Kleinstädte in Deutschland - kreditwesen.de
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IMPRESSUM Herausgeber Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) Deichmanns Aue 31–37 53179 Bonn Ansprechpartner Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung Referat RS 6 „Stadt-, Umwelt- und Raumbeobachtung“ Antonia Milbert antonia.milbert@bbr.bund.de Referat RS 7 „Baukultur, Städtebaulicher Denkmalschutz“ Lars Porsche lars.porsche@bbr.bund.de Begleitung im Bundesministerium Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat Referat SW I 5 „Grün- und Baukultur in der Stadtentwicklung“ Prof. Dr. Hagen Eyink hagen.eyink@bmi.bund.de Dr. Lara Steup lara.steup@bmi.bund.de Stand Juni 2021 Satz und Layout ORCA Affairs GmbH, Berlin Druck Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Bonn Gedruckt auf Recyclingpapier Bestellungen gabriele.bohm@bbr.bund.de; Stichwort: Kleinstädte in Deutschland Bildnachweis Titelbild: Björn Braun Schafgans DGPh: S. 4, iStock.com/clu: S. 8/9, Jürgen Hohmuth: S. 12/13, Wolkenkratzer, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons: S. 22/23, iStock.com/AzmanJaka: S. 34/35, iStock.com/fotografixx: S. 44/45, Radler59, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons: S. 62/64, iStock.com/Freder: S. 72/73, sbca: S. 82/83 Nachdruck und Vervielfältigung Alle Rechte vorbehalten Nachdruck nur mit genauer Quellenangabe gestattet. Bitte senden Sie uns zwei Belegexemplare zu. ISBN 978-3-87994-533-7 Bonn 2021
Foto: Schafgans DGPh Liebe Leserinnen und Leser, 70 % der Einwohner Deutschlands leben nicht in Großstädten, sondern in kleineren S tädten und Gemeinden. Vertraut man den jüngeren Umfragen, dann steht Kleinstädten eine gute Zukunft bevor: Mehr Menschen – auch jüngere Menschen unter 40 Jahren – würden lieber in einer Kleinstadt als in einer Großstadt leben. Das jährliche Bevölkerungswachstum vieler Großstädte nimmt wieder ab, vor allem durch negative Binnenwanderungssalden: Es ziehen mehr Menschen aus den größeren Städten raus als zuwandern. Bezahlbarer Wohn- raum ist dabei nur einer der Gründe. Gleichrangig beflügeln der Wunsch nach Überschau- barkeit, mehr Ruhe, mehr Grün, dem eigenen Heim und größerem Gemeinschaftssinn die Motivation für ein Leben auf dem Land und in der Kleinstadt. Zukunftsforscher wie Matthias Horx und Daniel Dettling benennen noch einen weiteren Aspekt, den sie unter dem Schlagwort „Glokalisierung“ zusammenfassen: Es ist gleich, wo man lebt, man ver- steht sich als Weltbürger. Aber die Gestaltungsmöglichkeiten, die Mitbestimmung und die Umsetzung drängender Zukunftsfragen wie der Klimawandel und mehr Nachhaltigkeit scheinen vielen in kleinen Städten besser als in großen Städten gegeben zu sein. Bereits jetzt leben knapp 30 % der Bevölkerung in Deutschland in Kleinstädten. Nicht alle Kleinstädte entsprechen den Vorstellungen der idyllischen Stadt im Grünen mit g uter Erreichbarkeit zur nächsten Großstadt. Die mehr als 2.100 Kleinstädte in Deutschland sind höchst unterschiedlich. Ein Teil der Kleinstädte prosperiert, ein anderer Teil der Kleinstädte schrumpft. Kleinstädte sind überwiegend beliebte Wohnorte, andere daneben auch Arbeitsmarktzentren mit teils hochmodernen Industrie- und/oder Dienstleistungs- betrieben. Fast alle Kleinstädte verfügen (noch) über die notwendige Grundversorgung, einzelne dagegen auch über spezielle Forschungs- und Serviceeinrichtungen. In all ihren Facetten übernehmen Kleinstädte eine entscheidende Rolle in der Sicherung gleichwerti- ger Lebensverhältnisse. Sie sind vor allem Ankerpunkte der regionalen Daseinsvorsorge sicherung in peripheren ländlichen Regionen.
Der vorliegende Bericht stellt die Vielfalt der Kleinstädte mittels umfangreichen grafischen und kartografischen Materials aus der Laufenden Raumbeobachtung des BBSR dar. Diese Bestandsaufnahme dient einerseits dazu, gängige Klischees aufzubrechen, die Verhältnisse in den Kleinstädten objektiv und breitgefächert darzustellen, aber auch die Herausforde- rungen der Kleinstädte zu benennen und ihre strategischen Optionen aufzuzeigen. Denn eine einfache Kopie der Handlungsstrategien aus den stark erforschten Großstädten ist vor den kleinstadtspezifischen Potenzialen und Grenzen nicht zielführend. Mit Initiativen fördert die Politik modellhafte Lösungsansätze und den Austausch zwischen den Klein- städten. Das BBSR hat bereits vor Jahren ein Forschungscluster „Kleinstadtforschung“ gegründet, um die Forschung in, für und mit den Kleinstädten zu forcieren. Dieser Bericht speist sich auch aus den Erfahrungen und Erkenntnissen aus Projekten der Kleinstadt forschung des BBSR. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre. Dr. Markus Eltges Leiter des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR)
Inhaltsverzeichnis 1 Einführung 10 2 Kleinstädte – eine Städtelandschaft 14 3 Leben und Wohnen in Kleinstädten 24 Kleinstädte als beliebte Wohnorte 24 Bevölkerungsentwicklung – Resultat der Wohnstandortentscheidungen 28 Kleinstädtische Sozialstruktur 31 4 Kleinstädte als Arbeits- und Wirtschaftszentren 36 Kleinstädte als Arbeitszentren 36 Wissensökonomie in Kleinstädten 38 Hidden Champions – Unternehmensstruktur und Innovation 41 5 Daseinsvorsorge – der Beitrag der Kleinstädte zur Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse 46 Die Rolle der Kleinstädte im Zentrale-Orte-System 46 Daseinsvorsorge und soziale Infrastruktur in Kleinstädten 50 Digitale Transformation – Breitbandausbau als Voraussetzung 55 Mobilität und Verkehrsnutzung 59 6 Gestaltungsfreiheit unter besonderen Herausforderungen 64 Kommunale Finanzen 64 Stadtverwaltung 68 Partizipation und Ehrenamt 69 7 Strategien der Stadtentwicklung 74 Smart Towns 74 Integrierte Stadtentwicklung 76 Interkommunale K ooperation 77 Kooperative Kleinstadtplanung und -entwicklung 79 8 Kleinstädte stärken – Bundesinitiativen und Städtebauförderung 84 Bundesinitiativen zur Stärkung der Kleinstädte 84 Kleinstädte in der Städtebauförderung 85 Pilotphase Kleinstadtakademie 86 Cluster Kleinstadtforschung des BBSR 88 Literaturverzeichnis90
