Spuren Wenn das Leben - Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck
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Oktober 2021 SCHICKSALE Brüche und Narben, die Wenn das Leben Spuren auf der Seele liegen KIRCHE & GELD Kultur des vorsichtigen Umgangs mit Geld hinterlässt Foto: Adobe Stock
INHALT | UMFRAGE | IMPRESSUM Wo möchten Sie Inhalt Spuren hinterlassen? THEMA 4 Foto: privat Als Militärpfarrer in Afghanistan: Monate in einer völlig fremden Welt Bei meiner Arbeit für den ambulanten Hospiz- dienst Melsunger Land 5 Als der Vater an Corona starb: Der Tod hinter der Glasscheibe begleite ich Menschen in der letzten Lebenspha- se und gebe ihnen und 6 Dr. Andreas Jürgens: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden” den Angehörigen die Unterstützung, die sie brauchen. Sie sollen sich 7 Nils Straatmann: wahrgenommen und verstanden fühlen, in ih- Ein Poetry-Slammer auf Jesu Spuren rer Trauer nicht allein sein. Spuren möchte ich hinterlassen, indem ich den Hospizgedanken weitergebe. In Seminaren bereite ich ehren- 8 Verein FRANKA – „Seht, was ihr durchgestanden habt” amtliche Hospizhelfer auf ihre Tätigkeit vor, und in „Letzte-Hilfe”-Kursen vermittle ich Ange- hörigen, wie sie einen geliebten Menschen am 9 Marie Kresbach: Sie vergab den Mördern ihrer Eltern Lebensende bestmöglich unterstützen können. Petra Hochschorner (56), Koordinatorin für Hospiz- 12 Unterwegs: dienst und Vorsitzende des Trauer- und Hospiznetz- Als Pfadfinder auf Spurensuche werks im Schwalm-Eder-Kreis, wohnt in Gensungen 16 Afghanistan: Foto: privat Die Spuren in den Gesichtern Ein Lächeln ist für mich die schönste Spur, die ich im Leben eines anderen Men- KIRCHE & GELD schen hinterlassen kann. Ich organisiere in meinem 10 Frieder Brack: „Wir haben eine Kultur des vorsichtigen Umgangs mit Geld” Job unter anderem Gedächt- nistrainings und leite die Senioren-Theatergruppe, wir 11 Statistik 2020: Zahlen zur Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck haben Kooperationsprojekte mit dem offenen Kanal Kassel und der Musik- akademie Louis Spohr. Zu erleben, wie sich die äl- teren Menschen öffnen und ihr kreatives Potenzial RATGEBER ausschöpfen, ist auch für mich eine Bereicherung. 13 Was mutet mir das Schicksal zu? Thomas Andreas Warlies (54), Kulturreferent einer Senioreneinrichtung in Kassel IMPRESSUM RÄTSEL Herausgeber: Landeskirchenamt der 14 Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck Gezeichnet – geheilt Wilhelmshöher Allee 330, 34131 Kassel Redaktion: Lothar Simmank (Ltg.), Olaf Dellit redaktion@blickindiekirche.de 15 Heinrich-Wimmer-Straße 4 www.blickindiekirche.de „Freunds Auszeit” 34131 Kassel Gestaltung: Lothar Simmank Telefon 0561 9307–152, Fax –155 2 blick in die kirche | MAGAZIN | Oktober 2021
EDITORIAL Liebe Leserin, Foto: privat Bei Geburtstags- und Trauerreden wird oft an lieber Leser, ein gelungenes Leben erinnert. Aber wann ist ein Leben gelungen? Ei- was erzählt Ihnen Ihr Körper, ne erfolgreiche Karriere, wenn Sie vor dem Spiegel stehen ein großer Freundeskreis oder in sich hineinhorchen? Ich Foto: medio.tv/Schauderna oder eine gute Familie: spüre die 18 Monate Pandemie vor Wir alle haben die Mög- allem in den Knochen: das viele lichkeit, ein individuelles, selbstbestimmtes Le- Sitzen, die fehlenden Sportmöglich- ben zu führen und möglichst viele Spuren im keiten haben Spuren hinterlassen. Leben zu hinterlassen. Was habe ich der Welt Wenn mein Mann, ein begeisterter weiterzugeben? Letztendlich würde ich mich Radsportler, in den Spiegel schaut, freuen, wenn ich anderen helfen und sie ein sieht er Narben, die von schweren bisschen glücklicher machen kann. Ich möchte Unfällen mit dem Rad erzählen. In diesem Heft berichten ein Lächeln im Gesicht derjenigen hinterlas- Menschen von ganz unterschiedlichen Erfahrungen, die sen, die an mich denken. bei ihnen Spuren hinterlassen haben – sichtbare wir un- sichtbare. Krankheiten, Gewalterfahrungen und andere Sonja Rossettini (45), Internationale Projektmanage- Traumata kommen da in den Blick. rin aus Kassel Spuren und spüren, wie hängt das zusammen? Meist spüren wir ja vor allem das, was Spuren hinterlassen hat, die Brüche und Narben, nicht nur die körperlichen, son- Foto: privat Als Pfarrer begegnet mir dern auch die, die uns auf der Seele liegen. Die Glücks- die Frage nach den Spu- momente zaubern ein Lächeln für den Moment, lassen ren im Leben häufig an die Schmetterlinge für eine Weile im Bauch fliegen. Nur Kranken- und Sterbebet- manchen Menschen sieht man an, dass sie viel gelacht ten. Da wird bisweilen haben in ihrem Leben. Häufiger erzählen Gesichter von gnadenlos bilanziert. Ich Sorgen, von Trauer, von Verlusten. habe in dieser Situation nie jemanden sagen hö- Der Theologe Henning Luther hat das in einem Bild ren: „Hätte ich doch die- zusammengefasst, das mir sehr wichtig ist: Wir leben als se oder jene Stelle angenommen oder damals Fragment, Fragment im Blick auf das, was in der Ver- dort mein Geld angelegt.“ Nein, es geht fast gangenheit zerbrochen ist, nicht mehr heil ist, aber auch immer um die Fragen: Habe ich meine Fähig- Fragment im Blick auf die Zukunft, noch nicht fertig, noch im Werden. In dieser Spannung bewegt sich unser Leben. Umfrage: Pamela De Filippo keiten genutzt, um anderen zu helfen? War ich glücklich in meiner Familie? Solche Erfahrun- Das macht es aber auch spannend und individuell. Die gen verändern natürlich auch die Sicht auf die Spuren, die das Leben hinterlässt, sind bei jedem Men- eigene Existenz. Mit dem „Carpe diem“-Prinzip schen anders. Erst dadurch werden wir zur unverwechsel- und der „goldenen Regel“ (Mt. 7,12) komme baren Persönlichkeit, mit unserer ganz eigenen Geschich- ich zurzeit für mich selbst ganz gut klar. te und den ganz speziellen Lach- und Sorgenfalten. Stefan Axmann (53), Pfarrer der Evangelischen Eine anregende Lektüre dieser Spuren wünscht Stadtkirchengemeinde Hanau, Kreuzkirche Herstellung: Dierichs Druck + Media GmbH & Co KG, Kassel Vertrieb: HNA, Kassel u. a. Beate Hofmann Bischöfin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck Mehr Informationen über die vielfältigen Angebote der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck finden Sie im Internet: www.ekkw.de blick in die kirche | MAGAZIN | Oktober 2021 3
