SUN - UNIVERSITÄT MÜNSTER
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SuN Heft 02/2021 Soziologie und Nachhaltigkeit - Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung Thomas Alkemeyer / Nikolaus Buschmann / Steffen Hamborg / Jędrzej Sulmowski Kosmologie des Toilettengangs Zum Imaginären einer nachhaltigen Lebensform Zusammenfassung: Der Beitrag beschäftigt Abstract: The following article elaborates how sich mit der Bedeutung des Imaginären einer the imaginary of a sustainable future pervades the nachhaltigen Zukunft für die Hervorbringung creation of ,transformative communities’ as collec- ‚transformativer Gemeinschaften‘ als Kollektivsub- tive subjects and asks for the ambivalences of this jekte und geht den Ambivalenzen dieser kollektiven collective subjectivation. Drawing on an ethnogra- Subjektivierung nach. Er zeigt auf der Basis einer phic study we show how an eco-village projects itself ethnographischen Studie, wie sich ein Öko-Dorf als as a cosmos of the design and development of sus- ein Kosmos der Entwicklung nachhaltiger Lebens- tainable lifestyles and how it publicly performs the weisen entwirft und das Imaginäre einer besseren imaginary of a better future here and now as a nexus Zukunft bereits im Hier und Jetzt als einen Nexus of infrastructures, socio-material arrangements, dis- von Infrastrukturen, soziomateriellen Arrange- courses and practices. We describe this imaginary ments, Diskursen und Praktiken öffentlich aufführt. by three mutually entwined dimensions: Firstly, Dabei wird das Imaginäre anhand von drei mitei- the imaginary relies on a collectively acknowledged nander verschränkten Dimensionen beschrieben: problem of reference that continuously needs to be Erstens bedarf es eines gemeinsam anerkannten affectively charged, made tangible and marked as Bezugsproblems, das im alltäglichen (Zusammen-) existential. Secondly, a future in which this problem Leben immer wieder aufs Neue als existentiell of reference is solved is already anticipated in present markiert, erlebbar gemacht und affektiv aufgeladen practice. Thirdly, the historical contingency of the wird. Zweitens wird bereits in der gegenwärtigen social imaginary has to be operatively misconceived Praxis eine Zukunft antizipiert, in der dieses Bezugs- in order that the self-conception, the fiction of unity, problem gelöst ist. Drittens muss die Kontingenz and the capacity to act as collective subject of an dieses gesellschaftlichen Imaginären operativ alternative form of life are permanently preserved. verkannt werden, damit das Selbstverständnis, This raises questions about the social connectivity die Einheitsfiktion und die Handlungsfähigkeit als and the ambivalent effects of such initiatives. Kollektivsubjekt einer alternativen Lebensform dauerhaft erhalten bleiben. Dies wirft Fragen nach der gesellschaftlichen Anschlussfähigkeit und den ambivalenten Wirkungen solcher Initiativen auf.
Autoren: Thomas Alkemeyer – Professor für Soziologie und Sportsoziologie an der Carl von Ossietzky Uni- versität Oldenburg sowie Direktor des Wissenschaftlichen Zentrums Genealogie der Gegenwart. Nikolaus Buschmann – wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich „Soziologie und Sportso- ziologie“ am Institut für Sportwissenschaft der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Zentrums Genealogie der Gegenwart. Steffen Hamborg – wissenschaftlicher Mitarbeiter und Koordinator des Verbundprojekts „Trans- formation durch Gemeinschaft – Prozesse kollektiver Subjektivierung im Kontext nachhaltiger Entwicklung“ am Wissenschaftlichen Zentrum Genealogie der Gegenwart an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Jędrzej Sulmowski – wissenschaftlicher Mitarbeiter und Koordinator des Verbundprojekts „Transformation durch Gemeinschaft – Prozesse kollektiver Subjektivierung im Kontext nachhaltiger Entwicklung“ am Wissenschaftlichen Zentrum Genealogie der Gegenwart an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Soziologie und Nachhaltigkeit Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung ISSN 2364-1282 Heft 2/2021, 7. Jahrgang Eingereicht 30.11.2020 – Peer-Review 10.02.2021 – Überarbeitet 17.05.2021 – Akzeptiert 29.06.2021 Lizenz CC-BY 4.0 (www.creativecommons.org/licenses/by/4.0) Herausgeber*innen: Benjamin Görgen, Matthias Grundmann, Anna Henkel, Melanie Jaeger-Erben, Björn Wendt Redaktion: Niklas Haarbusch, Jessica Hoffmann, Carsten Ohlrogge Layout/Satz: Frank Osterloh/Niklas Haarbusch Anschrift: WWU Münster, Institut für Soziologie Scharnhorststraße 121, 48151 Münster Telefon: (0251) 83-25440 E-Mail: sun.redaktion@wwu.de Website: www.sun-journal.org
Alkemeyer / Buschmann / Hamborg / Sulmowski – Kosmologie des Toilettengangs Einleitung al. 2006) verstehenden Öko-Dörfer. Sie versam- meln Menschen und organisieren diese über die Gegenwartsdiagnosen lassen sich als eine Anrufung durch „Gemein-Begriffe“ (Spitta 2012) kulturelle Form gesellschaftlicher Selbstproble- in entsprechenden Narrativen und Praktiken matisierung in der Moderne begreifen, die eine SuN 02/2021 als „Kollektivsubjekte“ (Alkemeyer et al. 2018). Gegenwart im Hinblick auf mögliche Fehlent- Anders als andere, nur Einzelaspekte des Lebens wicklungen vermisst und auf dieser Grundlage bearbeitende Bottom-up-Initiativen (z.B. solidari- zum Ergreifen entsprechender Maßnahmen der sche Landwirtschaft, Repair-Cafés, Tauschbörsen, Reparatur, Prävention oder auch Resilienz aufruft Wohnprojekte oder Einkaufsgemeinschaften) (vgl. Alkemeyer et al. 2019). Eine der seit Jahr- bemühen sich Öko-Dörfer um eine nachhaltige zehnten prominentesten Gegenwartsdiagnosen Gestaltung der gesamten Lebensweise, ein- konstatiert eine tiefgreifende Krise der „gesell- schließlich des Arbeitens, Konsumierens und schaftlichen Naturverhältnisse“ (Jahn/Wehling Freizeitverhaltens. 