1 Einführung Im Jahr 2012 veröffentlichte das BBSR Die datengestützte Beschreibung und den Bericht „Klein- und Mittelstädte in Analyse kleinstädtischer Strukturen und Deutschland – eine Bestandsaufnahme“. Entwicklungen zeigt den Facettenreich- Die Erstellung dieses Berichts verdeutlich- tum sowohl der Herausforderungen als te, dass wenig systematisches Wissen über auch der Potenziale der Kleinstädte. Denn Klein- und Mittelstädte vorlag. Stadtfor- die Bewältigung gesamtgesellschaftlicher schung ist nach wie vor ein Großstadtthe- Zukunftsaufgaben wird ohne den Beitrag ma. Zwar rücken Kleinstädte langsam stär- der Kleinstädte nicht gelingen. Schließ- ker in den Fokus. Aber noch immer wird lich umfassen die Kleinstädte in Gänze die Betrachtung der Bedeutung und Viel- rund 45 % der Landesfläche. Rund 24 Mil- falt der Kleinstädte nicht gerecht, was sich lionen Einwohner haben hier ihre Hei- an folgenden Beispielen zeigt: mat, das sind gut 29 % der Bevölkerung. Kleinstädte müssen sich hierbei ihrer Ge- Kleinstädte werden fast ausschließlich staltungsmacht viel stärker bewusst und im Rahmen der Entwicklung ländlicher dazu verstärkt in inner- und überregionale Räume adressiert und als tragende Säule Netzwerke eingebunden sein. der Sicherung gleichwertiger Lebens- verhältnisse in ländlichen Räumen ver- Eine essenzielle Zukunftsaufgabe ist die standen. Dabei liegt mehr als die Hälfte Transformation der Gesellschaft in nach- der Kleinstädte in der Nähe großer Zen- haltige Strukturen. Nachhaltige Entwick- tren und sichert auch dort gleichwertige lung ist spätestens seit der Rio-Deklaration Lebensverhältnisse. von 1992 eine handlungsleitende Maxime, die in vielen Städten über lokale Agenden Stadtforschung jenseits der Großstäd- aufgegriffen und gelebt wurde. Die städti- te adressiert Klein- und Mittelstädte sche Perspektive einer nachhaltigen Ent- als Gesamtkategorie „kleinere Städte“. wicklung erfuhr mit der Leipzig-Charta Jedoch stehen Kleinstädte aufgrund ih- 2007 einen besonderen Stellenwert, der in rer geringeren Größe und einer damit der Neuen Leipzig-Charta 2020 nicht nur verbundenen meist niedrigeren Aus- bekräftigt, sondern im Hinblick auf eine stattung mit städtischen (Verwaltungs-) integrierte, partizipative, gemeinwohl Einrichtungen vor eigenen Problemstel- orientierte Stadtentwicklungspolitik noch lungen, die Herausforderungen zu be- einmal geschärft wurde. Damit greift die wältigen. Neue Leipzig-Charta für die europäische Stadt das auf, worauf sich die Vereinten Kleinstädte werden nicht nur unzurei- Nationen 2016 in der New Urban Agenda chend in ihren Strukturen, ihrer Be- einigten: Die Städte sollen nicht nur grü- deutung und ihren Funktionen wahr- ner und lebenswerter werden, sondern genommen, sondern auch zu selten auch sozial inklusiver. differenziert. Denn Kleinstädte unter- scheiden sich hinsichtlich ihrer Größe, Beide politischen Dokumente betrachten ihrer Geschichte, ihrer Struktur, ihrer alle Städte jedweder Größe in globaler, na- Entwicklung und ihren Herausforde- tionaler, regionaler und lokaler Hinsicht rungen. Sie sind damit alles andere als als die Orte für den integrierten horizonta- eine homogene Städtekategorie. len und vertikalen Mehrebenenansatz. Für 10 Kleinstädte in Deutschland
Kleinstädte bedeutet dieser Mehrebenen- ner eher qualitativen Darstellung stra- ansatz, dass sie mehr als zuvor nicht nur tegischer Instrumente und politischer auf interkommunale Kooperation setzen, sowie wissenschaftlicher Aktivitäten in sondern sich viel stärker auch als gleichbe- und für Kleinstädte. Die Darstellung be- rechtigte Partner im weiteren regionalen, ginnt mit grundlegenden Erörterungen funktional zusammenhängenden Kontext zur Städtelandschaft in Deutschland, den begreifen sollten – auf Basis komplexer Abgrenzungen von Kleinstädten und der Netzwerke und vielfältiger funktionaler Heterogenität ihrer Siedlungsstrukturen Abhängigkeiten sowohl in ländlichen Re- (Kapitel 2). In den meisten Kleinstädten gionen als auch in Metropolräumen. überwiegt die Wohnfunktion. Wohnstand- ortentscheidungen für oder gegen Klein- Wann war die Bedeutung resilienter Stadt- städte sind eine wesentliche Determinante strukturen und Institutionen spürbarer, ihrer demografischen Entwicklung (Kapi- wenn nicht unter den Erfahrungen der tel 3). Daneben verfügen Kleinstädte über COVID-19-Pandemie? Die drängenden einen lokalen Arbeitsmarkt und entfalten globalen Herausforderungen wie Pande- zuweilen eine überregional oder interna mien, Klimawandel, der Verlust der Bio- tional wirtschaftliche Relevanz (Kapitel 4). diversität, Ressourcenknappheit, Migra- Die Daseinsgrundversorgung stellt eine tion, der demografische Wandel oder die Hauptaufgabe der Kleinstädte dar – unter Digitalisierung und Umwälzungen der schiedslos für peripher oder zentral gele- Wirtschaft wirken sich alle auch direkt auf gene Kleinstädte. Je dünner besiedelt ein die lokale Ebene aus. Kleinstädte sind also Raum ist, desto mehr übernehmen Klein- sowohl Betroffene globaler Veränderungen städte die Funktion von regionalen Zent- als auch Handelnde in der Bewältigung ren (Kapitel 5). Um ihre vielfältigen Auf- dieser vielfältigen Herausforderungen. gaben wahrnehmen zu können, benötigen Kleinstädte hinreichende Ressourcen, so- Den Ansprüchen an inklusiv, sicher, wi- wohl finanzieller Art als auch hinsichtlich derstandsfähig und nachhaltig gestalteten des Verwaltungspersonals und des zivilge- Städten steht ein Angebot der für Stadt sellschaftlichen Engagements (Kapitel 6). entwicklung zuständigen Ministerinnen Die knappen Ressourcen zielgerichtet und und Minister gegenüber: Um ihre Ziele zu gewinnbringend einzusetzen, leitet über erreichen, möchten sie den Informations- auf die Strategien und Handlungsmöglich- austausch auf allen Ebenen unterstützen, keiten von Kleinstädten, im Wesentlichen die nationalen Stadtentwicklungspolitiken auf die Nutzung digitaler Lösungen, die und die bestehenden strategischen Part- integrierte und die kooperative Stadtent- nerschaften auf allen Ebenen besser ver- wicklung (Kapitel 7). Am Schluss steht knüpfen. Zudem sollen die Förderbedin- ein kurzer Überblick über die Stadtent- gungen und -instrumente weiterentwickelt wicklungspolitik des Bundes und die For- werden, so dass sie an die spezifische Situa- schung des BBSR zur Unterstützung der tion vor Ort angepasst werden können. Kleinstädte (Kapitel 8). Der vorliegende Bericht besteht aus zwei Teilen: einer umfassenden quantitativ empirischen Bestandsaufnahme und ei- Einführung 11
Foto: Jürgen Hohmuth
Kleinstädte – eine Städtelandschaft