THEMA Monate in einer völlig fremden Welt Jochen Sennhenn war als Militärpfarrer in Afghanistan und wird die Zeit nicht vergessen B etrübt, aber nicht überrascht war Jochen Sennhenn, als die Taliban im August die afghanische Haupt- stadt Kabul einnahmen. Vieles, etwa die Schwäche der afghanischen Armee, habe sich in den Jahren zuvor abgezeichnet. Der 58-Jährige weiß, wovon er spricht: Als Mili- tärpfarrer war Sennhenn dreimal in Afgha- nistan, zuletzt in Kunduz. Vieles, was der Einsatz an Gutem ge- bracht habe, sei nun entwertet. Er frage sich, wie Angehörige von gefallenen Sol- Fotos: medio.tv/Dellit/Brandau daten auf diese Nachrichten schauten, für sie müsse das besonders schmerzhaft sein. Als Sennhenn 2013 in Kunduz ankam, war kurz zuvor ein Soldat getötet worden – ei- ne Zeit, in der er als Seelsorger sehr wich- tig war. Rituale, etwa die Aussegnung, ein Kondolenzbuch und die Ehrenwache am Container, in dem der Tote lag, seien in Dort war das Feldlager der Bundeswehr: Pfarrer Jochen Sennhenn deutet auf Kunduz, wo er dieser Situation enorm wichtig gewesen. als Militärpfarrer tätig war. Insgesamt war er dreimal in Afghanistan eingesetzt Aus der Armut in den Überfluss zu bewältigen, das gelte umso mehr für Grad, aber vor allem emotional. Die viel junge Soldaten mit weniger Lebenserfah- beschworene Kameradschaft sei wirklich Mittlerweile ist Sennhenn seit gut rung: „Sie prallen auf eine Welt, die ihnen etwas Besonderes, dieses Angewiesensein sechs Jahren wieder Gemeindepfarrer – in völlig fremd ist.” aufeinander. Aber all das zehre eben auch Waldkappel-Schemmern. Doch die Zeit am Belastend sind die Auslandseinsät- an den Nerven: „Ich habe nie so viele jun- Hindukusch hat ihn verändert. Er erinnert ze auch für den Familienzusammenhalt. ge Männer weinen sehen wie dort.” sich, wie er nach der Rückkehr aus einem Monatelange Trennungen sind schwer zu Der Militärpfarrer ist ein wichtiger Teil Land, in dem größte Armut herrscht, in verkraften. Das hat Sennhenn auch selbst solcher Einsätze, das hat Sennhenn gereizt. Deutschland wieder in einem Supermarkt festgestellt. Als er wiederkam, war er vol- Der Pfarrer steht außerhalb der Bundes- war. Er sollte Joghurt kaufen – und stand ler Eindrücke, die seine Frau und Kinder wehr-Hierarchie und ist schon deswegen dann minutenlang vor dem Kühlregal, völ- nicht teilen konnten. Irgendwann habe sei- eine gefragte Vertrauensperson, natürlich lig erschlagen vom Überangebot. ne Frau seine Erzählungen gebremst: „Jetzt unterliegt er zudem dem Beichtgeheimnis. Die Dinge, die er in Afghanistan sah, ist mal gut mit Afghanistan!” In Jochen Sennhenns Dienstzimmer blieben im Kopf, sagt er: Er sah, wie Frau- Die Zeit in einem Feldlager ist eine im beschaulichen Schemmern hängt eine en auf offener Straße geschlagen wurden, Ausnahmesituation. Die ständige Be- Karte Afghanistans. Bilder und Eindrücke und bekam mit, dass kranke Kinder vor drohung werde auf gewisse Weise nor- sind damit verbunden, Erinnerungen an dem Militärlager abgelegt wurden – in der mal, sagt Sennhenn. Die Zeit sei in jeder eine intensive Zeit, die ihn verändert hat. Hoffnung, dass ihnen dort geholfen werde. Hinsicht sehr intensiv, angefangen bei Er sagt: „Ich habe mich in dieses Land ver- Diese krassen Kontraste seien nicht leicht Temperaturunterschieden von bis zu 70 liebt.” ● Olaf Dellit Faszinierendes Kabul: Links das Militärlager Camp Warehouse, in der Mitte und rechts Szene aus der Innenstadt – die Bilder entstanden 2003
THEMA Der Tod hinter der Glasscheibe Pfarrer André Flimm hat seinen Vater im vergangenen Jahr durch Corona verloren E in altes Fenster lehnt an der Wand in André Flimms Wohnung. Gemeinsam mit seinem Vater hatte er das Fenster als Tisch aufgearbeitet. Es sollte das letzte Mal sein, dass er seinen Vater lebend sah – heute erinnert das Fenster an ihn. Ein Fenster war es auch, durch das André Flimm seinen verstorbenen Vater ein letztes Mal sah. Eugen Flimm war im April 2020 an Corona gestorben und es schmerzt seinen Sohn bis heute, dass er ihn zum Abschied auf der Intensivstation im Fuldaer Krankenhaus nicht berühren durfte. André Flimm ist seit vergangenem Jahr Pfarrer, derzeit arbeitet er in Marburg an seiner Doktorarbeit. „Mich haben schon immer die großen Fragen des Lebens faszi- niert”, sagt er über seine Berufswahl. Dann stand er im vergangenen Jahr plötzlich vor einer Frage, auf die er auch im Denken keine Antwort fand: Warum musste sein Vater mit nur 58 Jahren ster- ben? Er, der als Krankenpfleger peinlich genau auf Hygiene geachtet hatte. Er, des- sen Antrieb immer gewesen war, anderen Menschen zu helfen. Foto: medio.tv/Dellit Sehr früh in der Pandemie hatte Vater Flimm sich bereit erklärt, seine Station im Alsfelder Krankenhaus zur Corona-Station umzuorganisieren. Er begann früher als andere Menschen, seine Kontakte einzu- schränken. Und wurde doch krank. Ein Fenster als Erinnerung: André Flimm hatte das alte Fenster mit seinem Vater aufgearbei- Kurze Zeit später kam Eugen Flimm ins tet, kurze Zeit später starb dieser an Corona Krankenhaus und wurde dort später intu- biert und in ein künstliches Koma gelegt. hörigen gebraucht hätten. Auch danach wahrscheinlich eine falsche Schutzmaske Kurz zuvor hatte er seiner Frau noch in ei- erschwerte Corona vieles. Manche Men- benutzt hatte. ner Textnachricht geschrieben, sie solle ihn schen im Heimatdorf der Familie wechsel- André Flimm wird wütend, wenn er nicht mehr anrufen. Er habe damit, ist sich ten die Straßenseite, wohl aus Sorge vor von Coronaleugnern hört. Und ärgert sich, André Flimm sicher, seine Familie schützen Ansteckung. Die Mutter musste zunächst wenn Theologen die Pandemie als Strafe wollen. Aber für die Mutter waren es die in Quarantäne im Haus ausharren, wo sie Gottes interpretieren. Er selbst habe den letzten Worte ihres Mannes. alles an ihren Mann erinnerte. Glauben an Gott und an ein Leben nach Als die Todesnachricht André Flimm er- dem Tod nie verloren, aber entdeckt, dass reichte, konnte er nur noch schreien. Bald Die erste Umarmung seit langem zu seinem Glauben auch der Streit mit wurde ihm klar, dass er seinen Vater noch Gott gehört und heilsam sein könne. einmal sehen wollte und war dankbar, Erst die Beerdigung sei ein guter Ab- Heute gelingt es ihm, dankbar für die dass ein befreundeter Pfarrer ihn beglei- schied gewesen, sagt André Flimm. Erst- Zeit mit seinem Vater zu sein und dank- tete. Den toten Vater konnte er nur durch mals habe sich die Familie dort auch wie- bar, dass dieser als Krankenpfleger seine die Glasscheibe sehen; ein Bild, das sich der umarmt, trotz Corona-Angst. Diese sei Lebensaufgabe gefunden hatte. Das Fens- einprägte: „Er sah irrsinnig alt aus.” auch später noch sehr stark gewesen, ge- ter, das an der Wand lehnt, nennt André Nicht nur der Abschied vom toten Va- rade weil die Ansteckung des Vaters nicht Flimm jetzt „Himmelsfenster”. ● ter war nicht so möglich, wie es die Ange- erklärbar schien. Später wurde klar, dass er Olaf Dellit blick in die kirche | MAGAZIN | Oktober 2021 5
