SUN - UNIVERSITÄT MÜNSTER

Die Seite wird erstellt Aaron Baumann
 
WEITER LESEN
SuN

                                                                                                                         Heft 02/2021
Soziologie und Nachhaltigkeit -
Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung

   Thomas Alkemeyer / Nikolaus Buschmann / Steffen Hamborg / Jędrzej
   Sulmowski

   Kosmologie des Toilettengangs
   Zum Imaginären einer nachhaltigen Lebensform

   Zusammenfassung: Der Beitrag beschäftigt                 Abstract: The following article elaborates how
   sich mit der Bedeutung des Imaginären einer              the imaginary of a sustainable future pervades the
   nachhaltigen Zukunft für die Hervorbringung              creation of ,transformative communities’ as collec-
   ‚transformativer Gemeinschaften‘ als Kollektivsub-       tive subjects and asks for the ambivalences of this
   jekte und geht den Ambivalenzen dieser kollektiven       collective subjectivation. Drawing on an ethnogra-
   Subjektivierung nach. Er zeigt auf der Basis einer       phic study we show how an eco-village projects itself
   ethnographischen Studie, wie sich ein Öko-Dorf als       as a cosmos of the design and development of sus-
   ein Kosmos der Entwicklung nachhaltiger Lebens-          tainable lifestyles and how it publicly performs the
   weisen entwirft und das Imaginäre einer besseren         imaginary of a better future here and now as a nexus
   Zukunft bereits im Hier und Jetzt als einen Nexus        of infrastructures, socio-material arrangements, dis-
   von Infrastrukturen, soziomateriellen Arrange-           courses and practices. We describe this imaginary
   ments, Diskursen und Praktiken öffentlich aufführt.      by three mutually entwined dimensions: Firstly,
   Dabei wird das Imaginäre anhand von drei mitei-          the imaginary relies on a collectively acknowledged
   nander verschränkten Dimensionen beschrieben:            problem of reference that continuously needs to be
   Erstens bedarf es eines gemeinsam anerkannten            affectively charged, made tangible and marked as
   Bezugsproblems, das im alltäglichen (Zusammen-)          existential. Secondly, a future in which this problem
   Leben immer wieder aufs Neue als existentiell            of reference is solved is already anticipated in pre­s­ent
   markiert, erlebbar gemacht und affektiv aufgeladen       practice. Thirdly, the historical contingency of the
   wird. Zweitens wird bereits in der gegenwärtigen         social imaginary has to be operatively misconceived
   Praxis eine Zukunft antizipiert, in der dieses Bezugs-   in order that the self-conception, the fiction of unity,
   problem gelöst ist. Drittens muss die Kontingenz         and the capacity to act as collective subject of an
   dieses gesellschaftlichen Imaginären operativ            alternative form of life are permanently preserved.
   verkannt werden, damit das Selbstverständnis,            This raises questions about the social connectivity
   die Einheitsfiktion und die Handlungsfähigkeit als       and the ambivalent effects of such initiatives.
   Kollektivsubjekt einer alternativen Lebensform
   dauerhaft erhalten bleiben. Dies wirft Fragen nach
   der gesellschaftlichen Anschlussfähigkeit und den
   ambivalenten Wirkungen solcher Initiativen auf.
Autoren:

Thomas Alkemeyer – Professor für Soziologie und Sportsoziologie an der Carl von Ossietzky Uni-
versität Oldenburg sowie Direktor des Wissenschaftlichen Zentrums Genealogie der Gegenwart.

Nikolaus Buschmann – wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich „Soziologie und Sportso-
ziologie“ am Institut für Sportwissenschaft der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und
Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Zentrums Genealogie der Gegenwart.

Steffen Hamborg – wissenschaftlicher Mitarbeiter und Koordinator des Verbundprojekts „Trans-
formation durch Gemeinschaft – Prozesse kollektiver Subjektivierung im Kontext nachhaltiger
Entwicklung“ am Wissenschaftlichen Zentrum Genealogie der Gegenwart an der Carl von Ossietzky
Universität Oldenburg.

Jędrzej Sulmowski – wissenschaftlicher Mitarbeiter und Koordinator des Verbundprojekts
„Transformation durch Gemeinschaft – Prozesse kollektiver Subjektivierung im Kontext nachhaltiger
Entwicklung“ am Wissenschaftlichen Zentrum Genealogie der Gegenwart an der Carl von Ossietzky
Universität Oldenburg.

Soziologie und Nachhaltigkeit
Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung

ISSN 2364-1282

Heft 2/2021, 7. Jahrgang
Eingereicht 30.11.2020 – Peer-Review 10.02.2021 – Überarbeitet 17.05.2021 – Akzeptiert 29.06.2021

                 Lizenz CC-BY 4.0 (www.creativecommons.org/licenses/by/4.0)

Herausgeber*innen: Benjamin Görgen, Matthias Grundmann, Anna Henkel, Melanie Jaeger-Erben,
            Björn Wendt

Redaktion:   Niklas Haarbusch, Jessica Hoffmann, Carsten Ohlrogge

Layout/Satz: Frank Osterloh/Niklas Haarbusch

Anschrift:   WWU Münster, Institut für Soziologie
             Scharnhorststraße 121, 48151 Münster
             Telefon: (0251) 83-25440
             E-Mail: sun.redaktion@wwu.de
             Website: www.sun-journal.org
Alkemeyer / Buschmann / Hamborg / Sulmowski – Kosmologie des Toilettengangs

              Einleitung                                               al. 2006) verstehenden Öko-Dörfer. Sie versam-
                                                                       meln Menschen und organisieren diese über die
              Gegenwartsdiagnosen lassen sich als eine
                                                                       Anrufung durch „Gemein-Begriffe“ (Spitta 2012)
              kulturelle Form gesellschaftlicher Selbstproble-
                                                                       in entsprechenden Narrativen und Praktiken
              matisierung in der Moderne begreifen, die eine
SuN 02/2021

                                                                       als „Kollektivsubjekte“ (Alkemeyer et al. 2018).
              Gegenwart im Hinblick auf mögliche Fehlent-
                                                                       Anders als andere, nur Einzelaspekte des Lebens
              wicklungen vermisst und auf dieser Grundlage
                                                                       bearbeitende Bottom-up-Initiativen (z.B. solidari-
              zum Ergreifen entsprechender Maßnahmen der
                                                                       sche Landwirtschaft, Repair-Cafés, Tauschbörsen,
              Reparatur, Prävention oder auch Resilienz aufruft
                                                                       Wohnprojekte oder Einkaufsgemeinschaften)
              (vgl. Alkemeyer et al. 2019). Eine der seit Jahr-
                                                                       bemühen sich Öko-Dörfer um eine nachhaltige
              zehnten prominentesten Gegenwartsdiagnosen
                                                                       Gestaltung der gesamten Lebensweise, ein-
              konstatiert eine tiefgreifende Krise der „gesell-
                                                                       schließlich des Arbeitens, Konsumierens und
              schaftlichen Naturverhältnisse“ (Jahn/Wehling
                                                                       Freizeitverhaltens.
              1998, Buschmann 2018). Die Omnipräsenz der
              aus diesem – faktengestützten – Befund hergelei-         Teile der Nachhaltigkeits-, Transformations-
              teten Interventionspostulate geht Hand in Hand           und Innovationsforschung zeigen sich solchen
              mit der Ansicht zahlreicher Beobachter*innen aus         Projekten und Initiativen nicht nur deshalb ver-
              Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft, dass        bunden, weil diese den „großen gesellschaftlichen
              die bislang initiierten Maßnahmen der Gegen-             Herausforderungen“ und „Schlüsselproblemen“
              steuerung weltweit unzureichend seien. In dieser         (Howaldt et al. 2017: 153) der Gegenwart wie
              Gemengelage verwundert es kaum, dass Projekte            Klimawandel,       Gesundheitsversorgung       oder
              und Initiativen, die durch diese Gegenwartsdi-           Armutsbekämpfung kollaborativ begegneten,
              agnose gerahmt und orientiert werden, in der             sondern auch deshalb, weil sie die Bearbeitung
              Öffentlichkeit zunehmend auf Resonanz stoßen.            dieser Schlüsselprobleme zum Gegenstand einer
              Zu diesen Initiativen zählen u.a. kleinskalige           intentionalen, mithin bewussten Gestaltung
              soziale Formationen, die sich selbst als „lokal“,        machten. Sie trügen so zur Etablierung eines „‘so-
              „gemeinschaftlich“ und als Wegbereiterinnen in           ziologisch aufgeklärten‘ Innovationsparadigmas“
              eine nachhaltige Zukunft verstehen; sie werden           (Howaldt et al. 2017: 154 f.) bei, anstatt Trans-
              auch seitens der Wissenschaft und Politik gern           formation entweder als einen naturwüchsigen
              als solche adressiert (z.B. Keck et al. 2017, WBGU       Prozess zu betrachten oder den aus ihrer Sicht
              2011, WBGU 2014). Diese Rollenzuschreibung               dringend notwendigen Umbau der Gesellschaft
              geht unter anderem auf die Annahme zurück,               naiv – ohne eine Reflexion auf mögliche uner-
              dass in kleinskaligen Formationen, die häufig als        wünschte Nebenfolgen – zu betreiben. Weniger
              gesellschaftliche „Nischen“ begriffen werden (z.B.       Aufmerksamkeit widmen die genannten For-
              Kny et al. 2015, Leitner/Littig 2016), besonders         schungsrichtungen hingegen der Frage, wie sich
              günstige Bedingungen für das Hervorbringen               eine Aggregation veränderungswilliger Menschen
              und Erproben „sozialer Innovationen“ (Schwarz            überhaupt erst als eine „intentionale Gemein-
              et al. 2015) existierten, die durch nachahmende          schaft“ im Sinne eines von gemeinsamen Zielen
              Wiederholung in ‚die Gesellschaft‘ diffundieren          getragenen Kollektivsubjekts bildet (zu dieser Di-
              und so großflächige Nachhaltigkeitstransforma-           agnose vgl. Walker 2011, Aiken 2012, Taylor Aiken
              tionen anstoßen könnten (Howaldt et al. 2017).           et al. 2017). Diese Frage steht deshalb im Zentrum
              Eine der vielbeachteten Formen solcher nischen-          des vorliegenden Beitrags: Er möchte die Voraus-
              haften Experimentierräume sind die sich selbst           setzungen und die konkrete Arbeit beleuchten,
              als „intentionale Gemeinschaften“ (Dierschke et          vermittels derer sich eine Gemeinschaft als ein

