität jedes Menschen           eher zurückhaltend verbracht wird [17]. Mädchen
      als „Schlüsselelement für die eigene Identität“         beginnen im Durchschnitt früher damit, sexuell
      betrachtet werden [11]. Sexualität wird somit als       aktiv zu sein als Jungen. Das mittlere Alter für den
      „zentrale Lebensäußerung, Ausdruck erfüllten            ersten Geschlechtsverkehr beträgt bei Frauen 17,4
      Lebens und Grundbestandteil der Gesundheit in           und bei Männern 18,3 Jahre [8]. Einer Befragung
      einem umfassenden Sinn“ verstanden [11]. Sexu-          von Studierenden aus dem Jahr 2012 zufolge fin-
      elle Gesundheit, körperliche Gesundheit, men-           den rund 90 % der von ihnen berichteten Sexu-
      tale Gesundheit und allgemeines Wohlbefinden            alakte in festen Beziehungen statt. Unter „serieller
      sind positiv mit sexueller Befriedigung, sexuellem      Monogamie“ wird Dauerhaftigkeit im Beziehungs-
      Selbstwertgefühl und sexueller Lust assoziiert [12].    leben verstanden, trotz regelmäßiger Trennungen.
         Zur Beschreibung der sexuellen Gesundheit            Dabei werden immer neue, feste und treue Bezie-
      von Frauen werden verschiedene Datenquel-               hungen eingegangen [8].
      len herangezogen. Neben den repräsentativen                 Dauerhaftigkeit und Treue in einer Partnerschaft
      Daten zum Sexual- und Verhütungsverhalten von           werden auch im mittleren Lebensalter hoch bewer-
      Jugendlichen in Deutschland [13], die regelmäßig        tet. Die „Liebesleben“-Studie gibt Hinweise darauf,
      von der Bundeszentrale für gesundheitliche Auf-         dass die Jüngeren überwiegend in mehreren, eher
      klärung (BZgA) erhoben werden, wird die Studie          kurzen, meist nicht-ehelichen Beziehungen sexuell
      „frauen leben 3 – Familienplanung im Lebens-            aktiv sind; Ältere dagegen in wenigen, eher langen
      lauf von Frauen“ [14] der BZgA einbezogen, in           und meist ehelichen Beziehungen. Eine längere
      der die Familienplanung im Lebenslauf von 20-           Beziehungsdauer ist häufig mit einer geringeren
      bis 44-jährigen Frauen untersucht wird. Umfas-          sexuellen Frequenz verbunden. Die Häufigkeit
      sende repräsentative Studien zur Sexualität von         des Geschlechtsverkehrs sinkt in den ersten sechs
      Erwachsenen ab dem mittleren Lebensalter fehlen         Beziehungsjahren deutlich ab und bleibt dann in
      in Deutschland bisher. Daher wurde von 2018 bis         den folgenden 15 Beziehungsjahren relativ stabil
      2019 vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppen-            [17]. Zudem deuten die Ergebnisse einer qualita-
      dorf (UKE), gefördert von der BZgA, eine Studie         tiven Studie aus dem Jahr 2002 darauf hin, dass
      zur Gesundheit und Sexualität in Deutschland            Frauen und Männer am Anfang der Beziehung
      (GeSiD) durchgeführt [2]. In Vorbereitung fand          ein gleich starkes Verlangen nach Sexualität und
      2017 die Pilotstudie „Liebesleben“ statt, in der        Zärtlichkeit haben. Bei Paaren, die länger zusam-
      Personen im Alter von 18 bis 75 Jahren zu sexu-         men sind, ist der Wunsch nach Sexualität bei den
      ellen Erfahrungen, Einstellungen und Beziehun-          Männern größer als bei ihren Partnerinnen. Der
      gen befragt wurden. Weitere Datenquellen sind           Wunsch nach Zärtlichkeit ist dagegen bei den
      Krankenkassendaten der BARMER und der Tech-             Frauen ausgeprägter [18].
      niker Krankenkasse sowie Abrechnungsdiagnosen               Auch im höheren Lebensalter haben viele
      aus gynäkologischen Praxen [15], die vom Zen­           Paare noch Geschlechtsverkehr. Es ist davon aus-
      tralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in      zugehen, dass Zärtlichkeit lebenslang von hoher
      Deutschland (Zi) zur Verfügung gestellt wurden.         Bedeutung ist [19, 20]. Auch wenn die sexuel-
      Diese basieren auf Abrechnungsdatensätzen, die          len Interessen und Bedürfnisse von Frauen mit
      quartalsweise von den niedergelassenen Ärztin-          zunehmendem Alter grundsätzlich erhalten blei-
      nen und Ärzten an die Kassenärztlichen Vereini-         ben, so ist bei einigen Frauen ein Rückgang der
      gungen (KVen) übermittelt werden.                       sexuellen Lust und eine Abnahme der sexuellen
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Aktivität festzustellen. Hier können psychische,           Sexuelle Orientierung beschreibt, zu Menschen
soziale und partnerschaftliche Gründe, aber auch       welchen Geschlechts sich eine Person hingezogen
hormonelle Umstellungsprozesse und Allgemein­          fühlt, mit wem sie sexuelle Kontakte pflegt und ob
erkrankungen [21], Harnwegsbeschwerden [19]            dies auch einen Teil ihrer Identität ausmacht (siehe
sowie Operationen oder Krebserkrankungen [22]          Infobox 7.1.1.1). Es werden drei Dimensionen der
eine Rolle spielen. Studien deuten darauf hin,         sexuellen Orientierung unterschieden: die sexuelle
dass sexuelle Probleme älterer Frauen vor allem        Identität (z. B. hetero-, bi- oder homosexuell), die
in einem Mangel an Zärtlichkeit oder einem             sexuelle Attraktion oder Anziehung sowie das sexu-
Mangel an sexuellen Kontakten bestehen, die            elle Verhalten. Die drei Dimensionen müssen nicht
beispielsweise durch Partnerlosigkeit, aber auch       übereinstimmen. Zum Beispiel muss sich eine Frau,
durch Unlust, Potenzprobleme oder Krankheit des        die Sex mit Frauen hat, nicht unbedingt als lesbisch
Mannes bedingt sein können. Hinzu kommt, dass          oder bisexuell begreifen. Auch handelt es sich bei
sich viele Frauen Sorgen um die eigene Attrakti-       den verschiedenen Dimensionen nicht um starre
vität und andere Auswirkungen des körperlichen         Kategorien, sondern vielmehr um wandelbare und
Alterungsprozesses machen [23]. Insgesamt gese-        über die Lebenszeit veränder­liche Phänomene [31].
hen, gewinnen sowohl im mittleren als auch im          Bei der Geschlechtsidentität geht es dagegen um die
höheren Alter Beziehungsaspekte für die sexuelle       Frage, ob sich ein Mensch selbst mit dem ihm zuge-
Zufriedenheit an Bedeutung. Kommunikative und          wiesenen Geschlecht identifiziert, ob es ihn passend
partnerschaftliche Aspekte sind für die sexuelle       und ausreichend beschreibt. Die Geschlechtsidenti-
Zufriedenheit genauso bedeutend wie die sexu-          tät sagt nichts über die sexuelle Orientierung aus [32].
elle Aktivität [24].                                   Die Vielfalt der Geschlechter (siehe Infobox 7.1.1.2),
    Trotz der Veränderungen seit der sexuellen         sexuellen Orientierungen und Lebensweisen ist Teil
Revolution scheint weibliches und männliches           der gesellschaftlichen Diversität.