THEMA „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden” Wie der Kasseler Jurist, Sozialpolitiker und Rollstuhlfahrer Dr. Andreas Jürgens das Grundgesetz veränderte A ndreas Jürgens (64) ist ein opti- mistischer Mensch. Der promo- vierte Jurist, der heute als Erster Beigeordneter des Landeswohlfahrtsver- bands (LWV) Hessen tätig ist, kam mit so- gannten „Glasknochen” auf die Welt und sitzt im Rollstuhl. Er ist ein Vollblutpoli- tiker, der in Ausschüssen und Parlamen- ten vieles erkämpft hat, aber noch immer Visionen kennt – und er lacht gern. Bei seinem Zwillingsbruder Gunther, ebenfalls Richter mit Doktortitel und auf den Roll- stuhl angewiesen, sei das genauso, erzählt Jürgens. „Humor und Lebensfreude haben wir von unseren Eltern geerbt, besonders Foto: privat vom Vater. Wir machen gerne Witze.“ Der Stammtisch, an dem er sich monatlich mit ehemaligen Mitstreitern des Kasseler Ver- eins fab (Verein zur Förderung der Autono- Dr. Andreas Jürgens ist Erster Beigeordneter des Landeswohlfahrtsverbands Hessen mie Behinderter) trifft, sei der fröhlichste Tisch in der Kneipe. Hat ein Rollstuhlfahrer eine andere »Es gibt niemanden, Sichtweise auf die Belange behinderter Natürlich ist ihm nicht immer zum der keine Fähigkeiten hat.« Menschen als andere Sozialpolitiker? Das Scherzen zumute. Sein Kampf für die ist sicherlich so, gesteht Andreas Jürgens Rechte behinderter Menschen ist ein erns- zu. Lange hat er auf der Betroffenen-Seite tes Anliegen, mitunter zäh und kräfterau- seit 1994 im Grundgesetz steht, ist Andre- für die Interessen Behinderter gewirkt und bend. Als Student war er in der Marbur- as Jürgens mit zu verdanken. Damals war war dabei zunächst als Hilfeempfänger, ger „Krüppelinitiative“ aktiv und strickte er noch Richter am Amtsgericht Kassel. Es dann als Trägerinstitution auf die staat- mit an einem Gesetzentwurf zur damals folgten zwei Wahlperioden als Abgeordne- liche Mittelvergabe angewiesen. Jetzt ver- heiß diskutierten Absicherung von Pfle- ter im Hessischen Landtag. teilt er das Geld und formuliert die Kriteri- gebedürftigkeit für die allererste Grünen- 2012 schließlich wurde Jürgens in en. Viele Verbesserungen konnten erreicht Fraktion. In einer Reihe behindertenpoliti- den LWV gewählt – ein politisches Amt, werden – beispielsweise der Ausbau des scher Initiativen arbeitete er mit, und das in das er als Mitglied von Bündnis 90/ LWV-Fachdiensts um 150 neue Mitarbei- in einer Zeit, als das Thema Behinderte Die Grünen und ehemaliger Landtagsab- tende, die bald in ganz Hessen zielgrup- noch vielfach auf Unverständnis und Ab- geordneter kam. An der Verwaltungsspitze penübergreifend ihre Beratungsdienste lehnung stieß. Wenn er sich an die eigene des LWV setzt er nun unter anderem die anbieten, um den einzelnen Menschen Einschulung in den 1960er-Jahren erin- Reformen des Bundesteilhabegesetzes um, gerecht zu werden. nert, fällt ihm der Schulrektor in Salzgitter das in verschiedenen Stufen das Behinder- ein, der die Mutter der Zwillinge mit dem tenrecht revolutionieren soll. Dabei ist er Welche Spuren möchte Andreas Jür- Satz abwies: „Für sowas gibt’s doch die im Wesentlichen zuständig für die Kosten- gens am Ende seines Berufslebens gern Sonderschule.“ Die Mutter ließ sich nicht übernahme für 61.000 körperlich, geistig hinterlassen? Kurzes Überlegen, dann abwimmeln, setzte den Bau einer Rampe und seelisch behinderte Menschen, für die bescheidene Antwort vom Bundesver- durch und trug, wenn es sein musste, ihre Suchterkrankte und Sinnesbehinderte in dienstkreuz-Träger: „Den Eindruck, dass ich Kinder über Treppen in die höhergelege- Hessen. Um ihre Wünsche und Lebensent- mich nach meinen Möglichkeiten für die nen Fachräume, wo der Biologie- und Phy- würfe geht es, die im Rahmen der Möglich- Selbstbestimmung behinderter Menschen sikunterricht stattfand. keiten gefördert werden sollen. Sein Credo: eingesetzt habe – dass es nicht nur ein Dass der Satz „Niemand darf wegen „Es gibt niemanden, der keine Fähigkeiten Wort geblieben, sondern Realität gewor- seiner Behinderung benachteiligt werden“ hat.“ den ist.“ ● Lothar Simmank 6 blick in die kirche | MAGAZIN | Oktober 2021
THEMA Ein Poetry-Slammer auf Jesu Spuren Nils Straatmann (32), im norddeutschen Geest- hacht geboren, wurde als Slam-Poet Bleu Broode bekannt. Später studierte er Theologie in Leipzig. Auf einem zweimonatigen Roadtrip zwi- schen Schweiß, Blasen und aufgeschürf- Foto: Sören Zehle ten Hüften hat er mit seinem Kumpel Sören das Heilige Land zu Fuß erkundet. Auf den Spuren Jesu erfährt er dort, dass Der Autor und sein Buch: die Fähigkeit zur Nächstenliebe eine der Nils Straatmann: Auf Jesu Spuren. Eine größten menschlichen Stärken ist. Wie es Wanderung durch Israel und Palästina. Malik Verlag 2017, 18,50 Euro zu der Reise kam, lesen Sie hier. I ch komme aus einer relativ christlichen zu werden, um diesem Elend ein Ende zu dem dazugehörigen Auftreten leben konn- Familie. Für norddeutsche Verhältnisse bereiten. Nach meinem Abitur schwankte te. So stellte ich mir irgendwann die Fra- wahrscheinlich sogar sehr christlich. Ich ich zwischen Theologiestudium und Kir- ge, wie sich Studium und Arbeit verbinden war in einem evangelischen Kindergarten chenaustritt. „Entweder“, sagte ich mir, ließen. und habe in mehreren Krippenspielen ver- „du versuchst, das ganze Ding zu verste- schiedene Schafe mit Bravour verkörpert. hen und bestenfalls zu verbessern, oder Es war ein Freitagmorgen, als ich in Einmal hatte ich sogar eine Sprechrolle: du musst damit nichts zu tun haben.“ Ich einer Vorlesung zur Kulturgeschichte des „Oh, seht, ein Stern! Was hat er wohl zu entschied mich für Ersteres. Neuen Testaments saß. Ich hörte nicht bedeuten?“ Sitzt bis heute. Die Kinderbi- richtig zu, denn ich war in diesem esote- bel habe ich wie das Sams oder lustige Im Studium erlebte ich, wie Kommili- rischen Zustand zwischen noch betrunken Taschenbücher gelesen. Das Sams hatte tonen manche Professoren als Ketzer be- und schon verkatert. Der Professor erzählte Wunschpunkte, Jesus war der Typ, der schimpften. Wie bei Fußballspielen die etwas über die Höhlen am Berg Arbel und Wasser zu Kindersekt machen konnte. Nächstenliebe so weit ging, dass jedes die Ausgrabungen in Magdala, und mit Tor für beide Mannschaften zählte, damit einem Mal entwickelte sich in mir die Idee, Meine Gemeinde war schrecklich. Die sich alle gemeinsam freuen konnten. Aber den Weg Jesu nachzuwandern. Ich kannte Pastorin sah aus wie Dracula und benahm ich traf auch Menschen, denen ihr Glaube so viele Orte, an denen er gewesen sein sich ähnlich. Immerhin, mein Kumpel Alex die Kraft gab, ihr Leben zu bestreiten. De- sollte, und doch hatte ich keinen davon und seine damalige Freundin hatten ihre nen die Kirche Lebensinhalt und vor allem mit eigenen Augen gesehen. Wie sollte ich ersten sexuellen Erfahrungen in der Ab- -sinn stiftete. Ich machte ein Praktikum bei das Christentum