STREITKULTUR AUSGABE 2021 - DEMOKRATIE UNTER DRUCK Praxisbuch Politik: Europa-Impulse

Die Seite wird erstellt Denise Döring
 
WEITER LESEN
STREITKULTUR AUSGABE 2021 - DEMOKRATIE UNTER DRUCK Praxisbuch Politik: Europa-Impulse
AU SGABE 2 02 1

STREITKULTUR                   EI TE N LO H N T
    W O FÜ R ES SI C H ZU ST R

                                                        Praxisbuch Politik:
                                             ANSTÖSSE

                                                        DEMOKRATIE
                                                        UNTER DRUCK
www.streitkultur-magazin.de
STREITKULTUR AUSGABE 2021 - DEMOKRATIE UNTER DRUCK Praxisbuch Politik: Europa-Impulse
STREITKULTUR
Wofür es sich zu streiten lohnt
                                                                                                      Inhalt

    Liebe Freund*innen
                                                                                                      Vorwort
der Willi-Eichler-Akademie,                                                                           // Sebastian Scharte                   S. 02

                                                                                                      Parteiendemokratie in Zeiten von
                                                                                                      „Fridays for Future“
                                                                                                      // Luca Samlidis                       S. 03
die repräsentative Demokratie, wie wir sie       gegenüber neuen Bewegungen wie „Fridays
kennen, steht unter Druck – und mit ihr die      For Future“ ist ein oft genanntes Beispiel.          Demokratie unter Druck
sie tragenden politischen Parteien. Einerseits                                                        Drei Fragen an Jörg Sommer
fordern seit einigen Jahren neue Parteien die    „Der Staat ist kein Pizzalieferdienst“, hat          // Dr. Sebastian Scharte               S. 06
etablierten heraus: am prägnantesten die         Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig
rechtspopulistische bis -extreme AfD, aber       einmal gesagt und sich auf eine nicht unge-          Frauen nehmen Anlauf
ebenso eine dezidiert pro-europäische – und      fährliche Denkweise in Teilen der Bevölke-           Herausforderungen für Frauen in der
transnationale – Bewegung wie Volt, die          rung bezogen: der*die Bürger*in bestellt, die        ­Kommunalpolitik und Verwaltung
neben einem Sitz im Europaparlament mitt-        Politik setzt 1:1 um. So allerdings funktio-          // Dörte Schall                   S. 09
lerweile auch kommunalpolitische Erfolge in      niert Demokratie nicht, hat Demokratie noch
Bundesländern wie Bayern, Nordrhein-West-        nie funktioniert. „Demokratie muss nicht ‚lie-       Gemeinsame Herausforderungen
falen, Hessen und Niedersachsen verzeich-        fern‘, Demokratie ist schon die Lieferung. Sie       brauchen gemeinsame Lösungen
net. Andererseits schwindet das generelle        ist weniger das Instrument zur Wohlstands-           Ein Plädoyer für ein vereintes,
Vertrauen in die Parteien(-demokratie) und       verwahrung als vielmehr ein Verfahren zur            föderales Europa der Zukunft
die handelnden Politiker*innen, so dass die      Herstellung von Würde“, so auch Hedwig               // Rebekka Müller und Tobias Berger S. 12
Rufe nach anderen, neuen Wegen von Par-          Richter und Bernd Ulrich kürzlich in der ZEIT.
tizipation lauter werden. Unterschiedliche                                                            Vom Erstwähler zum Erstwahlhelfer
Formen von Bürgerbeteiligung, auch Instru-       Wir hoffen, mit dieser Ausgabe der Streitkul-        // Achim Wölfel                  S. 16
mente direkter Demokratie, werden auf euro-      tur einige Denkanstöße zu liefern, Diskussio­
päischer, Bundes-, Landes- und lokaler Ebene     nen anzuregen – und wünschen viel Freude             Die Demokratiewerkstatt des
diskutiert, gegebenenfalls getestet, für gut     bei der Lektüre!                                     Willi-Eichler-Bildungswerks in Köln-Kalk
befunden, wieder verworfen. Und mittendrin                                                            Ein Projekt in Kooperation mit der
in all den Debatten: die eigentlich per Wahl     Für die Redaktion                                    Landeszentrale für politische Bildung
legitimierten Vertreter*innen in den jeweili-                                                         ­Nordrhein-Westfalen
gen Parlamenten, denen häufig eine Veran-                                                              // Ahmad Zaza                       S. 18
kerung höchstens noch in ihrer Partei, nicht
aber mehr in der Gesellschaft unterstellt        // Dr. Sebastian Scharte                             Permanenter Bürgerdialog in Ostbelgien
wird. Die Sprachlosigkeit von Politiker*innen                                                         Eine Initiative des Parlaments der
                                                                                                      ­Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens
                                                                                                       // Anna Stuers                    S. 20

Impressum
Die STREITKULTUR wurde gegründet vom Verein für politische Bildung und Information Bonn e. V. (VPI Bonn) und ist heute eine Publikation der
Willi-Eichler-Akademie e. V.

Herausgeber: Willi-Eichler-Akademie e. V.,                                  Fotonachweise: Ale­xander Hauk/pixelio.de (S. 03-05, S. 12/13), ­Tanea
Venloer Wall 15, 50672 Köln, Tel.: 0221-168 898 70,                         Sommer (S. 06 oben), Dr. Klaus-Uwe Gerhardt/pixelio.de (S. 06/07
E-Mail: kontakt@web-koeln.de                                                unten), Esthe Stosch/pixelio.de (S. 08), Cornelia Menichelli/pixelio.de
Redaktion: Martin Schilling (verantwortl.),                                 (S. 11), Stefan Erdmann/pixelio.de (S.14), Gabi Eder/pixelio.de (S. 16
Dr. Sebastian Scharte, Luisa Schmitt, Ahmad Zaza                            oben), Michael Lucan/pixelio.de (S. 16 unten), Achim Wölfel (S. 17)
E-Mail: redaktion@streitkultur-magazin.de
Layout, Satz: Regina Fischer

SEITE
02
STREITKULTUR AUSGABE 2021 - DEMOKRATIE UNTER DRUCK Praxisbuch Politik: Europa-Impulse
Parteiendemokratie
                              in Zeiten von „Fridays for Future“

In der Anfangszeit der „Fridays for Future“-Bewegung fragte mich eine ältere Dame sorgenvoll, ob ich den
deutschen Parteien die Bewältigung der Klimakrise überhaupt zutraue. Reflexhaft wollte ich mit „ja“ antwor-
ten, doch irgendetwas hielt mich davon ab. Dieser Moment hat mich zum Nachdenken gebracht. Jetzt bin ich
selbst Parteimitglied. Doch trotzdem ist mir klarer als je zuvor: Wenn Parteien – gerade die altgedienten –
sich nicht rasch verändern, steht im Parteiensystem der Bundesrepublik ein Umbruch bevor.

Parteien lassen sich treiben

Die neue Klimabewegung hat im Land eine        nutzen. Es gibt keinen besseren Zeitpunkt für     Politik nicht nur über Sachfragen entscheidet,
starke Politisierungswelle ausgelöst – doch    eine Partei, sich zu verändern, als jetzt. Doch   sondern diese durch gesellschaftliche Veran-
die meisten Parteien erscheinen neben den      es hindert sie das, was sie immer hindert: Die    kerung erst identifiziert und zum Politikum
motivierten Aktivist*innen sprichwörtlich      eigene Trägheit. Dabei war das nicht immer        macht. Im Gegensatz dazu treiben soziale Be-
blass. Eine solche Energie, wie sie Bewe-      so. Nach dem Krieg haben sich die Parteien        wegungen die gewählten Volksvertreter*innen
gungen in die politische Debatte einbringen,   und ihr Personal in besonderer Art und Wei-       heute immer öfter vor sich her und bestimmen
kennen viele Parteien wohl kaum noch. Und      se verdient gemacht. Die Menschen im Land         die Agenda selbst. Sie warten nicht mehr, bis
gerade das ist das große Problem. Denn auch    fühlten sich vertreten, der Wiederaufbau und      Politiker*innen ihre Themen bearbeiten, son-
die etablierten Parteien wären gut beraten,    die Wiedereingliederung in das internationale     dern werden selbst aktiv. Es herrscht der Ein-
den nahezu überschwänglichen Veränderungs-     Staatensystem gelang. Die Bonner Republik ist     druck: „Die etablierte Politik erkennt unsere
drang für sich und die Menschen im Land zu     ein Beispiel für lebendige Demokratie, in der     Probleme nicht.“

                                                                                                                                        SEITE
                                                                                                                                          03
STREITKULTUR AUSGABE 2021 - DEMOKRATIE UNTER DRUCK Praxisbuch Politik: Europa-Impulse
STREITKULTUR
Wofür es sich zu streiten lohnt