              72
Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung

intentionales Kollektivsubjekt gesellschaftlicher         Bezugsproblem gelöst sein wird. Anderssein bleibt
Transformation bildet. Folglich gilt sein leitendes       im Öko-Dorf mithin kein bloßes Versprechen auf
Interesse den Praktiken und Techniken kollek-             eine bessere Zukunft, sondern wird modellhaft
tiver Subjektivierung sowie den Vorstellungen             bereits im Hier und Jetzt des Lebens in der Nische

                                                                                                                        SuN 02/2021
– wir werden im Weiteren von einem sich in Prak-          verwirklicht. Drittens schließlich bedarf die Re-
tiken materialisierenden Imaginären sprechen –,           produktion und Bestätigung dieses Imaginären
die einen sinnlich-sinnhaften Zusammenhang                insofern einer operativen Verkennung, als sich
zwischen diesen Praktiken und Techniken stiften.          die Einheitsfiktion und somit die Handlungsfä-
Damit treten dann zumindest rudimentär auch die           higkeit der ‚Gemeinschaft‘ als Kollektivsubjekt
zwiespältigen, z.B. ein- und ausgrenzenden oder           dauerhaft nur aufrechterhalten lassen, sofern die
systemstabilisierenden, Konsequenzen in den               geschichtlich-gesellschaftliche Kontingenz des
Blick, die von der Herstellung und fortlaufenden          Bezugsproblems sowie der auf dieses Problem
Reproduktion einer solchen „ganzheitlichen“ Le-           reagierenden Lebensform ausgeblendet wird und
benswelt in der Nische veranlasst werden können.          bleibt: Das Bezugsproblem selbst steht nicht zur
                                                          Disposition, es ist vielmehr die als selbstverständ-
Zentral für die im Folgenden untersuchte
                                                          lich akzeptierte Disposition für das kollektive
Selbst-Bildungsarbeit von Öko-Dörfern und ver-
                                                          Leben und wird demzufolge nur noch als ein Voll-
gleichbaren Initiativen ist – so unsere These – ein
                                                          zugsproblem behandelt.1
Imaginäres, das sich in der gelebten Utopie eines
anderen – besseren, ökologischen – Lebens zeigt           Zur Entfaltung unserer These werden wir im An-
und artikuliert. Dieses Imaginäre hat, so möchten         schluss an Cornelius Castoriadis (1990) zunächst
wir zeigen, mindestens drei Dimensionen: Es               das Konzept des Imaginären als einer konsti-
beinhaltet erstens ein gemeinsam anerkanntes              tutiven Bedingung und Form gesellschaftlicher
Bezugsproblem, das in speziellen Diskursen und            Selbstschöpfung bestimmen und mit dem kul-
Praktiken fortlaufend hergestellt, als existentiell       turtheoretischen Konzept der Subjektivierung in
markiert, erlebbar gemacht und affektiv aufge-            Beziehung setzen (1.). Am Beispiel einer konkreten
laden wird. Für die Erzeugung und Bestätigung             Praktik – des Toilettengangs als pars pro toto
eines Selbstverständnisses der Andersheit ist             und pars totalis einer Kosmologie im Sinne Bour-
in dieser Dimension nicht zuletzt die Art und             dieus (1987: 128) – in einem Öko-Dorf werden
Weise der Bearbeitung des Bezugsproblems                  wir anschließend entlang der drei beschriebenen
konstitutiv. Denn sie unterscheidet die sich von          Dimensionen empirisch zeigen, wie sich das Ima-
der Gesellschaft ‚draußen‘ durch räumliche Ab-            ginäre des Andersseins im Vollzug alltäglicher
geschiedenheit separierende Dorf-Gemeinschaft             Praktiken sinnlich-sinnhaft materialisiert und
auch in sachlicher und sozialer Hinsicht von              auf diese Weise eine Aggregation von Menschen
einer ins gesellschaftliche Außen verlagerten (und        als eine Erfahrungs- und Handlungseinheit kons-
dort als vorherrschend behaupteten) Logik des
Wachstums und der Konkurrenz, der die Werte
der Suffizienz und Gemeinschaft im dörflichen             1   Während der Term „Bezugsproblem“ jene von den Ak-
                                                              teuren als existentiell behandelte Kernproblematik
Binnenleben gegenübergestellt werden. Zweitens
                                                              bezeichnet, die durch adäquate Maßnahmen und Le-
eignet dem Imaginären eine eigene Zeitlichkeit:               bensweisen bewältigt werden soll, bezieht sich der Term
                                                              „Vollzugsproblem“ auf jene Schwierigkeiten, die in der
Bereits in der alternativen Lebenspraxis der Ge-
                                                              praktischen Realisierung dieser Maßnahmen und Lebens-
genwart wird eine Zukunft antizipiert, in der ein             weisen von den Akteuren fortlaufend als „ongoing accom-
schlechter Status quo überwunden (bzw. dessen                 plishments“ (Garfinkel 1967) bearbeitet werden (müssen)
                                                              (zur Unterscheidung von Bezugs- und Vollzugsproblemen
dystopische Extrapolation verhindert) und das                 vgl. auch Scheffer 2018).