2 Kleinstädte – eine Städtelandschaft Deutschland durchzieht ein dichtes Städte Eingemeindungen, die sich unterschied- netz, in das sich Kleinstädte in allen Lan- lich ausprägen können. Diese können, desteilen einfügen, wie ein Blick auf die statistisch gesehen, zum Fortbestehen nachfolgende Karte 1 zeigt. Sie sind wesent- von Kleinstädten, dem Neuentstehen von licher Garant der deutschen Raumstruktur Kleinstädten, z. B. durch den Zusammen- und des polyzentrischen Siedlungssystems. schluss mehrerer Landgemeinden, und auch zum Verschwinden von Kleinstädten, Die Verteilung der Kleinstädte im Bun- z. B. durch Eingemeindungen in Mittel- desgebiet ist heterogen und hat historische und Großstädte, führen. Gründe. Einerseits befinden sich sied- lungsgeschichtlich viele Kleinstädte ent- Um eine Karte der Kleinstädte in Deutsch- lang der Flüsse, in neuerer Zeit auch ent- land zu erstellen und mit Daten gestützte lang der überregionalen Fernverkehrswege Aussagen zur Situation von Kleinstädten von Schiene und Straße. Andererseits zeigt treffen zu können, bedarf es einer Abgren- sich der Einfluss von Gebietsreformen und zung von Kleinstädten gegenüber Land- gemeinden einerseits sowie Mittel- und Großstädten andererseits. Das BBSR trifft Infobox 1: Stadt- und Gemeindetyp diese Abgrenzung mithilfe der Einwoh- Der Stadt- und Gemeindetyp des BBSR ordnet die Gemeinden und Gemein- nerzahl und der zentralörtlichen Funk- deverbände in die Kategorien Groß-, Mittel-, Kleinstädte und Landgemeinden. tion, die Städten und Gemeinden durch Die beiden Kriterien für die Abgrenzung des Stadt- und Gemeindetyps sind die Planungsämter der Länder zugewiesen die Größe der Gemeinde (Bevölkerungszahl) und ihre zentralörtliche Funktion wird. Als Kleinstädte gelten demnach nicht gemäß Landesplanung. Hat eine Gemeinde innerhalb eines Gemeindeverbands nur Gemeinden, die zwischen 5.000 und oder die Gemeinde selbst mindestens 5.000 Einwohner oder mindestens grund- 20.000 Einwohner haben, sondern auch zentrale Funktion mit mittelzentraler Teilfunktion, gilt diese als „Stadt“: kleinere Gemeinden, die über mindestens Großstadt: Die größte Gemeinde eines Gemeindeverbands oder die eine mittelzentrale Teilfunktion verfügen Gemeinde hat mindestens 100.000 Einwohner. Diese Städte haben meist (siehe Infobox 1). oberzentrale Funktion, mindestens jedoch mittelzentrale. Aktuell (Gebietsstand 31. Dezember 2019) Mittelstadt: Eine Gemeinde eines Gemeindeverbands oder die Gemeinde hat 20.000 bis unter 100.000 Einwohner oder mindestens oberzentrale gibt es nach dieser Abgrenzung in Deutsch- Funktion. land 2.126 Kleinstädte. 24,2 Millionen Ein- wohner, also 29 % aller Einwohner, leben Kleinstadt: Eine Gemeinde eines Gemeindeverbands oder die Gemeinde hat in Kleinstädten – und damit annähernd so 5.000 bis unter 20.000 Einwohner oder mindestens grundzentrale Funktion viele wie in den 80 Großstädten. Hinsicht- mit mittelzentraler Teilfunktion. lich der Fläche und der Anzahl sind Klein- Die Gruppe der Kleinstädte lässt sich unterscheiden in größere Kleinstädte städte sogar der dominierende Stadttyp mit mindestens 10.000 Einwohnern in der Gemeinde eines Gemeindever- (vgl. Abbildung 1). bands oder der Gemeinde sowie kleine Kleinstädte mit weniger als 10.000 Einwohnern. Eine Unterscheidung in größere Klein- Landgemeinde: Eine Gemeinde eines Gemeindeverbands oder die Gemein- städte mit mindestens 10.000 Einwoh- de hat weniger als 5.000 Einwohner und keine bedeutende zentralörtliche nern (881 Städte bzw. 41 %) und klei- Funktion. ne Kleinstädte unter 10.000 Einwohner (1.245 Städte bzw. 59 %) ist je nach thema- Quelle: BBSR (o. J. a) tischem Zusammenhang sinnvoll. Auch eine Differenzierung des regionalen Be- zugs führt bereits zu differenzierten Aus- 14 Kleinstädte in Deutschland
Karte 1: Kleinstädte in Deutschland 2019 DK Kiel Rostock Hamburg Schwerin Bremen PL Berlin Hannover NL Potsdam Magdeburg Bielefeld Cottbus Essen Dortmund Halle/S. Düsseldorf Kassel Leipzig Erfurt Köln Dresden Chemnitz Bonn BE Frankfurt/M. CZ Wiesbaden Mainz LU Mannheim Nürnberg Saarbrücken FR Stuttgart Ulm München AT Freiburg i.Br. CH 100 km © BBSR Bonn 2021 Kleinstädte, Stand 2019 Lagetyp Großstädte Flüsse Größere Kleinstädte sehr zentral (10.000 bis 20.000 Einwohner) Mittelstädte Bundesautobahnen zentral Kleine Kleinstädte DB-Fernstreckennetz peripher (unter 10.000 Einwohner) sehr peripher Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung des BBSR, Kleinstädte sind Gemeinden oder Gemeindeverbände Geometrische Grundlage: Gemeinden und Gemeinde- mit einer Gemeinde der Größe 5.000 bis 20.000 Einwohner oder verbände (generalisiert), 31.12.2019 © GeoBasis-DE/BKG mit mindestens grundzentraler Funktion mit mittelzentraler Teilfunktion Bearbeitung: A. Milbert Kleinstädte – eine Städtelandschaft 15
Abbildung 1: Bedeutung der Kleinstädte als Stadttyp in Deutschland 2019 Gemeinden Fläche Bevölkerung Anteil der Gemeinden in % Anteil der Fläche in % Anteil der Bevölkerung in % 50 50 50 40 40 40 30 30 30 20 20 20 10 10 10 1,7 % 13,7 % 46,0 % 38,5 % 3,9 % 16,0 % 46,5 % 33,6 % 32,0 % 28,8 % 29,4 % 9,8 % (80) (634) (2.126) (1.779) (13,8) (57,1) (166,4) (120,3) (26,6) (23,9) (24,4) (8,2) 0 0 0 Groß- Mittel- Klein- Land- Groß- Mittel- Klein- Land- Groß- Mittel- Klein- Land- städte städte städte gemeinden städte städte städte gemeinden städte städte städte gemeinden (Anzahl Gemeinden und Gemeindeverbände) (Gemeindefläche in 1.000 km2) (Bevölkerung in Millionen) Quelle: Statistik des Bundes und der Länder, Laufende Raumbeobachtung des BBSR © BBSR Bonn 2021 sagen hinsichtlich Herausforderungen und Kleinstädte als Siedlungstyp haben in den Potenzialen von Kleinstädten. Gegenüber sehr unterschiedlich strukturierten Flä- der Dimension Stadt–Land hat die Dimen- chenländern eine entsprechend unter- sion Zentrum–Peripherie (vgl. Infobox 2) schiedliche Bedeutung (vgl. Tabelle 1). In für die Entwicklung von Gemeinden und Brandenburg, Hessen, Rheinland-Pfalz Regionen an Bedeutung gewonnen. In als und Saarland leben rund 40 % und mehr zentral definierten Gebieten ist das Po- Einwohner in Kleinstädten. Die durch- tenzial an erreichbarer Bevölkerung und schnittliche Einwohnerdichte der Klein- Beschäftigten überdurchschnittlich (vgl. städte in den Bundesländern zeigt je- BBSR o. J. b). Daseinsvorsorgeeinrichtun- doch, dass von sehr unterschiedlichen gen z. B. entfalten dort eine andere Tragfä- städtischen Strukturen auszugehen ist. In higkeit als in peripheren Lagen, in denen Ostdeutschland mit den umfangreichen dieses Potenzial unterdurchschnittlich ist. Gebietsreformen und teils sehr dünn be- siedelten Gebieten sind die Kleinstädte In zentralen Lagen sind Kommunen häu- deutlich größer und geringer verdichtet. figer wachsend und in peripheren eher Vor allem die jüngere Entwicklung – de- schrumpfend (Milbert 2017: 84). Diese mografischer Wandel und Abwanderung Agglomerationseffekte, die sich durch die begleitet von Gebietsreformen in Teilen Lage ergeben, sind für viele Fragestellun- des Landes – ist eine Ursache für die dis- gen relevant. Alternativ können die Ein- perse Siedlungsstruktur der Kleinstädte. zugsbereiche der Großstädte zur Beschrei- bung von Lagevorteilen herangezogen In den stärker verdichteten Agglomerati- werden. Da Agglomerationseffekte auch onen weisen viele Kleinstädte meist auch für Kleinstädte relevant sind, werden die eine höhere Siedlungsdichte auf (vgl. Kar- großräumige Lage und die großstadtregi- te 2). In peripheren ländlichen Regionen onalen Pendlereinzugsbereiche in diesem ist dagegen in den meisten Kleinstädten Bericht häufig zur Unterscheidung der die Siedlungsdichte eher gering. Kom- großen, heterogenen Gruppe der Klein- pakte, durch einen zusammenhängenden städte herangezogen. Siedlungskern strukturierte Kleinstädte 16 Kleinstädte in Deutschland