Parteienverdrossenheit vs.                         for ­Future“-Demonstration in Deutschland           Parteistrukturen werden – mal mehr und mal
Politikverdrossenheit                              Parteisymbole oder -fahnen erlaubt sind.            weniger ironisch – auf die Schüppe genom-
                                                                                                       men. Und gerade Wahlkampfmanöver der eta-
Es gibt zwei Wege, mit dem Gefühl umzuge-          Anstatt einer Abnahme des politischen Interes-      blierten Kräfte werden schneller durchschaut
hen, dass die herrschenden Parteien den Blick      ses gab es eine Verschiebung dessen in andere       als noch vor einigen Jahren. Kurz: Die junge
für die Herausforderungen des 21. Jahrhun-         Kanäle. Doch wenn die Parteien nicht zumin-         Generation ist aktiver Teil des Diskurses und
derts weitgehend verloren haben. Der eine ist      dest einen Teil der engagierten Jugend für sich     produziert ihre eigenen Formate. Das hat es
Resignation und Destruktivität. Der andere ist     gewinnen können, kann das auf lange Sicht           vorher nur in begrenztem Rahmen, beispiels-
Organisation und öffentlicher Druck. Die Akti-     zu einer Vergiftung des politischen Diskurses       weise über Jugendzeitschriften, gegeben. Das
vist*innen der Klimabewegung haben sich für        führen. Es findet eine Entfremdung von Jugend       Ergebnis: Die junge Generation ist über weite
den zweiten Weg entschieden – und sind damit       und herrschender Politik statt, aber niemand        Teile besser mit sozialen Medien vertraut als
überaus erfolgreich, wie auch die defensiven       sieht sich dafür in der Verantwortung.              die ältere Amtsinhaber*innen und Institutio-
Reaktionen aus Politik und Wirtschaft zeigen.                                                          nen – die kommunikative Wellenlänge driftet
Der Erfolg lädt förmlich ein, sich in der Klima-   Die gemeinsame                                     ­auseinander.
bewegung zu engagieren – denn dort erreicht        ­Wellenlänge finden
man ohnehin mehr als in einer politischen                                                             Arbeitsstrukturen klaffen
Partei. Und sowieso sind die älteren Männer        Die oben skizzierte Entwicklung ist nicht leicht   auseinander
und Frauen in Parlamenten und Regierungen          zu erklären, doch einer der Ankerpunkte wird
die Gegner*innen. So zumindest der Eindruck.       das veränderte Kommunikations- und Informa-        „Eine Generation meldet sich zu Wort“, lautete
                                                   tionsangebot sein. Während zur „besten Zeit“       die Überschrift der Shell-Jugendstudie 2019.
An dieser Stelle entzündet sich ein Konflikt,      der Parteien Zeitungen und Radio, später auch      Ein Titel mit gewissem Zynismus. Immerhin
der über das Klischee der „politikverdrosse-       das Fernsehen, die größte Rolle in der öffent-     meldeten sich zu diesem Zeitpunkt zumindest
nen Jugend“ hinausgeht. Die Klimabewegung,         lichen Diskussion spielten, laufen ihnen heute     freitags in den Schulen deutlich weniger Schü-
aber auch andere soziale Bewegungen wie            diverse Kanäle in den sozialen Netzwerken          ler*innen zu Wort als sonst. Die Shell-Studie
beispielsweise „Black Lives Matter“ zeigen an-     den Rang ab. Soziale Medien haben eine Stär-       zeichnet ein deutliches Bild: Jugendliche sind
schaulich auf, dass gerade unter jungen Leuten     ke: Hier kann jede*r Inhalte so aufbereiten, wie   interessiert an politischen Themen und ge-
das politische Interesse und das Bewusstsein       er*sie es für richtig hält. Junge Menschen, die    willt, sich einzubringen. Doch ein Ergebnis
für Ungerechtigkeiten groß sind. Auch die          sich in der Regel besonders gut mit den neuen      lässt aufhorchen: Ein erheblicher Teil, immer-
Bereitschaft, dieses Interesse in Aktivität        technischen Möglichkeiten auskennen, werden        hin 71 % der Befragten, glaubt nicht, dass „Po-
umzusetzen, ist unbestreitbar da – wie sonst       so von Konsument*innen zu den sogenannten          litiker*innen sich darum kümmern, was Leute
hätte sich die „Fridays for Future“-Bewegung       „creators“ – also denen, die selbst Inhalte pro-   wie ich denken“. Auch hier zeigt sich die Par-
in dieser ungekannten Größenordnung entwi-         duzieren. Und Inhalte von jungen Menschen für      teienverdrossenheit – obwohl das Bewusstsein
ckeln können? Der Mythos der Politikverdros-       junge Menschen haben einen anderen Reiz als        für Demokratie unverändert groß bleibt. Eine
senheit unter Jugendlichen in Deutschland ist      beispielsweise das ARD-Morgenmagazin. Die          Bestätigung der hier skizzierten Erkenntnisse.
widerlegt. Und doch drängt sich förmlich die       zunehmende Zahl neuartiger Informationsan-
Frage auf, aus welchem Grund die politischen       gebote ermutigt junge Menschen, ihre Ansich-       Unterschiedliche Kommunikationsformen
Parteien, auf denen das politische System der      ten offensiver kundzutun. Ein Gewinn für die       wurden bereits als ein Grund für die starke
Bundesrepublik laut Grundgesetz basiert, ge-       Demokratie.                                        Entfremdung von Jugendlichen und Parteien
rade unter jungen, interessierten Menschen                                                            identifiziert. Doch auch die innere Struktur
häufig nur noch einen geringen Stellenwert         Dass soziale Netzwerke eine immer größere          spielt eine zentrale Rolle. Auf einer „Fridays
innehaben. Ich spreche in diesem Kontext           Rolle spielen, ist keine Neuheit. Politische       for Future“-Veranstaltung rief mir eine Organi-
von „Parteienverdrossenheit“ anstatt von           Parteien jedoch taten sich bis vor kurzem –        satorin inmitten von 15.000 Demonstrierenden
„Politikverdrossenheit“. Die Bedeutung par-        und tun es teils noch immer – schwer mit           scherzhaft, aber nicht gänzlich ironisch zu: „Ich
teipolitischer Gremien und Institutionen kann      dieser Entwicklung. Gut organisierte und ta-       bin so froh, dass wir das hier geschafft haben.
an ihrer Wirksamkeit gemessen werden. Und          lentierte Jugendliche und junge Erwachsene         Das ist mehr, als Merkel und so in zehn Jahren
auch wenn alle Entscheidungen schlussend-          sprangen auf den Zug hingegen schnell auf.         hinkriegen.“ Natürlich war das nicht ganz ernst
lich – aus guten Gründen – von den gewähl-         Das Ergebnis: Jede kleinste Entscheidung oder      gemeint, doch es benennt zentrale Probleme,
ten Volksvertreter*innen getroffen werden,         Äußerung einer Politikerin oder eines Politi-      die Jugendliche mit Parteien haben: Oft lang-
scheint bei Jugendlichen ebendiese Wirksam-        kers wird online von allen Seiten begutachtet.     atmige Prozesse, unnötige Bürokratie und das
keit nicht mehr besonders groß eingeschätzt        Und zwar von Menschen der jungen Generati-         Gefühl, dass die Notwendigkeiten – gerade in
zu werden. Das könnte auch eine Erklärung          on, die mittlerweile auch „politische Influen-     Bezug auf die Klimakrise – hinter Papiertigern
dafür sein, weshalb auf nahezu keiner „Fridays     cer“ genannt werden. Die oft eher veralteten       und meterdicken Aktenordnern in Vergessen-

SEITE
04
STREITKULTUR AUSGABE 2021 - DEMOKRATIE UNTER DRUCK Praxisbuch Politik: Europa-Impulse
Worauf es neben strukturellen
                                                                                                       Reformen parteiintern und im
                                                                                                       politischen Prozess also auch an-
                                                                                                       kommt, ist, Parteiarbeit zu erklären.
                                                                                                       Selbstkritisch, aufgeschlossen und
                                                                                                       veränderungsbereit.