                                                                                                                  73
Alkemeyer / Buschmann / Hamborg / Sulmowski – Kosmologie des Toilettengangs

              tituiert. In dieser Perspektive sind das Materielle      Hamborg 2019: 93 ff.).2 Was Menschen Realität
              und das Symbolische wechselseitig aufeinander            nennen und worin sie sich als Realität einrichten,
              verwiesen: Das Materielle verfügt über eine sym-         verdankt sich diesem Vermögen überhaupt erst
              bolische Dimension, und das Symbolische formt            (vgl. Castoriadis 1990: 12). Es ist die selbst nicht
SuN 02/2021

              sich materiell aus. Dabei wird deutlich, dass und        determinierte Bedingung der Selbsterschaffung
              wie sich das Imaginäre einer besseren Zukunft            von Gesellschaft – und damit eine niemals völlig
              in die Anrufung aller Öko-Dorf-Bewohner*innen            ruhigzustellende Quelle von Beunruhigung,
              übersetzt, noch die intimsten Seiten der eigenen         Veränderung und Überschreitung in den gege-
              Existenz einer kontinuierlichen (Umerziehungs-)          benen gesellschaftlichen Verhältnissen. Dieses
              Arbeit zu unterziehen und dafür mit der Verhei-          Vermögen kann aber nur wirksam werden und
              ßung eines „richtigen Lebens im falschen“ belohnt        Resonanz erzeugen, sofern es an die bereits in
              zu werden (2.). Auf der Grundlage dieser Analyse         spezifischen Institutionen verkörperte, institu-
              diskutieren wir abschließend die Ambivalenz von          ierte gesellschaftliche Ordnung und das diese
              Projekten und Initiativen, die ihr politisches An-       Ordnung stützende aktuale Imaginäre im Sinne
              liegen – in den Spuren sozialer Bewegungen der           eines bereits eingerichteten „System[s] von Be-
              1970er Jahre – „ganzheitlich“ durch eine alterna-        deutungen“ anschließt, das „jeweils Aufbau und
              tive Lebensform in der Nische artikulieren: Wir          Gliederung der gesellschaftlichen Welt fest[legt]“
              fragen nach a) der für solche Projekte womöglich         (Castoriadis 1990: 251). Das geschieht, indem
              notwendigen Verkennung der eigenen Existenz-             sich die konkreten Artikulationen des radikalen
              bedingungen, b) ihren ein- und ausschließenden           Imaginären – in der Sprache, in der Architektur,
              Effekten und folglich ihrer Fähigkeit zur Bildung        in der Gestaltung der Dinge, im praktischen Tun
              eines      gegenhegemonialen       „geschichtlichen      usw. – in die Leerstellen und Spielräume hin-
              Blocks“ (Gramsci 1994: 1249) sowie c) dem Zwie-          einformulieren und -bilden, die sich im System
              spalt zwischen Verantwortungsübernahme und               des aktualen Imaginären (situativ) fortlaufend
              Responsibilierung, in den derartige Projekte unter       eröffnen. Das Konzept des radikalen Imaginären
              den Bedingungen eines aktivierenden und inves-           lenkt die Aufmerksamkeit somit auf die (trans-)
              tiven Sozialstaats (vgl. Lessenich 2008, Lessenich
              2020) unweigerlich und ungewollt geraten (3.).
                                                                       2   Zunächst im Kontext innermarxistischer Ausei-
                                                                           nandersetzungen begegnete Castoriadis einer
                                                                           hegelianischen Geschichtsauffassung mit der nach-
              1. Das Imaginäre der                                         drücklichen Hervorhebung sozialer Kämpfe als einer
                 Subjektivierung von Kollektiven                           „praktisch-kritischen Tätigkeit“, deren Ziele und Aus-
                                                                           gang unvorhersehbar seien (Wolf 2012: 269). Er über-
                                                                           führte den aus dem Marxismus stammenden, darin
              Mit dem Begriff des Imaginären, genauer: des ra-             jedoch dominierten Gedanken eines „kollektiven
              dikalen im Unterschied zum aktualen Imaginären               schöpferischen Handelns“ sodann in das Konzept des
              bezeichnet Castoriadis (1990) ein grundlegendes,             radikalen Imaginären der Gesellschaft (Wolf 2012:
                                                                           270). In unserer methodologischen Lesart von Casto-
              in actu jedoch stets gesellschaftlich vermitteltes           riadis handelt es sich beim radikalen Imaginären also
              Vermögen zur gesellschaftlichen Selbstschöp-                 nicht um eine inhaltlich radikale politische, weltan-
              fung (vgl. Wolf 2012: 271), d.h. eine elementare             schauliche oder ideologische Haltung, sondern um
                                                                           ein theoretisch-methodologisches Konzept, das den
              instituierende Kraft, die ihrem Wesen nach über              Blick auf jene Momente kollektiver Um- und Neu-
              die Bedingungen hinausweist, unter denen sie                 schöpfung richtet, die sich fortlaufend in einer be-
              sich entfaltet (vgl. Alkemeyer/Buschmann 2019,               reits instituierten gesellschaftlichen Ordnung zeigen.

              74
Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung

formative Kraft des Sozialen, das Konzept des            Institutionen, Lebensweisen usw.) ergreift und
aktualen Imaginären hingegen auf Regelmä-                schöpferisch entfaltet, und gerät so als eine
ßigkeiten der bereits formierten symbolischen            (körperliche, textuelle, visuelle usw.) Praxis des
Ordnung.                                                 Webens, Herstellens und Hervorbringens eines

                                                                                                                             SuN 02/2021
                                                         vorweggenommenen Neuen in den Blick, in
Träger und Artikulationsorgan der schöpferi-
                                                         deren Verlauf sich auch die Intentionalität, die
schen Kraft des Imaginären ist, nach Castoriadis,
                                                         Motivlage, das Selbst- und Weltverhältnis des die
das anonyme Kollektiv. Es schafft und instituiert
                                                         Praxis vollziehenden Kollektivs und seiner Einzel-
materiell-symbolische Ordnungen, die sodann die
                                                         subjekte fortlaufend verändern.3
Formung, Orientierung und das Handeln der Indi-
viduen bedingen (vgl. Wolf 2012: 271). In diesem         In den meisten vorfindlichen Gesellschaften
Schaffensprozess vollzieht sich ein „Entwurf“            verselbstständigt sich das instituierte (aktuale)
(Castoriadis 1990: 132), der etwas anderes ist als       Imaginäre anhaltend gegenüber dem instituie-
ein Plan im Sinne eines rational vor der Praxis          renden Kollektiv. Castoriadis sieht eben darin
durchdachten Vorhabens, das durch technisches            den „Kern von Entfremdung bzw. Heteronomie“
Handeln in die Realität „umgesetzt“ werden soll.         (Wolff 2012: 271), von der Emanzipation nur
Ein Entwurf ist „die Absicht einer Veränderung           durch eine gesellschaftliche Wiederaneignung des
des Realen, geleitet von einer Vorstellung vom           Vermögens zur Selbst-Institution zu erlangen sei
Sinn dieser Veränderung“ (Castoriadis 1990:              (vgl. Hamborg 2019: 101, Castoriadis 1990: 608
132); er orientiert sich ohne Fundierung in einem        f.). Beispielhaft sieht Castoriadis ein solches kol-
erschöpfenden (deklarativen) Wissen „an den tat-         lektives Bemühen um die „Rückeroberung“ dieses
sächlichen Bedingungen und [ist] bestrebt, eine          Vermögens im zwanzigsten Jahrhundert nicht nur
Aktivität in Gang zu setzen“ (Castoriadis 1990:          in der alten revolutionären Arbeiterbewegung,
132). Ein Entwurf schreibt sich in die tatsächli-        sondern auch in neueren sozialen Bewegungen wie
chen Bedingungen hinein und entwickelt unter             der Frauen-, der Studenten- oder der Ökologiebe-
diesen Bedingungen eine Richtung, „die sich nicht        wegung sowie korrespondierenden Neuanfängen
einfach in ‚klaren und distinkten Vorstellungen’         in Kunst, Philosophie und Wissenschaft verkör-
festhalten lässt und die jede Vorstellung, die man       pert (vgl. Wolf 2012, Castoriadis 1981: 15).
sich zu einem bestimmten Zeitpunkt von diesem
                                                         Der von uns beobachtete Fall bewegt sich in den
Entwurf machen kann, sprengt“ (Castoriadis
                                                         Spuren dieser (historischen) Bestrebungen um
1990: 132 f.). In diesem Sinne ist ein Entwurf
                                                         einen Neuanfang. Es handelt sich mit einem Öko-
prinzipiell vorläufig: Er muss fortlaufend an die
                                                         Dorf um ein konkretes, an einem bestimmten Ort
in der Praxis beständig sich wandelnden Bedin-
                                                         zusammenlebendes und somit auch empirisch gut
gungen seiner eigenen Entstehung und Wirkung
                                                         zugängliches Kollektiv. Unser primäres Interesse
angepasst werden. Die (selbst-)schöpferische
                                                         gilt der sowohl von der (neueren) Praxistheorie
Praxis ist demnach nicht der Vollzug einer ideell
                                                         (vgl. u.a. Reckwitz 2003, Schmidt 2012, Schäfer
oder strukturell vorgebildeten Ordnung, sondern
                                                         2017) als auch von Castoriadis inspirierten Frage,
das Schaffen einer anderen, neuen Wirklichkeit
                                                         wie sich das Dorf unter Beteiligung spezifischer
im Horizont eines Entwurfs, der die vorfindlichen
                                                         Infrastrukturen, Artefakte und Diskurse in ver-
und fortlaufend sich verändernden Bedingungen
kontinuierlich berücksichtigt. Sie dehnt die
Bedeutungsgrenzen einer Kultur aus, indem                3   „Denn auch das Subjekt selbst unterliegt ständig Verände-
                                                             rungen in jener Erfahrung, in die es eingebunden ist und
sie in der Gegenwart sich eröffnende Möglich-
                                                             die es macht, so wie es von ihr gemacht wird.“ (vgl. Castori-
keiten (anderer gesellschaftlicher Verhältnisse,             adis 1990: 131)