1998, Buschmann 2018). Die Omnipräsenz der aus diesem – faktengestützten – Befund hergelei- Teile der Nachhaltigkeits-, Transformations- teten Interventionspostulate geht Hand in Hand und Innovationsforschung zeigen sich solchen mit der Ansicht zahlreicher Beobachter*innen aus Projekten und Initiativen nicht nur deshalb ver- Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft, dass bunden, weil diese den „großen gesellschaftlichen die bislang initiierten Maßnahmen der Gegen- Herausforderungen“ und „Schlüsselproblemen“ steuerung weltweit unzureichend seien. In dieser (Howaldt et al. 2017: 153) der Gegenwart wie Gemengelage verwundert es kaum, dass Projekte Klimawandel, Gesundheitsversorgung oder und Initiativen, die durch diese Gegenwartsdi- Armutsbekämpfung kollaborativ begegneten, agnose gerahmt und orientiert werden, in der sondern auch deshalb, weil sie die Bearbeitung Öffentlichkeit zunehmend auf Resonanz stoßen. dieser Schlüsselprobleme zum Gegenstand einer Zu diesen Initiativen zählen u.a. kleinskalige intentionalen, mithin bewussten Gestaltung soziale Formationen, die sich selbst als „lokal“, machten. Sie trügen so zur Etablierung eines „‘so- „gemeinschaftlich“ und als Wegbereiterinnen in ziologisch aufgeklärten‘ Innovationsparadigmas“ eine nachhaltige Zukunft verstehen; sie werden (Howaldt et al. 2017: 154 f.) bei, anstatt Trans- auch seitens der Wissenschaft und Politik gern formation entweder als einen naturwüchsigen als solche adressiert (z.B. Keck et al. 2017, WBGU Prozess zu betrachten oder den aus ihrer Sicht 2011, WBGU 2014). Diese Rollenzuschreibung dringend notwendigen Umbau der Gesellschaft geht unter anderem auf die Annahme zurück, naiv – ohne eine Reflexion auf mögliche uner- dass in kleinskaligen Formationen, die häufig als wünschte Nebenfolgen – zu betreiben. Weniger gesellschaftliche „Nischen“ begriffen werden (z.B. Aufmerksamkeit widmen die genannten For- Kny et al. 2015, Leitner/Littig 2016), besonders schungsrichtungen hingegen der Frage, wie sich günstige Bedingungen für das Hervorbringen eine Aggregation veränderungswilliger Menschen und Erproben „sozialer Innovationen“ (Schwarz überhaupt erst als eine „intentionale Gemein- et al. 2015) existierten, die durch nachahmende schaft“ im Sinne eines von gemeinsamen Zielen Wiederholung in ‚die Gesellschaft‘ diffundieren getragenen Kollektivsubjekts bildet (zu dieser Di- und so großflächige Nachhaltigkeitstransforma- agnose vgl. Walker 2011, Aiken 2012, Taylor Aiken tionen anstoßen könnten (Howaldt et al. 2017). et al. 2017). Diese Frage steht deshalb im Zentrum Eine der vielbeachteten Formen solcher nischen- des vorliegenden Beitrags: Er möchte die Voraus- haften Experimentierräume sind die sich selbst setzungen und die konkrete Arbeit beleuchten, als „intentionale Gemeinschaften“ (Dierschke et vermittels derer sich eine Gemeinschaft als ein 72
Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung intentionales Kollektivsubjekt gesellschaftlicher Bezugsproblem gelöst sein wird. Anderssein bleibt Transformation bildet. Folglich gilt sein leitendes im Öko-Dorf mithin kein bloßes Versprechen auf Interesse den Praktiken und Techniken kollek- eine bessere Zukunft, sondern wird modellhaft tiver Subjektivierung sowie den Vorstellungen bereits im Hier und Jetzt des Lebens in der Nische SuN 02/2021 – wir werden im Weiteren von einem sich in Prak- verwirklicht. Drittens schließlich bedarf die Re- tiken materialisierenden Imaginären sprechen –, produktion und Bestätigung dieses Imaginären die einen sinnlich-sinnhaften Zusammenhang insofern einer operativen Verkennung, als sich zwischen diesen Praktiken und Techniken stiften. die Einheitsfiktion und somit die Handlungsfä- Damit treten dann zumindest rudimentär auch die higkeit der ‚Gemeinschaft‘ als Kollektivsubjekt zwiespältigen, z.B. ein- und ausgrenzenden oder dauerhaft nur aufrechterhalten lassen, sofern die systemstabilisierenden, Konsequenzen in den geschichtlich-gesellschaftliche Kontingenz des Blick, die von der Herstellung und fortlaufenden Bezugsproblems sowie der auf dieses Problem Reproduktion einer solchen „ganzheitlichen“ Le- reagierenden Lebensform ausgeblendet wird und benswelt in der Nische veranlasst werden können. bleibt: Das Bezugsproblem selbst steht nicht zur Disposition, es ist vielmehr die als selbstverständ- Zentral für die im Folgenden untersuchte lich akzeptierte Disposition für das kollektive Selbst-Bildungsarbeit von Öko-Dörfern und ver- Leben und wird demzufolge nur noch als ein Voll- gleichbaren Initiativen ist – so unsere These – ein zugsproblem behandelt.1 Imaginäres, das sich in der gelebten Utopie eines anderen – besseren, ökologischen – Lebens zeigt Zur Entfaltung unserer These werden wir im An- und artikuliert. Dieses Imaginäre hat, so möchten schluss an Cornelius Castoriadis (1990) zunächst wir zeigen, mindestens drei Dimensionen: Es das Konzept des Imaginären als einer konsti- beinhaltet erstens ein gemeinsam anerkanntes tutiven Bedingung und Form gesellschaftlicher Bezugsproblem, das in speziellen Diskursen und Selbstschöpfung bestimmen und mit dem kul- Praktiken fortlaufend hergestellt, als existentiell turtheoretischen Konzept der Subjektivierung in markiert, erlebbar gemacht und affektiv aufge- Beziehung setzen (1.). Am Beispiel einer konkreten laden wird. Für die Erzeugung und Bestätigung Praktik – des Toilettengangs als pars pro toto eines Selbstverständnisses der Andersheit ist und pars totalis einer Kosmologie im Sinne Bour- in dieser Dimension nicht zuletzt die Art und dieus (1987: 128) – in einem Öko-Dorf werden Weise der Bearbeitung des Bezugsproblems wir anschließend entlang der drei beschriebenen konstitutiv. Denn sie unterscheidet die sich von Dimensionen empirisch zeigen, wie sich das Ima- der Gesellschaft ‚draußen‘ durch räumliche Ab- ginäre des Andersseins im Vollzug alltäglicher geschiedenheit separierende Dorf-Gemeinschaft Praktiken sinnlich-sinnhaft materialisiert und auch in sachlicher und sozialer Hinsicht von auf diese Weise eine Aggregation von Menschen einer ins gesellschaftliche Außen verlagerten (und als eine Erfahrungs- und Handlungseinheit kons- dort als vorherrschend behaupteten) Logik des Wachstums und der Konkurrenz, der die Werte der Suffizienz und Gemeinschaft im dörflichen 1 Während der Term „Bezugsproblem“ jene von den Ak- teuren als existentiell behandelte Kernproblematik Binnenleben gegenübergestellt werden. Zweitens bezeichnet, die durch adäquate Maßnahmen und Le- eignet dem Imaginären eine eigene Zeitlichkeit: bensweisen bewältigt werden soll, bezieht sich der Term „Vollzugsproblem“ auf jene Schwierigkeiten, die in der Bereits in der alternativen Lebenspraxis der Ge- praktischen Realisierung dieser Maßnahmen und Lebens- genwart wird eine Zukunft antizipiert, in der ein weisen von den Akteuren fortlaufend als „ongoing accom- schlechter Status quo überwunden (bzw. dessen plishments“ (Garfinkel 1967) bearbeitet werden (müssen) (zur Unterscheidung von Bezugs- und Vollzugsproblemen dystopische Extrapolation verhindert) und das vgl. auch Scheffer 2018). 73