Infobox 2: Stadt-Land oder Zentralität-Peripherie In Raumanalysen und in der Stadtforschung Die Nähe zu den Räumen mit einem großen werden häufig noch tadt und Land als Gegen- Angebot an Beschäftigungsmöglichkeiten und satzpaar genutzt. Bilder des ländlichen Raumes Versorgungseinrichtungen ist entscheidend gelten – abgesehen von den siedlungsstruk- für die Lagegunst und damit für die Wettbe- turellen Merkmalen wie geringer Besiedlungs- werbsfähigkeit von Regionen. Diese Nähe wird dichte, lockerer Bebauung und Abgelegenheit ermittelt über das innerhalb von zwei Stunden – jedoch als weitgehend überholt. Die Lebens- Fahrzeit im motorisierten Individualverkehr verhältnisse zwischen Stadt und Land haben erreichbare Tagesbevölkerungspotenzial sich weitgehend angeglichen. In der Regel sind (Einwohner zuzüglich Einpendler abzüglich die wirtschaftlichen, sozialen und infrastruk- Auspendler) für alle Gemeindeverbände. Die turellen Unterschiede innerhalb ländlicher Einteilung der Gemeinden nach erreichbarer und städtischer Räume wesentlich größer als Tagesbevölkerung in vier Kategorien „Lage“ jene zwischen diesen beiden Raumkategorien orientiert sich am Mittelwert aller Gemeinden (Küpper 2020: 5). Auch die landwirtschaftliche von 183.000 und der Streuung um diesen Prägung für ländliche Räume gilt nur noch im Mittelwert: Hinblick auf die Flächennutzung. 2016 arbeite- sehr zentral: 410.000 und mehr ten in ländlichen Regionen im Durchschnitt nur noch zwei bzw. drei Prozent der Erwerbstätigen zentral: 183.000 bis 410.000 in der Agrar- und Forstwirtschaft oder Fischerei peripher: 81.000 bis 183.000 (Hundt/Magarian/Peters 2020: 30). sehr peripher: unter 81.000 Dagegen ist es von hoher Bedeutung, ob eine Stadt oder Gemeinde zentral, also in der Nähe (vgl. Karte 1 und Abbildung 2) von Metropolen, Großstädten oder Agglo- merationen, liegt. Die BBSR-Typisierung der Quelle: BBSR (o. J. b) räumlichen Lage beruht auf einer Betrachtung der Konzentration von Bevölkerung und Ar- beitsplätzen und der Nähe zu diesen Räumen. Abbildung 2: Kleinstädte nach zentraler und peripherer Lage 2019 Gemeinden Fläche Bevölkerung Anteil der Gemeinden in % Anteil der Fläche in % Anteil der Bevölkerung in % 30 30 30 25 25 25 20 20 20 15 15 15 10 10 10 5 5 5 0 0 0 Größere Kleinstädte Kleine Kleinstädte Größere Kleinstädte Kleine Kleinstädte Größere Kleinstädte Kleine Kleinstädte sehr zentral zentral peripher sehr peripher Quelle: Statistik des Bundes und der Länder, Laufende Raumbeobachtung des BBSR © BBSR Bonn 2021 Kleinstädte – eine Städtelandschaft 17
Tabelle. 1: Kleinstädte nach Bundesländern 2019 Landesfläche Landesbevölkerung durchschnitt- Anzahl Kleinstädte der Kleinstädte der Kleinstädte liche Einwoh- nerdichte der Kleinstädte in Bundesland Anzahl Anteil km² Anteil absolut Anteil E./km² Baden-Württemberg 303 65,6 19.917 55,7 4.267.186 38,4 214 Bayern 498 31,9 27.716 39,3 4.521.238 34,4 163 Brandenburg 97 49,0 11.882 40,1 1.035.002 41,0 87 Hessen 244 57,1 12.237 58,0 2.479.647 39,4 203 Mecklenburg-Vorpommern 43 37,1 7.864 33,8 475.492 29,6 60 Niedersachsen 238 55,2 26.466 55,5 2.961.163 37,0 112 Nordrhein-Westfalen 183 46,2 13.764 40,3 2.337.835 13,0 170 Rheinland-Pfalz 102 57,3 11.372 57,3 1.889.931 46,2 166 Saarland 43 82,7 1.754 68,2 532.919 54,0 304 Sachsen 137 44,3 8.465 45,9 1.343.792 33,0 159 Sachsen-Anhalt 80 65,6 11.642 56,9 807.072 36,8 69 Schleswig-Holstein 76 44,7 6.205 39,3 1.044.595 36,0 168 Thüringen 82 42,9 7.075 43,7 728.153 34,1 103 Bund insgesamt 2.126 46,0 166.359 46,5 24.424.025 29,4 147 Anm.: Stadtstaaten nicht aufgeführt, in der Summe Bund jedoch berücksichtigt Datenbasis: Laufende Raumbeobachtung des BBSR gibt es dabei relativ selten. Häufigste Ur- – Einwohner in Bezug auf die Siedlungs- sache für eine disperse Stadtstruktur mit und Verkehrsfläche – besser die städtischen mehreren Siedlungsschwerpunkten sind Strukturen widerspiegelt als die Einwohner- dabei die Gebietsreformen der 1970er-Jah- dichte – Einwohner in Bezug auf die gesam- re in Westdeutschland und der 1990er- te Katasterfläche. Wie das Beispiel der Stadt und 2000er-Jahre in Ostdeutschland (siehe Drebkau in Brandenburg mit der niedrigs- auch Infobox 3). ten auf die Siedlungs- und Verkehrsfläche bezogenen Dichte aller Kleinstädte zeigt, Abbildung 3 zeigt beispielhaft für die jeweils können Kleinstädte siedlungsstrukturell kleinste, mittlere und größte Kleinstadt, Dörfern und Landgemeinden ähnlich sein. wie heterogen die Gruppe der Kleinstädte Dagegen können andere Kleinstädte eine strukturiert ist. Die flächenkleinste Klein- Siedlungsdichte aufweisen, die dicht besie- stadt Eichwalde in Brandenburg umfasst delten Großstädten nahekommt, wie das knapp 3 km² Katasterfläche, aber 6.400 Ein- Beispiel Steinbach im Taunus belegt. Eine wohner. Nicht nur Gemeindeverbände wie enge Bebauung mit Mehrfamilien- und das Amt Südtondern sind flächenmäßig so Hochhäusern ist hier umgeben von Äckern, groß wie kleinere Landkreise, sondern auch Wiesen und Wäldern. amts- bzw. verbandsfreie Gemeinden, die über Eingemeindungen und Gemeindezu- Die durch viele Ortsteile geprägte Stadt- sammenschlüsse eine disperse Siedlungs- struktur bedeutet für die Stadtverwaltung struktur aufweisen. mannigfaltige Herausforderungen. An erster Stelle steht hierbei die Frage nach Der administrative Zuschnitt einer Ge- einer geeigneten Strategie für die Zentra- meinde kann die Dichteverhältnisse stark lisierung oder Dezentralisierung von Ein- beeinflussen, weshalb die Siedlungsdichte richtungen der sozialen Infrastruktur wie 18 Kleinstädte in Deutschland