Sexualverhalten immer noch anhand unterschied-             Zur sexuellen Orientierung von Frauen in
licher Standards bewertet zu werden (sogenannter       Deutschland gibt es nur wenige Daten. Eine 1966
„sexueller Doppelstandard“) [25]. Darunter ver-        begonnene und bis heute laufende Studie zur
steht man, dass z. B. vorehelicher Geschlechtsver-     Sexualität von Studierenden zeigt im Zeitverlauf
kehr und Sex außerhalb von festen Beziehungen          nur geringe Unterschiede hinsichtlich der sexu-
bei Frauen anders beurteilt wird als bei Männern.      ellen Orientierung: Der Anteil der ausschließlich
Im Allgemeinen ist dies zwar für beide Geschlech-      oder vorwiegend homosexuellen Frauen liegt bei
ter akzeptiert [25], jedoch scheint ein Großteil der   1 % bis 2 % (Männer: 2 % bis 4 %). Bisexualität ist
Menschen die Wahrnehmung zu haben, dass das            bei Frauen mit 2 % bis 4 % geringfügig häufiger
gesellschaftliche Wertesystem viele wechselnde         als bei Männern (1 % bis 2 %) [8]. In einer Befra-
Partnerschaften bei Männern eher toleriert als         gungsstudie zum Sexualverhalten aus dem Jahr
bei Frauen. Zudem wird Männern ein stärkerer,          2016 beschrieben sich 82 % der Frauen als aus-
aktiver Drang zur Sexualität zugeschrieben, wäh-       schließlich, weitere 4 % als überwiegend heterose-
rend Frauen als eher passiv angesehen werden,          xuell [43]. Erste Ergebnisse der Pilotstudie „Liebes-
die auf den Wunsch der Männer reagieren [26].          leben“ zur Sexualität von Erwachsenen zeigen, dass
Bedingt durch diesen Doppelstandard fühlen sich        sich 88,1 % der befragten Frauen als heterosexuell
Frauen möglicherweise gehemmt, ihre sexuellen          definieren, 1,8 % als bisexuell, 1,4 % als homosexuell
Wünsche zu äußern. Einige Frauen priorisieren          und 0,5 % als asexuell. 8,2 % der Frauen haben sich
das sexuelle Vergnügen des Mannes und stellen          keiner der vorgegeben Antwortalternativen zuge-
es über ihr eigenes Lusterleben [27, 28]. Es wird      ordnet [17]. Ähnliche und teilweise höhere Anga-
vermutet, dass der sexuelle Doppelstandard so u. a.    ben finden sich in der Untersuchung zur Jugend-
dazu beitragen kann, bei Frauen sexuelle Lust und      sexualität der BZgA (siehe Kapitel 3.3): 3 % der 21-
deren Ausleben einzuschränken [29, 30]. Neben          bis 25-jährigen Frauen gaben an, homosexuell zu
vielen weiteren Faktoren wird er als ein Grund         sein, 6 % identifizierten sich als bisexuell und 14 %
dafür diskutiert, dass Frauen seltener als Männer      berichteten von gleichgeschlechtlichen Sexualkon-
davon berichten, während sexueller Aktivitäten         takten. Die Zahlen zeigen, dass viele Menschen
einen Orgasmus zu bekommen.                            gleichgeschlechtliche Sexualkontakte erleben,
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      ohne sich als homo- oder bisexuell zu verorten [13].
      Insgesamt scheint die Variabilität zwischen sexu-       LSBTIQ: Unter der Abkürzung LSBTIQ werden
      eller Identität, Attraktion und sexuellem Verhalten     unterschiedliche sexuelle Orientierungen und
      bei Frauen etwas größer zu sein als bei Männern.        Lebensweisen sowie geschlechtliche Identitäten
                                                              zusammengefasst: lesbische, schwule, bisexuel-
      Möglicherweise trägt eine zumeist größere gesell-
                                                              le, trans- und intergeschlechtliche sowie queere
      schaftliche Offenheit gegenüber gleichgeschlecht-
                                                              Menschen.
      licher Intimität und Sexualität von Frauen [30, 44]
      dazu bei, dass es bei Frauen einen größeren Erle-       Lesbisch: Lesbisch beschreibt das romantisch
                                                              und sexuelle Hingezogen-Sein von Frauen zu
      bens- und damit auch Antwortspielraum bei Befra-
                                                              Frauen.
      gungen gibt [31].
                                                              Queer: Queer ist ein Sammelbegriff, der ge-
                                                              schlechtliche Identitäten und sexuelle Orientie-
                                                              rungen umfasst, die sich nicht an einer hetero-
        Infobox 7.1.1.1                                       sexuellen Zweigeschlechtlichkeit orientieren.
        Definitionen zur sexuellen Orientierung und           Gerade jüngere LSBTI-Personen bezeichnen sich
        Lebensweise (in Anlehnung an [33, 34])                eher als queer.
        Asexuell: Als asexuell definieren sich vor allem      Schwul: Schwul beschreibt das romantische
        Menschen, die kein Interesse an sexuellen Kon-        und sexuelle Hingezogen-Sein von Männern zu
        takten verspüren [35].                                Männern.
        Bisexuell: Bisexuelle Menschen haben Liebesbe-
        ziehungen sowohl mit Männern als auch mit
        Frauen. Manche benutzen den Begriff bisexuell         Infobox 7.1.1.2
        auch, um zu beschreiben, dass sie Menschen ver-       Vielfalt der Geschlechter [34]
        schiedener Geschlechter begehren. Neben Män-          Geschlecht umfasst eine soziale und eine anhand
        nern und Frauen können das z. B. auch trans-          von biomedizinischen Merkmalen konstruierte
        oder intergeschlechtliche Menschen (siehe             Dimension [36, 37]. Beide Dimensionen beein-
        Infobox 7.1.1.2) sein. Geschlechtsunabhängiges        flussen sich wechselseitig [38]. Die biologische
        Begehren wird auch mit dem Begriff Pansexuali-        Geschlechterdimension umfasst genetische, ana-
        tät bezeichnet.                                       tomische, physiologische und hormonelle Merk-
        Coming-out: In einer Gesellschaft, in der Zweige-     male. Die soziale Geschlechterdimension bezieht
        schlechtlichkeit und Heterosexualität die domi-       sich auf gesellschaftliche Vorstellungen von Ge-
        nierende Norm ist, erleben viele LSBTIQ-Men-          schlecht, die kulturelle Konventionen, soziale Rol-
        schen eine längere Phase des innerlichen              len und Identitäten beeinflussen. Auf der indivi-
        Bewusstwerdens ihrer geschlechtlichen Identität       duellen Ebene können sich Menschen in Einklang
        und/oder sexuellen Orientierung. Dies anderen         mit oder auch in Modifikation und Abgrenzung
        Menschen mitzuteilen, wird als Coming-out be-         zu gesellschaftlichen Vorstellungen einem oder
        schrieben.                                            keinem Geschlecht zugehörig fühlen. In beiden
                                                              Geschlechterdimensionen finden sich große Vari-