                                                                                                       Eine Ebene finden

                                                                                                       Streng genommen folgt aus dieser Argumen-
                                                                                                       tation eines: Entweder etablierte Parteien
                                                                                                       ändern ihr Image und ihre Arbeitsweise, oder
                                                                                                       motivierte Jugendliche suchen sich andere For-
                                                                                                       men des Engagements. Doch ganz so einfach ist
                                                                                                       die Situation dann doch nicht. Erstens werden
                                                                                                       außerparteiliche Bewegungen auch bei besten
                                                                                                       und modernsten Parteistrukturen nicht obso-
heit geraten. Die Klimabewegung macht ein          days for Future“ agieren. Diese Erwartung wer-      let. Eine „Fridays for Future“-Massendemonst-
anderes Angebot: Jede*r kann sich so einbrin-      den SPD, CDU und Co. nur enttäuschen können.        ration lässt sich nicht mit einer zehnstündigen
gen, wie er*sie möchte, jederzeit pausieren, je-   Worauf es neben strukturellen Reformen par-         Plenartagung in Berlin vergleichen, weder in
derzeit wiederkommen. Automatisch dazu gibt        teiintern und im politischen Prozess also auch      Ziel noch Ausdruck. Das liegt nicht zuletzt am
es achtsame Aktivist*innen, die für das glei-      ankommt, ist, Parteiarbeit zu erklären. Selbst-     ganzheitlichen und repräsentativen Anspruch,
che Anliegen kämpfen – und dann auch noch          kritisch, aufgeschlossen und veränderungsbe-        den Politik an erster Stelle erfüllen muss, die
messbaren Erfolg. Ohne die Klimabewegung           reit. Denn wenn Aktivist*innen eins nicht mehr      Klimabewegung jedoch nicht. Zweitens wird
wäre heute nicht einmal ein Bruchteil dessen       hören können, dann den Satz: „Es ist doch           die Modernisierung des Parteiensystems nur
in Bewegung gekommen, worüber jeden Tag            schon so viel passiert.“ Gerade mit Blick auf       dann gelingen, wenn beide Seiten sich auf-
diskutiert wird. Und das ist den Aktivist*innen    die Erderwärmung, die das existenzielle Prob-       einander zubewegen. Nicht zwangsläufig in-
meistens auch bewusst.                             lem dieser Zeit darstellt, ist diese Aussage fast   haltlich – denn die Klimabewegung hat die
                                                   schon provozierend. Und sie ist Inbegriff des       geballte Kraft der Wissenschaft auf ihrer Seite.
Die Parteien können da nicht mithalten. Ent-       Problems. Parteien punkten bei Jugendlichen         Jedoch was die politische Streitkultur angeht.
scheidungen dauern zu lange und greifen zu         und jungen Erwachsenen nicht mit Ausreden,          Denn am Ende brauchen Bewegung und Partei-
kurz, Personalkämpfe überschatten Inhalte          sondern mit Plänen, überprüfbaren Erfolgen          en sich gegenseitig, um echte Veränderung zu
und es häufen sich Korruptionsskandale auf         und Kommunikation auf Augenhöhe. Beleh-             schaffen. Diese gemeinsame Ebene bei allen
höchster Ebene. Außerdem ist in der Regel eine     rende Hinweise auf Erfolge der letzten fünf         inhaltlichen Streitpunkten aufrecht zu erhal-
Mitgliedschaft nötig, um sich in einer Partei zu   Jahre, die von der führenden Wissenschaft           ten, wird die große Herausforderung sein und
engagieren. Und diese Bindung einzugehen –         als unzureichend bezeichnet werden, beein-          bleiben. Meine Mitgliedschaft in der sozialde-
gerade dann, wenn man nicht mit allem ein-         drucken niemanden mehr. Was die Parteien            mokratischen Partei dient auch diesem Zweck.
verstanden ist, was die Partei tut – braucht       jetzt noch retten kann, ist ein Bekenntnis zu       Parteien brauchen Veränderung von unten und
Überwindung. Viele Engagierte entscheiden          gemeinschaftlich gestalteter Veränderung.           einen anderen Kommunikationsstil – doch der
sich an diesem Punkt gegen die Veränderung         Hinter diesem abstrakten Bekenntnis verbirgt        fällt nicht vom Himmel. Irgendwo braucht es
von „innen“ und bleiben beim Aktivismus. Man       sich etwas ganz Konkretes: Es braucht eine          einen Anfang. Dann kann das Projekt „Klimak-
kann es ihnen nicht verübeln.                      „Bewegung“ von Jung und Alt, die Parteistruk-       rise stoppen“ noch gelingen.
                                                   turen und politische Entscheidungsfindung
Parteien können von der Klimabewegung              neu denkt. Eine Reform von unten, nicht nur         // Von Luca Samlidis
lernen. Allerdings ist das politische System       aus den etablierten Parteizentralen heraus. So,     Samlidis ist Journalist und Moderator und
Deutschlands nicht darauf ausgerichtet, dass       wie „echte“ Bewegungen entstehen – nur eben         engagiert sich für soziale Gerechtigkeit und
Parteien als „Bewegungen“ im Sinne von „Fri-       mit einer anderen Ausrichtung.                      Klimaschutz.

                                                                                                                                                SEITE
                                                                                                                                                  05
STREITKULTUR AUSGABE 2021 - DEMOKRATIE UNTER DRUCK Praxisbuch Politik: Europa-Impulse
STREITKULTUR
Wofür es sich zu streiten lohnt

                                                Wie muss sich unsere repräsentative Demo-
                                                kratie, müssen sich die politischen Parteien
                                                verändern, gar neu erfinden, um zukunftsfä-
                                                hig zu sein?

                                                Die Institutionen unserer repräsentativen
                                                Demokratie haben an Gestaltungskraft verlo-
                                                ren. Das ist eine Diagnose, keine Katastrophe.
                                                Denn Gesellschaften verändern sich. Ob de-
                                                mokratische Gemeinwesen oder autokratische
                                                Diktaturen, nur selten hatten sie unverändert
                                                über viele Generationen Bestand. Im Gegen-
                                                teil: Stillstand bedeutete nur allzu häufig den
                                                Anfang vom Ende. Immer wieder wurden Ge-
                                                sellschaften, die über einen langen Zeitraum
                                                keine Veränderungen zuließen, instabil, von
                                                Gegenbewegungen delegitimiert und von
                                                Umwälzungen mit revolutionärem Charakter
                                                hinweggefegt.

                                                Unser aktuelles deutsches gesellschaftliches

                                  Demokratie    Modell, die repräsentative Demokratie, ist
                                                historisch eher jung. Obwohl global die re-
                                                präsentative Demokratie in den vergangenen

                                  unter Druck   zwei Generationen das Modell mit der größten
                                                Attraktivität in zahlreichen unterschiedlichen
                                                Nuancen und Ausprägungen war, ist es auch
                                                ein Modell, das erkennbar an Grenzen stößt.

             Drei Fragen an Jörg Sommer         Der Befund in den meisten demokratischen
                                                Ländern ist ähnlich: Überall wird es schwie-
                                                riger, zu einem stabilen Konsens zu kommen.
                                                Das destabilisiert wichtige gesellschaftliche
                                                Grundprinzipien wie Diskurs sowie Kompro-

SEITE
06
STREITKULTUR AUSGABE 2021 - DEMOKRATIE UNTER DRUCK Praxisbuch Politik: Europa-Impulse
missfähigkeit und -bereitschaft. Sie aber sind    Jede Säule dieser zukunftsfähigen, vielfältigen    Reine Repräsentation
unverzichtbar für eine lebendige Demokratie.     Demokratie hat dabei ihre eigenen Prozesse:        wird unsere ­Demokratie
                                                  Die repräsentative Säule wird durch Wahlen
Diese „Lebendigkeit“ müssen wir in Zukunft        geprägt, die direktdemokratische durch unmit-      nicht dauerhaft
über rein repräsentative Strukturen hinaus-       telbare Abstimmungen der Bürger*innen. In der      ­stabilisieren können.
denken. Reine Repräsentation wird unsere De-
mokratie nicht dauerhaft stabilisieren können.
                                                  Beteiligung geht es um Deliberation: Also den
                                                  gemeinsamen Diskurs mit Wirkungsanspruch.
                                                                                                      Unsere Institutionen
Unsere Institutionen und ihre Akteure haben       Genau das ist besonders wichtig, um die social      und ihre Akteure ­haben
bereits erheblich an Akzeptanz verloren. Dazu     bubbles zu überwinden und gesellschaftliche         ­bereits erheblich an
kommt: Die sozial-ökologische Transformation,     Konsense neu auszuhandeln – hier stehen wir
die uns angesichts des Klimawandels bevor-        vor großen Herausforderungen.
                                                                                                    ­Akzeptanz verloren.
steht, wird unsere Gesellschaft in ihren Grund-
festen erschüttern.                               Welche Arten von Beteiligung, Partizipation
                                                  der Zivilgesellschaft sind dabei wünschens-       Wichtig ist nur, dass diese Diskurse stattfin-
Ein solcher Prozess kann nur dann den gesell-     wert, welche nicht?                               den – und zwar massenhaft. Es geht dabei um
schaftlichen Zusammenhalt bewahren, wenn                                                            demokratische Selbstwirksamkeitserfahrun-
er in der Gesellschaft breit verhandelt und       Prägend für Partizipation ist der Diskurs. Es     gen. Die kann man eben nur selbst erleben.
letztlich getragen wird. Allein in den Parla-     sind also alle Formen und Formate sinnvoll, in    Durch diese Erlebnisse entwickeln sich Men-
menten und Parteien kann dies nicht gelingen.     denen unmittelbarer Diskurs von Bürger*innen      schen zu Demokraten – denn das ist uns nicht
                                                  untereinander, aber auch mit politischen Ent-     in die Wiege gelegt. Demokratie ist eine Kul-
Wir müssen unsere Demokratie also breiter         scheidern ermöglicht wird.                        turkompetenz, die man entwickeln muss. Und
aufstellen, nicht mehr nur auf eine Säule (re-                                                      eine starke Demokratie braucht eben vor allem
präsentative Strukturen), sondern auf alle drei   Das muss nicht immer ein ausgeklügeltes,          eins: Demokraten.
Säulen der „Vielfältigen Demokratie“. Ergänzt     hippes Format mit schönem Titel sein, wie ein
also durch mehr direktdemokratische Entschei-     „Town Hall Meeting“, eine „Planungszelle“ oder    Das aber wird man nicht vom Zuschauen. In-
dungen und vor allem durch mehr Beteiligung.      ein „Bürgerrat“. Das kann auch mal ein schlich-   sofern ist der aktuelle Hype um zufällig aus-
                                                  ter Stuhlkreis sein.                              geloste „Bürgerräte“ zwar förderlich für die
Entwickelt wurde dieses Modell von der „Al-                                                         Wahrnehmung von Bürger*innenbeteiligung.
lianz Vielfältige Demokratie“, für die ich als                                                      Aber alleine durch Bürgerräte werden wir die
Koordinator tätig bin. Darin arbeiten über                                                          Demokratie kein bisschen stabilisieren. Pro
220 Expert*innen aus Wissenschaft, Politik,                                                         Bürgerrat organisieren wir im Optimalfall de-
zivilgesellschaftlichen Organisationen, aus                                                         mokratische Selbstwirksamkeitserlebnisse bei
Wirtschaft, Verwaltungen, auch aus fast allen                                                       0,00015 % der Bevölkerung. Da brauchen wir
Bundesministerien und allen Landesregierun-
gen intensiv zusammen. Deren Empfehlungen
haben also durchaus Gewicht und praktischen
Politikbezug.