                                                                                                                      75
Alkemeyer / Buschmann / Hamborg / Sulmowski – Kosmologie des Toilettengangs

              schiedenen Praktiken als das Kollektivsubjekt            Verantwortungsübernahme und zum Entwurf
              (Alkemeyer et al. 2018) einer gesellschaftlichen         eines anderen Lebens? Gleichzeitig steht mit
              Transformation thematisiert, problematisiert             dieser Frage zur Diskussion, wie sich die Subjek-
              und herstellt: einer Transformation, die nicht           tivierung des gesamten Dorfs als Kollektivsubjekt
SuN 02/2021

              nur auf Nachhaltigkeit im engen Sinne einer die          zur je individuellen Subjektivierung der Dorfbe-
              natürliche Regenerationsfähigkeit der beteiligten        wohner*innen verhält und welche ambivalenten
              Systeme garantierenden Ressourcen-Nutzung                Konsequenzen – etwa zwischen Konformitäts-
              abzielt, sondern auch darauf, das utopische Fern-        druck und Selbstbestimmung – damit verbunden
              ziel autonomer Selbstvergesellschaftung schon im         sind.
              gegenwärtigen Dorfleben zu verwirklichen – und
                                                                       Ebenso wie die Konstitution sozialer Ordnung ist
              dadurch öffentlich vorzuführen, dass und wie ‚Ge-
                                                                       auch die Selbst-Bildung einer Verbindung von
              sellschaft‘ auch anders möglich ist.
                                                                       Menschen als Kollektivsubjekt nicht ohne die
              Mit der Frage nach der Selbst-Bildung einer              imaginäre Kraft zur Selbstschöpfung zu haben.
              Aggregation von Menschen als Kollektivsubjekt            Sie entfaltet sich, wie angedeutet, im Rahmen
              knüpfen wir an die diskurs- und praxistheoretisch        einer bereits instituierten materiell-symboli-
              grundierte Subjektivierungsforschung der jün-            schen Ordnung und damit im Horizont eines
              geren Vergangenheit an. In dieser Forschungslinie        aktualen Imaginären im Sinne einer das konkrete
              werden Attribute der gesellschaftlichen Existenz         Vorstellen und Handeln ermöglichenden gesell-
              von Menschen, die traditionell (in der klassischen       schaftlichen Matrix. Um sich selber überhaupt als
              Subjektphilosophie, aber auch in anthropozentri-         welterzeugende Akteure begreifen und entspre-
              schen Akteurskonzepten der Soziologie) unter dem         chend auftreten und handeln zu können, bedarf es
              schillernden Begriff des Subjekts thematisiert und       mithin eines aktualen Imaginären, das ein solches
              debattiert werden – Reflexion, Intentionalität,          Selbstverständnis und Weltverhältnis allererst
              Selbstbestimmung, Verantwortungsübernahme –,             vorsieht und ermöglicht (vgl. Gaonkar 2002).
              nach der poststrukturalistischen Dekonstruktion          Es handelt sich dabei also um einen Fundus von
              der humanistischen Idee des autonomen Subjekts           kollektiven Einstellungen, Vorstellungen und
              neu zu denken versucht, nämlich als Dimensionen          Vorannahmen, die den Aufbau, die Gestalt und
              der sozialen Praxis, die allererst in konkreten ge-      die affektive Textur „der gesellschaftlichen Welt“
              schichtlich-gesellschaftlichen Verhältnissen auf         festlegen und das Handeln und Bewusstsein der
              die Bühne treten und dort in unterschiedlichen           Gesellschaftsmitglieder regulieren, als Hinter-
              kulturellen (Subjekt-)Formen eine konkrete               grundannahmen jedoch überwiegend unbewusst
              Gestalt gewinnen (vgl. Reckwitz 2006, Alkemeyer          bleiben (Beck 1996: 354). Castoriadis (1990)
              et al. 2013, Alkemeyer et al. 2015a). Allerdings         bestimmt dieses aktuale Imaginäre aber nicht als
              beziehen wir das Konzept der Subjektivierung im          Ideologie (im vulgärmarxistischen Sinne eines
              vorliegenden Beitrag nicht, wie in der bisherigen        falschen Bewusstseins), ebenso wenig nur als
              Subjektivierungsforschung üblich, auf Einzelne,          Spiegelbild oder Fiktion, sondern als eine wir-
              sondern auf ein soziales Gebilde, das sich selbst        kende Kraft im Sozialen. Mit einem Begriff von
              als eine intentional handelnde Gemeinschaft              Peter Fuchs (2004: 15) ließe es sich als eine „fun-
              gesellschaftlicher Veränderung versteht. Die             gierende Ontologie“ charakterisieren, d.h. als eine
              Frage ist dann: Wie erzeugt und beglaubigt dieses        zugleich materielle und ideelle Grundstruktur des
              Gebilde seine Einheitsfiktion als Bedingung              Lebens, in der Menschen sich einrichten, in der
              „partizipativer Identität“ (Hahn 1987) und kol-          sie „hausen“ und die Welt wie sich selbst sinnvoll
              lektiver Handlungsfähigkeit, der Befähigung zur          machen.

              76
Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung

Die Frage nach dem Imaginären verspricht mithin              problems, das in den Diskursen und Praktiken
Einblicke in die Art und Weise, wie Menschen                 des Zusammenlebens fortlaufend als existentiell
die Welt als eine geschichtlich-gesellschaftlich             markiert, erlebbar gemacht und damit affektiv
bestimmte Wirklichkeit hervorbringen, wie sie                aufgeladen wird. Zweitens wird bereits in der