        Heterosexuell: Als heterosexuell werden Men-          ationen [39–41], sodass Geschlecht als nicht binär
        schen beschrieben, die sich als Frauen oder als       begriffen wird.
        Männer verstehen und sich zu Personen des je-
        weils anderen Geschlechts romantisch und sexu-        Intergeschlechtliche Menschen werden mit ge-
        ell hingezogen fühlen.                                netischen, anatomischen oder hormonellen Vari-
                                                              ationen der Geschlechtsmerkmale geboren [42].
        Homosexuell: Homosexuelle Menschen fühlen             Diese Variationen können bereits bei Geburt
        sich romantisch und sexuell zu Menschen des           sichtbar sein, sich erst im Laufe des Lebens zei-
        gleichen Geschlechts hingezogen. Die Bezeich-         gen oder zeitlebens unerkannt bleiben. Bei Inter-
        nung homosexuell wird teilweise abgelehnt, weil       geschlechtlichkeit handelt es sich nicht um ein
        sie zu stark auf Sexualität fokussiert und weniger    drittes Geschlecht, sondern um eine Vielzahl
        emotionale Aspekte und Lebensweisen einbe-            angeborener Variationen der Geschlechtsmerk­
        zieht. Gleichgeschlechtlich lebende Menschen          male. Intergeschlechtliche Menschen können
        bezeichnen sich daher häufig eher als lesbisch        unterschiedliche geschlechtliche Identitäten und
        bzw. als schwul.                                      sexuelle Orientierungen haben [34].
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                                                        die Krämpfe zudem Übelkeit, Erbrechen oder
  Ein Mensch kann, aber muss sich nicht mit dem         Durchfall aus. Schmerzhafte Regelblutungen wer-
  Geschlecht identifizieren, das bei der Geburt zu-     den als Dysmenorrhoe bezeichnet [47]. 2017 wurde
  gewiesen wurde. Die geschlechtliche Identität         bei 8,7 % der bei der BARMER versicherten Frauen
  beschreibt die individuell empfundene ge-             die Diagnose „Schmerz und andere Zustände im
  schlechtliche Zugehörigkeit z. B. als Frau, als       Zusammenhang mit den weiblichen Genitalor-
  Mann, als ein Geschlecht dazwischen, außerhalb        ganen und dem Menstruationszyklus“ (ICD-10:
  dieser beiden Kategorien (z. B. questioning, nicht    N94) mindestens einmal in der ambulanten ärzt-
  binär) oder auch zu keinem Geschlecht (z. B.
                                                        lichen Versorgung abgerechnet. Vor allem jüngere
  agender). Für die unterschiedlichen geschlecht­
                                                        Frauen waren betroffen: 27,9 % der 15- bis 24-Jäh-
  lichen Identitäten gibt es unterschiedliche Selbst-
  bezeichnungen. Transgeschlechtlichkeit ist eine       rigen und 18,1 % der 25- bis 39-Jährigen erhielten
  Sammelbezeichnung für sehr unterschiedliche           diese Diagnose [48]. Mit 7,1 % der Behandlungs-
  geschlechtliche (Selbst-)Verortungen von Men-         fälle im Jahr 2018 zeigen die durch das Zentral-
  schen, die sich nicht oder nicht vollständig mit      institut für die Kassenärztliche Versorgung (Zi)
  ihrem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht              zur Verfügung gestellten Abrechnungsdaten der
  identifizieren (z. B. transident, transgender,        KVen eine Häufigkeit in ähnlicher Größenord-
  Trans-Frau, Trans-Mann) [34].                         nung (siehe auch Kapitel 2.3.4) [15]. Behandlun-
  Menschen, deren Geschlechtsidentität mit dem          gen von Frauen in gynäkologischen Praxen auf-
  bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht über-          grund von Beschwerden in Zusammenhang mit
  einstimmt, werden cisgeschlechtlich oder cis-         dem Menstruationszyklus waren in den jüngeren
  ident genannt [32].                                   Altersgruppen am häufigsten (Abb. 7.1.2.1). Am
                                                        höchsten sind die Fallzahlen bei Frauen im Alter
                                                        von 20 bis 29 Jahren. Mit zunehmendem Alter
                                                        ist eine kontinuierliche Abnahme zu beobachten.
7.1.2 Menstruation und Wechseljahre                     In einer internationalen Studie wurde geschätzt,
                                                        dass 5 % bis 20 % der Frauen im reproduktiven
Der Menstruationszyklus ist eine spezifisch weib-       Alter durch die Beschwerden in ihren täglichen
liche Erfahrung für Frauen im gebärfähigen Alter        Aktivitäten beeinträchtigt sind [49].
[45]. Bei den meisten Mädchen und Frauen dauert
die Menstruation drei bis fünf Tage. Knapp die          Zyklusstörungen
Hälfte der Mädchen (46 %) hat mit zwölf Jahren          Zyklusstörungen können die Stärke oder die
die erste Regelblutung (Menarche). 15 % sind elf        Dauer der Blutung sowie die Länge des Zyklusin-
Jahre und jünger (siehe Kapitel 3.3.1) [13]. Mit dem    tervalls (Blutungsrhythmik) betreffen [50]. Unter
Beginn der Wechseljahre werden die Regelblutun-         einer verlängerten Blutung (Menorrhagie) wird
gen bei den meisten Frauen unregelmäßig, dann           eine Regelblutung verstanden, die länger als fünf
hören sie schließlich ganz auf. Die letzte Regel-       bis sieben Tage andauert. Eine zu starke Regel-
blutung wird als Menopause bezeichnet und fin-          blutung (Hypermenorrhoe) liegt vor, wenn der
det etwa im Alter von 50 Jahren statt [46]. Insge-      Blutverlust während der Menstruation mehr als
samt zählen eine zu starke, zu häufige oder unre-       80 ml beträgt (als normal gelten etwa 60 ml) [51].
gelmäßige Menstruation sowie Beschwerden im             Starke oder verlängerte Blutungen können auch
Zusammenhang mit dem Menstruationszyklus zu             ein Hinweis auf Endometriose oder Myome sein
den häufigsten Gründen, weshalb Frauen gynäko-          (siehe Kapitel 2.1.8), in vielen Fällen ist allerdings
logische Praxen aufsuchen. Zu diesen wichtigen          keine Ursache bekannt oder feststellbar [52]. Mög-
gynäkologischen Themen liegen jedoch nur wenig          liche Folgen einer zu starken Regelblutung sind
belastbare Daten vor.                                   infolge eines Eisenmangels bzw. einer Eisenman-
                                                        gelanämie Beeinträchtigungen im Alltag, Müdig-
Menstruationsschmerzen                                  keit und mangelnde körperliche Belastbarkeit [51].
Viele Mädchen und Frauen haben während ihrer               Der Anteil der bei der BARMER versicherten
Regelblutung Beschwerden wie Krämpfe oder               Frauen mit der Diagnose „Zu starke, zu häufige
Unterleibsschmerzen. Bei einigen Frauen lösen           oder unregelmäßige Menstruation“ (ICD-10: N92)
270    Kapitel 7    |   Sexuelle und reproduktive Gesundheit