Alkemeyer / Buschmann / Hamborg / Sulmowski – Kosmologie des Toilettengangs tituiert. In dieser Perspektive sind das Materielle Hamborg 2019: 93 ff.).2 Was Menschen Realität und das Symbolische wechselseitig aufeinander nennen und worin sie sich als Realität einrichten, verwiesen: Das Materielle verfügt über eine sym- verdankt sich diesem Vermögen überhaupt erst bolische Dimension, und das Symbolische formt (vgl. Castoriadis 1990: 12). Es ist die selbst nicht SuN 02/2021 sich materiell aus. Dabei wird deutlich, dass und determinierte Bedingung der Selbsterschaffung wie sich das Imaginäre einer besseren Zukunft von Gesellschaft – und damit eine niemals völlig in die Anrufung aller Öko-Dorf-Bewohner*innen ruhigzustellende Quelle von Beunruhigung, übersetzt, noch die intimsten Seiten der eigenen Veränderung und Überschreitung in den gege- Existenz einer kontinuierlichen (Umerziehungs-) benen gesellschaftlichen Verhältnissen. Dieses Arbeit zu unterziehen und dafür mit der Verhei- Vermögen kann aber nur wirksam werden und ßung eines „richtigen Lebens im falschen“ belohnt Resonanz erzeugen, sofern es an die bereits in zu werden (2.). Auf der Grundlage dieser Analyse spezifischen Institutionen verkörperte, institu- diskutieren wir abschließend die Ambivalenz von ierte gesellschaftliche Ordnung und das diese Projekten und Initiativen, die ihr politisches An- Ordnung stützende aktuale Imaginäre im Sinne liegen – in den Spuren sozialer Bewegungen der eines bereits eingerichteten „System[s] von Be- 1970er Jahre – „ganzheitlich“ durch eine alterna- deutungen“ anschließt, das „jeweils Aufbau und tive Lebensform in der Nische artikulieren: Wir Gliederung der gesellschaftlichen Welt fest[legt]“ fragen nach a) der für solche Projekte womöglich (Castoriadis 1990: 251). Das geschieht, indem notwendigen Verkennung der eigenen Existenz- sich die konkreten Artikulationen des radikalen bedingungen, b) ihren ein- und ausschließenden Imaginären – in der Sprache, in der Architektur, Effekten und folglich ihrer Fähigkeit zur Bildung in der Gestaltung der Dinge, im praktischen Tun eines gegenhegemonialen „geschichtlichen usw. – in die Leerstellen und Spielräume hin- Blocks“ (Gramsci 1994: 1249) sowie c) dem Zwie- einformulieren und -bilden, die sich im System spalt zwischen Verantwortungsübernahme und des aktualen Imaginären (situativ) fortlaufend Responsibilierung, in den derartige Projekte unter eröffnen. Das Konzept des radikalen Imaginären den Bedingungen eines aktivierenden und inves- lenkt die Aufmerksamkeit somit auf die (trans-) tiven Sozialstaats (vgl. Lessenich 2008, Lessenich 2020) unweigerlich und ungewollt geraten (3.). 2 Zunächst im Kontext innermarxistischer Ausei- nandersetzungen begegnete Castoriadis einer hegelianischen Geschichtsauffassung mit der nach- 1. Das Imaginäre der drücklichen Hervorhebung sozialer Kämpfe als einer Subjektivierung von Kollektiven „praktisch-kritischen Tätigkeit“, deren Ziele und Aus- gang unvorhersehbar seien (Wolf 2012: 269). Er über- führte den aus dem Marxismus stammenden, darin Mit dem Begriff des Imaginären, genauer: des ra- jedoch dominierten Gedanken eines „kollektiven dikalen im Unterschied zum aktualen Imaginären schöpferischen Handelns“ sodann in das Konzept des bezeichnet Castoriadis (1990) ein grundlegendes, radikalen Imaginären der Gesellschaft (Wolf 2012: 270). In unserer methodologischen Lesart von Casto- in actu jedoch stets gesellschaftlich vermitteltes riadis handelt es sich beim radikalen Imaginären also Vermögen zur gesellschaftlichen Selbstschöp- nicht um eine inhaltlich radikale politische, weltan- fung (vgl. Wolf 2012: 271), d.h. eine elementare schauliche oder ideologische Haltung, sondern um ein theoretisch-methodologisches Konzept, das den instituierende Kraft, die ihrem Wesen nach über Blick auf jene Momente kollektiver Um- und Neu- die Bedingungen hinausweist, unter denen sie schöpfung richtet, die sich fortlaufend in einer be- sich entfaltet (vgl. Alkemeyer/Buschmann 2019, reits instituierten gesellschaftlichen Ordnung zeigen. 74
Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung formative Kraft des Sozialen, das Konzept des Institutionen, Lebensweisen usw.) ergreift und aktualen Imaginären hingegen auf Regelmä- schöpferisch entfaltet, und gerät so als eine ßigkeiten der bereits formierten symbolischen (körperliche, textuelle, visuelle usw.) Praxis des Ordnung. Webens, Herstellens und Hervorbringens eines SuN 02/2021 vorweggenommenen Neuen in den Blick, in Träger und Artikulationsorgan der schöpferi- deren Verlauf sich auch die Intentionalität, die schen Kraft des Imaginären ist, nach Castoriadis, Motivlage, das Selbst- und Weltverhältnis des die das anonyme Kollektiv. Es schafft und instituiert Praxis vollziehenden Kollektivs und seiner Einzel- materiell-symbolische Ordnungen, die sodann die subjekte fortlaufend verändern.3 Formung, Orientierung und das Handeln der Indi- viduen bedingen (vgl. Wolf 2012: 271). In diesem In den meisten vorfindlichen Gesellschaften Schaffensprozess vollzieht sich ein „Entwurf“ verselbstständigt sich das instituierte (aktuale) (Castoriadis 1990: 132), der etwas anderes ist als Imaginäre anhaltend gegenüber dem instituie- ein Plan im Sinne eines rational vor der Praxis renden Kollektiv. Castoriadis sieht eben darin durchdachten Vorhabens, das durch technisches den „Kern von Entfremdung bzw. Heteronomie“ Handeln in die Realität „umgesetzt“ werden soll. (Wolff 2012: 271), von der Emanzipation nur Ein Entwurf ist „die Absicht einer Veränderung durch eine gesellschaftliche Wiederaneignung des des Realen, geleitet von einer Vorstellung vom Vermögens zur Selbst-Institution zu erlangen sei Sinn dieser Veränderung“ (Castoriadis 1990: (vgl. Hamborg 2019: 101, Castoriadis 1990: 608 132); er orientiert sich ohne Fundierung in einem f.). Beispielhaft sieht Castoriadis ein solches kol- erschöpfenden (deklarativen) Wissen „an den tat- lektives Bemühen um die „Rückeroberung“ dieses sächlichen Bedingungen und [ist] bestrebt, eine Vermögens im zwanzigsten Jahrhundert nicht nur Aktivität in Gang zu setzen“ (Castoriadis 1990: in der alten revolutionären Arbeiterbewegung, 132). Ein Entwurf schreibt sich in die tatsächli- sondern auch in neueren sozialen Bewegungen wie chen Bedingungen hinein und entwickelt unter der Frauen-, der Studenten- oder der Ökologiebe- diesen Bedingungen eine Richtung, „die sich nicht wegung sowie korrespondierenden Neuanfängen einfach in ‚klaren und distinkten Vorstellungen’ in Kunst, Philosophie und Wissenschaft verkör- festhalten lässt und die jede Vorstellung, die man pert (vgl. Wolf 2012, Castoriadis 1981: 15). sich zu einem bestimmten Zeitpunkt von diesem Der von uns beobachtete Fall bewegt sich in den Entwurf machen kann, sprengt“ (Castoriadis Spuren dieser (historischen) Bestrebungen um 1990: 132 f.). In diesem Sinne ist ein Entwurf einen Neuanfang. Es handelt sich mit einem Öko- prinzipiell vorläufig: Er muss fortlaufend an die Dorf um ein konkretes, an einem bestimmten Ort in der Praxis beständig sich wandelnden Bedin- zusammenlebendes und somit auch empirisch gut gungen seiner eigenen Entstehung und Wirkung zugängliches Kollektiv. Unser primäres Interesse angepasst werden. Die (selbst-)schöpferische gilt der sowohl von der (neueren) Praxistheorie Praxis ist demnach nicht der Vollzug einer ideell (vgl. u.a. Reckwitz 2003, Schmidt 2012, Schäfer oder strukturell vorgebildeten Ordnung, sondern 2017) als auch von Castoriadis inspirierten Frage, das Schaffen einer anderen, neuen Wirklichkeit wie sich das Dorf unter Beteiligung spezifischer im Horizont eines Entwurfs, der die vorfindlichen Infrastrukturen, Artefakte und Diskurse in ver- und fortlaufend sich verändernden Bedingungen kontinuierlich berücksichtigt. Sie dehnt die Bedeutungsgrenzen einer Kultur aus, indem 3 „Denn auch das Subjekt selbst unterliegt ständig Verände- rungen in jener Erfahrung, in die es eingebunden ist und sie in der Gegenwart sich eröffnende Möglich- die es macht, so wie es von ihr gemacht wird.