Karte 2: Siedlungsstruktur der Kleinstädte 2019 DK Kiel Rostock Hamburg Schwerin Bremen PL Berlin Hannover NL Potsdam Magdeburg Bielefeld Cottbus Essen Dortmund Halle/S. Düsseldorf Kassel Leipzig Erfurt Köln Dresden Chemnitz Bonn BE Frankfurt/M. CZ Wiesbaden Mainz LU Mannheim Nürnberg Saarbrücken FR Stuttgart Siedlungsdichte aller Städte und Gemeinden Ulm München AT Freiburg i.Br. CH 100 km Kleinstädte Einwohner je km2 Siedlungs- mit mehreren Siedlungsgebieten aus zusammen- und Verkehrsfläche 2019 hängenden hochverdichteten Rastern* bis unter 750 mit einem Siedlungsgebiet aus zusammen- 750 bis unter 1.000 hängenden hochverdichtetern Rastern* (monozentrisch) 1.000 bis unter 1.500 zentrale Lage 1.500 bis unter 2.500 * Basis sind 500 x 500 m-Rasterzellen, hochverdichtet sind 2.500 und mehr Rasterzellen mit einer Einwohnerdichte von 450 E./km˜ und mehr Datenbasis: Flächenerhebung nach Art der tatsächlichen Nutzung des Bundes und der Länder, Zensusdatenbank des Bundes und der Länder, Laufende Raumbeobachtung des BBSR, Geometrische Grundlage: Gemeinden und Gemeindeverbände (generalisiert), 31.12.2019 © GeoBasis-DE/BKG Bearbeitung: A. Milbert © BBSR Bonn 2021 Kleinstädte – eine Städtelandschaft 19
Infobox 3: Gebietsreformen und Eingemeindungen Ziel von Gebietsreformen, Eingemeindungen und Zusammenle- gelt wird, dass vormals eigenständige Dörfer und Gemeinden gungen von Gemeinden war und ist die Verbesserung der Effizie Entscheidungen zur Gestaltung ihrer Orte nicht mehr selbständig und Effektivität der Verwaltung. Territorialreformen haben eine treffen können bzw. eigene finanzielle ittel fehlen, um örtliche lange Geschichte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts z. B. wurden Entwicklungsmaßnahmen in kleinerem Umfang durchzuführen. im Ruhrgebiet viele zuvor flächenha t kleine Städte und ihre Die kommunale politische Entscheidungsfindung wi d zudem als umliegenden Dörfer – „Dörfer mit Mauern“ – zu großen Industrie- zu weit „entfernt“ (sowohl physisch als auch mental) betrachtet. städten mit entsprechend vielen Stadt- und Ortsteilen zusammen- Der Dritte Bericht der Bundesregierung zur Entwicklung ländlicher geschlossen. Die großen Gebietsreformen der 1970er-Jahre in der Räume konstatiert zudem, dass durch die „Zusammenlegung von BRD standen ebenso unter diesem Postulat der Effizienz eige- Behörden-, Bildungs- und Gerichtsstandorten, die Privatisierung rung. Zunehmend wurden sie jedoch hinterfragt; dies nicht nur früher staatlicher Infrastrukturverwaltungen wie Bahn und Post mit Blick auf die fehlenden erhofften finanziellen oder erwal- sowie [den] Personalabbau bei Staat und Kommunen “ (BMEL tungstechnisch positiven Wirkungen, sondern auch hinsichtlich 2020: 61) die Wahrnehmbarkeit institutioneller Einrichtungen, und der Identität der Bevölkerung mit den „neuen“ Städten. Nach der letztlich auch des Staates, vor Ort abgenommen hat. Wiedervereinigung erfolgten Gebietsreformen in den östlichen In der sehr kontrovers geführten Diskussion um Gebietsreformen Bundesländern, die mit der Begründung der Verwaltungseffi- und Eingemeindungen wird der Verlust des Wirgefühls, der Verbun- zienz im Zuge starker Bevölkerungsverluste bis heute anhalten denheit und daraus resultierend die Abnahme des Engagements (vgl. Abbildung 4). Nicht selten kam es für viele Kleinstädte, wie bemängelt. Im Gegenzug verweisen Befürworter darauf, dass grö- zuvor in den westlichen Bundesländern, zu einer „Verdörflichung ßere Verwaltungseinheiten auf regionaler und Landebene besser der Kleinstädte. Beispielsweise bezeichnet sich Bad Berleburg wahrgenommen und gehört werden. Somit würden diese Kommu- in Nordrhein-Westfalen als „Stadt der 100 Dörfer“. Möckern in nen im Ringen um Infrastrukturen und finanzielle ittel profitie en. Sachsen-Anhalt besteht aus 27 Ortschaften, die zuvor selbständige Aktuell zeigen sich zwei Tendenzen: Freiwillige Zusammenschlüsse, Gemeinden waren, und setzt sich aus 50 Ortsteilen zusammen. in die die Bürger und Bürgerinnen schon von Beginn an aktiv einbe- Das Amt Südtondern umfasst 594,4 km² und entspricht dem Fest- zogen werden, sowie interkommunale Kooperationen, bei denen landteil des bis 1970 existierenden Landkreises Südtondern. die Kommunen eigenständig bleiben, aber ausgewählte Aufgaben Dass sich durch die kommunalen Neugliederungen bzw. Einge- freiwillig geteilt bzw. in Gegenseitigkeit bearbeitet werden. (vgl. meindungen die Leistungsfähigkeit der Verwaltungen gesteigert Kapitel 7 „Interkommunale Kooperation“). hat und Kosten eingespart wurden, ist bis heute ein strittiger Punkt in der Analyse von durchgeführten Gebietsreformen. Bemän- Quelle: Sandmann, 2020 Abbildung 4: Wirkung der Gemeindegebietsreformen in Sachsen-Anhalt auf Anzahl und Fläche der Gemeinden 1990 2005 2019 Gemeindegebietsreformen 2010 1.364 Gemeinden 1.056 Gemeinden 218 Gemeinden Quelle: Verändert nach Sandmann (2020) Geometrische Grundlage: Gemeinden (generalisiert), 31.12.1990, 31.12.2005 und 31.12.2019 © GeoBasis-DE/BKG Bearbeitung: A. Milbert 20 Kleinstädte in Deutschland
Abbildung 3: Siedlungsstrukturen von Kleinstädten in ihren extremen Ausprägungen 2019 Kataster°äche in k m˜ 1.000 Einwohner Siedlungsdichte in E. je km˜ 600 Südtondern 45 Rhein-Selz 6.000 Steinbach (Taunus) (Schleswig-Holstein) (Rheinland-Pfalz) (Hessen) 594 km˜, 39.738 Einwohner, 146 km˜, 41.491 Einwohner, 4 km˜, 10.665 Einwohner, 632 E. je km˜ Siedlungs- und Verkehrs°äche 1.781 E. je km˜ Siedlungs- und Verkehrs°äche 5.673 E. je km˜ Siedlungs- und Verkehrs°äche 40 500 5.000 35 400 30 4.000 25 300 3.000 20 15 Malente 200 2.000 (Schleswig-Holstein) Ruppichterroth 69 km˜, 10.864 Einwohner, (Nordrhein-Westfalen) 1.200 E. je km˜ Siedlungs- und Verkehrs°äche 62 km˜, 10.420 Einwohner, 10 1.257 E. je km˜ Siedlungs- und Verkehrs°äche Frankenblick 100 (Thüringen) 1.000 61 km˜, 5.729 Einwohner, 989 E. je km˜ Siedlungs- und Verkehrs°äche 5 Lupburg Eichwalde (Bayern) Drebkau 0 (Brandenburg) 30 km˜, 2.401 Einwohner, 0 (Brandenburg) 0 3 km˜, 6.420 Einwohner, 684 E. je km˜ Siedlungs- und Verkehrs°äche 144 km˜, 5.509 Einwohner, 2.404 E. je km˜ Siedlungs- und Verkehrs°äche 178 E. je km˜ Siedlungs- und Verkehrs°äche Kleinstadt mit dem niedrigtsten, mittleren, höchsten Wert administrative Grenzen dieser Kleinstädte (Gemeinde bzw. Gemeindeverband, Maßstab 1:500.000) Kleinstadt Einwohner je 1 ha-Raster: unter 25 25 bis unter 50 50 und mehr Datenbasis: Zensusdatenbank der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, Laufende Raumbeobachtung des BBSR, Geometrische Grundlage: Raster 100 m Kantenlänge, Gemeinden und Gemeindeverbände, 31.12.2019 © GeoBasis-DE/BKG © BBSR Bonn 2021 Schulen und Kindergärten (vgl. Kapitel 5 Entwicklungschancen und Entwicklungs- „Daseinsvorsorge und soziale Infrastruk- pfade eignet sich die Einteilung in größere tur in Kleinstädten“). Kleinstädte über 10.000 Einwohner und kleine Kleinstädte unter 10.000 Einwohner Fazit: Die 2.126 Kleinstädte, die es in sowie eine Unterscheidung nach Lage- Deutschland zum Gebietsstand 31. De- gunst in zentral oder peripher gelegene zember 2019 gibt, bilden einen sehr hetero- Kleinstädte. Die Heterogenität vergrößert genen Stadttyp. Dies zeigt sich bereits im sich, wenn weitere Faktoren und Funkti- Hinblick auf die historische Entwicklung onen der Städte betrachtet werden, z. B. und die Größenstrukturen. Statistisch gilt ihre Arbeitsmärkte, ihre demografischen eine Stadt als Kleinstadt, wenn sie 5.000 Bevölkerungsstrukturen, ihre infrastruk- bis 20.000 Einwohner hat oder wenn ihr turelle Ausstattung, ihre Anbindung an die von der Landesplanung eine grundzentrale Verkehrs- und digitale Netzinfrastruktur Funktion mit mittelzentraler Teilfunktion und ihre Handlungsspielräume auf Basis zugewiesen wurde. Für eine grobe Grup- der Kommunalfinanzen. pierung der Kleinstädte im Hinblick auf Kleinstädte – eine Städtelandschaft 21