      Abbildung 7.1.2.1
      Anzahl der Frauen, bei denen im Rahmen eines Kontakts mit einer gynäkologischen Praxis mindestens einmal die
      Diagnose Menstruationsstörungen (ICD-10: N92), Menstruationsschmerzen (N94) bzw. Wechseljahresbeschwerden
      (N95) kodiert wurde, 2018
      Datenbasis: Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi) [15]
                  Fälle
      2.000.000

      1.600.000

      1.200.000

       800.000

       400.000

                  20 − 29 30 − 39 40 − 49 50 − 59 60 − 69 70 −79 20 − 29 30 − 39 40 − 49 50 − 59 60 − 69 70 −79 20 − 29 30 − 39 40 − 49 50 − 59 60 − 69 70 −79
                                                                                                                                     Altersgruppe (Jahre)
                       Zu starke, zu häufige oder                  Schmerz und andere Zustände im                   Klimakterische Störungen (N95)
                   unregelmäßige Menstruation (N92)               Zusammenhang mit den weiblichen
                                                                       Genitalorganen und dem
                                                                      Menstruationszyklus (N94)

      im Rahmen der ambulanten ärztlichen Versorgung                               51 Jahren angegeben. Während Rauchen mit einem
      lag 2017 bei 7,7 %. In den Altersgruppen 15 bis 24                           früheren Eintritt in die Menopause in Verbindung
      und 25 bis 39 Jahre gehörte sie mit jeweils etwa                             gebracht wird, zeigt sich ein Zusammenhang von
      16 % zu den zehn häufigsten Diagnosen [48]. Nach                             moderatem Alkoholkonsum und einem späteren
      den Abrechnungsdaten der KVen 2018 wurde die                                 Eintritt [55, 56]. Die Assoziationen mit sportlicher
      Diagnose bei 6,8 % der Patientinnen dokumentiert                             Aktivität und Body-Mass-Index (BMI) sind dage-
      (siehe auch Kapitel 2.3.4) [15]. Die Fallzahlen für                          gen nicht eindeutig [57].
      Behandlungen von Frauen aufgrund zu starker,                                     Die Wechseljahre werden von der überwiegen-
      zu häufiger oder unregelmäßiger Menstruation lie-                            den Zahl der Frauen als natürliche Lebensphase
      gen in den Altersgruppen 20 bis 29, 30 bis 39 und                            wahrgenommen, die mit mehr oder weniger star-
      40 bis 49 Jahre auf einem ähnlichen Niveau (Abb.                             ken Beeinträchtigungen einhergehen kann [58].
      7.1.2.1). Bei den 50- bis 59-Jährigen ist eine Abnahme                       Nach der aktuellen Studienlage werden jedoch nicht
      zu verzeichnen.                                                              alle körperlichen und psychischen Beschwerden,
                                                                                   die von Frauen in Zusammenhang mit den Wech-
      Wechseljahre                                                                 seljahren berichtet werden, zwangsläufig auch
      Die Wechseljahre sind ein natürlicher Prozess im                             durch diese verursacht [59]. Am häufigsten werden
      Leben von Frauen, der durch hormonelle Umstel-                               vasomotorische Symptome wie Hitzewallungen
      lungen gekennzeichnet ist. Im weiblichen Kör-                                und Schweißausbrüche berichtet. Der Zusammen-
      per verringert sich in dieser Lebensphase u. a. die                          hang weiterer Beschwerden wie Schlafstörungen,
      Produktion des weiblichen Geschlechtshormons                                 Niedergeschlagenheit, Stimmungsschwankungen,
      Östrogen. Damit werden die Regelblutungen unre-                              Ängste, sexuelle Probleme und Gelenkbeschwerden
      gelmäßig und hören schließlich ganz auf [53].                                mit den hormonellen Veränderungen in den Wech-
      Nach Auswertungen des Bundes-Gesundheitssur-                                 seljahren ist nicht eindeutig belegt, kann aber auch
      veys 1998 und der Studie zur Gesundheit Erwach-                              nicht ausgeschlossen werden [60].
      sener in Deutschland (DEGS1, 2008 – 2011) beträgt                                Wechseljahresbeschwerden sind bei Frauen
      das mittlere Alter bei der letzten Regelblutung                              über 50 Jahren der häufigste Grund für das Aufsu-
      (Menopause) in Deutschland 49,7 Jahre. Frauen                                chen einer gynäkologischen Praxis. Nach KV-Daten
      aus jüngeren Geburtsjahrgängen kommen später                                 liegen vor allem bei den 50- bis 59-jährigen Frauen
      im Leben in die Wechseljahre als ältere Frauen                               die Fallzahlen mit der Abrechnungsdiagnose „Kli-
      [54]. Nach internationalen Studien wird der Eintritt                         makterische Störungen“ in gynäkologischen Praxen
      der Menopause für Frauen in Industrieländern mit                             auf hohem Niveau (Abb. 7.1.2.1). Mit zunehmendem
Sexuelle und reproduktive Gesundheit    |   Kapitel 7   271

Abbildung 7.1.2.2
Anteil an 45- bis 65-jährigen Frauen, denen eine Hormontherapie verordnet wurde im Zeitverlauf
Datenbasis: Zusatzauswertungen zum Gesundheitsreport 2019 der Techniker Krankenkasse [64]

40
     Anteil (%)

35

30

25

20

15

10

 5

     2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018
                                                                                                Jahr

Alter sinken die Fallzahlen stetig. Auch in einem         die im Alter von 40 bis 59 Jahren mit einer 5- bis
Alter von über 70 Jahren wird bei Frauen die Diag-        14-jährigen Hormontherapie begannen, hatten ein
nose „Klimakterische Störungen“ abgerechnet [15].         höheres Risiko als Frauen im Alter von 60 bis 69
    Mitte der 1960er-Jahre kamen erstmalig Hor-           Jahren [62].
monpräparate zur Linderung von Wechseljahres-                 Nach der aktuellen S3-Leitlinie „Peri- und
beschwerden auf den Markt. Dies trug dazu bei,            Postmenopause – Diagnostik und Interventio-
dass diese Lebensphase zunehmend aus medizi-              nen“ sollte sich die Therapie von Wechseljahres-
nisch-biologischer Perspektive betrachtet und als         beschwerden an den Bedürfnissen der betroffe-
medizinisches Problem definiert wurde [58]. Zur           nen Frauen und der sich im Verlauf ändernden
Therapie von Wechseljahresbeschwerden, aber               Symptome orientieren. Eine Hormontherapie
auch als Schutz vor koronarer Herzkrankheit oder          kann gesunden Frauen mit behandlungsbedürfti-
Osteoporose wurden der Hormontherapie zahlrei-            gen Wechseljahresbeschwerden nach Aufklärung
che gesundheitliche Vorteile zugeschrieben. In der        über Nutzen und Risiken angeboten werden. Die
Women’s Health Initiative (WHI)-Studie zeigte sich        Beratung zur Hormontherapie sollte auch Infor-
im Jahr 2002 jedoch, dass Östrogene und Östrogen-         mationen darüber enthalten, dass je nachdem, wie
Gestagen-Kombinationen mit zunehmender Dauer              lange die Behandlung dauert und welche Hormone
der Einnahme eine Reihe von Nachteilen haben:             eingesetzt werden, eine Erhöhung des Brustkrebs-
Sie erhöhten u. a. die Wahrscheinlichkeit für die         risikos möglich ist [63].
Entstehung von Blutgerinnseln (Thrombosen), für               Die beschriebene Entwicklung spiegelt sich auch
Schlaganfälle und Brustkrebs [53]. 2013 und 2016          in der Anwendungshäufigkeit der Hormonthera-
wurden die Ergebnisse der WHI-Studie neu bewer-           pie wider. Nach Daten der Techniker Krankenkasse
tet; bei Frauen unter 60 Jahren schien demnach            nimmt der Anteil der Frauen, die Hormonpräparate
das absolute Risiko für koronare Herzkrankheit,           gegen Beschwerden in den Wechseljahren einneh-
Blutgerinnsel, Schlaganfälle und Brustkrebs sehr          men, kontinuierlich ab (Abb. 7.1.2.2). Die Zusatz-
gering und die Mortalität unter einer Hormonthe-          auswertungen zum Gesundheitsreport 2019 zeigen
rapie neutral oder geringer zu sein [61]. In einer        einen stetigen Rückgang von 37 % im Jahr 2000 bis
Meta-Analyse aus dem Jahr 2019 wurde dagegen              auf 6,6 % im Jahr 2018. Besonders auffällig ist der
gezeigt, dass eine Hormontherapie mit Östrogenen          Rückgang ab dem Jahr 2003.
(vor allem in der Kombination mit einem Gestagen)
das Risiko für Brustkrebs erhöht. Das Risiko ist
bei jüngeren Frauen höher als bei älteren: Frauen,
272    Kapitel 7   |   Sexuelle und reproduktive Gesundheit