verstehen, wenn ich seine stellkammer neben dem Konfirmanden- einem schwulen Pastor in Lübeck, mit dem Wurzeln, die Kultur und Region, denen es saal. Bremen-Nord, wo wir aufwuchsen, ich am Küchentisch saß, wo wir mithilfe entstammt, nicht kannte? war kein Ort für keusche Lämmchen. Ich seines „Gaydars“, seines „Schwulensen- Mich faszinierte vor allem der mensch- hatte zwei Onkel, die Pastoren waren und sors“, gemeinsam versuchten herauszufin- liche Jesus: Wer war der Typ, der die Evan- von denen ich lernte, dass man auch als den, wer von den katholischen Kollegen gelisten zu ihren Texten inspirierte? Was Pastor ein echter Mensch sein kann. Die in der vatikanischen Kurie schwul war und ließ die Leute an ihn glauben? Was lässt Fußball guckten und fluchten, manchmal wer nicht. Dieser Pastor stand für eine Kir- sie heute glauben? Wer war Jesus von Na- zu viel Erwachsenensekt tranken und doch che, von der ich Teil sein wollte. Eine rea- zareth, und was hat ihn zu dem gemacht, mitunter sehr weise waren. Und trotzdem listische Kirche für alle, in der Lachen nicht der er war? Was würde heute aus ihm wer- dachte ich zu jedem Weihnachts- und Os- verboten war, in der Fehlbarkeit akzeptiert den? Wo wäre er zu finden? terfest, zu jeder Taufe, jeder Konfirmation und thematisiert wurde. Kein sakrales Tüdelü. Diesen Fragen wollte ich nachgehen. in meiner Gemeinde: „Ach, Leute! Warum Im wahrsten Sinne des Wortes. Aber vor- denn so langweilig? Das kann man doch Mein Theologiestudium hatte ich im- her brauchte ich eine Aspirin. ● viel spannender, viel wirklichkeitsnäher mer als hervorragenden Plan B beschrie- machen!“ Jedes Mal, wenn ich in der Kir- ben. Einen Plan A gab es lange nicht. Bis Buchauszug mit freundlicher che saß, wuchs in mir der Wunsch, Pastor ich merkte, dass ich vom Schreiben und Genehmigung des Autors und Verlags blick in die kirche | MAGAZIN | Oktober 2021 7
THEMA „Seht, was ihr durchgestanden habt“ Die FRANKA-Frauennothilfe Kassel hilft, Wege aus der Gewalt zu finden M enschenhandel, Zwangsprostituti- worben mit der Aussicht auf geht ums blanke Überleben. Foto: Adobe Stock on. Diese Verbrechen geschehen legale Arbeit und guten Erstversorgung, bis die Ämter jeden Tag, mitten unter uns, sind Verdienst in Deutschland. einspringen. Essen besorgen, alltäglich. Die beiden jungen Frauen, die Wo landet sie aber? „In Unterkunft, zuhören, mitge- darüber berichten, arbeiten für FRANKA, einem Laufhaus“, berichten hen, wenn die Frauen Behör- die Frauennothilfe Kassel, eine Fachbera- die Beraterinnen, sie werde dengänge absolvieren müssen. tung beim Diakonischen Werk. Ihre Na- gezwungen, sich zu prostituieren, Manche Personen werden so lange men werden wir nicht nennen – nur wenn die Papiere abgenommen. Manche Frauen begleitet, wie das Gerichtsverfahren dau- sie anonym bleiben, können sie den Be- aus Nigeria müssen schwören, so lange zu ert. Andere tauchen ab, kehren zurück ins troffenen zur Seite stehen. Getäuscht, ver- Heimatland, trauen sich nicht, Anzeige zu schleppt, quasi versklavt – nein, das Ganze erstatten. ist kein Drehbuch für den sonntäglichen »Manche Frau Für Geflüchtete ist die Situation an- Fernsehkrimi, es ist bittere Realität für vie- braucht nur einmal Rat, ders als für andere Opfer von Menschen- le Menschen. andere werden über Tage, handel, sie sind meist bereits im Asyl- verfahren, werden oft verschoben. Das Die kann so aussehen: Eine junge Wochen und Monate bedeutet, dass es noch schwieriger ist, Frau, Ende zwanzig, aus einem osteuropä- betreut und begleitet.« sie mit dem Nötigsten in seelischer Hin- ischen oder afrikanischen Land, lebt unter sicht zu versorgen – der psychologischen extrem schwierigen Verhältnissen – arm, Betreuung der häufig Traumatisierten. kaum gebildet, vielleicht Analphabetin, arbeiten, bis sie etwa 30.000 oder 60.000 Ohnehin gebe es zu wenige Therapeuten, arbeitslos, möglicherweise ist sie Gewalt Euro für Fluchthilfe abgedient haben. erklären die FRANKA-Mitarbeiterinnen, ausgesetzt. Vielleicht ist sie auf der Flucht Seit nunmehr zwanzig Jahren gibt die versuchen, Betroffene bei Psychoso- und gerät währenddessen in Gewalt und es FRANKA, Verein und Fachberatung, zialen Zentren versorgen zu lassen. „Und Abhängigkeitsbeziehungen. Oder sie wur- die „Wege aus der Gewalt“ fördern. Was wir arbeiten immer ressourcenorientiert“, de unter falschen Versprechungen ange- heißt das konkret? „Wir werden von Poli- sagt eine Beraterin. Sprich: Sie sprechen zei, Anwälten oder anderen Institutionen die Frauen nicht als Opfer an, sondern er- gerufen“, erklären die Beraterinnen. Stets mutigen sie. „Seht, was ihr schon durchge- INFOS fahren sie – zuständig für ganz Nordhes- standen habt. Ihr seid stark.“ In ganz Nordhessen bietet die FRANKA sen, in Südhessen gibt es eine ähnliche Fachberatung Information, Beratung und Institution – vor Ort, suchen die Frauen Zwanzig Jahre Nothilfe – was hat sich Unterstützung für Frauen, die Opfer von auf. „Wir versuchen, sie allein zu sprechen, geändert? Da heute viele der Frauen aus Menschenhandel zum Zweck der sexuellen nur dann können sie offen reden“, beto- den neuen EU-Ländern kommen, können Ausbeutung und/oder der Ausbeutung nen sie. Zur Verständigung ist eine Sprach- sie ungehindert einreisen und als selbst- ihrer Arbeitskraft geworden sind. Am 15. kundige dabei. Die Frauen erhalten recht- ständig arbeitend beim Finanzamt ange- Mai 2001 begann die Fachberatungsstel- lichen Rat, werden medizinisch versorgt, meldet werden. Ihr Aufenthalt ist dann le FRANKA, gefördert vom Hessischen geschützt. Kein Fall ist wie der andere; die formal legal. So hat die Polizei immer sel- Sozialministerium mit ihrer Arbeit. Seit dem Jahr 2008 wird die FRANKA Fach- Frauen sind zwischen 20 und Anfang 60 tener eine Handhabe, eine Frau aus dem beratung vom Diakonischen Werk Region Jahre alt, haben Kinder oder sind allein, Milieu zu lösen. Viele trauen sich nicht Kassel getragen. Der FRANKA e.V., der manchmal gibt es Ehemänner; aber allen auszusteigen und machen aus Furcht vor die Fachberatung initiiert hat und in den ist eins gemein: Sie sind sehr verletzbar, Repressalien keine Aussagen. Viele Tatbe- ersten Jahren auch Träger der Arbeit war, haben Schlimmes durchgemacht, bis sie stände kommen oft zusammen, Bettelei, unterstützt die Fachberatung seitdem als an die Helferinnen von FRANKA oder an Organhandel, Menschenhandel, sexuelle Förderverein finanziell und mit Öffentlich- eine andere Stelle des großen Netzwerks und Arbeitsausbeutung – die Liste ist er- keitsarbeit, Lobbyarbeit und Vernetzung der Frauenhilfe gerieten. schreckend. Was braucht FRANKA, um hel- mit Kooperationspartnern. fen zu können? „Die Beratung muss aus- FRANKA e.V.: Auch, was nun geschieht, ist indivi- gebaut werden“, ist die Antwort. 39 Fälle franka.verein@dw-region-kassel.de duell verschieden. Manche Frau braucht betreuten sie im Jahr 2020, im laufenden FRANKA Fachberatung: nur einmal Rat, andere werden über Tage, sind es bereits 32 bis zum Ende August; franka.fachberatung@ dw-region-kassel.de Wochen und Monate betreut und beglei- gemeinsam haben sie 45 Wochenstunden www.dw-region-kassel.de tet. „Das fängt manchmal beim Allernö- zur Verfügung. ● tigsten an“, sagen die Frauen – sprich: Es Anne-Kathrin Stöber 8 blick in die kirche | MAGAZIN | Oktober 2021