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Leben und Wohnen in Kleinstädten
3 Leben und Wohnen in Kleinstädten Die Bevölkerung der Kleinstädte lebt gern lienpolitische Bedeutung. Die Wohnstand- in ihrem Wohnort und zeigt sich diesen ortentscheidungen sind Treiber der Bevöl- Städten auch sehr verbunden. Verhältnis- kerungsentwicklung. Es ist daher sinnvoll, mäßig viele Einwohner möchten aus ihrer erst die Wohnsituation und Wohnwünsche Kleinstadt unter keinen Umständen weg- der kleinstädtischen Bevölkerung zu be- ziehen. Ihrem Wohnort besonders verbun- trachten, um dann die Folgen für die Be- den ist die Bevölkerung in Kleinstädten völkerungsentwicklung durch Zu- und Ab- außerhalb der Großstadtregionen (Sturm/ wanderung abzuleiten. Walther 2010: 4). Hohe Zufriedenheiten mit den Lebensverhältnissen in den Klein- städten beruhen einerseits auf dem hohen Kleinstädte als beliebte Anteil an Wohneigentum (Sturm/Walther Wohnorte 2010: 7) und andererseits auf der Land- schaft der Umgebung (Winkler-Kühlken et Die überwiegende Zahl der Kleinstädte hat al. 2019: 74). eine höhere Wohn- als Arbeitszentralität (vgl. Tabelle 2). Das bedeutet, das Verhält- Zentrales Ziel der Politik der Bundes- nis von Einwohnern zu Beschäftigten am regierung im Bereich Wohnungswesen Arbeitsort (stellvertretende Maßzahl für und Städtebau ist es, die Versorgung der Arbeitsplätze) übersteigt den bundesweiten Bevölkerung mit bedarfsgerechtem und Durchschnittswert. In kleinen Kleinstädten bezahlbarem Wohnraum sowie die ge- überwiegt die Wohnfunktion deutlicher als ordnete städtebauliche Entwicklung in größeren Kleinstädten. Sowohl in klei- sicher zu stellen. Die Schaffung bzw. der nen als auch in größeren Kleinstädten ist Besitz von Wohneigentum hat eine hohe das Einwohner-Arbeitsplatz-Verhältnis in ökonomische, gesellschaftliche und fami peripheren Lagen niedriger als in zentralen Lagen. Zwischen 2000 und 2019 sind die Tabelle 2: Werte der Wohnzentralität in allen Städten Wohnzentralität der Kleinstädte nach Größe und Lage 2019 und Gemeinden deutlich gefallen. Das liegt vor allem an der starken Zunahme der Zahl Wohnzentralität (Verhältnis Einwohner zu Beschäftigten am Arbeitsort) Entwicklung 2000-2019 in % sozialversicherungspflichtig Beschäftigter. Veränderung Für erwerbstätige Einwohner hat die Funk- Stadt- und Beschäftigte Gemeindetyp 2000 2019 2000-2019 in Bevölkerung am Arbeitsort tion der Kleinstädte als Wohnorte meist zur %-Punkten Folge, dass sie zum Arbeiten aus ihrer Stadt Bund insgesamt 2,93 2,49 -0,44 2,0 19,9 pendeln müssen (siehe Kapitel 4 „Klein- Großstädte 2,21 1,96 -0,24 8,1 21,5 Mittelstädte 2,74 2,34 -0,39 1,1 18,0 städte als Arbeitszentren“ Größere Kleinstädte 3,54 2,90 -0,64 0,2 22,3 dar.: sehr zentral 3,79 2,99 -0,80 6,2 34,6 Kleinstädte galten immer schon als be- zentral 3,85 3,11 -0,73 2,0 26,0 vorzugte Standorte zur Schaffung eigenen peripher 3,11 2,60 -0,50 -4,7 13,6 Wohneigentums, vor allem eines Ein sehr peripher 2,96 2,57 -0,40 -16,0 -3,0 familien- oder Reihenhauses im Grünen. Kleine Kleinstädte 4,27 3,50 -0,77 -2,2 19,2 Entsprechend ist der Wohnungsbestand in dar.: sehr zentral 4,72 3,59 -1,13 7,7 41,5 zentral 4,59 3,67 -0,92 1,6 27,1 Kleinstädten durch einen höheren Anteil peripher 4,08 3,40 -0,69 -5,3 13,9 an Ein- und Zweifamilienhäusern geprägt sehr peripher 3,72 3,27 -0,44 -12,3 -0,4 als in Mittel- und Großstädten. Landgemeinden 5,30 4,42 -0,88 -4,2 14,8 Trotzdem haben die Kleinstädte als Städ- Datenbasis: Fortschreibung des Bevölkerungsstandes des Bundes und der Länder, Beschäftigten statistik der BA, Laufende Raumbeobachtung des BBSR te in der Regel eine dichtere Bebauung als 24 Kleinstädte in Deutschland
Landgemeinden sowie – zumindest in der Westdeutschland den vorhandenen Struk- Innenstadt bzw. dem Zentrum – eine Mehr- turen an. In Ostdeutschland dagegen wird familienhausbebauung. Die Kleinstädte in im Gegensatz zum Bestand weniger in Ostdeutschland sind stärker „städtisch“ im Mehrfamilienhäuser investiert. Sinne einer höheren durch Mehrfamilien- häuser geprägten Bebauungsstruktur (vgl. Wie hoch der Anteil der Mehrfamilien- Abbildung 5). Denn die Wohnbebauung häuser in Kleinstädten ist, hängt auch von gehört zu den historischen Spezifika der der Besiedlung ihrer Umgebung oder ihres DDR – auch in Kleinstädten. Der Neu- Umlandes ab. Beispielsweise sind Klein- bau konzentrierte sich auf die typischen städte in dem dicht besiedelten und von Mehrfamilienhäuser, z. B. die Wohnungs- Groß- und Mittelstädten geprägten Nord- bauserie 70, das am weitesten verbreitete rhein-Westfalen eher die Ausgleichsorte für Plattenbausystem der DDR ab 1970. Was die Agglomerationsräume mit typischen den Neubau anbetrifft, passt sich dieser in Ein- und Zweifamilienhausstrukturen. Abbildung 5: Entwicklung der Mehrfamilienhäuser 2011 bis 2019 – Bestand und Baufertigstellung – in Kleinstädten nach Lage und Größe Westdeutschland Anteil Mehrfamilienhäuser in % 15 12 9 6 3 0 2011 2015 2019 2011 2015 2019 2011 2015 2019 2011 2015 2019 sehr zentral zentral peripher sehr peripher Ostdeutschland Anteil Mehrfamilienhäuser in % 15 12 9 6 3 0 2011 2015 2019 2011 2015 2019 2011 2015 2019 2011 2015 2019 sehr zentral zentral peripher sehr peripher Größere Kleinstädte Kleine Kleinstädte Datenbasis: Statistik der Baufertigstellung und Fortschreibung des Wohngebäudebestand Wohngebäude- und Wohnungsbestandes des Bundes und der Länder, Laufende Raumbeobachtung des BBSR Baufertigstellungen, 4-Jahresmittel © BBSR Bonn 2021 Leben und Wohnen in Kleinstädten 25