                                                                                                                               SuN 02/2021
diese stabilisieren und verändern, indem sie ant-            gegenwärtigen Praxis eine Zukunft antizipiert, in
wortend auf die Gestalt und Textur dieser Welt               der dieses Bezugsproblem gelöst ist. Und drittens
reagieren, und wie sie sich in diesen Prozessen              muss – im Sinne einer operativen Verkennung
selbst bilden und subjektivieren. In dem von uns             – die Kontingenz dieses historisch bestimmten ge-
gewählten Beispiel vollzieht sich dieser Prozess             sellschaftlichen Imaginären ausgeblendet werden,
der Welterzeugung und der Selbst-Bildung als                 damit das Selbstverständnis, die Einheitsfiktion
ein intentionales Kollektivsubjekt ökologischer              und die Handlungsfähigkeit als Kollektivsubjekt
Transformation im Zeichen eines bestimmten ak-               dauerhaft erhalten bleiben. Durch die operative
tualen, nämlich ökologischen Imaginären, dem                 Verkennung steht das Bezugsproblem selbst nicht
konstitutiv das gesellschaftliche Bezugsproblem              mehr zur Disposition, sondern es ist die Dispo-
einer Störung des Mensch-Natur-Verhältnisses                 sition und wird nur noch als Vollzugsproblem
zugrunde liegt. In der empirischen Analyse soll              behandelt. Unsere These werden wir anhand eines
nun im nächsten Schritt gezeigt werden, wie                  ebenso einfachen wie eindrücklichen empirischen
dieses Imaginäre im Vollzug alltäglicher Praktiken           Beispiels entfalten: der im Öko-Dorf etablierten
des Wohnens, Arbeitens und Wirtschaftens zum                 Praktik des Toilettengangs.5 Sie ist, so werden wir
Medium kollektiver Subjektivierung wird, bevor               zu plausibilisieren versuchen, pars totalis eines
wir abschließend die Frage nach der gegenwärtigen            ganzen Komplexes aus Infrastrukturen, sozioma-
Konjunktur transformativer Gemeinschaften und                teriellen Arrangements, Diskursen und Praktiken
deren Verhältnis zu den hegemonialen Lebens-,                und steht somit als pars pro toto für ein umfas-
Arbeits- und Subjektivierungsweisen der (spät-)              sendes ökologisches Imaginäres im Sinne einer
modernen Gesellschaft diskutieren.                           kohärenten „Kosmologie“ (Bourdieu 1987: 128),
                                                             die insofern essentiell für die im Öko-Dorf vollzo-
                                                             genen Praktiken und deren Zusammenhang ist,
2. Leben im Imaginären                                       als sie jede einzelne Praktik in ein übergeordnetes,
   des Öko-Dorfs                                             sinnstiftendes „Bedeutungsgewebe“ (Geertz 1987)
                                                             einwebt.6
Unsere These lautet, dass die Formierung eines
                                                             Besucher*innen des Öko-Dorfs können beim
sozialen Gebildes als Kollektivsubjekt auf einem
                                                             ersten Toilettengang durchaus einen kleinen
Imaginären beruht, das dieses Gebilde dazu
                                                             Kulturschock erleben. Denn er fordert jenen
befähigt, sich als eine Erfahrungs- und Hand-
lungseinheit zu instituieren. Am Beispiel eines
sich selbst als transformative Gemeinschaft                  5   Die Darstellung des empirischen Falls basiert auf ethnogra-
                                                                 phischen Untersuchungen (die im Rahmen mehrerer Auf-
verstehenden Öko-Dorfs4 beschreiben wir dieses
                                                                 enthalte im Öko-Dorf durchgeführt wurden), Interviews
Imaginäre im Folgenden anhand von drei mit-                      und Dokumentenanalysen.
einander verschränkten Dimensionen: Erstens
                                                             6   Für die Praxistheorie sind die Konzepte des Imaginären
bedarf es eines gemeinsam anerkannten Bezugs-                    und der Kosmologie gerade deshalb interessant, weil sie
                                                                 es erlauben, empirisch die Verflechtungen zwischen Prak-
                                                                 tiken-Bündeln und den „Bedeutungsgeweben“ der Kultur
                                                                 und somit einen sinnhaften Zusammenhang von Praktiken
4   Wir verzichten aus Gründen der Anonymisierung auf eine       über die positivistische Beobachtung ihrer bloßen Verket-
    Namensnennung.                                               tung hinaus auszuweisen (vgl. auch Welch/Warde 2017).

                                                                                                                        77
Alkemeyer / Buschmann / Hamborg / Sulmowski – Kosmologie des Toilettengangs

              „bürgerlichen fäkalen Habitus“ (Inglis 2000: 146)        ist – um ein „gutes und gleichzeitig verantwor-
              heraus, der sich im 19. Jahrhundert ausgebildet          tungsbewusstes Leben“, das „möglichst wenig auf
              hat und seit mehr als 100 Jahren, zumindest im           Kosten der Natur, anderer Menschen oder Lebe-
              Globalen Norden, eine selbstverständliche Weise          wesen“ geht: „Unser übergeordnetes Ziel […] ist
SuN 02/2021

              des Urinierens und der Defäkation ist. Auf den           es, den ökologischen Fußabdruck (die Fläche auf
              Trocken-Trenn-Toiletten des Öko-Dorfs werden             der Erde, die ein Mensch verbraucht mit seinem
              die menschlichen Fäkalien in Abweichung von              jeweiligen Lebensstil) in allen Lebensbereichen
              der etablierten bürgerlichen Toiletten-Routine           zu reduzieren“. Diese und andere Materialien
              nur mithilfe der Schwerkraft und ohne olfaktori-         rufen – häufig indirekt – die Vorstellung einer
              sche Barriere (wie z.B. einem mit Wasser gefüllten       sozial-ökologischen Krise auf, die dieser Program-
              Siphon) vom menschlichen Körper distanziert.             matik Sinn und Relevanz verleiht.
              Flüssiges trennt der sogenannte Urin-Abscheider
                                                                       Dieses Bezugsproblem ist nicht nur in textlichen
              vom Festen. Der Urin wird in die lokale Kanali-
                                                                       Artefakten, sondern auch an der Raumgestaltung
              sation befördert, die in einer Schilf-Kläranlage
                                                                       und der Architektur erkennbar: Es gibt keine be-
              mündet. Die Fäzes landet – je nach Bauart der
                                                                       festigten Straßen und erst recht keine Magistrale
              Toilette – entweder in einer Kammer unter der
                                                                       mit ausgewiesenen Fußwegen an den Seiten. Die
              defäkierenden Person oder gelangt mittels eines
                                                                       Wege in der Siedlung sind nicht versiegelt, sie
              Fallrohrs in einen Sammelbehälter. Elementarer
                                                                       werden kaum von Autos, sondern von Fahrrä-
              Bestandteil der materiellen Anordnung der Tro-
                                                                       dern befahren und von Menschen begangen, von
              cken-Trenn-Toiletten sind zudem Tafeln mit
                                                                       denen einige Wägelchen vor sich herschieben, in
              Informationen über die Bedeutung und die kor-
                                                                       denen Verschiedenes innerhalb des Dorfs trans-
              rekte Nutzung der Toilette. Die olfaktorische und
                                                                       portiert wird. Gesäumt werden die Wege von
              teils sogar sichtbare Präsenz fremder Exkremente
                                                                       gepflegten Wiesen- und Gartenflächen, die sich
              in der Nähe des eigenen Körpers kostet nicht
                                                                       wiederum an die Häuserwände schmiegen. Die
              wenige Besucher*innen große Überwindung, und
                                                                       meisten Häuser sind aus Holz und Strohballen
              sie gelingt nicht immer. Es wird von der Weige-
                                                                       gebaut, von innen in der Regel mit Lehm verputzt.
              rung einiger Besucher*innen berichtet, solche
                                                                       An einigen Stellen trennen lebende Weidenzäune
              Toiletten zu benutzen, und dass sie aus diesem
                                                                       sowie angelegte Hügel und Hecken die Pfade von
              Grund sogar von weiteren Besuchen absehen
                                                                       den Wiesen und Gärten. Das Bezugsproblem zeigt
              würden.
                                                                       sich in diesen räumlichen und architektonischen
              Im Verbund mit zahlreichen anderen Praktiken             Anordnungen, es bewohnt aber auch die haus-
              und materiellen Arrangements (wie der Bauweise           eigene Bibliothek und springt einem aus dem
              der Häuser oder unversiegelten Wegen) ruft die           umfangreichen Seminarprogramm entgegen, in
              Praktik des Toilettengangs das zentrale Bezugs-          dem sozial-ökologische Problematiken in vielfäl-
              problem des Öko-Dorfs – die sozial-ökologische           tiger Hinsicht ausbuchstabiert werden. So wird
              Krise – auf, lässt es erlebbar werden, macht es          in vielen Seminaren praktisches Know-How zu
              kognitiv und affektiv zugänglich und bestätigt es        ökologisch orientierter Selbstversorgung (Gemü-
              kontinuierlich. Das Projekt entwirft sich in den         seanbau, Haltbarmachung von Lebensmitteln,
              zahlreichen PR-Materialien (Internetseite, Flyer,        Erkennen und Einsatz von Wild- und Heilkräu-
              YouTube-Videos) oder an den Info-Tafeln im Dorf          tern, Bienenhaltung, Agroforst-Anbaumethoden),
              als eine Modellsiedlung, in der zukunftsfähige Le-       ökologischer Hausbauweise oder ressourcen-
              bensweisen erprobt werden: Es geht – wie einem           schonenden Technologien angeboten. Darüber
              Info-Schild und der Homepage zu entnehmen                hinaus werden konzeptionelle Werkzeuge zum

              78
Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung

produktiven und reflexiven Umgang mit der                 – nach „ganzheitliche[n] Lösungen“ verlangt,
sozial-ökologischen Krise (Permakultur und                weil die Menschheit und Zukunft eben als Ganze
andere Methoden für die Gestaltung von Gemein-            betroffen sind, ist demnach das unhintergeh-
schaften, Umgang mit rechtsextremen Tendenzen             bare Gravitationszentrum des Kollektivsubjekts