“ (vgl. Castori- keiten (anderer gesellschaftlicher Verhältnisse, adis 1990: 131) 75
Alkemeyer / Buschmann / Hamborg / Sulmowski – Kosmologie des Toilettengangs schiedenen Praktiken als das Kollektivsubjekt Verantwortungsübernahme und zum Entwurf (Alkemeyer et al. 2018) einer gesellschaftlichen eines anderen Lebens? Gleichzeitig steht mit Transformation thematisiert, problematisiert dieser Frage zur Diskussion, wie sich die Subjek- und herstellt: einer Transformation, die nicht tivierung des gesamten Dorfs als Kollektivsubjekt SuN 02/2021 nur auf Nachhaltigkeit im engen Sinne einer die zur je individuellen Subjektivierung der Dorfbe- natürliche Regenerationsfähigkeit der beteiligten wohner*innen verhält und welche ambivalenten Systeme garantierenden Ressourcen-Nutzung Konsequenzen – etwa zwischen Konformitäts- abzielt, sondern auch darauf, das utopische Fern- druck und Selbstbestimmung – damit verbunden ziel autonomer Selbstvergesellschaftung schon im sind. gegenwärtigen Dorfleben zu verwirklichen – und Ebenso wie die Konstitution sozialer Ordnung ist dadurch öffentlich vorzuführen, dass und wie ‚Ge- auch die Selbst-Bildung einer Verbindung von sellschaft‘ auch anders möglich ist. Menschen als Kollektivsubjekt nicht ohne die Mit der Frage nach der Selbst-Bildung einer imaginäre Kraft zur Selbstschöpfung zu haben. Aggregation von Menschen als Kollektivsubjekt Sie entfaltet sich, wie angedeutet, im Rahmen knüpfen wir an die diskurs- und praxistheoretisch einer bereits instituierten materiell-symboli- grundierte Subjektivierungsforschung der jün- schen Ordnung und damit im Horizont eines geren Vergangenheit an. In dieser Forschungslinie aktualen Imaginären im Sinne einer das konkrete werden Attribute der gesellschaftlichen Existenz Vorstellen und Handeln ermöglichenden gesell- von Menschen, die traditionell (in der klassischen schaftlichen Matrix. Um sich selber überhaupt als Subjektphilosophie, aber auch in anthropozentri- welterzeugende Akteure begreifen und entspre- schen Akteurskonzepten der Soziologie) unter dem chend auftreten und handeln zu können, bedarf es schillernden Begriff des Subjekts thematisiert und mithin eines aktualen Imaginären, das ein solches debattiert werden – Reflexion, Intentionalität, Selbstverständnis und Weltverhältnis allererst Selbstbestimmung, Verantwortungsübernahme –, vorsieht und ermöglicht (vgl. Gaonkar 2002). nach der poststrukturalistischen Dekonstruktion Es handelt sich dabei also um einen Fundus von der humanistischen Idee des autonomen Subjekts kollektiven Einstellungen, Vorstellungen und neu zu denken versucht, nämlich als Dimensionen Vorannahmen, die den Aufbau, die Gestalt und der sozialen Praxis, die allererst in konkreten ge- die affektive Textur „der gesellschaftlichen Welt“ schichtlich-gesellschaftlichen Verhältnissen auf festlegen und das Handeln und Bewusstsein der die Bühne treten und dort in unterschiedlichen Gesellschaftsmitglieder regulieren, als Hinter- kulturellen (Subjekt-)Formen eine konkrete grundannahmen jedoch überwiegend unbewusst Gestalt gewinnen (vgl. Reckwitz 2006, Alkemeyer bleiben (Beck 1996: 354). Castoriadis (1990) et al. 2013, Alkemeyer et al. 2015a). Allerdings bestimmt dieses aktuale Imaginäre aber nicht als beziehen wir das Konzept der Subjektivierung im Ideologie (im vulgärmarxistischen Sinne eines vorliegenden Beitrag nicht, wie in der bisherigen falschen Bewusstseins), ebenso wenig nur als Subjektivierungsforschung üblich, auf Einzelne, Spiegelbild oder Fiktion, sondern als eine wir- sondern auf ein soziales Gebilde, das sich selbst kende Kraft im Sozialen. Mit einem Begriff von als eine intentional handelnde Gemeinschaft Peter Fuchs (2004: 15) ließe es sich als eine „fun- gesellschaftlicher Veränderung versteht. Die gierende Ontologie“ charakterisieren, d.h. als eine Frage ist dann: Wie erzeugt und beglaubigt dieses zugleich materielle und ideelle Grundstruktur des Gebilde seine Einheitsfiktion als Bedingung Lebens, in der Menschen sich einrichten, in der „partizipativer Identität“ (Hahn 1987) und kol- sie „hausen“ und die Welt wie sich selbst sinnvoll lektiver Handlungsfähigkeit, der Befähigung zur machen. 76
Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung Die Frage nach dem Imaginären verspricht mithin problems, das in den Diskursen und Praktiken Einblicke in die Art und Weise, wie Menschen des Zusammenlebens fortlaufend als existentiell die Welt als eine geschichtlich-gesellschaftlich markiert, erlebbar gemacht und damit affektiv bestimmte Wirklichkeit hervorbringen, wie sie aufgeladen wird. Zweitens wird bereits in der SuN 02/2021 diese stabilisieren und verändern, indem sie ant- gegenwärtigen Praxis eine Zukunft antizipiert, in wortend auf die Gestalt und Textur dieser Welt der dieses Bezugsproblem gelöst ist. Und drittens reagieren, und wie sie sich in diesen Prozessen muss – im Sinne einer operativen Verkennung selbst bilden und subjektivieren. In dem von uns – die Kontingenz dieses historisch bestimmten ge- gewählten Beispiel vollzieht sich dieser Prozess sellschaftlichen Imaginären ausgeblendet werden, der Welterzeugung und der Selbst-Bildung als damit das Selbstverständnis, die Einheitsfiktion ein intentionales Kollektivsubjekt ökologischer und die Handlungsfähigkeit als Kollektivsubjekt Transformation im Zeichen eines bestimmten ak- dauerhaft erhalten bleiben. Durch die operative tualen, nämlich ökologischen Imaginären, dem Verkennung steht das Bezugsproblem selbst nicht konstitutiv das gesellschaftliche Bezugsproblem mehr zur Disposition, sondern es ist die Dispo- einer Störung des Mensch-Natur-Verhältnisses sition und wird nur noch als Vollzugsproblem zugrunde liegt. In der empirischen Analyse soll