THEMA Sie vergab den Mördern ihrer Eltern Marie Kresbach entkam dem Völkermord an den Tutsi und sagt, Gott habe sie gerettet M arie Kresbach hat als Kind den ter ein Bekehrungs- Völkermord an den Tutsi in Ruan- erlebnis. Werden da überlebt, Familienmitglieder, Sie manchmal ein- Freunde und Nachbarn wurden ermordet. fach für verrückt Heute lebt sie in Deutschland, ist verhei- erklärt? ratet und Mutter. Im Interview erzählt sie Kresbach: Ich habe vom Grauen – und wie sie zu Gott fand. früher so gelebt, als gäbe es diesen Gott ? Wenn Sie heute an Ruanda denken, welches Bild haben Sie im Kopf? Marie Kresbach: Die tausenden Hügel, zwar, aber er wäre unendlich weit weg. Als das mit der Stim- das ist das Markenzeichen von Ruanda. me geschah, war Und ich liebe Berge. Gott plötzlich sehr Foto: Daniel Biskup nah. Ich dachte erst: ? In Ihrem Buch erzählen Sie, dass Sie für Ihre Kinderpsychologin ein Bild gemalt haben, das diese zum Weinen Das kann nicht sein, ich träume, ich bilde mir das ein. Aber ich brachte. Was war darauf zu sehen? hatte diese Stimme Kresbach: Ich sehe es 27 Jahre später schon einmal ge- noch vor mir: Ein Mann mit einer Mache- hört und wegen ihr te, ganz viel Blut, es liegen tote Menschen in Ruanda überlebt. auf dem Boden. Es war ein schreckliches Diese Stimme gab Foto: Rahel Täuber Bild – das, was ich 1994 gesehen hatte. mir Sicherheit. ? Sie waren neun, als große Teile Ihrer Familie ermordet wurden. Das kann ein Kind eigentlich nicht verkraften. ? Überlebende von Massakern berichten oft von Dem Grauen entkommen: Marie Kresbach lebt heute mit ihrer Fami- Kresbach: Eigentlich nicht. In der Welt ei- Schuldgefühlen, lie in Esslingen bei Stuttgart nes Kindes ist erst einmal alles heil; ich weil sie überlebt hatte eine wunderschöne Kindheit. Plötz- haben, andere nicht. Kennen Sie das? auf sich genommen und dieser Gott bittet lich wurde die Welt, wie ich sie bis dato Kresbach: Ja. Die 23 Jahre, bevor ich Je- sogar für seine Feinde um Vergebung. Ich gekannt hatte, anders. Es ist schwer zu sus annahm, waren von Schuldgefühlen spürte, wie Gott zu mir sagte: Die Mörder vergleichen, aber eine ähnliche Erfahrung geprägt. Auch Hass und Gedanken an haben noch Macht über dich. Ich bekam haben die Menschen in der Pandemie ge- Vergeltung haben mein Leben geprägt. ein Zeichen, dass ich die Last am Kreuz macht: Von heute auf morgen war alles Ich hätte das nie wirklich getan, aber in abgeben und nicht mehr tragen sollte. anders. Bei mir war das damals noch här- meiner Fantasie habe ich mir ausgemalt, ter. Menschlich ist das kaum auszuhalten. was ich mit den Tätern tun würde. ? Die Vergebung war für Sie selbst auch eine Befreiung? ? Sie quälte die Frage, wie Gott das zu- lassen konnte. Was ist Ihre Antwort? Kresbach: Eine Antwort habe ich nicht. ? Sie haben den Mördern Ihrer Familie Kresbach: Absolut. Vergeben heißt aber sogar vergeben. Wie geht das? nicht: vergessen, nicht mehr weinen, nicht Kresbach: Es war ein Prozess. An dem Tag, mehr trauern, alles ist in Ordnung. Im Wort Aber die Frage hatte sich erübrigt, als ich an dem ich Jesus begegnet bin, war ich Vergebung ist „geben“ enthalten, man ent- Jesus begegnet bin. Die Frage nach dem von einer unbeschreiblichen Liebe erfüllt, scheidet, die Last abzugeben. ● Warum, die mich mein Leben lang ge- die mich von da an begleitete. Ich bekam Fragen: Olaf Dellit quält hatte, war nicht mehr relevant, son- Durst, diesen Gott kennenzulernen und be- dern die Dankbarkeit war plötzlich ganz gann, die Bibel zu lesen. groß. Ich weiß, dass klingt komisch, aber Es gibt einen Moment, da sagt Jesus: Marie Kresbach/ es ist nur mit göttlicher Kraft zu erklären. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, Priska Lachmann: Steh was sie tun.“ Dieser Satz hat sich mir tief auf, mein Kind, und geh! ? Sie beschreiben eine göttliche Stim- eingeprägt. Ich sah, was Jesus am Kreuz Gerth-Verlag 2021, 16 Euro me, die Sie in Ruanda rettet und spä- ausgehalten hatte und dachte: Er hat alles blick in die kirche | MAGAZIN | Oktober 2021 9
KIRCHE & GELD „Wir haben eine Kultur des vorsichtigen Umgangs mit Geld“ Interview mit Pfarrer Frieder Brack über die Finanzen der EKKW ? Warum ist eine neue Finanzverfas- sung für die Landeskirche nötig? Frieder Brack: Das bisherige Vertei- ZUR PERSON Frieder Brack ren ihrer Berufstätigkeit oft in höheren Ge- haltsklassen angekommen sind. Wenn die- se Generation ab 2025 in den Ruhestand (60) ist Gemein- lungsverfahren, das im Laufe der Jahre geht, werden wir das auch in der Steuer- depfarrer in immer komplizierter wurde, haben wir Foto: medio.tv/Schauderna Witzenhausen kasse deutlich spüren. Bis 2030 wird so vereinfacht: Wir schütten künftig pro Mit- und im Ehrenamt auch für die Kirche ein Einnahmerückgang glied einen definierten Betrag aus. Früher Vorsitzender des entstehen. Langfristig jedenfalls sagt die wurden kleine und große Gemeinden un- Finanzausschusses sogenannte Freiburger Studie bis 2060 ein terschiedlich behandelt. Die Einnahmen der Synode der Minus für die Kirchen voraus – 60 Prozent aus Kirchensteuern wurden im Verhältnis Evangelischen weniger Mitglieder und entsprechend we- 50:50 geteilt – eine Hälfte für den lan- Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW). niger Einnahmen. deskirchlichen Teil, die andere für den ge- Dieses Gremium hat in den letzten drei ? meindlichen Teil. Im landeskirchlichen Teil Jahren ein neues Finanzzuweisungsgesetz Mit welchen Zahlen kalkulieren Sie wurde zum Beispiel auch die Besoldung für die Landeskirche erarbeitet, das die für die Zukunft? Wie sieht der Dop- Verteilung der Kirchensteuern und anderer und Versorgung der Pfarrer abgebildet, die pelhaushalt für 2022/23 aus? Einnahmen an die Gemeinden und Einrich- in den Gemeinden Dienst tun. Zukünftig Brack: Der aktuelle landeskirchliche tungen neu regelt. gibt es nur noch einen Gesamthaushalt. Haushalt liegt bei 273 Millionen Euro. Unsere Prognosen für 2022 und 2023 ? Und wie funktioniert das in Zukunft? Brack: Die Landessynode muss aus- handeln, was bestimmte Handlungsfelder »Wir müssen jetzt die Spielräume für sinnvolle gehen von einem realen Rückgang mit jeweils zwei Prozent minus pro Jahr aus, also rund sieben Millionen Euro weniger. der Landeskirche als Budget bekommen Sparentscheidungen nutzen.