                                                                                                                    SuN 02/2021
in der Siedlungs- und Naturschutzbewegung) vor-           Öko-Dorf. Verteilungsungerechtigkeiten, zwi-
gestellt sowie in verschiedenen Bildungssettings          schenmenschliche Gewalt, Konkurrenzdruck,
diverse Selbst- und Sozialtechniken (Gewaltfreie          Fremdsteuerung usw. lassen sich im Horizont
Kommunikation, Achtsamkeit, Überwindung                   des sozial-ökologischen Imaginären nur im Zuge
von Stress, kreative Methoden des Visionierens            einer Nachhaltigkeitstransformation angehen.
und Reflektierens) angeboten, die auf eine ganze          Praxistheoretisch betrachtet, begegnet das
Reihe weiterer, damit als relevant etikettierter          sozial-ökologische Imaginäre den Dorfbewoh-
Fehlentwicklungen moderner (technisierter, di-            ner*innen in ihrem Dorfalltag somit als eine
gitalisierter, bürokratisierter usw.) Gesellschaften      spezifische, der Materialität des Ideologischen
wie Gewalt in der Kommunikation, Entfremdung,             im Sinne Althussers (1977) vergleichbare Gegen-
Vereinsamung, Konkurrenzdruck, Beschleu-                  ständlichkeit: Man kann ihm im Dorfleben schon
nigung oder Entmächtigung reagieren. In dem               deshalb nicht entgehen, weil es in (nahezu) allen
Seminarprogramm drückt sich somit aus, dass im            Praktiken, Institutionen und Artikulationen auch
Öko-Dorf zusammen mit dem sozial-ökologischen             anderer Anliegen gegenwärtig ist, mit evoziert
weitere gesellschaftliche Anliegen aufgegriffen           und „getriggert“ wird.
werden. Diese stehen jedoch nicht auf einer Stufe
                                                          Diese aus der Außenperspektive erkennbare
mit dem sozial-ökologischen Bezugsproblem,
                                                          Gesamtstimmigkeit, die das Kollektivsubjekt Öko-
sondern treten als Problematiken in Erscheinung,
                                                          Dorf mit seinen menschlichen wie nicht-mensch-
die nicht abgelöst von der grundlegenden Störung
                                                          lichen Entitäten erlebbar macht, verdankt sich
des Mensch-Natur-Verhältnisses betrachtet und
                                                          nicht zuletzt einer intensiven „Gemeinschaftsar-
bearbeitet werden können.
                                                          beit“. Die Gelegenheiten, im Dorfalltag in einer
Das sozial-ökologische Imaginäre bildet, anders           größeren Gruppe zusammenzukommen und sich
gesagt, ein „general understanding“ (Schatzki             auszutauschen, beschränken sich auf wenige
2002) im Sinne eines breiten Hintergrundver-              Zeiträume, denn die meiste Zeit des Tages sind
ständnisses, das die verschiedenen Anliegen und           die Dorfbewohner*innen in Gremienarbeit oder
Praktiken des Dorflebens transzendiert, imprä-            in die Erwerbsarbeit in einem der Unternehmen
gniert und folglich integriert (vgl. auch Welch/          oder der Vereine eingespannt oder sind in ihren
Warde 2017). Deutlich wird diese gewissermaßen            Wohngemeinschaften anzutreffen. Zentral für die
generische Priorisierung des sozial-ökologi-              Gemeinschaftsarbeit ist die Gemeinschaftsküche,
schen Imaginären etwa auch auf der folgenden,             aus der dreimal täglich zu festen Uhrzeiten ein
das kollektive Selbstverständnis des Öko-Dorfs            Gong als Einladung zum Essen ertönt. Die Ge-
vergegenwärtigenden Infotafel: „Hier können               meinschaftsessen werden unterschiedlich stark
Ökologie in allen Lebensbereichen, soziale                frequentiert, je nach Mahlzeit, Jahreszeit oder
Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit, Selbstverantwor-           Intensität des Seminarbetriebs. Hier bedient man
tung, Freude und Kreativität im täglichen Tun,            sich nicht nur am Büffet, um sich dann einer der
individuelle Entwicklung und spirituelle Suche            Tischgruppen anzuschließen. Jede warme Mahl-
gelebt werden und einander bedingen.“ Das                 zeit wird mit einem kurzen Schweigekreis, dessen
Bezugsproblem der sozial-ökologischen Krise,              Teilnehmer*innen sich an den Händen halten,
die – laut der Selbstdarstellung des Öko-Dorfs            begonnen. Zu den Gemeinschaftsessen gehören

                                                                                                              79
Alkemeyer / Buschmann / Hamborg / Sulmowski – Kosmologie des Toilettengangs

              auch Warteschlangen: Nach dem Schweigekreis                          mit Häusern aus Strohballen, mit unversiegelten
              wechseln die Essenswilligen ihre Formation zu                        Wegen, mit der langwierigen Aufnahmeprozedur
              einer Reihe; ebenso nach der Mahlzeit stehen                         und nicht zuletzt mit wassersparenden Tro-
              Dorfbewohner*innen (manchmal zusammen mit                            cken-Trenn-Toiletten.
SuN 02/2021

              den Besucher*innen) in der Warteschlange, um
                                                                                   Die Alterität des Toilettengangs im Öko-Dorf
              das Geschirr abzuwaschen. Solche „Infrastruk-
                                                                                   vergegenwärtigt in diesem Kontext mit bemer-
              turen des Kollektiven“ (Stäheli 2012) ermöglichen
                                                                                   kenswerter sinnlicher Intensität – nämlich sicht-,
              – laut den Aussagen der Dorfbewohner*innen
                                                                                   riech-, hör- und fühlbar – den Problemkomplex
              – die Erfahrung der Gemeinschaft. Zur Gemein-
                                                                                   von Wasser- und Rohstoffknappheit, ressourcen-
              schaftsarbeit lassen sich auch Intensivzeiten
                                                                                   intensiven Infrastrukturen und der Delegation
              zählen, d.h. mehrtägige Zeiträume, in denen die
                                                                                   von Verantwortung für die Folgen eigenen Tuns
              gesamte Bewohnerschaft zusammenkommt,
                                                                                   an andere Akteure wie staatliche Institutionen
              um sich Zeit für die Bearbeitung wichtiger ge-
                                                                                   oder private Entsorgungsunternehmen. Der Toi-
              meinsamer Themen – unterstützt zumeist durch
                                                                                   lettengang ruft diese Problematiken auf, indem er
              externe Moderator*innen – zu nehmen. Die Ge-
                                                                                   in größerem Maße als herkömmliche Toilettenvor-
              meinschaftsarbeit findet auch in der Aufnahme
                                                                                   richtungen die Bahn dafür ebnet, Abscheu vor der
              neuer Mitglieder statt, bei der eine langwierige
                                                                                   eigenen wie der Körperlichkeit anderer Menschen
              und Selektion ermöglichende Ankommens-Pro-
                                                                                   zu empfinden, und zugleich dazu auffordert, diese
              zedur vorgesehen ist.
                                                                                   Abscheu – im Namen einer besseren Zukunft –
              Was aus der Außenperspektive als Gesamtstim-                         zu überwinden. Der Toilettengang ist damit eine
              migkeit und bisweilen Homogenität erscheint,                         reflexive Praxis, in der den Akteuren der Entwurf
              differenziert sich aus der „Teilnehmerperspek-                       eines anderen, kritisch von der Welt draußen sich
              tive“ (Alkemeyer et al. 2015b: 27-29) auf die                        absetzenden Lebens im Medium der Abscheu
              Öko-Dorf-Praxis. Selbstverständlich gibt es hier                     buchstäblich zu Leibe rückt. Er spannt sich in das
              verschiedene Variationen des Verhältnisses                           Unterfangen der Errichtung einer nachhaltigen
              zwischen der Gemeinschaft, ihrer Program-                            Welt ein, die – so die wesentlich nichtsprachliche
              matik und den Einzelnen: Auch hier gibt es den                       „Botschaft“ und Anrufung dieser Praxis – einen
              verschrobenen Außenseiter, der mit „der Ge-                          Sieg noch über die persönlichsten, tief in das
              meinschaft“ nichts zu tun haben will; oder die                       leibliche Erleben eingeschliffenen Affekte des Wi-
              militante Fleischfresserin, der das Veganertum                       derwillens und Ekels verlangt.
              der Mehrheit zum Halse raushängt; die chaoti-
                                                                                   Im Sichtbarkeits- und Beobachtungsregime
              sche Punkerin und den pingeligen Nachbarn.7
                                                                                   des Öko-Dorfs eröffnet diese öffentliche Perfor-
              Doch diese Diversität geht gerade so weit, dass
                                                                                   manz der Überwindung inneren Widerstands
              sie das so und nicht anders aussehende und
                                                                                   den Bewohner*innen und den Besucher*innen
              funktionierende Öko-Dorf-Projekt ermöglicht:
                                                                                   zugleich die Möglichkeit, sich wechselseitig der
              mit genossenschaftlichem Eigentum am Boden
                                                                                   Anerkennung des Bezugsproblems und der Ernst-
              und an Gebäuden, mit der Gemeinschaftsküche,
                                                                                   haftigkeit der eigenen Veränderungsbereitschaft
                                                                                   zu vergewissern: In dieser ersten Dimension des
              7    Ebenso divers sind die Disponiertheiten, die Menschen zur       Imaginären beglaubigt sich die Dorfgemeinschaft
                   Mitgliedschaft bewegen und dennoch in ein Passungsver-
                                                                                   u.a. in den Akten des Toilettengangs, die als pars
                   hältnis mit der Selbst-Bildung des Öko-Dorfs als ein intenti-
                   onales Kollektivsubjekt sozial-ökologischer Transformation      totalis und pars pro toto zugleich das gesamte öko-
                   treten können (vgl. Grundmann/Kunze 2012: 360; Wagner
                                                                                   logische Imaginäre aufrufen, das einheitsstiftende
                   2012: 86; Dierschke et al. 2006: 111 f.).