behandelt. Unsere These werden wir anhand eines nun im nächsten Schritt gezeigt werden, wie ebenso einfachen wie eindrücklichen empirischen dieses Imaginäre im Vollzug alltäglicher Praktiken Beispiels entfalten: der im Öko-Dorf etablierten des Wohnens, Arbeitens und Wirtschaftens zum Praktik des Toilettengangs.5 Sie ist, so werden wir Medium kollektiver Subjektivierung wird, bevor zu plausibilisieren versuchen, pars totalis eines wir abschließend die Frage nach der gegenwärtigen ganzen Komplexes aus Infrastrukturen, sozioma- Konjunktur transformativer Gemeinschaften und teriellen Arrangements, Diskursen und Praktiken deren Verhältnis zu den hegemonialen Lebens-, und steht somit als pars pro toto für ein umfas- Arbeits- und Subjektivierungsweisen der (spät-) sendes ökologisches Imaginäres im Sinne einer modernen Gesellschaft diskutieren. kohärenten „Kosmologie“ (Bourdieu 1987: 128), die insofern essentiell für die im Öko-Dorf vollzo- genen Praktiken und deren Zusammenhang ist, 2. Leben im Imaginären als sie jede einzelne Praktik in ein übergeordnetes, des Öko-Dorfs sinnstiftendes „Bedeutungsgewebe“ (Geertz 1987) einwebt.6 Unsere These lautet, dass die Formierung eines Besucher*innen des Öko-Dorfs können beim sozialen Gebildes als Kollektivsubjekt auf einem ersten Toilettengang durchaus einen kleinen Imaginären beruht, das dieses Gebilde dazu Kulturschock erleben. Denn er fordert jenen befähigt, sich als eine Erfahrungs- und Hand- lungseinheit zu instituieren. Am Beispiel eines sich selbst als transformative Gemeinschaft 5 Die Darstellung des empirischen Falls basiert auf ethnogra- phischen Untersuchungen (die im Rahmen mehrerer Auf- verstehenden Öko-Dorfs4 beschreiben wir dieses enthalte im Öko-Dorf durchgeführt wurden), Interviews Imaginäre im Folgenden anhand von drei mit- und Dokumentenanalysen. einander verschränkten Dimensionen: Erstens 6 Für die Praxistheorie sind die Konzepte des Imaginären bedarf es eines gemeinsam anerkannten Bezugs- und der Kosmologie gerade deshalb interessant, weil sie es erlauben, empirisch die Verflechtungen zwischen Prak- tiken-Bündeln und den „Bedeutungsgeweben“ der Kultur und somit einen sinnhaften Zusammenhang von Praktiken 4 Wir verzichten aus Gründen der Anonymisierung auf eine über die positivistische Beobachtung ihrer bloßen Verket- Namensnennung. tung hinaus auszuweisen (vgl. auch Welch/Warde 2017). 77
Alkemeyer / Buschmann / Hamborg / Sulmowski – Kosmologie des Toilettengangs „bürgerlichen fäkalen Habitus“ (Inglis 2000: 146) ist – um ein „gutes und gleichzeitig verantwor- heraus, der sich im 19. Jahrhundert ausgebildet tungsbewusstes Leben“, das „möglichst wenig auf hat und seit mehr als 100 Jahren, zumindest im Kosten der Natur, anderer Menschen oder Lebe- Globalen Norden, eine selbstverständliche Weise wesen“ geht: „Unser übergeordnetes Ziel […] ist SuN 02/2021 des Urinierens und der Defäkation ist. Auf den es, den ökologischen Fußabdruck (die Fläche auf Trocken-Trenn-Toiletten des Öko-Dorfs werden der Erde, die ein Mensch verbraucht mit seinem die menschlichen Fäkalien in Abweichung von jeweiligen Lebensstil) in allen Lebensbereichen der etablierten bürgerlichen Toiletten-Routine zu reduzieren“. Diese und andere Materialien nur mithilfe der Schwerkraft und ohne olfaktori- rufen – häufig indirekt – die Vorstellung einer sche Barriere (wie z.B. einem mit Wasser gefüllten sozial-ökologischen Krise auf, die dieser Program- Siphon) vom menschlichen Körper distanziert. matik Sinn und Relevanz verleiht. Flüssiges trennt der sogenannte Urin-Abscheider Dieses Bezugsproblem ist nicht nur in textlichen vom Festen. Der Urin wird in die lokale Kanali- Artefakten, sondern auch an der Raumgestaltung sation befördert, die in einer Schilf-Kläranlage und der Architektur erkennbar: Es gibt keine be- mündet. Die Fäzes landet – je nach Bauart der festigten Straßen und erst recht keine Magistrale Toilette – entweder in einer Kammer unter der mit ausgewiesenen Fußwegen an den Seiten. Die defäkierenden Person oder gelangt mittels eines Wege in der Siedlung sind nicht versiegelt, sie Fallrohrs in einen Sammelbehälter. Elementarer werden kaum von Autos, sondern von Fahrrä- Bestandteil der materiellen Anordnung der Tro- dern befahren und von Menschen begangen, von cken-Trenn-Toiletten sind zudem Tafeln mit denen einige Wägelchen vor sich herschieben, in Informationen über die Bedeutung und die kor- denen Verschiedenes innerhalb des Dorfs trans- rekte Nutzung der Toilette. Die olfaktorische und portiert wird. Gesäumt werden die Wege von teils sogar sichtbare Präsenz fremder Exkremente gepflegten Wiesen- und Gartenflächen, die sich in der Nähe des eigenen Körpers kostet nicht wiederum an die Häuserwände schmiegen. Die wenige Besucher*innen große Überwindung, und meisten Häuser sind aus Holz und Strohballen sie gelingt nicht immer. Es wird von der Weige- gebaut, von innen in der Regel mit Lehm verputzt. rung einiger Besucher*innen berichtet, solche An einigen Stellen trennen lebende Weidenzäune Toiletten zu benutzen, und dass sie aus diesem sowie angelegte Hügel und Hecken die Pfade von Grund sogar von weiteren Besuchen absehen den Wiesen und Gärten. Das Bezugsproblem zeigt würden. sich in diesen räumlichen und architektonischen Im Verbund mit zahlreichen anderen Praktiken Anordnungen, es bewohnt aber auch die haus- und materiellen Arrangements (wie der Bauweise eigene Bibliothek und springt einem aus dem der Häuser oder unversiegelten Wegen) ruft die umfangreichen Seminarprogramm entgegen, in Praktik des Toilettengangs das zentrale Bezugs- dem sozial-ökologische Problematiken in vielfäl- problem des Öko-Dorfs – die sozial-ökologische tiger Hinsicht ausbuchstabiert werden. So wird Krise – auf, lässt es erlebbar werden, macht es in vielen Seminaren praktisches Know-How zu kognitiv und affektiv zugänglich und bestätigt es ökologisch orientierter Selbstversorgung (Gemü- kontinuierlich. Das Projekt entwirft sich in den seanbau, Haltbarmachung von Lebensmitteln, zahlreichen PR-Materialien (Internetseite, Flyer, Erkennen und Einsatz von Wild- und Heilkräu- YouTube-Videos) oder an den Info-Tafeln im Dorf tern, Bienenhaltung, Agroforst-Anbaumethoden), als eine Modellsiedlung, in der zukunftsfähige Le- ökologischer Hausbauweise oder ressourcen- bensweisen erprobt werden: Es geht – wie einem schonenden Technologien angeboten. Darüber Info-Schild und der Homepage zu entnehmen hinaus werden konzeptionelle Werkzeuge zum 78
Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung produktiven und reflexiven Umgang mit der – nach „ganzheitliche[n] Lösungen“ verlangt, sozial-ökologischen Krise (Permakultur und weil die Menschheit und Zukunft eben als Ganze andere Methoden für die Gestaltung von Gemein- betroffen sind, ist demnach das unhintergeh- schaften, Umgang mit rechtsextremen Tendenzen bare Gravitationszentrum des Kollektivsubjekts SuN 02/2021 in der Siedlungs- und Naturschutzbewegung) vor- Öko-Dorf. Verteilungsungerechtigkeiten, zwi- gestellt sowie in verschiedenen Bildungssettings schenmenschliche Gewalt, Konkurrenzdruck, diverse Selbst- und Sozialtechniken (Gewaltfreie Fremdsteuerung usw. lassen sich im Horizont Kommunikation, Achtsamkeit, Überwindung des sozial-ökologischen Imaginären nur im Zuge von Stress, kreative Methoden des Visionierens einer Nachhaltigkeitstransformation angehen. und Reflektierens) angeboten, die auf eine ganze Praxistheoretisch betrachtet, begegnet das Reihe weiterer, damit als relevant etikettierter sozial-ökologische Imaginäre den Dorfbewoh- Fehlentwicklungen moderner (technisierter, di- ner*innen in ihrem Dorfalltag somit als eine gitalisierter, bürokratisierter usw.) Gesellschaften spezifische, der Materialität des Ideologischen wie Gewalt in der Kommunikation, Entfremdung, im Sinne Althussers (1977) vergleichbare Gegen- Vereinsamung, Konkurrenzdruck, Beschleu- ständlichkeit: Man kann ihm im Dorfleben schon nigung oder Entmächtigung reagieren. In dem deshalb nicht entgehen, weil es in (nahezu) allen Seminarprogramm drückt sich somit aus, dass im Praktiken, Institutionen und Artikulationen auch Öko-Dorf zusammen mit dem sozial-ökologischen anderer Anliegen gegenwärtig ist, mit evoziert weitere gesellschaftliche Anliegen aufgegriffen und „getriggert“ wird. werden. Diese stehen jedoch nicht auf einer Stufe Diese aus der Außenperspektive erkennbare mit dem sozial-ökologischen Bezugsproblem, Gesamtstimmigkeit, die das Kollektivsubjekt Öko- sondern treten als Problematiken in Erscheinung, Dorf mit seinen menschlichen wie nicht-mensch- die nicht abgelöst von der grundlegenden Störung lichen Entitäten erlebbar macht, verdankt sich des Mensch-Natur-Verhältnisses betrachtet und nicht zuletzt einer intensiven „Gemeinschaftsar- bearbeitet werden können. beit“. Die Gelegenheiten, im Dorfalltag in einer Das sozial-ökologische Imaginäre bildet, anders größeren Gruppe zusammenzukommen und sich gesagt, ein „general understanding“ (Schatzki auszutauschen, beschränken sich auf wenige 2002) im Sinne eines breiten Hintergrundver- Zeiträume, denn die meiste Zeit des Tages sind ständnisses, das die verschiedenen Anliegen und die Dorfbewohner*innen in Gremienarbeit oder Praktiken des Dorflebens transzendiert, imprä- in die Erwerbsarbeit in einem der Unternehmen gniert und folglich integriert (vgl. auch Welch/ oder der Vereine eingespannt oder sind in ihren Warde 2017). Deutlich wird diese gewissermaßen Wohngemeinschaften anzutreffen. Zentral für die generische Priorisierung des sozial-ökologi- Gemeinschaftsarbeit ist die Gemeinschaftsküche, schen Imaginären etwa auch auf der folgenden, aus der dreimal täglich zu festen Uhrzeiten ein das kollektive Selbstverständnis des Öko-Dorfs Gong als Einladung zum Essen ertönt. Die Ge- vergegenwärtigenden Infotafel: „Hier können meinschaftsessen werden unterschiedlich stark Ökologie in allen Lebensbereichen, soziale frequentiert, je nach Mahlzeit, Jahreszeit oder Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit, Selbstverantwor- Intensität des Seminarbetriebs. Hier bedient man tung, Freude und Kreativität im täglichen Tun, sich nicht nur am Büffet, um sich dann einer der individuelle Entwicklung und spirituelle Suche Tischgruppen anzuschließen. Jede warme Mahl- gelebt werden und einander bedingen.“ Das zeit wird mit einem kurzen Schweigekreis, dessen Bezugsproblem der sozial-ökologischen Krise, Teilnehmer*innen sich an den Händen halten, die – laut der Selbstdarstellung des Öko-Dorfs begonnen. Zu den Gemeinschaftsessen gehören 79
Alkemeyer / Buschmann / Hamborg / Sulmowski – Kosmologie des Toilettengangs auch Warteschlangen: Nach dem Schweigekreis mit Häusern aus Strohballen, mit unversiegelten wechseln die Essenswilligen ihre Formation zu Wegen, mit der langwierigen Aufnahmeprozedur einer Reihe; ebenso nach der Mahlzeit stehen und nicht zuletzt mit wassersparenden Tro- Dorfbewohner*innen (manchmal zusammen mit cken-Trenn-Toiletten. SuN 02/2021 den Besucher*innen) in der Warteschlange, um Die Alterität des Toilettengangs im Öko-Dorf das Geschirr abzuwaschen. Solche „Infrastruk- vergegenwärtigt in diesem Kontext mit bemer- turen des Kollektiven“ (Stäheli 2012) ermöglichen kenswerter sinnlicher Intensität – nämlich sicht-, – laut den Aussagen der Dorfbewohner*innen riech-, hör- und fühlbar – den Problemkomplex – die Erfahrung der Gemeinschaft. Zur Gemein- von Wasser- und Rohstoffknappheit, ressourcen- schaftsarbeit lassen sich auch Intensivzeiten intensiven Infrastrukturen und der Delegation zählen, d.h. mehrtägige Zeiträume, in denen die von Verantwortung für die Folgen eigenen Tuns gesamte Bewohnerschaft zusammenkommt, an andere Akteure wie staatliche Institutionen um sich Zeit für die Bearbeitung wichtiger ge- oder private Entsorgungsunternehmen. Der Toi- meinsamer Themen – unterstützt zumeist durch lettengang ruft diese Problematiken auf, indem er externe Moderator*innen – zu nehmen. Die Ge- in größerem Maße als herkömmliche Toilettenvor- meinschaftsarbeit findet auch in der Aufnahme richtungen die Bahn dafür ebnet, Abscheu vor der neuer Mitglieder statt, bei der eine langwierige eigenen wie der Körperlichkeit anderer Menschen und Selektion ermöglichende Ankommens-Pro- zu empfinden, und zugleich dazu auffordert, diese zedur vorgesehen ist. Abscheu – im Namen einer besseren Zukunft – Was aus der Außenperspektive als Gesamtstim- zu überwinden. Der Toilettengang ist damit eine migkeit und bisweilen Homogenität erscheint, reflexive Praxis, in der den Akteuren der Entwurf differenziert sich aus der „Teilnehmerperspek- eines anderen, kritisch von der Welt draußen sich tive“ (Alkemeyer et al. 2015b: 27-29) auf die absetzenden Lebens im Medium der Abscheu Öko-Dorf-Praxis. Selbstverständlich gibt es hier buchstäblich zu Leibe rückt. Er spannt sich in das verschiedene Variationen des Verhältnisses Unterfangen der Errichtung einer nachhaltigen zwischen der Gemeinschaft, ihrer Program- Welt ein, die – so die wesentlich nichtsprachliche matik und den Einzelnen: Auch hier gibt es den „Botschaft“ und Anrufung dieser Praxis – einen verschrobenen Außenseiter, der mit „der Ge- Sieg noch über die persönlichsten, tief in das meinschaft“ nichts zu tun haben will; oder die leibliche Erleben eingeschliffenen Affekte des Wi- militante Fleischfresserin, der das Veganertum derwillens und Ekels verlangt. der Mehrheit zum Halse