« Dramatisch ist das nicht, aber es wird spür- und mit welcher Pro-Kopf-Summe Ge- bar enger. Deshalb kann man zukunftswei- meinden und Kirchenkreise bedient wer- Brack: Zu Beginn der Coronakrise sende Entscheidungen nicht mehr auf die den. Das Geld kommt dann also in einer warnte die EKD, die Landeskirchen müss- lange Bank schieben. Wenn wir erst mit Summe dort an und die Gremien vor Ort ten für 2020 mit fünf bis zehn Prozent dem Rücken zur Wand stehen, haben wir müssen entscheiden, wie das Geld in ih- Einnahmeverlusten rechnen. Weil wir noch weniger Spielräume für sinnvolle Sparent- rer Region eingesetzt werden soll. Die Er- von einem Plus im ersten Quartal zehren scheidungen. Wir müssen sie jetzt treffen. kenntnis, die dahintersteht: Wir müssen konnten, waren wir Ende des Jahres nur das weniger werdende Geld auf möglichst einfache und transparente Art nutzen. Das neue System wird zum 1.1.2022 wirksam. ein knappes halbes Prozent im Minus. Na- türlich gab es auch Kurzarbeit und Einspa- rungen bei Sachausgaben, weil manche ? Welche Maßnahmen wären das? Brack: Bereits 2015 wurden Spar- beschlüsse für die EKKW gefasst: 25 Pro- kirchliche Arbeit unter den Bedingungen zent Kürzungen für alle Bereiche, in denen ? Gibt es Gewinner und Verlierer im neuen System? Brack: Gerechtigkeit ist ein schwieri- des Lockdowns nicht getan werden konn- te. Insgesamt sind wir in Kurhessen-Wal- deck glimpflich davongekommen. es nicht irgendwelche Verträge gab – aus- genommen die Jugendarbeit. Seitdem ist das Bewusstsein auf allen Ebenen dafür ges Wort, das habe ich gelernt. Jeder, der gewachsen, dass wir auch mit weniger Mit- einen Euro weniger kriegt, fühlt sich un- gerecht behandelt. Von allen akzeptierte Maßstäbe zu finden, ist schwierig. Trans- ? Laut EKKW-Statistik brachte 2020 einen Mitgliederverlust von 2,2 Pro- zent. Das müsste ja eigentlich zu weni- teln Kirche sein können. Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit vor Ort wächst. Dabei erweisen sich die neuen Kooperationsräu- parenter soll das neue System sein, und ger Einnahmen führen, oder? me zunehmend als nützlich. Darüber hin- es achtet darauf, dass das Geld möglichst Brack: Wir hatten eine außergewöhn- aus wird der immer noch hohe Bestand an direkt dahin fließt, wo auch die Verantwor- lich gute Konjunktur über einen langen Gebäuden langfristig nicht zu halten sein. tung wahrgenommen wird in Kirchenge- Zeitraum. Wenn viel gearbeitet und ver- meinden oder -kreisen. dient wird, zahlen auch die weniger wer- denden Mitglieder ja mehr Steuern und in ? Wo gibt es noch Sparpotenzial? Brack: Es gibt zum Beispiel ein neu- ? Wie hat sich die Corona-Pandemie auf die Finanzsituation der Landes- kirche ausgewirkt? infolgedessen auch mehr Kirchensteuer. Dazu kommt, dass die Angehörigen der Babyboomer-Jahrgänge in den letzten Jah- es Konzept für die Kirchenmusik, das die Arbeitsverhältnisse der Kantoren sichern und mit Pop- und Kinderkantoraten gleich- 10 blick in die kirche | MAGAZIN | Oktober 2021
KIRCHE & GELD zeitig für größere musikalische Vielfalt sor- gen soll. Gerade sind wir dabei, uns in der Landeskirche auf allen Ebenen über den Bischöfin: „Wir schauen nicht zu, Auftrag der Kirche zu verständigen. Am Ende müssen dann konkrete Antworten wir werben um Mitgliedschaft“ stehen: Was sind zukünftig Schwerpunkte unserer Arbeit? Da muss die Landessynode EKKW-Statistik 2020: Mitgliederverlust, weniger Taufen, weniger Austritte für die Landeskirche und jede Region der D Landeskirche für ihren Verantwortungsbe- ie Corona-Pandemie hinterlässt ih- Jahr 2020 einen Mitgliederverlust von reich den Weg beschreiben und beschrei- re Spuren auch in der Statistik der 2,3 Prozent im Vergleich zu 2019. Aktu- ten. Entsprechende Anpassungen müssen Evangelischen Kirche von Kurhes- ell beläuft sich die Zahl der evangelischen dann ihren Niederschlag im übernächsten sen-Waldeck (EKKW) für das Jahr 2020 Kirchenmitglieder der 20 EKD-Gliedkirchen Doppelhaushalt finden (2024/2025). – vor allem mit Blick auf die Taufen: Ihre auf rund 20,2 Millionen. Strategische Weichenstellungen dieser Art Zahl hat sich gegenüber dem Vorjahres- „Jeder Austritt tut weh, denn er hin- erhoffe ich im nächsten Frühjahr. zeitraum nahezu halbiert. Hatte es 2019 terlässt Lücken in der Gemeinschaft und landeskirchenweit noch 6.123 Taufen ge- im Solidarnetz“, sagt Bischöfin Dr. Beate ? Und in welchen Bereichen wird neu investiert? Brack: Wie gesagt, die kirchliche Ju- geben, waren es im Corona-Jahr 2020, als Kontaktbeschränkungen Feierlichkeiten er- schwerten, nur 3.053 Taufen. Insgesamt Hofmann mit Blick auf den Gemeindeglie- derrückgang. Dieser Entwicklung schaue die EKKW aber nicht tatenlos zu, sondern gendarbeit ist von Sparzielen ausgenom- registrierte die EKKW zum Stichtag 31. De- begreife sie als Herausforderung: „Wir wer- men. Die Kindertagesstätten werden wie zember 2020 genau 767.149 Mitglieder ben um Mitgliedschaft“, unterstrich die Bi- bisher finanziert, einschließlich der jährli- und somit einen Verlust von rund 16.800 schöfin. chen Personalkostensteigerungen – das ist Gemeindegliedern. Im Vorjahr waren es Jüngstes Beispiel dafür ist die Tauf- ein Riesenposten. noch 783.980 Gemeindeglieder, berichte- kampagne der EKKW. Wer getauft ist, Wir investieren aber auch in Einzel- te Vizepräsident Dr. Volker Knöppel. gehört zur Gemeinschaft der Christen maßnahmen: Am Edersee wurde gerade Die Zahl der Austritte ist zurückge- und wird in die evangelische Kirche auf- ein neues Gebäude der „Kirche unterwegs“ gangen: Sie lag 2020 bei 7.037, das genommen. Mit einem Anschreiben sollen eingeweiht, in dem Angebote für Urlauber sind rund 1.200 weniger als im Vorjahr jene ermuntert werden, die die Taufe des gemacht werden. Ein Innovationsfond wird (2019: 8254). Auch der demografische Nachwuchses beiseitegeschoben haben, ausgelobt, der jährlich mit einer Million Wandel ist Grund für den Mitgliederver- weil die Pandemie das Feiern erschwert Euro ausgestattet ist. Mit dieser Summe lust der ländlich geprägten Landeskirche: hat, erläutert Prälat Bernd Böttner. So ha- sollen innovative Projekte mit Modellcha- 13.033 Kirchenmitglieder sind im Jahr be es zuletzt Tauffeste gegeben, etwa im rakter unterstützt werden. Die Stelle ei- 2020 gestorben; 2019 wurden 12.995 Juli in Kassel, wo bei der Aktion „Kassel nes/einer Innovationsbeauftragten wird evangelische Verstorbene registriert. 