                                                                                                                                            SEITE
                                                                                                                                               07
STREITKULTUR AUSGABE 2021 - DEMOKRATIE UNTER DRUCK Praxisbuch Politik: Europa-Impulse
STREITKULTUR
Wofür es sich zu streiten lohnt

                                                Institutionen. Das erleben wir schon heute.
                                                Die Gefahr ist real, dass Autoritäre, Populisten,
                                                Rechtsradikale und Demokratieverächter dies         Entscheidend ist dabei der Prozess. Langfris-
                                                ausnutzen, um die Demokratie zu beerdigen.          tig geht es um breite Demokratieerfahrungen,
                                                                                                    nicht um Akzeptanz oder Legitimation für po-
                                                Da hilft es nicht, den Vertrauensverlust zu         litische Entscheidungen, oder um Vertrauens-
                                                beklagen. Im Gegenteil. Das „Verlangen nach         bildung.
                                                Vertrauen“ ist in einer Demokratie kontrapro-
                                                duktiv. Eine Erwartung im Sinne von: „Ihr lehnt     Denken wir immer daran: Herrscher brauchen
                                                euch vertrauensvoll zurück, wir machen das          Vertrauen. Demokraten brauchen Diskurs.
                                                schon ...“ ist das Konzept von Herrschaft, nicht
mehr Angebote, insbesondere auf kommunaler      von Demokratie.                                     Die Fragen stellte Dr. Sebastian Scharte,
Ebene – und vor allem Beteiligung von Betrof-                                                       Pädagogischer Mitarbeiter des Willi-Eichler-­
fenen, nicht von irgendwelchen zufällig aus-    Demokratie konnte erst entstehen, als die Un-       Bildungswerks.
gelosten Gruppen. Wir müssen Schüler*innen      tertanen ihren Herrschern eben kein Vertrauen
und Eltern zur Schulentwicklung beteiligen,     mehr zubilligten. Das Wesen der Demokratie
Senior*innen und andere Betroffene zu Barri-    ist es, den Regierenden zu misstrauen, sich
erefreiheit, Anwohner*innen zur Verkehrspo-     deshalb selbst am Willensbildungsprozess zu
litik, Migrant*innen und Alteingesessene zur    beteiligen, ihre Entscheidungen zu hinterfra-
Integration usw.                                gen, Argumente zu verlangen und darauf zu               Jörg Sommer
                                                bestehen, überzeugt zu werden. Seneca spricht
Vor allem müssen wir sicherstellen, dass wir    vom „Vertrauen auf die Wahrheit und Vertrau-            ist Politikwissenschaftler und Sozio-
gezielt jenen Gruppen Angebote machen, die      en auf sich selbst.“                                    loge, er beschäftigt sich seit über 30
in den anderen Säulen unterrepräsentiert                                                                Jahren mit Fragen des gesellschaftli-
sind. Männliche Akademiker über 50 mit gu-      Eine der größten Gefahren in der demokrati-             chen Engagements und Zusammen-
tem Einkommen sind tatsächlich auch in vie-     schen Gesellschaft ist die Überwertung von              haltes. So gibt er unter anderem das
len Beteiligungsprozessen dominant, weil sie    Vertrauen. Wenn Vertrauen regiert, entsteht             in zweijährigem Rhythmus erschei-
über die nötigen Ressourcen und Kompeten­zen    Raum für Missbrauch, erodiert demokratische             nenden „KURSBUCH BÜRGERBE-
verfügen. Hier bedarf es gezielter Ansprache    Kontrolle.                                              TEILIGUNG“ heraus. Er ist Direktor
so genannter „beteiligungsferner“ Gruppen.                                                              des Berlin Institut für Partizipation
Da gibt es in der Praxis bereits umfangreiche   Um Vertrauen zu ringen, ist nicht verwerflich.          (bipar) und in dieser Eigenschaft
Erfahrungen. Es geht. Man muss es nur wollen.   Misstrauen zu akzeptieren, ist dagegen klug.            auch als Gutachter und Berater für
                                                Eine starke Demokratie lebt vom gesunden                Parlamente, Ministerien, Stiftungen
Wie erreichen wir einen (neuen) Konsens über    Misstrauen der Bürger in ihre Regierenden und           und Verbände tätig. Außerdem wirkt
die demokratische Legitimation politischer      deren ausführenden Organe. Genau das moti-              er als Koordinator der Allianz Viel-
Entscheidungen und politischen Handelns?        viert zu Beteiligungsbereitschaft. Gibt es dann         fältige Demokratie, in der über 220
                                                auch entsprechende Angebote, können Diskur-             Expert*innen aus Bundesministerien,
Legitimation in der modernen Demokratie         se stattfinden, die Gemeinwohl generieren, Zu-          allen Landesregierungen, internatio-
entsteht nicht mehr nur durch Wahlen und        sammenhalt fördern und so auch Akzeptanz für            nalen Organisationen, Wissenschaft,
Grundvertrauen in demokratische Institutio-     die anstehenden tiefgreifenden Umwälzungen              Wirtschaft und Zivilgesellschaft an
nen – sondern durch aktive Mitgestaltung der    schaffen. Dazu müssen diese Diskurse dann               der Entwicklung und Erprobung neu-
Vielen. Eine zukunftsfähige Demokratie, die     aber auch einen Wirksamkeitsanspruch haben.             er Formen zivilgesellschaftlichen En-
die Herausforderungen von Digitalisierung,      Wirkungslose Beteiligung ist wertlose Betei-            gagements und Bürgerbeteiligung ar-
Globalisierung und Klimawandel bewältigt,       ligung. Schön inszenierte „Kanzler*innendia-            beiten. Seit 2020 publiziert er einen
kann diese Bewältigung nicht mehr allein an     loge“ werden unsere Demokratie nicht in die             kostenlosen wöchentlichen Newslet-
die Politik delegieren.                         Zukunft tragen. Da braucht es mehr. Sehr viel           ter demokratie.plus zu Fragen der De-
                                                mehr. In den vergangenen Jahren hat sich da             mokratie und des gesellschaftlichen
In Zeiten tiefgreifenden Wandels – und wir      bereits viel getan, die Beteiligung in unserem          Zusammenhalts.
befinden uns noch am Anfang eines solchen       Land ist auf dem Vormarsch, aber wir stehen
Wandels – schwindet das Urvertrauen in die      erst am Beginn dieses Weges.

SEITE
08
STREITKULTUR AUSGABE 2021 - DEMOKRATIE UNTER DRUCK Praxisbuch Politik: Europa-Impulse
Frauen nehmen Anlauf
                          Herausforderungen für Frauen ­
                     in der Kommunalpolitik und Verwaltung