raushängt; die chaoti- Im Sichtbarkeits- und Beobachtungsregime sche Punkerin und den pingeligen Nachbarn.7 des Öko-Dorfs eröffnet diese öffentliche Perfor- Doch diese Diversität geht gerade so weit, dass manz der Überwindung inneren Widerstands sie das so und nicht anders aussehende und den Bewohner*innen und den Besucher*innen funktionierende Öko-Dorf-Projekt ermöglicht: zugleich die Möglichkeit, sich wechselseitig der mit genossenschaftlichem Eigentum am Boden Anerkennung des Bezugsproblems und der Ernst- und an Gebäuden, mit der Gemeinschaftsküche, haftigkeit der eigenen Veränderungsbereitschaft zu vergewissern: In dieser ersten Dimension des 7 Ebenso divers sind die Disponiertheiten, die Menschen zur Imaginären beglaubigt sich die Dorfgemeinschaft Mitgliedschaft bewegen und dennoch in ein Passungsver- u.a. in den Akten des Toilettengangs, die als pars hältnis mit der Selbst-Bildung des Öko-Dorfs als ein intenti- onales Kollektivsubjekt sozial-ökologischer Transformation totalis und pars pro toto zugleich das gesamte öko- treten können (vgl. Grundmann/Kunze 2012: 360; Wagner logische Imaginäre aufrufen, das einheitsstiftende 2012: 86; Dierschke et al. 2006: 111 f.). 80
Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung Selbstbild, eine Avantgarde der Nachhaltigkeit eines zukunftsfähigen Miteinanders bereits heute zu sein; sie instituiert sich auf der Basis geteilter Gestalt annimmt. Viele andere Probleme oder Lö- Erfahrungen als ein verantwortungsbewusstes sungswege ließen sich in dieser immobilen Gestalt Kollektivsubjekt, dessen Einzelglieder sich gar präfigurativer Problembearbeitung gar nicht erst SuN 02/2021 den Mühen der Umerziehung und „Gegendressur“ angehen: Das Öko-Dorf ist kein Demonstrati- (Bourdieu 2001: 220) unterziehen, um der ge- onszug, der flüchtig als eine Form politischen meinsamen Verantwortung gerecht zu werden. Protests eingesetzt werden kann. Ebenso ist es kein Schiff, das zur Seenotrettung zum Mittel- Im kontinuierlich wiederkehrenden Aufrufen meer geschickt wird. Sowohl die Fixierung der des Bezugsproblems zeigt sich zugleich die Problemdiagnose einer tiefgreifenden Störung zweite, zukunftsbezogene Dimension des Ima- des (Um-)Welt-, Mit- und Selbstverhältnisses des ginären transformativer Gemeinschaften. Denn Menschen – die andere Probleme (wie bspw. der die gegenwärtige Praxis ist nicht nur ein Mittel sozialen Ungleichheit oder der Migrationskrise) zur Herbeiführung einer antizipierten besseren nur als zugeordnete, gewissermaßen in die sozi- Zukunft, sondern realisiert diese Zukunft bereits; al-ökologische Krise einverleibte Teilaspekte (er-) sie ist eine Praxis künftiger Normalität schon kennen oder, verstanden als bloße Symptome im Hier und Jetzt. Diese Verschränkung von gegenwärtiger Lebensweisen, gar deren Ausblen- Bezugsproblem, Praxis, Subjektivierung und Zu- dung befördern kann – als auch der spezifische kunftsentwurf, die wir am Beispiel der Praktik des Modus der Bearbeitung dieses Bezugsproblems Toilettengangs zeigen, ließe sich an nahezu allen im präfigurativen Arrangement eines Öko-Dorfs Praktiken des Öko-Dorfs aufweisen – von der bedingen dessen Stabilität als Kollektivsubjekt. Nahrungsversorgung über die Essenszubereitung Dass diese Bedingung nicht trivial ist, zeigt bis hin zum Essen selbst, von der Mobilität über sich u.a. in der Prozedur der Aufnahme neuer das Wohnen und Heizen bis hin zum Feiern und Mitglieder, durch die diese operative Fixierung ge- Trauern. steigert wird. In den regelmäßigen formalisierten Das Bezugsproblem der sozial-ökologischen mehrstufigen Begegnungen zwischen den Dorfbe- Krise mit planetarem Ausmaß erlangt in diesem wohner*innen und den am Zuzug interessierten Verweisungszusammenhang eine enorme Zentra- Personen findet eine Selektion und Formierung lität und Exklusivität; es bedarf als existentielles statt, in deren Verlauf entsprechend geneigte In- Problem selbst keiner Begründung mehr, sondern dividuen in das Gemeinschaftsprojekt eingeführt, bildet den nicht weiter hinterfragten Horizont, in passend gemacht und derart als Subjekte eines dem Anderes sich begründen lassen muss – etwa kollektiven Unterfangens zur Erprobung eines indem es als Teil des Bedingungsgefüges einer ganz(-heitlich) anderen, besseren Lebens hervor- ganzheitlichen, ökologischen Lebensführung gebracht werden.8 Die konfrontative Begegnung ausgewiesen wird oder sich als solcher behauptet. mit der Alterität des Toilettengangs ist in diesem Diese operative Verkennung der Kontingenz des Bezugsproblems einschließlich der Mittel seiner Bearbeitung, d.h. die Instituierung einer be- 8 Die Regelung der Aufnahme neuer Mitglieder ist in Öko-Dörfern bzw. allgemein in intentionalen Gemein- stimmten Problemdiagnose – die dritte Dimension schaften inzwischen weit verbreitet. Das Vorgehen un- des Imaginären transformativer Gemeinschaften terscheidet sich dabei etwa im Hinblick auf den Grad der Formalisierung, die Entscheidungsprozesse sowie im Hin- –, war und ist eine konstitutive Bedingung für die blick auf den zeitlichen und finanziellen Aufwand (vgl. Gründung einer Gemeinschaftssiedlung und die Kunze 2009: 97 ff., Sulmowski 2018: 340 ff.) Installation von Praktiken, in denen der Entwurf 81
Alkemeyer / Buschmann / Hamborg / Sulmowski – Kosmologie des Toilettengangs Zusammenhang ein elementarer Bestandteil eines allem auch im Vollzug alltäglicher Praktiken – wie jeden Selektions- und Subjektivierungsprozesses eben in der Praktik des Toilettengangs. Erst in der neben vielen anderen Bestandteilen. Textur eines solcherart performativ vergegenwär- tigten Imaginären konstituiert sich eine Fiktion In dem Wirken des Kollektivsubjekts „Öko-Dorf“ SuN 02/2021 von Einheit und Alterität und somit eine „fungie- lässt sich das Streben nach einer Wiederaneignung rende Ontologie“, in der das Leben und Wirken im des Vermögens zur Selbst-Institution im Sinne Öko-Dorf für jeden einzelnen Dorfbewohner und von Castoriadis erkennen. Das radikale Imaginäre jede einzelne Dorfbewohnerin ein sinnvolles Un- blitzt auf in der Einrichtung von Praktiken, die terfangen ist. Eine Gemeinschaft, die als „change den Entwurf eines ressourcenschonenden, emis- agent“ einen Wandel zum Besseren bewirken sionsarmen, im Einklang mit der Natur geführten, möchte, indem sie in einer sozial-räumlichen Selbstentfaltung ermöglichenden, konsensori- Nische trotz widriger äußerer Umstände modell- entierten, solidarischen und gemeinschaftlichen haft ein „anderes“ Leben erprobt, steht daher vor Zusammenlebens realisieren sollen. Mit dieser der Herausforderung, Praktiken zu instituieren, Realisierung wird zugleich eine Norm instituiert, die – zumindest in