In dünn besiedelten Bundesländern und demografisch wachsenden Großstädten Regionen haben Kleinstädte als Zentren oder in prosperierenden Regionen drückt dagegen in stärkerem Maße eine Mehrfa- eine starke Nachfrage nach Wohn- und milienhausbebauung (vgl. Karte 3). Gewerbeimmobilien bei meist gleichzeitig geringer Baulandverfügbarkeit. In diese Die alte Stadtstruktur löst sich in einem Teil Kleinstädte drängen zugleich Neubürge- der Kleinstädte in zweierlei Hinsicht auf: rinnen und Neubürger aus dem In- und Zum einen führen Eingemeindungen von Ausland. Die ohnehin stattfindenden Ver- Landgemeinden zu einer „Verländlichung“ änderungen in der Sozial- und Einkom- (Steinführer 2018: 10) von Kleinstädten, mensstruktur der Bevölkerung werden zum anderen ist eine Neubebauung im durch den starken Zuzug beschleunigt vorwiegenden Ein- und Zweifamilienhaus – insbesondere dann, wenn durch einen festzustellen. Insbesondere in Ostdeutsch- angespannten Markt Miet- und Immobili- land scheint es einen Nachholbedarf am enpreise so stark steigen, dass sie nur von Eigenheim zu geben. Im Gegensatz dazu einer zahlungskräftigen Klientel bedient werden vermehrt dort Mehrfamilienhäu- werden können. ser neu gebaut, wo es einen besonderen Wachstumsdruck gibt, beispielsweise im Verstärkt wird der Druck auf die lokalen Umland von München, Stuttgart, im Drei- Märkte dadurch, dass die Nachfrage sei- eck Frankfurt-Wiesbaden-Mainz oder im tens privater und institutioneller Anleger Süden der Agglomeration Halle (Saale)/ vor allem im Segment der Wohnimmobi- Leipzig. lien weiterhin hoch ist. Denn der Trend zur Globalisierung der Immobilieninvesti- Die Gesellschaft verändert sich stetig. Eine tionen ist nach wie vor ungebrochen. Seit zunehmende Individualisierung sowie 2016 wird Deutschland unter den Top Ten eine Auflösung traditioneller Familienfor- von 109 Ländern des „Global Real Estate men führen auch zu einer Änderung der Transparency Index“ gelistet. Etwa zwei Wohnbedarfe und Anforderungen an die Drittel aller Wohnimmobilienerwerbe er- Wohnstandorte. Doppelverdiener-Paare folgen in Kleinstädten und Regionen au- oder Patchworkfamilien haben oft meh- ßerhalb von Großstädten und Mittelstäd- rere Wohnstandorte zur gleichen Zeit ten. Ursachen sind vor allem die höheren (multilokales Wohnen). Mit einer sich pa- Preise und ein geringeres Grund stücks rallel vollziehenden Singularisierung der ange bot in den Großstädten und Mit- Haushalte ist ein steigender Pro-Kopf-Ver- telstädten bzw. Agglomerationsräumen. brauch verbunden. Ebenfalls steigen die Dort sind die drängendsten Probleme ein Ansprüche an die Qualität des Wohnens, beschleunigter Neubau für die hohe Nach- der Immobilie und des Umfelds. Als Bei- frage vor allem im mittleren bis unteren spiel steht hierfür die Zunahme der Zahl Preissegment, die Stärkung des sozialen altengerechter und barrierefreier Wohnun- Wohnungsbaus und die Bezahlbarkeit von gen im Geschosswohnungsbau in den Zen- Wohnraum. Jedoch kann bei chronischem tren von Kleinstädten. Hierbei werden u. a. Nachfrageüberschuss und gleichzeitigem freiwerdende Ladenlokale in Innenstädten Angebotsmangel von „bremsenden“ Mie- in Wohnraum umgewandelt. ten keine Rede sein. Kleinstädte können daher, sofern sie ausreichende Kapazitäten Die Märkte unterscheiden sich deutlich, zur Verfügung haben, den Nachfrageüber- vor allem großräumig, nach Standort schuss der größeren Zentren auffangen. der Immobilie. Auf kleinstädtische Woh- Es ist hierbei jedoch erforderlich, dass sie nungsmärkte in zentralen Lagen, in der nicht nur das klassische Ein- oder Zweifa- Nähe von sowohl wirtschaftlich als auch milienhaus anbieten, sondern vielfältigere 26 Kleinstädte in Deutschland
Karte 3: Anteil Mehrfamilienhäuser in Kleinstädten im Bestand und im Neubau 2019 DK Kiel Rostock Hamburg Schwerin Bremen PL Berlin Hannover NL Potsdam Magdeburg Bielefeld Cottbus Essen Dortmund Halle/S. Düsseldorf Kassel Leipzig Erfurt Köln Dresden Chemnitz Bonn BE Frankfurt/M. CZ Wiesbaden Mainz LU Mannheim Nürnberg Saarbrücken FR Stuttgart Wohnbebauung aller Städte und Gemeinden Ulm München AT Freiburg i.Br. CH 100 km Anteil der Wohngebäude mit 3 und mehr Wohnungen an allen Wohngebäuden in % Kleinstädte alle Städte/Gemeinden im Bestand 2019 Baufertigstellungen 2016-2019 im Bestand 2019 bis unter 5 0 bis unter 5 5 bis unter 10 bis unter 5 5 bis unter 10 10 bis unter 15 5 bis unter 10 10 bis unter 15 15 bis unter 20 10 bis unter 15 15 bis unter 20 20 und mehr 15 und mehr 20 und mehr zentrale Lage Datenbasis: Statistik der Baufertigstellungen und Fortschreibung des Wohngebäude- und Wohnungsbestandes des Bundes und der Länder, Laufende Raumbeobachtung des BBSR Geometrische Grundlage: Gemeinden und Gemeindeverbände (generalisiert), 31.12.2019 © GeoBasis-DE/BKG Bearbeitung: A. Milbert © BBSR Bonn 2021 Leben und Wohnen in Kleinstädten 27
Wohnformen, die den unterschiedlichen kerung wie Landgemeinden. Die Bevöl- Bedürfnissen einer sehr heterogenen Be- kerungsentwicklung der Kleinstädte folgt wohnerschaft entgegenkommen. Mehrge- daher dem Prinzip der günstigen oder nerationenhäuser, kooperatives Wohnen, ungünstigen Lage und des Wohnungs- temporäres Wohnen – alternative Wohn- marktes. Niedrige Wohnkosten allein sind formen sind nicht nur in Großstädten auf in peripheren Lagen kein hinreichender der einen Seite oder leerstehenden Bau- Gunstfaktor, wenn das Wohnumfeld nicht ern-/Gutshöfen auf der anderen Seite, son- zugleich mit guten Nah- und Daseinsvor- dern auch in Kleinstädten gefragt (Lange sorgeeinrichtungen dienen kann (siehe 2018). Gleichzeitig zeigen sich aber auch Kapitel 6 „Gestaltungsfreiheit unter beson- Bestrebungen von Kommunen, kein neu- deren Herausforderungen“). es Bauland mehr auszuweisen. Beispielhaft zeigte sich dies im bayerischen Landtags- Das aktuelle Wachstum von Kleinstädten wahlkampf 2018 nicht nur in den Aussagen in zentralen Lagen setzte 2011 ein, also vieler kleinerer Städte, sondern auch in der etwa fünf bis sechs Jahre später als das Kampagne zum 5-ha-Ziel. Letzteres schaff- neuerliche Wachstum der Großstädte (vgl. te es bis in die Koalitionsvereinbarung der Abbildung 6). Bis kurz nach der Jahrtau- bayerischen Landesregierung (CSU 2018). sendwende haben Kleinstädte sowohl in sehr zentralen als auch in zentralen La- gen deutliche Bevölkerungszuwächse zu Bevölkerungsentwicklung – verzeichnen. Die Entwicklungsverläufe Resultat der Wohnstandortent- flachen mit dem Einsetzen des Großstadt- scheidungen wachstums ab. Der erneute Aufschwung der Kleinstädte in zentralen Lagen ist nach Während Kleinstädte in zentralen La- 2011 deutlich moderater als für Kleinstäd- gen teils vom Mangel an hinreichendem te in sehr zentralen Lagen. Kleinstädte