Im Jahr 2020 waren 9 % der Stadtoberhäupter         im Durchschnitt mehr Frauen als Männer. Der        Faktoren zusammen, die sich in allen Branchen
weiblich. In den letzten 5 Jahren ist die Zahl      Großteil der Beschäftigten arbeitet nach wie       gleich darstellen. Die Mütter machen im All-
der Bürgermeisterinnen in Deutschland sogar         vor in den klassischen Feldern. So sind Erzieher   gemeinen länger Elternzeit als die Väter, und
zurückgegangen. Zum Zeitpunkt der ersten            oder Feuerwehrfrauen auch heute noch Aus-          wenn es danach keine ausreichende Betreuung
Wahl im Jahr 1919, zu der Frauen das Wahl-          nahmen. Im Öffentlichen Dienst gibt es aller-      gibt, geht die Mutter in Teilzeit. Auch bei der
recht hatten, saßen bereits 8,7 % Frauen in der     dings auch einige Bereiche, in denen Frauen im     Entscheidung, ein Kind länger zu Hause zu
Weimarer Nationalversammlung. Frauen sind           stärker vertreten sind als in entsprechenden       betreuen, ist es in der Regel die Mutter, die
in allen Teilen der Gesellschaft aktiv und en-      Berufen anderer Branchen.                          diese Aufgabe übernimmt. Häufig unabhängig
gagiert. Ihr Anteil an den kommunalen Ämtern                                                           von der Qualifikation. Im Alter von 20 bis 40
entspricht aber nicht der gesellschaftlichen        Bei näherer Betrachtung entspricht auch dies       Jahren werden jedoch viele berufliche Weichen
Verantwortung und Teilhabe.                         jedoch oftmals einem Rollenbild, wonach die        gestellt, die sich auf die Zukunft auswirken.
                                                    Frau neben der Arbeit häufig zusätzlich zu         Im Öffentlichen Dienst sind die Möglichkeiten
Woran liegt das? Es gibt durchaus Kommu-            Hause die Care-Arbeit stemmen soll. Der Öf-        von Teilzeit und auch die Optionen, nach einer
nen, in denen Frauen auch bei den wichtigen         fentliche Dienst bietet Sicherheit und feste       gewissen Zeit wieder in Vollzeit zu kommen,
politischen Ämtern die Mehrheit stemmen,            Arbeitszeiten - oder zumindest gute Planbar-       einfacher als in anderen Branchen. Trotzdem
zum Beispiel im Fraktionsvorsitz, in der Ver-       keit. Die Arbeitsplätze und die Einkommen          erfordert dies einen besonderen Einsatz der
waltungsspitze oder bei den repräsentativen         sind sicher und darüber hinaus gibt die Ver-       Beschäftigten und die Unterstützung durch
Ehrenämtern. Häufiger kommen aber die Kom-          antwortung, für die Daseinsfürsorge und den        Vorgesetzte.
munen vor, in denen der Frauenanteil im ein-        Zusammenhalt in der Gesellschaft zu sorgen,
stelligen Prozentbereich oder gar bei null liegt.   den Mitarbeitenden festen Halt. Dafür gibt es      Hinzu kommt eine höhere Anerkennung von
Die Ungleichheit in den Spitzenpositionen           nach oben klare Grenzen durch Tarife.              Männern, wenn sie Sorgearbeit leisten, wäh-
zeigt sich auch in den Verwaltungen. Ähnlich                                                           rend die Wahrnehmung bei Frauen gleichgültig
wie in der Wirtschaft gibt es die gläserne De-      Dennoch ist auffällig, dass auch hier, je höher    ist oder auch in die negative Richtung schlägt.
cke, die Frauen in der mittleren Ebene der Füh-     es in der Hierarchie geht, der Frauenanteil ge-    So ist es – zumindest im Bereich des Öffent-
rungen festhält. In den Verwaltungen arbeiten       ringer wird. Das hängt vielfach mit äußeren        lichen Dienstes – durchaus üblich, dass der

                                                                                                                                               SEITE
                                                                                                                                                 09
STREITKULTUR AUSGABE 2021 - DEMOKRATIE UNTER DRUCK Praxisbuch Politik: Europa-Impulse
STREITKULTUR
Wofür es sich zu streiten lohnt

              In Verwaltungen wie auch           gewertet? Die meisten Arbeitsausfälle aus          Die Kommunalpolitik ist ein vielfach unter-
               in der Wirtschaft macht           Sportverletzungen entstehen beim Fußball,
                                                 auch viele langfristig auftretenden Erkrankun-
                                                                                                    schätztes Politikfeld. Oft scheint die große
                                                                                                    Politik in Brüssel und Straßburg, in Berlin oder
                  eine gezielte Förderung        gen sind Folgeschäden von Sport.                   zumindest in Düsseldorf wichtiger und interes-
             den Unterschied. Das kann                                                              santer zu sein. Aber die wichtigsten Entschei-

             eine Quote sein, als ebenso         Die sichere Möglichkeit, die insbesondere von
                                                 Frauen wahrgenommen wird, Sorgearbeit zu
                                                                                                    dungen werden vor Ort getroffen. Wo fährt der
                                                                                                    Bus, was kostet die Kita, ist das Mittagessen
              effizient erweist sich aber        leisten und dabei im Beruf in Teilzeit zu arbei-   in der Schule gut und gesund, wo entsteht ein
                  häufig eine tatsächliche       ten, hat zwei Seiten. Zum einen ist es häufig
                                                 anzutreffen, dass sich die in Teilzeit arbeiten-
                                                                                                    neues Quartier? Gibt es Jugendzentren, ein
                                                                                                    Schwimmbad, Theater, Konzerte, Bürgerzent-
                     Entscheidung, in der        den Beschäftigten ganz besonders auf die Sa-       ren, Begegnungsstätten für Ältere? Gibt es ein
                 Verwaltung nach einem           che konzentrieren. In der Dienstzeit steht die     kommunales Krankenhaus? Wer betreibt Was-
           modernen Leitbild zu fördern.         Tätigkeit im Fokus, oft auch die Freude an der
                                                 Arbeit, die nicht durch Gleichförmigkeit über
                                                                                                    ser- und Energieversorgung, Straßen und die
                                                                                                    Müllabfuhr? Welche Wohnungen und Häuser
                                                 den Tag getrübt wird. Diese Effizienz kann         werden gebaut? Gibt es barrierefreie Wege?
                                                 die reduzierten Stunden ausgleichen. Auch          Wie steht es um die Erreichbarkeit von Stadt-
junge Familienvater für zwei Monate Eltern-      über den zunehmenden Einsatz von mobilen           teilzentren oder öffentlichen Einrichtungen?
zeit gelobt wird und ihm die Erfahrung auch      Arbeitsmöglichkeiten kann ein doppelter Le-
in der künftigen Laufbahn als soziale Kompe-     bensentwurf, also die gleichzeitige Orientie-      Da die konkrete Daseinsvorsorge sich so direkt
tenz angerechnet wird. Bei der Mutter wird es    rung auf Beruf und Familie, vereinfacht wer-       entscheidet, ist die Kommunalpolitik um eini-
hingegen als selbstverständlich erachtet, dass   den.                                               ges greifbarer, und dadurch machen sich die
sie sich einige Zeit um die Kinder kümmert,                                                         Menschen, die dort aktiv sind, auch angreifba-
wobei dies weniger als besondere gesell-         In den Leitungsfunktionen der Verwaltungen         rer. Je nach Größe der Kommune sind die Men-
schaftliche Erfahrung anerkannt wird. Häufig     macht jedoch nicht der Familienstand den Un-       schen, die in Räten und Verwaltungen arbeiten,
wird ein junger Familienvater eher befördert,    terschied. Auch in den Bereichen der vermeint-     bekannt und sichtbar. Bürgermeister*innen
da die angelernte Rollenverteilung ihn als       lichen Frauenberufe dominieren männliche           werden im Allgemeinen in ihren Orten erkannt
Hauptverdiener sieht. Dementsprechend wer-       Führungskräfte. In Verwaltungen wie auch in        und sind jederzeit ansprechbar. Kommunalpo-
den Männern häufig Stellen angeboten, die        der Wirtschaft macht eine gezielte Förderung       litik ist ehrenamtliche Politik. Sie erfordert viel
Unterstützung bieten, während Frauen gezielt     den Unterschied. Das kann zum Beispiel eine        Zeit und ein großes Engagement. Nicht immer
weniger Verantwortung angeboten wird, da die     Quote sein; als ebenso effizient erweist sich      wird das wertgeschätzt.
Sorgearbeit einberechnet wird. Dieses Förder-    aber häufig eine tatsächliche Entscheidung,
verhalten von Vorgesetzten geschieht häufig      in der Verwaltung ein moderneres Leitbild zu       Frauen kandieren anders als Männer. Frauen
unbewusst entsprechend der eigenen Biografie     fördern.                                           geben bei der Nachfrage, was sie für eine Kan-
und Erfahrungen.                                                                                    didatur bewogen hat oft an, dass sie gefragt
                                                 Die gezielte Förderung von Nachwuchskräften,       wurden. Manchmal auch häufiger, bis der rich-
Wie oft werden Frauen noch gefragt, wie sie      Netzwerken und informellen Angeboten im            tige Zeitpunkt da war. Auch dies hat mit der
es mit der Kinderbetreuung hinbekommen, und      Freizeitbereich, die bewusst bestimmte junge       Lebenssituation und der Rollenaufteilung im
wie oft die Männer? Keine Frage, eine Frau in    oder auch alle Beschäftigten ansprechen, bie-      Privatleben zu tun. Hinzu kommt, dass Frauen
Mutterschutz fehlt bei der Arbeit, insbeson-     ten die Chance, langfristig divers und attraktiv   auch andere Netzwerke haben als Männer. Sie
dere wenn die Elternzeit lange andauert oder     aufgestellt zu sein. Bei manchen Strukturen        sind eher vielfältig engagiert, und das häufig in
mehrere ineinander übergehen. Aber wer hat       besteht die Gefahr, dass sie sich gewollt oder     vielen verschiedenen Verbänden und Vereinen.
schon mal eine*n Bewerber*in im Auswahlge-       ungewollt selbst reproduzieren. Hier gilt es,      Da Frauen weniger Vorbilder in den höheren
spräch gefragt, ob er oder sie Fußball spielt?   die Ziele und den Weg dahin zu hinterfragen        Positionen haben, ergibt es sich nicht allzu
Und wenn ja, haben Sie das positiv für Sport     und zu überprüfen. Systeme müssen sich den         häufig, dass sich eine Kandidatur automatisch
und Teamarbeit, oder als potenziellen Ausfall    Menschen anpassen, nicht umgekehrt.                in die Lebensplanung einfügt. Es werden Men-

SEITE
10
schen gefördert, in denen man sich selbst als
jüngerer Mensch sieht. Das ist ganz natürlich
bei dem Mann eher der jüngere Mann. Der jun-
ge Mann sieht sich automatisch in der Rolle ei-
nes Vorbildes und dessen Weg fügt sich natür-
lich in seine Planung ein. Deshalb vereinfacht
ein diverseres Rollenvorbild in den Kommunen
auch einen diverseren Nachwuchs, da der Weg
für die Betroffenen bereits geebnet ist.