      7.1.3 Infektionen der Scheide und der                    wird die Infektion zu den sexuell übertragbaren
            Harnwege                                           Erkrankungen gezählt. Zu den Krankheitssympto-
                                                               men gehören stark riechender, dünnflüssiger Aus-
      Zu den häufigsten Infektionen der Scheide (Kol-          fluss und Juckreiz [66].
      pitiden) gehören Pilzinfektionen und Infektionen             Harnwegsinfektionen gehören zu den häufigs-
      mit Trichomonaden. Ebenfalls eine große Rolle            ten bakteriell bedingten Erkrankungen [74]. Zu den
      spielt die bakterielle Vaginose – diese ist aber         unkomplizierten Harnwegsinfektionen gehören die
      eigentlich keine Infektion, sondern eine Störung         Blasenentzündung (akute Zystitis) und die Nieren­
      der Scheidenflora (sogenannte Dysbiose) [65]. Nor-       beckenentzündung (akute Pyelonephritis). Von einer
      malerweise ist die Scheide von Milchsäurebak-            wiederkehrenden Harnwegsinfektion wird gespro-
      terien besiedelt, die mit anderen Bakterien die          chen, wenn zwei oder mehrere Blasenentzündungen
      Scheidenflora bilden und einen bestimmten Säu-           pro Halbjahr (oder drei oder mehr pro Jahr) vorliegen
      regrad (pH-Wert) in der Scheide bewirken. Durch          [74]. Vor allem Frauen sind von Harnwegsinfektio-
      eine Schädigung der Scheidenflora (z. B. durch           nen betroffen, da bei ihnen die Harnröhre kürzer
      Antibiotika), Veränderungen des sauren Scheiden-         ist und Bakterien leichter als bei Männern bis in die
      milieus oder Östrogenmangel werden Scheidenin-           Blase gelangen können. Eine untere Harnwegsin-
      fektionen begünstigt [66]. Schätzungen aus wis-          fektion (Zystitis) wird angenommen, wenn sich die
      senschaftlichen Studien zufolge wird bei Frauen          Symptome nur auf den unteren Harntrakt begren-
      mit Beschwerden im Bereich der Scheide in 22 %           zen, z. B. Schmerzen beim Wasserlassen, schwer
      bis 50 % eine bakterielle Vaginose, in 17 % bis 39 %     beherrschbarer Harndrang und häufiges Wasser-
      eine Pilzinfektion und in 4 % bis 35 % eine Infek-       lassen in kleinen Mengen. Wenn zusätzlich weitere
      tion mit Trichomonaden festgestellt [67].                Beschwerden wie Schmerzen im Nierenlager oder
          Bei der bakteriellen Vaginose siedeln sich ver-      Fieber auftreten, kann auch eine obere Harnwegsin-
      mehrt Bakterien in der Scheide an, die dort sonst        fektion (Pyelonephritis) vorliegen [75].
      nur vereinzelt vorkommen, vor allem sogenannte               Nach Auswertungen von Routinedaten für Ver-
      Gardnerellen und andere anaerob wachsende Bakte-         sicherte der BARMER wurde 2013 bei 9 % der Mäd-
      rien [65, 66, 68]. Ursache ist eine Veränderung der      chen und Frauen ab zwölf Jahren die Diagnose einer
      Scheidenflora. Bakterielle Vaginosen können durch        Harnwegsinfektion gestellt. In der Altersgruppe der
      Geschlechtsverkehr ausgelöst werden, gehören aber        20- bis 29-Jährigen beträgt die Abrechnungspräva-
      nicht zu den sexuell übertragbaren Infektionen. Das      lenz dieser Diagnose etwa 12 %. Dies könnte mit
      bedeutet, dass die Erkrankung auch ohne vorange-         dem Beginn eines regelmäßigen Sexualverkehrs
      gangenen Sexualkontakt auftreten kann [69]. Bei          zusammenhängen. Geschlechtsverkehr erhöht das
      Frauen, die Sex mit Frauen haben, gibt es Hinweise       Risiko für eine Blasenentzündung, weil dabei Bak-
      auf häufigere bakterielle Vaginosen [70, 71]. Einziges   terien in die Harnröhre gelangen können. In der
      Symptom ist in der Regel grau-weißlicher dünnflüs-       Menopause treten Blasenentzündungen durch die
      siger Ausfluss mit fischartigem Geruch.                  Veränderung der Scheidenflora häufiger auf. In der
          Eine genitale Pilzinfektion wird in etwa 80 % der    Altersgruppe der 60- bis 69-Jährigen sind 17 %, in
      Fälle durch den weitverbreiteten Pilz Candida albi-      der Altersgruppe der 70- bis 79-Jährigen 11 % der
      cans verursacht. Candida-Subtypen gehören aber           Frauen betroffen. Mit etwa 20 % liegt die Prävalenz
      auch zur normalen Scheidenflora. Erst bei hoher          bei den 80-Jährigen und Älteren am höchsten [74].
      Keimzahl oder Abwehrschwäche kommt es zu einer
      symptomatischen Entzündung. Zu den typischen
      Beschwerden gehören Juckreiz und brennendes              7.1.4 Sexuelle Funktionsstörungen
      Gefühl sowie Rötungen und grau-weißliche Beläge
      mit krümeligem Ausfluss [66]. Etwa drei Viertel          Über die Lebensspanne betrachtet ist Sexuali-
      aller Frauen haben irgendwann in ihrem Leben             tät mit Veränderungen verbunden. So berichtet
      eine Pilzinfektion [72, 73].                             die Mehrzahl der Frauen von Phasen mit weni-
          Trichomonaden sind einzellige Parasiten; eine        ger ausgeprägtem sexuellen Verlangen oder einer
      Infektion mit ihnen wird Trichomoniasis genannt.         Abnahme sexueller Lust, vor allem in längeren
      Die Übertragung erfolgt vorwiegend sexuell, daher        Beziehungen [29]. Körperliche Erkrankungen wie
Sexuelle und reproduktive Gesundheit     |   Kapitel 7   273