der Binnensicht – sowohl denn „Schöpfung impliziert stets Formgebung und einen funktionalen Beitrag zur Lösung des von Gesetzgebung […]. Was aus ihr hervorgeht, tritt in ihr als zentral ausgewiesenen Bezugsproblems ein Sein, das es nicht einfachhin hat, sondern zu versprechen als auch die Einheitsfiktion einer sein hat“ (Waldenfels 1991: 61; Herv. im Orig.). So habituellen Alterität zu den Lebensführungsstilen entstehen im Horizont des aktualen Imaginären, der umgebenden Wachstums- und Konkurrenz- wie wir es anhand der drei vorgestellten Dimensi- gesellschaft erfahrbar machen. onen beschrieben haben, Weisen der kollektiven Subjektivierung, die mit einer Verfügbarmachung In dem Versuch, in einer von der instituierten der gesamten Person und der Gesamtheit des gesellschaftlichen Ordnung eingeräumten Nische alltäglichen Lebens für das Ziel der Erprobung eine Alternative zu leben, in der die Welt, wie zukunftsfähiger Lebensstile einhergehen. sie sein könnte, als „reale Utopie“ (Wright 2017) bereits vorweggenommen wird, artikuliert sich das politische Anliegen, das bestehende System 3. Ambivalenzen der Nische aus der Zivilgesellschaft heraus nicht nur zu kriti- – Versuch einer Bilanz sieren, sondern es weitergehend auch performativ zu beunruhigen, um es letztlich aufzubrechen und Am Beispiel des Toilettengangs in einem Öko- perspektivisch einen substantiellen Beitrag zum Dorf haben wir beschrieben, wie ein spezifisches Aufbau einer anderen Gesellschaft zu leisten, aktuales – in diesem Fall sozial-ökologisches die sich von der Heteronomie des (modernen, – Imaginäres als konstitutive Bedingung für die westlichen, kapitalistischen) Imaginären im- Selbst-Bildung des Öko-Dorfs als Kollektivsubjekt merwährenden Wachstums und naturwüchsiger einer gesellschaftlichen Nachhaltigkeitstrans- Konkurrenz emanzipiert. Castoriadis selbst hat formation instituiert und aufgeführt wird. Die in den neueren ökologischen Bewegungen seit kollektive Subjektivierung ist hier unhintergehbar den 1970er Jahren ein kollektives Bemühen um an die wiederkehrende Vergegenwärtigung die „Rückeroberung“ des Vermögens zu auto- dieses Imaginären gebunden: In praxeologischer nomer gesellschaftlicher Selbstschöpfung und Perspektive zeigt es sich nicht allein in Program- kollektiver Selbstbegrenzung als Gegenpraxis matiken oder Selbstbeschreibungen, sondern zur Hybris des unbegrenzten Verfügbarmachens materialisiert sich sinnlich-sinnhaft erfahrbar vor und Beherrschens der Welt erkannt (vgl. auch 82
Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung Adloff 2020: 25). Es verwundert insofern nicht, beobachtete Öko-Dorf – ganz anders als bspw. dass Castoriadis‘ Konzepte „von Autonomie und selbstgenügsame „totale Institutionen“ im Sinne Selbstbegrenzung“ auch in der Degrowth-Bewe- Goffmans (1961) – nicht nur einen regen Aus- gung eine „zentrale Rolle“ (Adloff 2020: 22) für tausch mit der Außenwelt (darunter Institutionen SuN 02/2021 die Theoretisierung und Reflexion dieser Gegen- wissenschaftlicher Begleitforschung), um das praxis spielen. eigene Tun fortlaufend auch aus der Außensicht reflektieren und evaluieren zu lassen, sondern Vor dem Hintergrund unserer theoretischen und hat auch in seiner Binnenstruktur zahlreiche empirischen Perspektivierung des Lebens im Kommunikations- und Praxisformate etabliert, Öko-Dorf stellen sich allerdings eine Reihe von die eine Dauerreflexion über die politische An- Fragen an ein solches Selbstverständnis. Denn gemessenheit und Richtigkeit des eigenen Tuns erstens impliziert Castoriadis‘ Aufweis der nicht sicherstellen. Sofern freilich das Reflektieren unhintergehbaren Kontingenz des Sozialen, selbst als eine Routinepraktik institutionalisiert dass sich Autonomie nur über eine permanente wird, entwickelt es seinerseits die Tendenz, zu „Selbstinfragestellung“ (Wieder 2016: 204) des einem Medium zu werden, in dem sich die Ein- eigenen aktualen Imaginären sowie der Praktiken heitsfiktion des Kollektivsubjekts stabilisiert und Institutionen, in denen es sich materialisiert, und gegen Irritation und Kritik immunisiert (zu verwirklichen kann. Eine solche gewissermaßen solchen immunisierenden Effekten institutiona- „teilnehmende Objektivierung“ (Bourdieu 2004) lisierter Praktiken der Reflexion vgl. Molis 2019: der sozialen und imaginären Bedingungen der 117 ff. und Haker 2020: 113 ff.). eigenen Existenz wird allerdings dann besonders schwer, wenn diese Bedingungen wie im Öko-Dorf Zu den Verteidigungs- und Schutzmaßnahmen raumplanerisch, architektonisch, infrastrukturell gehören auch die von uns erwähnten Praktiken der und institutionell auf Dauer gestellt sind. Die Gemeinschaftsarbeit, unter ihnen aufwendige und Selbst-Instituierung der Gemeinschaft als trans- zeitintensive Prozeduren zur Auswahl habituell formatives Kollektivsubjekt in der vergleichsweise zum Öko-Dorf passender Aufnahme-Kandi- festgelegten Form des Öko-Dorfs disponiert, so dat*innen. Diese Prozeduren sichern – trotz aller lässt sich vermuten, dazu, die historische Kontin- Unterschiede der zum Mitmachen motivierenden genz und somit den Konstruktionscharakter des Disponiertheiten – nicht nur eine gewisse Über- eigenen aktualen Imaginären auszublenden und einstimmung in der für das Leben im Öko-Dorf in dem Maße zu verkennen, in dem die alternative essentiellen sozial-ökologischen Grundhaltung, Lebenswelt den Status einer fungierenden Onto- sondern befördern auch die soziale Homogenität logie erlangt, in der man sich eingerichtet hat und der Dorfbewohner*innen.9 Die ideelle und atmo- heimisch fühlt (vgl. dazu wie zum Folgenden auch sphärische Gesamtstimmigkeit des Öko-Dorfs Alkemeyer/Buschmann 2019). Entsprechend ist – mit Wacquant (2003: 90) ließe sich von einer diese Form der Instituierung des Entwurfs eines „pluri-sensorielle[n] Struktur“ aus charakteristi- autonomen anderen Lebens durch das Dilemma schen Gerüchen und Geräuschen, Baumaterialien gekennzeichnet, die Kritik und Beunruhigung des und Dingen, Umgangsformen, Sprechweisen, umgebenden Gesellschaftssystems mit dem Ein- Regeln und Verboten (bspw. des Gebrauchs von richten interner, die prinzipielle Kontingenz auch des eigenen, alternativen Lebens verbergender 9 Es wurde wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass die Maßnahmen zum Schutz und zur Verteidigung Sozialstruktur in den intentionalen Gemeinschaften (vgl. der eigenen Einheitsfiktion zu erkaufen (vgl. u.a. Aguilar 2015, Fischetti 2008: 67, 95) sowie in der Post- wachstumsbewegung einen deutlichen Mittelschichtsbias Wieder 2016: 212 f.). Zwar pflegt das von uns aufweist (vgl. u.a. Adloff 2020: 30). 83
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