So ergibt es sich, dass Frauen öfter konkret ge-
fragt werden, bevor sie bereit sind, eine höhere   selben Umfrage nennen Frauen die Themen           genen Fähigkeiten sind hier sehr wichtig. Qua-
Aufgabe anzunehmen. Währenddessen werden           Respektlosigkeit und Anfeindungen als eine        lifikationsangebote und gezielte Förderung
Männer im Laufe ihres Lebens anders nach           der größten Herausforderungen im Amt als          wirken motivierend, und das Hinterfragen von
den nächsten Schritten gefragt, so dass sich       Bürgermeisterin. Diese Aspekte werden als         Rollenbildern bei den Menschen, die entspre-
die Herausforderungen scheinbar natürlich          Hürden dabei fast doppelt so hoch gewertet        chende Stellen besetzen, kann Türen öffnen.
entwickeln. Dies kann bereits beginnen, wenn       als die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Vorbilder oder Persönlichkeiten in wichtigen       Frauen erleben insbesondere in den digitalen      Im Ehrenamt ist es außerdem wichtig, die eige-
Positionen jemanden positiv wahrnehmen             Medien sexualisierte Angriffe bis zu entspre-     nen Ansprüche zu hinterfragen. Quoten helfen
und anerkennen. So wird durch eine frühe           chenden Gewaltandrohungen. Frauen werden          auf dem Weg der Öffnung - sie machen es not-
Förderung bereits der Samen gepflanzt, sich        häufiger als Männer auf ihr Aussehen oder ihr     wendig, sich mit der Frage der Förderung aus-
später für weiterführende Posten zu interes-       Erscheinungsbild angesprochen oder gar redu-      einanderzusetzen. Sie sind aber nicht allein die
sieren. Die Selbstwahrnehmung, dass Männer         ziert. Die Bandbreite reicht dabei von unpas-     Lösung, wenn es nur ein Spitzenamt zu beset-
sich von selbst auf Posten bewerben, während       senden Ratschlägen und Bemerkungen bis hin        zen gibt. Hier gilt es, das Engagement attraktiv
Frauen gefragt werden wollen, ist daher nicht      zu Beleidigungen, Berührungen und unange-         zu gestalten, sich gegenseitig zu unterstützen
immer richtig, sondern entspricht auch dem         brachten Einladungen. Inzwischen gehen viele      und zu fördern. Das Ziel von Kommunalpolitik
anerzogenen Rollenklischee. Auch die Rollen-       Betroffene offen damit um, so dass sich auch      und Kommunalverwaltung ist es, das Leben
verteilung innerhalb der Partnerschaft ist nach    andere nicht mehr mit entsprechenden Über-        in der Kommune zu gestalten, und zwar für
wie vor ein Problem, was sich aber zunehmend       griffen ganz allein fühlen. Diese Art und Weise   alle Menschen, die dort leben. Nur wenn in
überlebt. Der gesellschaftliche Druck auf Fa-      von An- und Übergriffen führt auch dazu, dass     den Gremien viele Interessen vertreten sind,
milien wandelt sich und lässt den Freiraum,        Frauen sich nicht öffentlich engagieren wollen.   können Entscheidungen aus verschiedenen
selbst über die Gestaltung zu entscheiden. So      Hier gilt es, mit entsprechenden Zwischenfäl-     Blickwinkeln betrachtet werden. Die Verant-
sind gestillte Kinder in Gremien zunehmend         len an die Öffentlichkeit zu gehen, die Schuld    wortung für unsere Kommunen sollen Frauen
Normalität. Umgekehrt dürfen auch Väter eine       nicht bei den Opfern zu suchen und diese in       und Männer gemeinsam tragen, um den Blick
wichtige Rolle in der Betreuung und Erziehung      jeglicher Form zu unterstützen.                   für alle Probleme offenzuhalten und das Leben
einnehmen, die Müttern den Freiraum für Eh-                                                          vor Ort so zu gestalten, dass es für alle gut ist.
renamt oder verantwortungsvolle Berufsaus-         Die Kommune, die Verwaltung, als auch die Po-
übung lässt.                                       litik, sind zentrale Orte unserer Gesellschaft.   Es gibt für Frauen besondere Hürden, aber mit
                                                   Hier kann man, wie an wenigen anderen Stel-       Anlauf und Kraft können sie genommen wer-
In Wahlkämpfen haben Frauen mehr auszu-            len, das Leben – auch das eigene – gestalten      den.
halten als Männer. Eine aktuelle Umfrage der       und verbessern. In der Verwaltung gibt es vie-
Zeitschrift Kommunal bestätigt, dass 27 %          le Stellschrauben, an welchen für eine bessere    // Von Dörte Schall
der Frauen im kommunalpolitischen Wahl-            Förderung von Frauen in Führungspositionen        Schall ist Beigeordnete der Stadt Mönchen-
kampf persönliche, verbale Angriffe erleben.       gedreht werden kann. Unterstützung, Netz-         gladbach und leitet das Dezernat für Recht, So-
Bei Männern liegt der Anteil bei 17 %. In der-     werke, aber auch Mut und Vertrauen in die ei-     ziales, Jugend, Gesundheit, Verbraucherschutz.

                                                                                                                                                SEITE
                                                                                                                                                    11
STREITKULTUR
Wofür es sich zu streiten lohnt

SEITE
12
Gemeinsame
        ­Herausforderungen
              brauchen
            gemeinsame
             ­ ösungen
             L

            Ein Plädoyer für ein
 vereintes, föderales Europa der Zukunft
Denkt man an die Europäische Union, denkt man an Impfstoffmangel,
Krumme-­Gurken-Verbote und Uploadfilter. Ausschließlich? Hoffentlich nicht!

Unsere Vision ist ein vereintes, föderales Eu-   titutionen geschoben. Die Nebenwirkung: Die
ropa, in dem alle die gleichen Chancen haben,    Politiker*innen auf nationaler Ebene schaden
ihr Potenzial zu entfalten. Und dennoch müs-     der Demokratie. Denn es setzt sich das Gefühl
sen auch eingefleischte Europa-Fans wie wir      durch, dass über der eigenen Regierung noch
zugeben, dass es häufig negative Aspekte sind,   eine weitere Institution existiert. Eine, die man
die den Leuten beim Thema EU im Gedächtnis       nicht kontrollieren kann, oftmals nicht einmal
bleiben. Kommt aus Brüssel überdurchschnitt-     versteht und die das eigene Leben dennoch
lich viel Unsinn? Nein, vielmehr hat die EU      stark beeinflusst. So wird Frustration und Po-
ein Problem mit den politischen Akteur*innen     litikverdrossenheit gezüchtet – Nährboden,
ihrer Mitgliedstaaten. Zu häufig werden un-      den Populist*innen aller Länder nur zu gerne
liebsame Entscheidungen auf europäische Ins-     nutzen. EU? Exit!

                                                                                           SEITE
                                                                                              13
STREITKULTUR
Wofür es sich zu streiten lohnt

Wir möchten nicht allen vorwerfen, dass sie der
EU oder gar der Demokratie bewusst schaden
wollen. Aber es geschieht, weil es einfacher ist,
sich hinter Schuldzuweisungen zu verstecken,
als die häufig komplexen Lösungen für kom-
plexe Probleme erklären zu müssen. So kam es,
dass schnell auf die EU geschimpft wurde, als
man uns düstere Energiesparbirnen aufzwang.
Und redet nicht mehr darüber, seit helle und
energieeffiziente LED-Lampen gemütliches
Licht in unsere Wohnzimmer bringen. Bei Volt
möchten wir Lösungen anbieten, die uns aus
diesem Dilemma befreien. Um damit nicht nur
Europa zu stärken, sondern gerade auch un-
sere Demokratie. Dies muss auf allen Ebenen
geschehen und nicht zuletzt auch in Köln. Hier
möchten wir drei unserer Aspekte beleuchten,
die folgende Fragen beantworten:

•   Wie wirken wir Populismus und aufkom-
    mender Politikverdrossenheit entgegen?
•   Was müssen wir in der EU ändern, um sie         Einklang gebracht werden können. Doch evi-        zeigen, dass den meisten die Ernsthaftigkeit
    als Demokratie weiter zu stärken und ein        denzbasierte Entscheidungen sind informierte      der gegenwärtigen Lage (Mai 2021) bewusst
    Staatenbündnis zu schaffen, von dem alle        Entscheidungen, die auf dem besten Wissen         ist. Doch ohne klare Strategie, stattdessen
    profitieren?                                    und Gewissen ihrer Zeit getroffen werden. Und     konfrontiert mit sich ständig ändernden An-
•   Wie können wir als Bewegung dazu beitra-        darum muss es gehen.                              forderungen, fühlen sich viele Menschen nicht
    gen, dass wir uns alle stärker als Europä-                                                        ernst genommen. Wir brauchen eine klare
    er*innen fühlen?                                Dazu gehört, dass man mal daneben liegt, viel-    Stimme anstelle eines polyphonen Meinungs-
                                                    leicht sogar komplett. Bezeichnend ist, dass      chaos. Meinungsvielfalt gehört zum demokra-
                                                    Fehlereingeständnisse von Politiker*innen         tischen Zusammenleben dazu, insbesondere
Neue Politik                                        nach wie vor die Seltenheit sind. Es geht hier    in den Parlamenten. Wenn eine Entscheidung
                                                    nicht um Fehler im Sinne von Korruption und       allerdings getroffen wurde, sollten wir uns
Als allererstes wollen wir einige grundlegen-       Vorteilsnahme. Straftaten oder das Wegsehen       hinter den demokratischen Prozess stellen. Das
de Dinge in der Politik ändern, die das Staa-       bei selbigen müssen unbedingt mit personellen     gelingt nur, wenn wir zwischen den demokrati-
tenbündnis und Europa nicht ausschließlich          Konsequenzen einhergehen. Es geht vielmehr        schen Kräften Brücken bauen und uns nicht in
betreffen: Wir brauchen eine neue Art, unsere       um Entscheidungen, die sich im Rückblick als      Lagerdenken flüchten.
Zukunft zu gestalten.                               nicht optimal oder falsch erweisen. Wir benö-
                                                    tigen in der Politik eine gesunde Fehlerkultur.   EU-Reform
Die gemeinsamen Herausforderungen, die              Wann immer Veränderungen angetrieben wer-
wir angehen müssen, wie der Klimawandel,            den, werden auch Fehler gemacht. Auch wir         Wie gesagt: Wir sind Europa-Fans. Das bedeu-
die Digitalisierung der Gesellschaft oder die       werden Fehler machen. Aber wir stehen für eine    tet jedoch nicht, dass wir die Probleme der EU
Aufnahme von Geflüchteten, werfen schwie-           zukunftsorientiertes Lernen aus Fehlern und       übersehen. “We love the EU. Let’s fix it!” lau-
rige politische und gesellschaftliche Fragen        entsprechend angepasstes Handeln. Ein Fest-       tet ein frühes, aber aktuelles Motto von Volt.
auf. Die richtigen Lösungen sind nicht immer        halten an Fehlern, um diese nicht eingestehen     Denn die europäische Demokratie ist gehemmt
und für alle angenehm. Sich populistischen          zu müssen, können wir uns nicht mehr leisten.     von einem zu großen Einfluss der Interessen
Forderungen mit sachlichen Argumenten ent-                                                            einzelner Mitgliedsstaaten, einem zu schwach
gegenzustellen, ist alles andere als leicht. Wir    Wir möchten eine Kommunikation etablieren,        konzipierten Parlament, das keine eigenen
fühlen uns diesem Vorgehen jedoch verpflich-        die mitnimmt und erklärt. In der Pandemie         Entwürfe einbringen darf, und Parteien, die
tet. Dabei hilft ein solides Fundament: das         zeigt sich deutlich, dass es nicht reicht, Ver-   in der Regel nur in losen Parteibündnissen auf
der Wissenschaft. Natürlich gibt es auch dort       ordnungen und Gesetze zu erlassen. Diese sind     europäischer Ebene zusammenarbeiten. Diese
mehrere Richtungen. Es ist Aufgabe der Politik      nur so gut, wie die Menschen sie auch verste-     Aspekte müssen reformiert werden, wenn wir
herauszuarbeiten, wie diese miteinander in          hen und bereit sind, sie mitzutragen. Umfragen    die EU verbessern wollen.

SEITE
14
Europa leben

                                                                                                        Wir sind nicht nur Partei, sondern auch Be-
                                                                                                        wegung. Als solche wollen wir zeigen, was es
                                                                                                        bedeutet, sich als Europäer*innen zu fühlen,
                                                                                                        und dabei andere mitnehmen. Letztendlich
                                                                                                        hat das für uns auch politische Auswirkungen:
                                                                                                        Denn wenn wir uns heute überlegen würden,
                                                                                                        in ein anderes Land in Europa zu ziehen, dann
                                                                                                        wüssten wir schon, was wir wählten: Volt.
                                                                                                        Denn mit einheitlichen europäischen Grund-
                                                                                                        satz- und Wahlprogrammen ist auch auf un-
                                                                                                        teren Ebenen das gleiche drin. Mit anderen
                                                                                                        Voraussetzungen und nicht im Detail. Aber die
                                                                                                        Ideen, Ziele und Werte stimmen überein. Über
                                                                                                        dieses gemeinsame Verständnis sind wir hier in
                                                                                                        Köln den Volter*innen in Sofia genauso nah wie
                                                                                                        den Volter*innen in Amsterdam. Grundsätzlich
                                                                                                        schauen wir gerne über den eigenen Tellerrand
                                                                                                        hinaus. Gute Ideen gibt es überall: Wir wollen
                                                                                                        davon lernen und selber besser werden. In
Wie kann es sein, dass ein einzelner Staat die      lament stärken und ihm ein Initiativrecht für       Köln bedeutet das, dass wir uns vielleicht et-
ganze EU in Atem hält, weil er doch mehr Impf-      Gesetzesvorschläge geben. Der Europäische           was aus Wien, Kopenhagen oder Bottrop ab-
stoffe möchte als ausgemacht wurde? Oder            Rat soll bestehen bleiben, jedoch gegenüber         schauen wollen.
dass ein Haushalt nicht verabschiedet wird,         dem Parlament, als direkt von der Bevölkerung
weil einzelne Länder rechtsstaatliche Prin-         gewählte Institution, seine Vorteilsposition        Als europäische Partei und Bewegung leben
zipien nicht anerkennen wollen? Es ist kaum         abgeben. Ein so gestärktes Parlament, das die       wir den Austausch: Wir nutzen eine gemein-
erklärbar, dass von zwei im Wahlkampf ver-          Werte der europäischen Idee umsetzt, könnte         same Plattform, um uns zu vernetzen, ver-
kündeten, aussichtsreichen Kandidat*innen für       endlich ein Gegengewicht zu den Interessen          anstalten digitale Konferenzen, um Wissen
die Position der Präsident*in der Europäischen      der Nationalstaaten bilden und das Sterben          auszutauschen, oder treffen uns (in normalen
Kommission es keine von beiden – und statt-         auf dem Mittelmeer und die unmenschliche            Zeiten sehr gerne) für europäische Parteitage.
dessen eine dritte aus dem Hut gezaubert wird.      Situation in Lagern an den EU-Außengrenzen          Wir fiebern mit, wenn die niederländischen
Wieso, und hier wird es zugegebenermaßen            beenden.                                            Volter*innen dabei sind, ins Parlament zu zie-
etwas persönlich, darf Volt keine europäische                                                           hen und unterstützen auch direkt: digital oder
Partei sein, obwohl wir es längst sind? Da es       Wir streben eine europäische Föderation an,         gar im Straßenwahlkampf. Und wir lernen ge-
uns auch in Staaten außerhalb der EU gibt, wird     die sich aber dem Prinzip der Subsidiarität ver-    meinsam aus diesen Erfahrungen.
es aller Voraussicht nach noch lange dauern,        pflichtet: Die politischen Themen müssen dort
bis wir auch formal wirklich eine Partei sind.      behandelt werden, wo dies am besten möglich         Viel davon liegt sicher daran, dass wir eine
Und bis dahin zeigen wir sehr gerne, warum          ist. Wir wollen keinen zentralistischen Staat.      junge Partei sind. Viele unserer Mitglieder sind
das so relevant ist. Parteien sind eine der wich-   Wir handeln auf allen Ebenen: europäisch,           mit offenen Grenzen groß geworden und oft
tigsten Institutionen in unserem politischen        national und lokal. Denn europäische Politik        im Ausland unterwegs gewesen. Uns vereint
System. Sie prägen unsere Entscheidungen            muss immer auch lokal umgesetzt werden.             die tiefe Überzeugung, dass wir gemeinsam
und Gesetze und schlagen den Wähler*innen                                                               stärker sind und zusammen mehr bewegen
Personen vor, die Verantwortung übernehmen          Uns ist völlig bewusst, dass wir uns hier keine     können. Darum lautet unser Ansatz: Wir be-
sollen. Wenn in der DNA von Parteien Europa         einfache Aufgabe ausgesucht haben. Die EU           stärken Menschen, Politik zu verändern und
nicht drinsteckt, wie soll dann erfolgreiche eu-    zu reformieren, geschieht nicht von heute auf       das Potenzial Europas gemeinsam zu entfalten.
ropäische Politik umgesetzt werden?                 morgen. Aber getrieben von der Gewissheit,
                                                    dass wir alle anderen Themen nur im Verbund
Konkret möchten wir die Notwendigkeit von           lösen werden, bleiben wir motiviert. Denn der       // Von Rebekka Müller und Tobias Berger
Einstimmigkeit in der EU abschaffen, sodass         Ansatz der EU ist der richtige: Er beinhaltet den   Müller ist und Berger war City Lead von
eine Blockade durch einzelne Staaten verhin-        Abbau von Grenzen, eine stärkere Zusammen-          Volt Köln.
dert wird. Wir möchten das Europäische Par-         arbeit und demokratisch-freiheitliche Werte.