              80
Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung

Selbstbild, eine Avantgarde der Nachhaltigkeit             eines zukunftsfähigen Miteinanders bereits heute
zu sein; sie instituiert sich auf der Basis geteilter      Gestalt annimmt. Viele andere Probleme oder Lö-
Erfahrungen als ein verantwortungsbewusstes                sungswege ließen sich in dieser immobilen Gestalt
Kollektivsubjekt, dessen Einzelglieder sich gar            präfigurativer Problembearbeitung gar nicht erst

                                                                                                                          SuN 02/2021
den Mühen der Umerziehung und „Gegendressur“               angehen: Das Öko-Dorf ist kein Demonstrati-
(Bourdieu 2001: 220) unterziehen, um der ge-               onszug, der flüchtig als eine Form politischen
meinsamen Verantwortung gerecht zu werden.                 Protests eingesetzt werden kann. Ebenso ist es
                                                           kein Schiff, das zur Seenotrettung zum Mittel-
Im kontinuierlich wiederkehrenden Aufrufen
                                                           meer geschickt wird. Sowohl die Fixierung der
des Bezugsproblems zeigt sich zugleich die
                                                           Problemdiagnose einer tiefgreifenden Störung
zweite, zukunftsbezogene Dimension des Ima-
                                                           des (Um-)Welt-, Mit- und Selbstverhältnisses des
ginären transformativer Gemeinschaften. Denn
                                                           Menschen – die andere Probleme (wie bspw. der
die gegenwärtige Praxis ist nicht nur ein Mittel
                                                           sozialen Ungleichheit oder der Migrationskrise)
zur Herbeiführung einer antizipierten besseren
                                                           nur als zugeordnete, gewissermaßen in die sozi-
Zukunft, sondern realisiert diese Zukunft bereits;
                                                           al-ökologische Krise einverleibte Teilaspekte (er-)
sie ist eine Praxis künftiger Normalität schon
                                                           kennen oder, verstanden als bloße Symptome
im Hier und Jetzt. Diese Verschränkung von
                                                           gegenwärtiger Lebensweisen, gar deren Ausblen-
Bezugsproblem, Praxis, Subjektivierung und Zu-
                                                           dung befördern kann – als auch der spezifische
kunftsentwurf, die wir am Beispiel der Praktik des
                                                           Modus der Bearbeitung dieses Bezugsproblems
Toilettengangs zeigen, ließe sich an nahezu allen
                                                           im präfigurativen Arrangement eines Öko-Dorfs
Praktiken des Öko-Dorfs aufweisen – von der
                                                           bedingen dessen Stabilität als Kollektivsubjekt.
Nahrungsversorgung über die Essenszubereitung
                                                           Dass diese Bedingung nicht trivial ist, zeigt
bis hin zum Essen selbst, von der Mobilität über
                                                           sich u.a. in der Prozedur der Aufnahme neuer
das Wohnen und Heizen bis hin zum Feiern und
                                                           Mitglieder, durch die diese operative Fixierung ge-
Trauern.
                                                           steigert wird. In den regelmäßigen formalisierten
Das Bezugsproblem der sozial-ökologischen                  mehrstufigen Begegnungen zwischen den Dorfbe-
Krise mit planetarem Ausmaß erlangt in diesem              wohner*innen und den am Zuzug interessierten
Verweisungszusammenhang eine enorme Zentra-                Personen findet eine Selektion und Formierung
lität und Exklusivität; es bedarf als existentielles       statt, in deren Verlauf entsprechend geneigte In-
Problem selbst keiner Begründung mehr, sondern             dividuen in das Gemeinschaftsprojekt eingeführt,
bildet den nicht weiter hinterfragten Horizont, in         passend gemacht und derart als Subjekte eines
dem Anderes sich begründen lassen muss – etwa              kollektiven Unterfangens zur Erprobung eines
indem es als Teil des Bedingungsgefüges einer              ganz(-heitlich) anderen, besseren Lebens hervor-
ganzheitlichen, ökologischen Lebensführung                 gebracht werden.8 Die konfrontative Begegnung
ausgewiesen wird oder sich als solcher behauptet.          mit der Alterität des Toilettengangs ist in diesem
Diese operative Verkennung der Kontingenz des
Bezugsproblems einschließlich der Mittel seiner
Bearbeitung, d.h. die Instituierung einer be-              8   Die Regelung der Aufnahme neuer Mitglieder ist in
                                                               Öko-Dörfern bzw. allgemein in intentionalen Gemein-
stimmten Problemdiagnose – die dritte Dimension
                                                               schaften inzwischen weit verbreitet. Das Vorgehen un-
des Imaginären transformativer Gemeinschaften                  terscheidet sich dabei etwa im Hinblick auf den Grad der
                                                               Formalisierung, die Entscheidungsprozesse sowie im Hin-
–, war und ist eine konstitutive Bedingung für die
                                                               blick auf den zeitlichen und finanziellen Aufwand (vgl.
Gründung einer Gemeinschaftssiedlung und die                   Kunze 2009: 97 ff., Sulmowski 2018: 340 ff.)
Installation von Praktiken, in denen der Entwurf

                                                                                                                    81
Alkemeyer / Buschmann / Hamborg / Sulmowski – Kosmologie des Toilettengangs

              Zusammenhang ein elementarer Bestandteil eines           allem auch im Vollzug alltäglicher Praktiken – wie
              jeden Selektions- und Subjektivierungsprozesses          eben in der Praktik des Toilettengangs. Erst in der
              neben vielen anderen Bestandteilen.                      Textur eines solcherart performativ vergegenwär-
                                                                       tigten Imaginären konstituiert sich eine Fiktion
              In dem Wirken des Kollektivsubjekts „Öko-Dorf“
SuN 02/2021