566 tauft draußen“ 35 Menschen getauft wur- neu eingerichtet. Sie soll innovative An- Menschen wurden 2020 neu in die EKKW den. Gefragt seien ferner neue Formate im sätze begleiten und vernetzen. aufgenommen (2019: 816). familiären Kontext wie die „Taufe im Gar- Zudem gibt es seit Juni eine Digita- Mit einem Mitgliederverlust von knapp ten“. Prälat Böttner zeigt sich optimistisch: lisierungsbeauftragte, die die Kirche an 2,2 Prozent liegt die EKKW im bundeswei- „Aufholen braucht Zeit, aber wir gehen es dieser Stelle voranbringen soll. All dies ten Trend: Die EKD verzeichnet für das an.“ ● Pressestelle EKKW kostet auch Geld, ist aber im Blick auf die Zukunft gut eingesetzt. ? Wie steht die EKKW im Vergleich zu anderen Landeskirchen da? Brack: Auch in dieser Hinsicht sind wir in Kurhessen-Waldeck „Kirche der Mitte“. Wir haben eine Kultur des vorsichtigen Umgangs mit Geld. Wenn ich an die Fi- nanzkrise 2008 oder auch an die Corona- krise denke, ist es uns bisher gelungen, sol- Foto: medio.tv/Schauderna che Situationen durchzustehen, ohne dass wir uns von Mitarbeitern trennen oder gra- vierende Einschnitte vornehmen mussten. Solche Verlässlichkeit bekommt der Kirche auf lange Sicht gut. ● Fragen: Lothar Simmank blick in die kirche | MAGAZIN | Oktober 2021 11
THEMA Als Pfadfinder auf Spurensuche Das Abenteuer wartet draußen in der Natur: Manchmal ist es recht anstrengend, wenn Pfadfinder auf große Fahrt gehen – wie Robin Günkel am Lagerfeuer erzählt D ie Anspannung vor der Reise war erreichten wir schließlich unser vermeintli- finder zusammenschweißen. Diese Ge- groß: Werden wir morgen alle Zug- ches Tagesziel. Wir waren bis dahin schon schichten werden später am Lagerfeuer verbindungen erreichen? Sind wir knapp 20 Kilometer gewandert und raus erzählt. rechtzeitig am Ziel in der Unterkunft? Ha- aus dem Hochgebirge, uns umgaben ledig- Es muss nicht in weit entfernte Gebir- be ich alle Papiere zur Einreise dabei? lich noch die Ausläufer der Berge. ge für solche Abenteuer gereist werden – Wir Pfadfinder suchen das Abenteuer Allerdings gefiel nicht allen der ausge- auch im Harz oder in der Rhön sind solche und versuchen dabei einfach und unter wählte Schlafplatz, und nach einigen Dis- Gruppenerlebnisse möglich. Verzicht zu reisen. Ein Taxi etwa kommt kussionen entschieden wir uns weiterzuzie- Mein Tipp: Laden Sie doch einmal Ih- für uns nicht infrage. Meist übernachten hen. Wir mussten an diesem Abend noch re Freunde ein, packen Sie den Rucksack wir mit und ohne Zelt in der Natur. zwölf Kilometer wandern, um an einen Ort – viel mehr als ein paar Wechselklamot- Im Sommer 2019 waren wir in der Ho- zu gelangen, der uns allen zusagte – näm- ten und ausreichend Proviante braucht es hen Tatra in der Slowakei und in Polen lich das Basis-Zeltlager unserer Gruppe. nicht – und ziehen Sie los in Ihr nächstes unterwegs. In diesem Hochgebirge leben Der Weg dorthin war allerdings sehr be- Abenteuer. Dann können Sie beim nächs- noch Braunbären, und die meisten Men- schwerlich. Den Aufstieg vom Morgen in ten Lagerfeuer sicherlich von ähnlichen schen sprechen kein Deutsch. Folglich stu- den Knochen, die schweren Rucksäcke mit Spuren der Gemeinschaft erzählen. ● dierten wir vorher zahlreiche Karten und Essen und Ausrüstung auf dem Rücken suchten uns Schutzhütten raus, in denen und die hereinbrechende Dämmerung er- Robin Günkel Fotos: VCP Kurhessen Gemeinsam unterwegs im Hochgebirge: Mitglieder des Verbands Christlicher Pfadfinderinnnen und Pfadfinder – Region Kurhessen (VCP) wir übernachten konnten. In der ersten müdeten uns. So wurde jeder Schritt zur VCP Nacht schliefen wir in einem wunderschö- Qual. Nur durch gegenseitiges Motivieren nen naturbelassenen Hochtal mit See und und Mut zusprechen kamen wir voran. Je- Im Verband Christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder (VCP), der zur Evangeli- vereinzelten Nadelbäumen. Am nächsten der Schritt fühlte sich an wie in Zeitlupe. schen Jugend Deutschlands gehört, sind Morgen standen wir schon um 4 Uhr auf, Hätte mir jemand vor dieser Wande- rund 47.000 Kinder und Jugendliche um den nahegelegen Zweitausender zu rung erzählt, dass wir als Gruppe im Gebir- aktiv. Als Teil einer großen Gemeinschaft erklimmen. Der Plan war, den Sonnenauf- ge mit 14-jährigen Jungen und Mädchen lernen sie spielerisch und mit viel Spaß, gang auf dem Gipfel zu erleben. Oben an- eine solche Strecke an einem Tag wandern Verantwortung zu übernehmen, sich in gekommen, blieb uns leider der Ausblick würden – ich hätte es nicht für möglich die Gruppe einzubringen und ihre eigenen verwehrt und wir badeten in einem ekeli- gehalten. Stärken zu entdecken. Fürs Mitmachen gen, kalten Nebelmeer. Schnell begannen Dass wir diese Herausforderung als spielen im VCP weder Konfession, wir mit dem Abstieg, um der Kälte und Gemeinschaft geschafft haben, ließ jeden Geschlecht oder Herkunft eine Rolle. Nässe zu entrinnen. Nach einem Mittags- über sich hinauswachsen. Genau diese www.vcp.de schlaf und zahlreichen kleineren Pausen Abenteuer sind die Spuren, die uns Pfad- www.vcp-kurhessen.info 12 blick in die kirche | MAGAZIN | Oktober 2021
RATGEBER Was mutet mir das Schicksal zu? Die Telefonseelsorge versteht sich als ein niedrigschwelliges Angebot der Kirche, das Menschen in Lebens-, Sinn- und Glaubensfragen begleitet und stärkt. S ie ruft nicht zum ersten Mal bei der Chemotherapie, eine Zeit des Hoffens und Salome Möhrer-Nolte leitet das Team Grafik: Adobe Stock Telefonseelsorge an, sondern seit et- Bangens. Sie begleitet ihren Mann in die- der TelefonSeelsorge Nordhessen e.V., wa drei Monaten immer mal wieder. ser schwierigen Zeit, ist für ihn da. Die bei- das anonym und kostenlos rund um die Ich bin zum Nachtdienst am Telefon, die den Kinder sind in der Pubertät, der Sohn Uhr erreichbar ist unter Zeit, in der die Telefonseelsorge besonders hat Schwierigkeiten in der Schule, und die Tel. 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222 gebraucht wird. Ich erkenne die Anruferin* Frau fühlt sich oft an den Grenzen ihrer Be- www.telefonseelsorge.nordhessen.de an ihrer ganz eigenen Art der Gesprächser- lastbarkeit. Mittlerweile ist das Schlimmste öffnung: „Haben wir schon einmal gespro- überstanden. Ihr Mann gilt als geheilt und chen?“ In der Regel ist ein Gespräch mit kommt langsam wieder zu Kräften. Nach einiger Zeit gelingt es uns im der Telefonseelsorge ein einmaliger Kon- Gespräch, gemeinsam einen Blick auf ih- takt. Bei mehr als 65 ehrenamtlich Mitar- Ich bin eine „Trotzdem-Frau” re Ressourcen und Kraftquellen zu werfen beitenden, die zu unterschiedlichsten Zei- und dort ganz behutsam anzuknüpfen. ten Telefondienste an der Sorgenhotline Vor einem halben Jahr passiert etwas, Nur wenn das Leid und die Trauer Raum übernehmen, ist die Wahrscheinlichkeit das die mittlerweile 50-Jährige zutiefst er- haben können und ausreichend gewürdigt gering, wieder auf dieselbe Seelsorgerin schüttert und bis heute komplett aus der werden, kann der Blick irgendwann auch zu treffen. Bahn wirft: Ihr 18-jähriger Sohn nimmt auf Stärkendes gelenkt werden Im Leben Als ich die Frage bejahe, spüre ich, wie sich das Leben. Neben der Verzweiflung jeder Person gibt es Ressourcen, das ist die Anruferin aufatmet. Das erspart ihr, und tiefen Trauer begleitet sie die Frage meine Erfahrung und tiefe Überzeugung. noch einmal ihre Geschichte erzählen zu nach dem Warum. „Warum mutet mir das Am Ende kommt die Anruferin in die- müssen und noch einmal in das Leid der Schicksal so viel zu, wieso immer noch ser Nacht auf eine Idee zu sprechen. Sie vergangenen Zeit einzusteigen. mehr?