in Wohnraum in den wachsenden Zentren peripheren Lagen konnten bis 2000 eben- profitieren können, verlieren Kleinstädte falls noch Bevölkerungsgewinne verzeich- in weniger prosperierenden und schrump- nen, verlieren seitdem aber deutlich an Be- fenden Regionen in gleichem Maße Bevöl- völkerung. Kleinstädte in sehr peripheren Abbildung 6: Bevölkerungsentwicklung in Kleinstädten nach Lage und im Vergleich nach Stadt- und Gemeindetyp 1990 bis 2019 Entwicklung in % 2011: Beginn neue Wachstums- 20 Kleinstädte nach Lage 2003: vorläuÿges Ende phase der Kleinstädte in sehr des Kleinstadtwachstums zentralen Lagen sehr zentral 15 zentral peripher 10 sehr peripher 5 Stadt- und Gemeindetyp Großstädte 0 Mittelstädte Kleinstädte -5 Landgemeinden -10 Bund insgesamt -15 Anm.: Daten 1990 bis 2010 zensuskorrigiert -20 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2019 Quelle: Fortschreibung des Bevölkerungsstandes des Bundes und der Länder, Laufende Raumbeobachtung © BBSR Bonn 2021 28 Kleinstädte in Deutschland
Karte 4: Entwicklung der Kleinstädte 2009-2019 nach ausgewählten Kohorten DK Kiel Rostock Hamburg Schwerin Bremen PL Berlin Hannover NL Potsdam Magdeburg Bielefeld Cottbus Essen Dortmund Halle/S. Düsseldorf Kassel Leipzig Erfurt Köln Dresden Chemnitz Bonn BE Frankfurt/M. CZ Wiesbaden Mainz LU Mannheim Nürnberg Saarbrücken FR Stuttgart Bevölkerungsentwicklung 2009-2019 aller Städte und Gemeinden Ulm München AT Freiburg i.Br. CH 100 km Kohortenwachstum der Kleinstädte 2009-2019 in % Bevölkerungsentwicklung der 20- bis 29-Jährigen der 30- bis 39-Jährigen alle Städte/Gemeinden bis unter 80 bis unter 80 Kleinstädte mit 2009-2019 in % Kohortenwachstum 80 bis unter 90 80 bis unter 90 bis unter -6 der 65- bis 74-Jäh- 90 bis unter 100 90 bis unter 100 rigen 2009-2019 -6 bis unter -3 100 bis unter 110 100 bis unter 110 -3 bis unter 0 zentrale Lage 110 bis unter 120 110 bis unter 120 0 bis unter 3 120 bis unte 130 120 bis unte 130 3 bis unter 6 130 und mehr 130 und mehr 6 und mehr Datenbasis: Fortschreibung des Bevölkerungsstandes des Bundes und der Länder, Laufende Raumbeobachtung des BBSR Geometrische Grundlage: Gemeinden und Gemeindeverbände (generalisiert), 31.12.2019 © GeoBasis-DE/BKG Bearbeitung: A. Milbert © BBSR Bonn 2021 Leben und Wohnen in Kleinstädten 29
Lagen haben seit Beginn der 1990er-Jahre der Kleinstädte – vornehmlich in Klein- kontinuierlich und im Durchschnitt etwa städten in zentralen Lagen – gewinnt die 20 % ihrer Bevölkerung verloren. Die Be- Kohorte der 30- bis 39-Jährigen. Diese Al- völkerungsverluste in Kleinstädten in tersgruppe in der Familiengründungspha- peripheren und sehr peripheren Lagen se ist sehr umworben, da ihre Standortent- wurden nur kurzfristig während der Jahre scheidung vornehmlich langfristig erfolgt 2015/2016 unterbrochen. und potenziellen Zuwachs an Kindern und Jugendlichen verspricht. Dagegen Ausnahmen von diesem allgemeinen verkleinert sich überwiegend die Kohor- Trend bilden die Kleinstädte in struktur- te der 20- bis 29-Jährigen in Kleinstädten starken ländlichen Regionen Süddeutsch- durch Wegzug, da Kleinstädte nur selten lands, die trotz ihrer peripheren Lagen mit über oberzentrale Bildungseinrichtungen dem allgemeinen Bevölkerungswachstum verfügen. Sie sind jedoch dann Zuzugs- in diesen Regionen mithalten konnten. Da- orte für die Ausbildungswanderer, wenn gegen verloren Kleinstädte in einigen zen- sie in der Nachbarschaft von Universi- tralen Lagen um Saarbrücken, östlich von tätsstädten (z. B. Dossenheim, Gerbrunn, Rhein und Ruhr oder südlich von Hanno- Unterföhring) liegen oder wenn sie selbst ver entgegen dem Trend an Bevölkerung. Standort einer Hochschule oder Universität In Ostdeutschland konzentriert sich mit sind (z. B. Mittweida, Clausthal-Zellerfeld, Ausnahme des Speckgürtels um Berlin Neubiberg). In außergewöhnlichen Lagen das Bevölkerungswachstum ohnehin auf wie an der Nord- und Ostseeküste (z. B. die Großstädte. Was die Bevölkerungsent- Grömitz, Malente, Kühlungsborn) oder im wicklung der Kleinstädte betrifft, sind also Alpenvorland (z. B. Isny im Allgäu, Füssen, Lage und regionaler Kontext entscheidend. Oberstaufen) sowie in alten Bäderstädten (z. B. Bad Pyrmont, Bad Lippspringe, Bad Kleinstädte mit Bevölkerungszuwachs Sassendorf) können Kleinstädte auch Zu- wachsen vor allem durch den Zuzug von zugsorte älterer Menschen (Kohorte der Bevölkerung, der sich sehr gut über das 65- bis 74-Jährigen) auf der Suche nach ei- Kohortenwachstum abbilden lässt (vgl. nem attraktiven Altersruhesitz sein. Karte 4 und Infobox 4). In etwa der Hälfte Tendenziell jedoch verlieren die meisten Kleinstädte junge Bevölkerung durch Weg- Infobox 4: Kohorte und Kohortenwachstum zug. Die anhaltende nach Alter selektive Kohorten nennt man die Zusammenfassung von Geburtsjahrgängen, z. B. Zu- und Abwanderung resultiert in einer aus den 10 Jahrgängen der 1980 bis 1989 Geborenen. Diese zum Ende der wachsenden Kluft hinsichtlich des Durch- Beobachtungsreihe 2019 30- bis 39-Jährigen waren vor 10 Jahren noch 20 bis schnittsalters zwischen den Stadttypen 29 Jahre alt. Wie stark hat sich diese Kohorte gegenüber 2009 zahlenmäßig (Großstädte mit junger Bevölkerung ver- verändert? Der Vergleich der 30- bis 39-Jährigen aus dem Jahr 2019 mit den sus Kleinstädte und Landgemeinden mit 20- bis 29-Jährigen aus dem Jahr 2009 bezeichnet das Kohortenwachstum. Bei älterer Bevölkerung) sowie der Lage der einem Verhältnis von 100 % ist die Kohortenstärke gleichgeblieben, Werte unter Städte (Kleinstädte mit junger Bevölke- 100 weisen auf eine Verkleinerung der Kohorte durch Sterbefälle und Abwan- rung in zentralen Lagen versus Kleinstädte derung hin, Werte über 100 auf eine Vergrößerung der Kohorte durch Zuwan- mit älterer Bevölkerung in sehr peripheren derung. Besonders interessant sind hierbei die sehr mobilen Alterskohorten der Lagen, vgl. Abbildung 7, links). Unter den 20- bis 29-Jährigen, die vornehmlich aus Ausbildungs- und beruflichen Gründen jüngeren Abwandernden finden sich oft wandern, und der 30- bis 39-Jährigen, die aus beruflichen otiven und in der überproportional junge Frauen. Deshalb Familiengründungsphase wandern. Über den Kohortenvergleich lassen sich Altersgruppen fl xibler in ihren Wanderungsbewegungen und Entwicklungen verschlechtert sich in von Abwanderung betrachten als über die Wanderungsstatistik mit festgelegten Altersgruppen. betroffenen Kleinstädten das Verhältnis von Frauen zu Männern im Alter zwischen 20 und 44 Jahren – einer Altersgruppe, die 30 Kleinstädte in Deutschland
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