eine Gebärmuttersenkung, aber auch Endometriose        Frauen gaben an, stark oder sehr stark unter den
(siehe Kapitel 2.1.8), Diabetes mellitus, Hormonver-   sexuellen Schwierigkeiten in der Partnerschaft
änderungen in den Wechseljahren oder psychische        zu leiden [80]. Die Ergebnisse zeigen auch, dass
Erkrankungen wie Depressionen können das sexu-         Sexualität in festen Beziehungen von belastenden
elle Wohlbefinden beeinflussen. Auch Operationen       Lebensumständen, Stress, Zeitmangel, Erkrankun-
aufgrund einer Krebserkrankung wie die Entfer-         gen, Verhütungsproblemen, Ängsten, Erwartungen
nung der Brust oder der Gebärmutter können bei         und anderen Faktoren beeinflusst sein kann [80].
Frauen das eigene Körperempfinden verändern und           Wie bereits im Kapitel 7.1.1 beschrieben, hat
sich negativ auf die Sexualität auswirken. Organi-     sich die Bedeutung der Sexualität, bedingt durch
sche Ursachen für sexuelle Funktionsstörungen          die sogenannte sexuelle Revolution, im zeitlichen
können, müssen aber nicht vorhanden sein.              Verlauf deutlich gewandelt. Im Zuge der sexuel-
    International werden sexuelle Funktionsstö-        len Liberalisierung ist offenbar auch der Druck
rungen bei Frauen als „female sexual disorders“        auf Frauen gestiegen, neuen sexuellen Normen
bezeichnet. Hierzu zählen ein vermindertes sexu-       zu entsprechen und Sexualität als etwas Lust- und
elles Verlangen, sexuelle Aversion, sexuelle Erre-     Genussvolles zu erleben. Dies kann mit Frustration
gungsstörung, Orgasmusstörungen oder Schmerz-          einhergehen und somit das Risiko für die Entste-
störungen wie Vaginismus (Verkrampfung der             hung von sexuellen Funktionsstörungen erhöhen
Scheide) und Dyspareunie (Schmerzen beim               [78]. Die in der oben genannten Studie befragten
Geschlechtsverkehr). Eine sexuelle Funktionsstö-       Studentinnen formulierten aber auch Erwartungen:
rung besteht per Definition nur dann, wenn die         Viele gaben an, dass es für sie nicht ausreicht, beim
Frau unter ihr leidet [76]. Können die betroffenen     partnerschaftlichen Geschlechtsverkehr nur selten
Frauen mit den beschriebenen Phänomenen gut            zum Orgasmus kommen. Sie sahen es als Frage
leben, dann besteht keine behandlungsbedürftige        der Gleichberechtigung, den weiblichen Orgasmus
Funktionsstörung [77]. Laut Studien berichten 25 %     nicht hinter den männlichen zurückzustellen [80].
bis 63 % der Frauen über ein sexuelles Problem;
sexuelle Funktionsstörungen, die einer klinischen
Diagnose entsprechen, sind jedoch deutlich selte-        Exkurs: Körpermodifikationen und Schön-
ner [78]. Diagnosedaten der Krankenhausstatistik         heitsoperationen
zeigen bei Frauen einen Rückgang der stationä-           Physische Schönheit ist ein Ideal, das von vielen
ren Behandlungen aufgrund von sexuellen Funk-            Menschen angestrebt wird. Dies äußert sich z. B.
tionsstörungen als Hauptdiagnose. Eine weitaus           im Streben nach und in der Arbeit an der eigenen
höhere Zahl an Krankenhauspatientinnen weist             Attraktivität. Eine besondere Form der Verände-
eine Nebendiagnose auf, wobei spezifische Diagno-        rungen des menschlichen Körpers aus ästheti-
sen und behandelnde Fachdisziplinen den Daten            schen Gründen sind sogenannte Körpermo­
                                                         difikationen, zu denen z. B. Tätowierungen oder
nicht zu entnehmen sind. Möglicherweise wird ein
                                                         Piercings gehören. Körpermodifikationen schei-
größerer Anteil der Nebendiagnosen in den psy-           nen als Mittel zum Ausdruck der Persönlichkeit,
chiatrischen bzw. psychotherapeutischen Fächern          aber auch zur Steigerung der sexuellen Attraktivi-
gestellt (z. B. sexuelle Funktionsstörungen in Ver-      tät und als Quelle für sexuelles Vergnügen ange-
bindung mit Depressionen) [79].                          sehen zu werden [81]. Eine repräsentative Erhe-
    Sexuelle Schwierigkeiten kommen in allen             bung der Prävalenz von Tätowierungen von in
Alters- und Bildungsgruppen vor. Einer Befra-            Deutschland lebenden Personen ab 14 Jahren
gung von Studierenden aus dem Jahr 2012 zufolge          zeigt, dass Tätowierungen vor allem bei Frauen
berichten viele heterosexuelle Studentinnen in           zugenommen haben: Der Anteil an Frauen mit
Beziehungen über sexuelle Probleme, z. B. dass           mindestens einem Tattoo stieg von 6 % im Jahr
                                                         2003 auf 11 % (2009) an und verdreifachte sich
sie zu selten Lust auf Sex haben (46 %), von Orgas-
                                                         im Jahr 2016 auf 18 %. Bei den jungen Frauen ist
musschwierigkeiten (45 %), Schmerzen beim Sex            der Anstieg noch deutlicher: Während 2003 13 %
(40 %) oder Erregungsproblemen (39 %). Männer            der Frauen im Alter von 25 bis 34 Jahren tätowiert
geben dagegen häufiger an, zu schnell zum Orgas-         waren, waren es 2009 bereits 26 % und 2016
mus zu kommen (49 %) oder häufiger Sex zu wol-           44 % [82].
len als ihre Partnerin (47 %). 14 % der befragten
274   Kapitel 7   |   Sexuelle und reproduktive Gesundheit

       Die ästhetisch-plastische Chirurgie umfasst             Der Wunsch nach einer Veränderung des Kör-
       formverändernde Eingriffe am menschlichen               pers aus ästhetischen Gründen kann auch den
       Körper. Zu den ästhetisch-plastischen Operatio-         Intimbereich betreffen. Intimmodifikationen
       nen zählen z. B. die Brustvergrößerung mit Im-          bei Frauen reichen von Scheidenverengung,
       plantat, die Augenlidkorrektur und die Fettab­          plastischer Neugestaltung der Schamlippen bis
       saugung. Nicht-operative Methoden sind die              hin zur Verkleinerung der inneren und Vergrö-
       Injektionstherapien, z. B. die Faltenbehandlung         ßerung der äußeren Schamlippen [81]. Nach Da-
       mit Botulinumtoxin oder Hyaluronsäure [81].             ten der DGÄPC sind 1,2 % der Eingriffe bei
                                                               Frauen Operationen im Intimbereich [85]. Als
       Nach Ergebnissen der jährlichen Mitglieder-
                                                               Grund für Intimmodifikationen wird u. a. ge-
       befragung der Vereinigung der Deutschen
                                                               nannt, dass sich neue Schönheitsideale entwi-
       Ästhetisch-Plastischen Chirurgen (VDÄPC)
                                                               ckeln; es entstehen normative Vorstellungen
       wurden 2018 insgesamt 77.485 gemeldete Ein-
                                                               vom Genitalbereich, nicht zuletzt durch die In-
       griffe durchgeführt; im Vergleich zum Vor-
                                                               ternetpornografie [81].
       jahr ist dies eine Steigerung von etwa 9 %.
       Der Großteil (86,3 %) derjenigen, die diese             Sowohl bei Körpermodifikationen als auch bei
       Eingriffe durchführen ließen, waren Frauen.             operativen und nicht-operativen ästhetisch-plas-
       Die häufigsten Anwendungen bei Frauen sind              tischen Eingriffen können Komplikationen auf-
       Behandlungen mit Botulinumtoxin und Hyalu-              treten. So zeigte eine englische Studie, dass bei
       ronsäure. Es folgen Lippenkorrektur, Brustver-          Piercings in etwa ein Drittel der Fälle Komplika-
       größerung sowie Oberlidstraffung [83].                  tionen wie Schwellungen, Infektionen oder Blu-
                                                               tungen auftraten [86]. Unerwünschte Effekte im
       Ähnliche Ergebnisse zeigen sich auch in der Sta-
                                                               Bereich der nicht-operativen Methoden kom-
       tistik 2018 der Deutschen Gesellschaft für Ästhe-
                                                               men vor allem bei Unterspritzungen mit soge-
       tisch-Plastische Chirurgie (DGÄPC), die auf ei-
       ner Befragung der Patientinnen und Patienten            nannten Fillern (z. B. mit Hyaluronsäure) vor;
       der DGÄPC-Mitglieder basiert. Das Durch-                hierzu zählen stärkere Lokalreaktionen, Knöt-
       schnittsalter der befragten Frauen, die sich für        chenbildung und Ulzerationen [87]. Laut einem
       eine ästhetisch-plastische Behandlung entschie-         Forschungsbericht der Bundesanstalt für Ernäh-
       den hatten, lag bei 41,2 Jahren (Männer: 41,4 Jah-      rung und Landwirtschaft aus dem Jahr 2007
       re). Gefragt nach der Motivation, gaben sowohl          zählen Schwellungen, Blutergüsse und Taub-
       Frauen als auch Männer als Hauptgrund an, dass          heitsgefühle zu häufigeren Komplikationen bei
       sie sich von dem ästhetisch-plastischen Eingriff        ästhetisch-plastischen Operationen [88]. Aktuel-
       eine körperliche Verbesserung erhofften. Im Ver-        le belastbare Daten zu dieser Thematik liegen
       gleich zu Männern wünschten sich Frauen häufi-          nicht vor.
       ger sowohl eine körperliche als auch eine psychi-
       sche Veränderung zum Positiven [84]. Aktuelle
       Daten der DGÄPC zeigen, dass auch bearbeitete
       Fotos der eigenen Person, sogenannte Selfies, die     7.2    Familienplanung und Verhütung
       Ansprüche an den eigenen Körper verändern
       können. So berichteten etwa zwei Drittel der          Eine wichtige Forderung im Hinblick auf die
       befragten Fachärztinnen und Fachärzte der             reproduktive Gesundheit ist, dass Menschen frei
       ästhe­tisch-plastischen Chirurgie, dass Patientin-    entscheiden können, ob, wann und wie viele Kin-
       nen und Patienten mit einem über ein Bild­            der sie haben möchten. Dazu gehört auch der
       bearbeitungsprogramm veränderten Selfie als           Zugang zur Empfängnisverhütung. Familienpla-
       Vorlage für eine Behandlung in ihre Praxis ge-        nung im weiteren Sinn wird nicht als separater
       kommen sind. Dies betraf vor allem Frauen im          Lebensabschnitt der Familiengründungsphase
       Alter von 18 bis 29 Jahren [85].                      aufgefasst, sondern als integraler Bestandteil der
                                                             gesamten Lebensplanung verstanden [14].
                                                                Insgesamt ist die Familienplanung in Deutsch-
                                                             land von einem niedrigen Geburtenniveau, dem
                                                             Aufschub der ersten Geburt in ein höheres Alter,
                                                             einer verbreiteten Kinderlosigkeit und vergleichs-
                                                             weise wenigen kinderreichen Familien geprägt
Sexuelle und reproduktive Gesundheit                     |   Kapitel 7   275