                                                                                                                                                 SEITE
                                                                                                                                                    15
STREITKULTUR
Wofür es sich zu streiten lohnt

Vom Erstwähler zum Erstwahlhelfer

                                  Ob Bundestagswahl, Landtagswahl oder Europawahl – keine Wahl
                                  kommt ohne sie aus: Die Rede ist von Wahlhelfer*innen. Am Wahltag
                                  betreuen sie die zahlreichen Wahllokale, sorgen für einen reibungslosen
                                  Ablauf und zählen am Ende des Tages die abgegebenen Stimmen aus. Bei
                                  der Bundestagswahl 2017 waren deutschlandweit über eine halbe Mil-
                                  lion Menschen im Einsatz. Wahlhelfer*innen machen das ehrenamtlich
                                  und häufig auch schon seit vielen Jahren. Einmal Wahlhelfer*in, immer
                                  Wahlhelfer*in – so scheint es oft.

                                  Die Suche nach Wahlhelfer*innen beginnt in der Regel schon einige Mo-
                                  nate, bevor eine Wahl stattfindet, und gestaltet sich nicht immer ein-
                                  fach. Manche Kommunen haben überhaupt keine Probleme, ausreichend
                                  Freiwillige für das Wahllokal zu finden. Andernorts müssen hingegen ein
                                  paar Tage vor der Wahl Verwaltungsmitarbeitende freundlich gebeten
                                  werden, sich doch einen Ruck zu geben. Ohne Wahlhelfer*innen lässt
                                  sich schließlich keine Wahl durchführen.

SEITE
16
Dieser Umstand hat vor einigen Jahren den Ver-   Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen durch-       gen Seminaren bereiten die Kooperationspart-
ein Mehr Demokratie dazu bewogen, die Aktion     zuführen. Zahlreiche weitere Wahlen folgten      ner der Initiative junge Menschen zwischen
Wahlhelfer ins Leben zu rufen. Mit der Aktion    bis heute und unterm Strich konnten so meh-      18 und 27 umfassend auf ihren Einsatz als
Wahlhelfer unterstützt der Verein Kommunen       rere Tausend Freiwillige für den Einsatz im      Wahlhelfer*in bei der Bundestagswahl vor.
bei der Suche nach Wahlhelfer*innen. Was als     Wahllokal vermittelt werden.                     Denn klar, die nötigen Informationen für eine
einmalige Aktion begann, ist inzwischen zum                                                       Wahlhelfer*innentätigkeit erhält man im Ideal-
festen Bestandteil des Aktivitäten-Portfolios    Besonders erfreulich ist, dass sich in den       fall auch vorab in den Kommunen. Das klappt
des Vereins geworden, der sich in erster Linie   letzten Jahren auch immer mehr jüngere Men-      aber nicht immer optimal und stellt gerade für
mit den Themen direkte Demokratie und Bür-       schen bei Mehr Demokratie als Wahlhelfer*in      junge Menschen, die vielleicht zum ersten Mal
gerbeteiligung befasst.                          meldeten. Immerhin kann eine Tätigkeit als       überhaupt wählen dürfen, häufig eine zu hohe
                                                 Wahlhelfer*in schon früh ein positives Demo-     Hürde dar, um sich auch als Wahlhelfer*in zu
Erstmalig durchgeführt wurde die Aktion          kratieerlebnis und eine engere Verbindung zu     melden. Das wollen wir ändern!
Wahlhelfer im Jahr 2009 – einem Jahr, das        unserem demokratischen System schaffen.
man heute als Superwahljahr bezeichnen wür-      Und die Erfahrung zeigt, wer einmal anfängt      In sieben Bundesländern ist die Initiative Erst-
de. Gleich drei Wahlen fanden in diesem Jahr     zu wählen, sich zu beteiligen, sich ehrenamt-    wahlhelfer in diesem Jahr vertreten. Zu den
statt: die nordrhein-westfälische Kommunal-      lich zu engagieren, macht das mit hoher Wahr-    Kooperationspartnern in Nordrhein-Westfalen
wahl, die Bundestagswahl und die Europawahl.     scheinlichkeit auch in Zukunft.                  gehören neben Mehr Demokratie das Willi-­
Mehr Demokratie warb per Pressemitteilung                                                         Eichler-Bildungswerk, das Heinz-Kühn-Bil-
und auf seiner Internetseite für eine Wahlhel-   Wie in so vielen Bereichen unseres Lebens,       dungswerk, die Akademie Biggesee, die Aus-
fer*innentätigkeit. Interessierte konnten sich   hat Corona übrigens auch in Sachen Wahlhel-      landsgesellschaft sowie das aktuelle forum.
an den Verein wenden, und dieser übermittel-     fer*innen neue Herausforderungen geschaffen      Diese boten Ende August, Anfang September
te die Anfragen dann an die entsprechenden       bzw. offengelegt. Viele der ehrenamtlichen       zweitägige Ausbildungsseminare für junge
Wahlämter. Dort freute man sich über die un-     Helfer*innen im Wahllokal sind schon etwas       Wahlhelfer*innen an.
erwartete Hilfe!                                 lebenserfahrener. Bei der nordrhein-westfä-
                                                 lischen Kommunalwahl 2020 führte dieser          Für die Wahlhelfer*innen entstehen für die
Funfact: Wahlhelfer*in kann grundsätzlich        Umstand dazu, dass zahlreiche potenzielle        Ausbildungsseminare natürlich keine Kosten.
jede*r werden. Es braucht dafür keine be-        Wahlhelfer*innen zu Risikogruppen gehörten       Im Gegenteil, für den Einsatz im Wahllokal
sonderen Qualifikationen oder Vorkenntnis-       und deshalb verständlicherweise auf einen        gibt es von den Kommunen als kleines Dan-
se. Die nötigen Informationen erhalten die       Einsatz als Wahlhelfer*in verzichteten. Gut,     keschön ein sogenanntes Erfrischungsgeld
Freiwilligen vorab. Lediglich wahlberechtigt     dass es dann auch junge Menschen gab, die        in Höhe von 50-100 Euro. Viel wichtiger bei
zur entsprechenden Wahl muss man sein. Da        frühzeitig angesprochen wurden und einsprin-     der Initiative Erstwahlhelfer ist jedoch, dass
aber im Jahr 2009 auf drei unterschiedlichen     gen konnten.                                     die Teilnehmenden gut auf ihr Engagement
Ebenen gewählt wurde, galten auch drei Mal                                                        als Wahlhelfer*in vorbereitet werden, sich als
unterschiedliche Regelungen mit Blick auf die    Darauf aufbauend findet in diesem Jahr eine      wichtigen Teil unserer Demokratie begreifen
Wahlberechtigung.                                Weiterentwicklung unserer Aktion Wahlhel-        und einen spannenden Blick hinter die Kulissen
                                                 fer statt. Ging es uns anfangs und über lange    einer Wahl bekommen. Und im Idealfall sind
Bei der Europawahl waren alle Deutschen so-      Jahre darum, möglichst viele Menschen als        sie dann bei der nächsten Wahl auch wieder
wie EU-Bürger*innen wahlberechtigt, die das      Wahlhelfer*innen an Kommunen in Nord-            dabei – denn die kommt schon 2022.
18. Lebensjahr vollendet hatten. Das Gleiche     rhein-Westfalen zu vermitteln, wollen wir
galt für die nordrhein-westfälische Kommu-       nun unseren Fokus neu setzen. Großen Bedarf
nalwahl, nur, dass bei dieser bereits am dem     sehen wir nämlich bei jungen Erwachsenen
16. Lebensjahr gewählt werden durfte. Bei        und hier insbesondere bei jenen aus eher po-
der Bundestagswahl schließlich sind lediglich    litikfernen Haushalten. Entscheiden sich diese
deutsche Staatsbürger ab dem 18. Lebensjahr      doch wesentlich seltener für einen Einsatz als
wahlberechtigt. Hätte ja nur noch eine Land-     Wahlhelfer*in. Deshalb schlossen wir uns zur
tagswahl gefehlt.                                Bundestagswahl 2021 der Initiative Erstwahl-
                                                 helfer des Hamburger Vereins Haus Rissen an.
Und mit der ging es dann im Jahr 2010 wei-
ter. Der Auftakt der Aktion Wahlhelfer stieß     Die Initiative Erstwahlhelfer hat es sich zum
auf so positive Resonanz bei Bürger*innen wie    Ziel gesetzt, Wahlhelfer*innen nicht nur zu      // Von Achim Wölfel
Wahlämtern, dass sich Mehr Demokratie dazu       vermitteln, sondern gleich auch noch entspre-    Wölfel leitet das Landesbüro Nordrhein-
entschied, die Aktion auch bei der folgenden     chend auszubilden. Im Rahmen von zweitägi-       Westfalen von Mehr Demokratie e. V.

                                                                                                                                           SEITE
                                                                                                                                              17
Sie können auch lesen