                                                                       von Einheit und Alterität und somit eine „fungie-
              lässt sich das Streben nach einer Wiederaneignung
                                                                       rende Ontologie“, in der das Leben und Wirken im
              des Vermögens zur Selbst-Institution im Sinne
                                                                       Öko-Dorf für jeden einzelnen Dorfbewohner und
              von Castoriadis erkennen. Das radikale Imaginäre
                                                                       jede einzelne Dorfbewohnerin ein sinnvolles Un-
              blitzt auf in der Einrichtung von Praktiken, die
                                                                       terfangen ist. Eine Gemeinschaft, die als „change
              den Entwurf eines ressourcenschonenden, emis-
                                                                       agent“ einen Wandel zum Besseren bewirken
              sionsarmen, im Einklang mit der Natur geführten,
                                                                       möchte, indem sie in einer sozial-räumlichen
              Selbstentfaltung ermöglichenden, konsensori-
                                                                       Nische trotz widriger äußerer Umstände modell-
              entierten, solidarischen und gemeinschaftlichen
                                                                       haft ein „anderes“ Leben erprobt, steht daher vor
              Zusammenlebens realisieren sollen. Mit dieser
                                                                       der Herausforderung, Praktiken zu instituieren,
              Realisierung wird zugleich eine Norm instituiert,
                                                                       die – zumindest in der Binnensicht – sowohl
              denn „Schöpfung impliziert stets Formgebung und
                                                                       einen funktionalen Beitrag zur Lösung des von
              Gesetzgebung […]. Was aus ihr hervorgeht, tritt in
                                                                       ihr als zentral ausgewiesenen Bezugsproblems
              ein Sein, das es nicht einfachhin hat, sondern zu
                                                                       versprechen als auch die Einheitsfiktion einer
              sein hat“ (Waldenfels 1991: 61; Herv. im Orig.). So
                                                                       habituellen Alterität zu den Lebensführungsstilen
              entstehen im Horizont des aktualen Imaginären,
                                                                       der umgebenden Wachstums- und Konkurrenz-
              wie wir es anhand der drei vorgestellten Dimensi-
                                                                       gesellschaft erfahrbar machen.
              onen beschrieben haben, Weisen der kollektiven
              Subjektivierung, die mit einer Verfügbarmachung          In dem Versuch, in einer von der instituierten
              der gesamten Person und der Gesamtheit des               gesellschaftlichen Ordnung eingeräumten Nische
              alltäglichen Lebens für das Ziel der Erprobung           eine Alternative zu leben, in der die Welt, wie
              zukunftsfähiger Lebensstile einhergehen.                 sie sein könnte, als „reale Utopie“ (Wright 2017)
                                                                       bereits vorweggenommen wird, artikuliert sich
                                                                       das politische Anliegen, das bestehende System
              3. Ambivalenzen der Nische                               aus der Zivilgesellschaft heraus nicht nur zu kriti-
                 – Versuch einer Bilanz                                sieren, sondern es weitergehend auch performativ
                                                                       zu beunruhigen, um es letztlich aufzubrechen und
              Am Beispiel des Toilettengangs in einem Öko-             perspektivisch einen substantiellen Beitrag zum
              Dorf haben wir beschrieben, wie ein spezifisches         Aufbau einer anderen Gesellschaft zu leisten,
              aktuales – in diesem Fall sozial-ökologisches            die sich von der Heteronomie des (modernen,
              – Imaginäres als konstitutive Bedingung für die          westlichen, kapitalistischen) Imaginären im-
              Selbst-Bildung des Öko-Dorfs als Kollektivsubjekt        merwährenden Wachstums und naturwüchsiger
              einer gesellschaftlichen Nachhaltigkeitstrans-           Konkurrenz emanzipiert. Castoriadis selbst hat
              formation instituiert und aufgeführt wird. Die           in den neueren ökologischen Bewegungen seit
              kollektive Subjektivierung ist hier unhintergehbar       den 1970er Jahren ein kollektives Bemühen um
              an die wiederkehrende Vergegenwärtigung                  die „Rückeroberung“ des Vermögens zu auto-
              dieses Imaginären gebunden: In praxeologischer           nomer gesellschaftlicher Selbstschöpfung und
              Perspektive zeigt es sich nicht allein in Program-       kollektiver Selbstbegrenzung als Gegenpraxis
              matiken oder Selbstbeschreibungen, sondern               zur Hybris des unbegrenzten Verfügbarmachens
              materialisiert sich sinnlich-sinnhaft erfahrbar vor      und Beherrschens der Welt erkannt (vgl. auch

              82
Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung

Adloff 2020: 25). Es verwundert insofern nicht,           beobachtete Öko-Dorf – ganz anders als bspw.
dass Castoriadis‘ Konzepte „von Autonomie und             selbstgenügsame „totale Institutionen“ im Sinne
Selbstbegrenzung“ auch in der Degrowth-Bewe-              Goffmans (1961) – nicht nur einen regen Aus-
gung eine „zentrale Rolle“ (Adloff 2020: 22) für          tausch mit der Außenwelt (darunter Institutionen

                                                                                                                              SuN 02/2021
die Theoretisierung und Reflexion dieser Gegen-           wissenschaftlicher Begleitforschung), um das
praxis spielen.                                           eigene Tun fortlaufend auch aus der Außensicht
                                                          reflektieren und evaluieren zu lassen, sondern
Vor dem Hintergrund unserer theoretischen und
                                                          hat auch in seiner Binnenstruktur zahlreiche
empirischen Perspektivierung des Lebens im
                                                          Kommunikations- und Praxisformate etabliert,
Öko-Dorf stellen sich allerdings eine Reihe von
                                                          die eine Dauerreflexion über die politische An-
Fragen an ein solches Selbstverständnis. Denn
                                                          gemessenheit und Richtigkeit des eigenen Tuns
erstens impliziert Castoriadis‘ Aufweis der nicht
                                                          sicherstellen. Sofern freilich das Reflektieren
unhintergehbaren Kontingenz des Sozialen,
                                                          selbst als eine Routinepraktik institutionalisiert
dass sich Autonomie nur über eine permanente
                                                          wird, entwickelt es seinerseits die Tendenz, zu
„Selbstinfragestellung“ (Wieder 2016: 204) des
                                                          einem Medium zu werden, in dem sich die Ein-
eigenen aktualen Imaginären sowie der Praktiken
                                                          heitsfiktion des Kollektivsubjekts stabilisiert
und Institutionen, in denen es sich materialisiert,
                                                          und gegen Irritation und Kritik immunisiert (zu
verwirklichen kann. Eine solche gewissermaßen
                                                          solchen immunisierenden Effekten institutiona-
„teilnehmende Objektivierung“ (Bourdieu 2004)
                                                          lisierter Praktiken der Reflexion vgl. Molis 2019:
der sozialen und imaginären Bedingungen der
                                                          117 ff. und Haker 2020: 113 ff.).
eigenen Existenz wird allerdings dann besonders
schwer, wenn diese Bedingungen wie im Öko-Dorf            Zu den Verteidigungs- und Schutzmaßnahmen
raumplanerisch, architektonisch, infrastrukturell         gehören auch die von uns erwähnten Praktiken der
und institutionell auf Dauer gestellt sind. Die           Gemeinschaftsarbeit, unter ihnen aufwendige und
Selbst-Instituierung der Gemeinschaft als trans-          zeitintensive Prozeduren zur Auswahl habituell
formatives Kollektivsubjekt in der vergleichsweise        zum Öko-Dorf passender Aufnahme-Kandi-
festgelegten Form des Öko-Dorfs disponiert, so            dat*innen. Diese Prozeduren sichern – trotz aller
lässt sich vermuten, dazu, die historische Kontin-        Unterschiede der zum Mitmachen motivierenden
genz und somit den Konstruktionscharakter des             Disponiertheiten – nicht nur eine gewisse Über-
eigenen aktualen Imaginären auszublenden und              einstimmung in der für das Leben im Öko-Dorf
in dem Maße zu verkennen, in dem die alternative          essentiellen sozial-ökologischen Grundhaltung,
Lebenswelt den Status einer fungierenden Onto-            sondern befördern auch die soziale Homogenität
logie erlangt, in der man sich eingerichtet hat und       der Dorfbewohner*innen.9 Die ideelle und atmo-
heimisch fühlt (vgl. dazu wie zum Folgenden auch          sphärische Gesamtstimmigkeit des Öko-Dorfs
Alkemeyer/Buschmann 2019). Entsprechend ist               – mit Wacquant (2003: 90) ließe sich von einer
diese Form der Instituierung des Entwurfs eines           „pluri-sensorielle[n] Struktur“ aus charakteristi-
autonomen anderen Lebens durch das Dilemma                schen Gerüchen und Geräuschen, Baumaterialien
gekennzeichnet, die Kritik und Beunruhigung des           und Dingen, Umgangsformen, Sprechweisen,
umgebenden Gesellschaftssystems mit dem Ein-              Regeln und Verboten (bspw. des Gebrauchs von
richten interner, die prinzipielle Kontingenz auch
des eigenen, alternativen Lebens verbergender
                                                          9   Es wurde wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass die
Maßnahmen zum Schutz und zur Verteidigung                     Sozialstruktur in den intentionalen Gemeinschaften (vgl.
der eigenen Einheitsfiktion zu erkaufen (vgl.                 u.a. Aguilar 2015, Fischetti 2008: 67, 95) sowie in der Post-
                                                              wachstumsbewegung einen deutlichen Mittelschichtsbias
Wieder 2016: 212 f.). Zwar pflegt das von uns                 aufweist (vgl. u.a. Adloff 2020: 30).

                                                                                                                       83
Sie können auch lesen