(siehe Kapitel 7.4 und 7.5) [89]. In den vergange-                             können sich tendenziell vorstellen, auch mehr als
nen Jahren sind sowohl ein leicht ansteigender                                 zwei Kinder zu bekommen. Dies gilt ebenfalls für
Trend beim Geburtenniveau als auch eine steigende                              Frauen und Männer mit höherer Schulbildung [13].
Geburtenhäufigkeit bei Frauen ab 40 Jahren zu                                      Zum idealen Zeitpunkt der Familiengründung
beobachten [90]. Im folgenden Abschnitt werden                                 gefragt, gibt ein Großteil der 18- bis 25-jährigen
Kennzahlen zu Familienplanung und -realisierung                                Frauen und Männer mit Kinderwunsch an, dass
sowie zur Empfängnisverhütung vorgestellt. Als                                 sie vor dem ersten Kind zunächst eine Ausbildung
Datenquellen werden vor allem die Statistik der                                abschließen und mehrere Jahre Berufserfahrung
natürlichen Bevölkerungsbewegung des Statisti-                                 sammeln möchten [13]. Dies führt zu einem Auf-
schen Bundesamtes [91] und Studien der BZgA                                    schub der ersten Geburt bis zu einem Zeitpunkt,
herangezogen. Zu nennen sind hier die Daten zum                                an dem eine finanzielle Absicherung zumindest in
Sexual- und Verhütungsverhalten von Jugendlichen                               Aussicht gestellt ist. Weitere Gründe für die Zurück-
in Deutschland [13], die Studie „frauen leben 3“ [14]                          stellung eines Kinderwunsches können eine unsi-
sowie die repräsentative Studie Verhütungsverhal-                              chere berufliche Zukunft, die fehlende Vereinbar-
ten Erwachsener 2018 [92].                                                     keit von Familie und Beruf und vor allem das Feh-
                                                                               len einer festen Partnerschaft sein [89]. Da die erste
                                                                               Menstruation immer früher eintritt, ist die Tendenz
7.2.1 Familienplanung und -realisierung                                        festzustellen, dass der zeitliche Abstand zwischen
                                                                               dem Beginn der körperlichen Möglichkeit zur Mut-
Acht von zehn Mädchen und jungen Frauen im                                     terschaft und ihrer Erwünschtheit größer wird [93].
Alter von 14 bis 25 Jahren wünschen sich Kinder.                                   Im Jahr 2018 wurden in Deutschland 787.523
Lediglich 10 % sprechen sich in der Repräsenta-                                Kinder lebend geboren [94]. Die durchschnitt­liche
tivbefragung Jugendsexualität 2015 explizit gegen                              Kinderzahl (zusammengefasste Geburtenziffer)
Kinder aus. Einen großen Einfluss auf den Kin-                                 betrug 1,57 Kinder je Frau. Die zusammengefasste
derwunsch hat das Alter (Abb. 7.2.1.1). Mit 14 oder                            Geburtenziffer gibt an, wie viele Kinder eine Frau
15 Jahren ist noch etwa ein Fünftel der Mädchen                                im Laufe ihres Lebens bekäme, wenn ihr Gebur-
unentschieden, im Alter von 21 bis 25 Jahren liegt                             tenverhalten so wäre wie das aller Frauen zwischen
dieser Anteil bei 9 % [13].                                                    15 und 49 Jahren im jeweils betrachteten Jahr [90].
    Gefragt nach der gewünschten Kinderzahl,                                   Von 1990 bis 2010 lag die Geburtenziffer auf einem
spricht sich etwa die Hälfte der Frauen und Män-                               Niveau von ungefähr 1,4 Kindern je Frau [91]. In
ner ab 18 Jahren für zwei Kinder aus. Etwa ein Fünf-                           der ehemaligen DDR war sie vor der Wende 1989
tel konnte sich noch nicht auf eine Zahl festlegen,                            deutlich höher (1980: 1,94 [95]), brach dann ein
13 % hätten gerne drei, 3 % vier oder mehr Kinder                              und stieg bis 2016 auf einen Wert von 1,64 an [96].
und 7 % gaben an, ein Kind bekommen zu wol-                                    In den letzten Jahren ist ein leicht ansteigender
len. Junge Erwachsene mit Migrationshintergrund                                Trend bei der zusammengefassten Geburtenziffer

Abbildung 7.2.1.1
Grundsätzlicher Kinderwunsch* bei 14- bis 25-jährigen Mädchen
Datenbasis: Studie Jugendsexualität 2015 [13]
          Altersgruppe (Jahre)
14 –15

16 –17

18 – 20

21 – 25

          0        10         20        30         40        50         60        70         80        90       100
              Möchte Kinder                                                                              Anteil (%)
              Möchte keine Kinder
              Weiß nicht
          *Frage: Möchten Sie einmal Kinder haben, sind Sie bzw. ist Ihre Freundin zurzeit schwanger oder haben Sie bereits ein Kind?
276    Kapitel 7      |   Sexuelle und reproduktive Gesundheit

      Abbildung 7.2.1.2
      Entwicklung der zusammengefassten Geburtenziffer im Zeitverlauf
      (alte Länder ohne Berlin-West, neue Länder ohne Berlin-Ost)
      Datenbasis: Statistik der natürlichen Bevölkerungsbewegung [96]
             Geburtenziffer je Frau
      1,8