“ All dies zu erzählen und die Ver- überlegt, ihre Geschichte aufzuschreiben, Ich weiß aus einem vergangenen Tele- zweiflung und ihre Fragen an das Leben um anderen Menschen in ähnlichen Situ- fonat, dass sie Schweres im Leben erlebt und an Gott ausdrücken zu können, war ationen Mut zu machen. Und da sie gern hat. Ihre Mutter ist gestorben, als sie 15 das, was sie im ersten Telefonat mit der schreibt, hätte ein solches Projekt auch für Jahre alt war. Sie musste früh Verantwor- Telefonseelsorge suchte. Großes Leid und sie selbst eine heilsame Wirkung. Ich ermu- tung übernehmen für ihre jüngeren Ge- Verzweiflung mit auszuhalten, Worte zu tige sie dazu. Am Ende des Gesprächs sagt schwister. Nach Schule und Ausbildung finden für die Erschütterung und den sie diesen mutmachenden Satz: „Ich bin lernte sie ihren Mann kennen, er ist ihre Schmerz mitzufühlen, das ist eine der zwar eine vom Leben gezeichnete Frau mit große Liebe. Zwei Kinder bekommt das schwersten Aufgaben für unser Team. Narben, Verletzungen und tiefem Schmerz, Paar. Die Anruferin erzählt von glücklichen Beim Gespräch in dieser Nacht möch- aber ich bin auch eine ‚Trotzdem-Frau‘: Familienjahren. Sie findet neben ihrem te die Anruferin nicht noch einmal in ih- Trotzdem lebe ich weiter, trotzdem versu- Beruf und der Familienarbeit auch noch re Geschichte eintauchen. Sie kann nicht che ich, etwas Gutes aus meinem Leben Zeit, ihrem Hobby, dem Schreiben nach- schlafen und nicht aufhören zu weinen zu machen und trotzdem hoffe ich, dass zugehen. Alles in allem gute Jahre, wie sie und weiß nicht, wie sie sich wieder beru- es auch für mich immer wieder Momen- berichtet. higen kann. Manchmal braucht es dazu te gibt, in denen ich aufatmen und mich Dann ein erneuter Schicksalsschlag: eine andere Person. Wir reden miteinan- leicht fühlen kann, auch wenn der Schmerz Vor drei Jahren erkrankte ihr Mann an der, ihre Traurigkeit darf da sein und kann mich immer begleiten wird.“ ● Krebs. Eine sehr belastende Zeit beginnt: ausgesprochen werden, das beruhigt sie * Zum Schutz der Anruferin wurde das Bei- Krankenhausaufenthalte des Mannes, allmählich. spiel anonymisiert und ein wenig verändert. blick in die kirche | MAGAZIN | Oktober 2021 13
RÄTSEL Gezeichnet – geheilt Das blick-Rätsel von Karl Waldeck Kein Mensch ist ein unbeschriebenes Blatt. Bereits Erfahrungen aus frühester Kindheit, Familie, Schule, später Arbeit und Partnerschaft prägen, auch die Begegnung mit Religion. Das heutige blick-Rätsel fragt nach Personen der Bibel, die markante, nachhaltige Spuren des Lebens aufweisen. – Viel Freude bei der Bibellektüre und beim Lösen des Rätsels! 1 4 Die Schwiegermutter. Ein kleines Kammerspiel, ein Drei- Gezeichnet – geheilt. Blind ist er und muss deshalb Personen-Stück ist das biblische Buch Rut – es handelt von betteln. Als Jesus auf seinem Weg an ihm vorbeikommt, Verlust, Zugewandtheit und neuem Glück, auch von interkul- ändert sich sein Leben mit einem Mal zum Guten. Der tureller Begegnung. Rut heißt die Namensgeberin des Buches, die Sohn des Timäus, so wird er im 10. Kapitel des Markusevangeli- ihrer Schwiegermutter verspricht: „Wo du hingehst, da will auch ums auch genannt, bittet Jesus um Erbarmen, er ruft nach ihm. ich hingehen …“ Wie heißt die Schwiegermutter? Spannend ist die Frage, die Jesus an den Blinden richtet: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ So wird auch er Subjekt LEA SARAI NOEMI und nicht allein Objekt in der Geschichte. Er möchte sehen, und Jesus heilt ihn, so wird berichtet. Von wem ist die Rede? 2 Gib ihnen einen Namen. Die Namen der Opfer kennen MATTHÄUS NIKODEMUS BARTIMÄUS – und nennen! Das wird heute zu Recht gefordert mit Blick auf Gewalttaten unterschiedlichster Art. Gesucht wird hier 5 der Namen des Opfers des ersten Tötungsdeliktes, von dem die Tiefpunkt und Neustart. Er konnte austeilen – in Ge- Bibel berichtet: im 4. Kapitel des 1. Buchs Mose. Sein Bruder, also danken, Worten und Werken – und musste einstecken. Das der Täter, ist stärker im Bewusstsein, nicht zuletzt das Zeichen, ging so weit, dass er fliehen muss und lebensmüde wird. das man mit ihm verbindet: das zum geflügelten Wort gewordene Doch Gott richtet ihn auf wundersame Weise auf. Es ist eine der Kains-Mal. Wir aber fragen nach Kains Bruder, dem zweitgebore- schönsten Geschichten der Bibel, nachzulesen im 19. Kapitel des nen Sohn des ersten Menschenpaars Adam und Eva. Wie hieß er? Königsbuches. Von welchem „Gottesstreiter“ wird dort berichtet? LOT ABEL NOAH ELIAS JOSEF MOSE 3 Jakobs große Liebe. In den Geschichten der sogenann- ten Erzväter der Bibel (Abraham, Isaak, Jakob) geht es ausgesprochen menschlich zu – im Guten wie im weniger Guten. Hier geht es um Liebe: Erzvater Jakob liebt eine Tochter seines Verwandten Laban: ein Glück, das lange auf Erfüllung war- Senden Sie das Lösungswort ten muss, so nachzulesen im 1. Buch Mose, Kapitel 29. Wie aber bis zum 25. Oktober 2021 (Einsendeschluss) hieß die Frau, an der Jakobs Herz hing? auf einer frankierten Postkarte an: blick in die kirche Heinrich-Wimmer-Str. 4 TAMAR HANNA RAHEL 34131 Kassel oder per E-Mail an: raetsel@blick-in-die-kirche.de Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Die Redaktion behält sich vor, Die ersten Buchstaben (in Fettschrift) der richtigen Antworten die Namen der Gewinner zu veröffentlichen. Teilnehmende erklären ihr Einverständnis. Namen und Adressen der Einsender werden von 1 bis 5 ergeben das Lösungswort. Wissenschaftlich wird nicht gespeichert, nicht weitergegeben oder weiterverwendet. es so definiert: „Als … wird nach Zerstörung des kollagenen Netzwerks der Haut ein faserreiches Ersatzgewebe (Fibrose) Lösungswort des letzten Preisrätsels (Juni 2021) war NATUR. bezeichnet, das einen Endzustand der Wundheilung darstellt.“ Gewinner waren Waltraud Strüßmann (Wolfhagen), Anni Möller Was für den Körper gilt, trifft auch für die Seele zu. Eine Spur (Kalbach), Hilde Gallenkamp (Edertal), Gudrun Endter des Lebens kann auch hier eine … sein. (Schmalkalden) und Annegret Wolf (Brotterode). 14 blick in die kirche | MAGAZIN | Oktober 2021
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