      1,6

      1,4

      1,2

      1,0

      0,8

      0,6

            1990                 1995                 2000         2005             2010              2015       2018
                                                                                                                  Jahr
                   Alte Länder          Deutschland
                   Neue Länder

      zu beobachten. Derzeit liegt sie in den neuen Län-         zwei Kinder geboren werden, verändert sich hin-
      dern (ohne Berlin-Ost) mit 1,60 Kindern je Frau            gegen kaum [97].
      etwas höher als in den alten Ländern (ohne Ber-               Paare, die drei oder mehr gemeinsame Kinder
      lin-West) mit 1,58 (Abb. 7.2.1.2). Insgesamt gehört        haben, oder Personen mit drei oder mehr leiblichen
      Deutschland seit den 1970er-Jahren zu den Ländern          Kindern werden im Allgemeinen als kinderreich
      mit einem sehr niedrigen Geburtenniveau [89].              bezeichnet [100]. Für Deutschland werden unter-
         Das Geburtengeschehen sollte jedoch nicht nur           schiedliche Gruppen von kinderreichen Familien
      anhand von Geburtenraten beschrieben werden,               beschrieben. Neben Eltern mit geringer Bildung
      sondern auch anhand der Zahlen, wie viele Kin-             und mit Migrationshintergrund können dies auch
      der Frauen jeweils zur Welt bringen (Paritäten),           einkommensstarke Eltern oder Stieffamilien sein
      da sonst die dahinterliegenden Unterschiede im             (Familien, in welche die Partnerin oder der Partner
      Zusammenhang mit der Kinderzahl verdeckt wer-              Kinder aus einer früheren Beziehung mitgebracht
      den [97]. Die endgültige Kinderzahl je Frau wird           haben). Nach einer Trennung, Scheidung oder Ver-
      bei Frauen mit abgeschlossener Familienplanung             witwung entscheiden sich Personen zunehmend
      betrachtet. Dabei zeigt sich, dass die Kinderlosen-        für ein weiteres Kind mit ihrer neuen Partnerin
      quote zwischen den Jahrgängen 1937 und 1967 kon-           oder ihrem neuen Partner. Betrachtet man dabei
      tinuierlich zunahm und sich von 11 % auf 21 % fast         Bildungsunterschiede im Zusammenhang mit
      verdoppelt hat. Dieser Anstieg scheint sich jedoch         dem Geschlecht, so zeigt sich, dass kinderreiche
      bei den zwischen 1967 und 1974 geborenen Frauen            Frauen deutlich häufiger ein niedriges Bildungsni-
      nicht weiter fortzusetzen [98]. Nach den Ergebnis-         veau haben als kinderreiche Männer [100].
      sen des Mikrozensus lebten 2016 mehr als die                  Im europäischen Vergleich ist der Anteil an kin-
      Hälfte der Familien mit einem Kind im Haushalt             derreichen Familien in Deutschland eher gering
      (52 %), entweder weil (noch) keine Geschwister hin-        [100]. Auch ist die Kinderlosigkeit in Deutschland
      zugekommen sind oder weil ältere Geschwister das           weiter verbreitet als in anderen europäischen Län-
      Elternhaus bereits wieder verlassen haben. Mit 36 %        dern, obwohl dieser Trend mittlerweile für die meis-
      lebte etwa ein Drittel der Familien mit zwei Kindern       ten europäischen Länder gilt [101]. Dies hängt u. a.
      und 12 % mit drei oder mehr Kindern unter einem            mit einem kontinuierlich steigenden Alter bei der
      Dach [99]. Insgesamt gesehen zeigt sich, dass das          ersten Geburt zusammen. Als Gründe für den Auf-
      Geburtenniveau in Deutschland sowohl durch den             schub der ersten Geburt werden die Länge der Aus-
      Anteil an kinderreichen Familien als auch durch            bildung und unsichere Zukunftsbedingungen dis-
      Kinderlosigkeit geprägt ist. Die Häufigkeit, mit der       kutiert. Vor allem gut ausgebildete Frauen reagieren
Sexuelle und reproduktive Gesundheit     |   Kapitel 7   277

auf Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt mit einer           wurde, 46 % nutzten das Kondom. Während in den
Verschiebung der ersten Geburt. Dagegen erhöhen           Altersgruppen der 18- bis 29-Jährigen und 30- bis
sich bei Frauen mit geringerem Bildungsstand die          39-Jährigen das Kondom ebenso häufig wie die Pille
Geburtenziffern in Zeiten wirtschaftlicher Unsi-          genutzt wird und die Intrauterinspirale (mit 5 %
cherheit oder bleiben erhalten [89].                      bis 6 %) eine eher untergeordnete Bedeutung hat,
                                                          ändert sich dies bei den 40- bis 49-Jährigen. In
                                                          dieser Altersgruppe wird die Spirale mit 20 % deut-
7.2.2 Verhütung                                           lich häufiger genutzt (Abb. 7.2.2.1). Dabei zeigt sich
                                                          ein Anstieg in der Nutzung der Spirale von sieben
Über drei Viertel der Frauen in Deutschland wen-          Prozentpunkten im Vergleich zur vorhergehenden
den Methoden zur Empfängnisverhütung an. Je               Studie aus dem Jahr 2011 [92].
nach Lebensform und Partnerschaft sind Gründe,                Im Vergleich zur Studie von 2011 wird das Kon-
nicht zu verhüten, z. B. das Fehlen einer Bezie-          dom deutlich häufiger als Verhütungsmittel genutzt
hung oder sexueller Kontakte, ein Kinderwunsch            (Anstieg von 37 % auf 46 %). Dagegen ging der
oder eine Schwangerschaft [89].                           Anteil der Frauen, die die Pille nutzen, von 53 %
    Beim ersten Geschlechtsverkehr verhüten laut          auf 47 % zurück. Dies zeigt sich vor allem bei den
der Repräsentativbefragung der BZgA etwa drei Vier-       18- bis 29-Jährigen: In dieser Altersgruppe nahm
tel der 14- bis 25-jährigen Mädchen und Frauen mit        die Nutzung der Pille von 72 % auf 56 % ab. Als
dem Kondom und 48 % mit der Pille (siehe Kapitel          Grund für diesen Rückgang wird in der Studie eine
3.3.3). Mit zunehmender sexueller Erfahrung werden        eher kritische Einstellung zu hormonellen Verhü-
Kondome seltener und die Pille häufiger genutzt.          tungsmethoden angeführt. So stimmten 48 % der
Auch werden Pille und Kondom häufig kombiniert.           Befragten der Aussage zu, dass eine hormonelle
Die übrigen eingesetzten Verhütungsmethoden               Verhütung negative Auswirkungen auf Körper und
sind in Deutschland derzeit eher von untergeord-          Seele habe. 43 % lehnten die Aussage ab, dass die
neter Bedeutung [13]. Ähnliches zeigen Daten der          Pille auch für sehr junge Mädchen geeignet sei,
Techniker Krankenkasse: Demnach lag der Anteil            und 55 % die Aussage, man könne die Pille über
an Anwenderinnen der Pille unter den 14-jährigen          Jahre hinweg unbedenklich anwenden. Je jünger
Versicherten im Jahr 2013 bei etwa 6,5 %. Mit zuneh-      die Altersgruppe, desto höher war der Anteil der-
mendem Alter stieg er auf rund 40 % bei den 16-Jäh-       jenigen mit einer eher kritischen Einstellung [92].
rigen und bis zu 74 % bei den 19-Jährigen [102].              Für die BZgA-Studie „frauen leben 3“ wurden
    Daten der BZgA zum Verhütungsverhalten                20- bis 44-jährigen Frauen in vier Ländern (Baden-
Erwachsener aus dem Jahr 2018 zeigen, dass die            Württemberg, Berlin, Niedersachsen, Sachsen) zum
Pille und das Kondom die wichtigsten Verhütungs-          Thema Familienplanung befragt. Es zeigt sich, dass
mittel sexuell aktiver Frauen und Männer im Alter         die Wahl des Verhütungsmittels von verschiede-
von 18 bis 49 Jahren sind [92]. 47 % der Frauen           nen Faktoren wie dem Alter, der partnerschaftlichen
und Männer gaben an, dass mit der Pille verhütet          Lebensform (und damit der sexuellen Aktivität)

Abbildung 7.2.2.1
Genutzte Verhütungsmittel bei 18- bis 49-jährigen Frauen und Männern
Datenbasis: Verhütungsverhalten Erwachsener 2018 [92]
            Altersgruppe (Jahre)

  18 –29

  30 –39

  40 – 49

Gesamt

            0       10       20    30   40    50     60      70        80   90       100
                Pille                                                         Anteil (%)
                Kondom
                Spirale
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