SWR2 Wissen Lyrik sprechen Moden und Stile der Rezitation
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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Wissen Lyrik sprechen Moden und Stile der Rezitation Von Dagmar Lorenz Sendung: Donnerstag, 27. November 2014, 8.30 Uhr Redaktion: Anja Brockert Regie: Maria Ohmer Produktion: SWR 2014 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Die Manuskripte von SWR2 Wissen gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.B. Firefox gibt es auch sogenannte Addons oder Plugins zum Betrachten von E-Books: Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de
MANUSKRIPT O-Ton 01 - Marcel Beyer liest aus „Wespe, komm in meinen Mund“: Wespe, komm in meinen Mund, mach mir Sprache, innen, und außen mach mir was am Hals, zeig’s dem Gaumen, zeig es uns. O-Ton 02 - Michael Lentz liest „Schöne Grüße“: Auch wieder, auch Grüße wieder, auch schöne, schöne Grüße wieder (06 sec.) O-Ton 03 - Rezitation Karl Kraus: Die ihr errungnes Gut geschändet habt / bezwungnes Böses nicht beendet habt,/ der Freiheit Glück in Fluch gewendet habt/ Ansage: „Lyrik sprechen - Moden und Stile der Rezitation“. Eine Sendung von Dagmar Lorenz. Atmo 1: Slamatmo, Kneipengeräusche, Stimmengewirr, etc. O-Ton 04 - Miriam/Marielle moderieren mit „Geräuschkulisse“-Vorlauf: Hallo, Hallo das ist die Miriam! Das ist die Marielle! Und wir heißen euch herzlich willkommen zum Wham Bam Poetry Slam! Applaus. Sprecherin: Ein Spätsommerabend in einem Studentencafé in Frankfurt am Main. Die Schwestern Miriam und Marielle Meurers führen ihr vorwiegend jugendliches Publikum durch eine Poetry Slam Veranstaltung. Atmo 05: optional: Publikumsmurmeln Sprecherin: Slam Poetry, Poetry Slam, oder - wie hier in Frankfurt - der „Wham Bam Slam“ sind Wettbewerbe, bei denen die Verfasser eigener literarischer Texte gegeneinander antreten. Hier wird nicht nur gelesen, sondern „performt“, wie es auf Neudeutsch heißt, immer mit Blick auf die erhoffte Wirkung beim Publikum, das unterhalten und mitgerissen werden will. Versierte Slammer setzen ihre Texte daher stimmlich möglichst effektvoll in Szene, akzentuieren und modulieren, oft mit Anleihen bei Musikrichtungen wie Rap und Hiphop. O-Ton 06 - Miriam/Marielle: Weiter geht’s - zwei Slammer sind noch im Rennen: Ok, sagen wir alle gemeinsam ein „Wham Bam Slam" für Fatih Servesd aus Mainz! Applaus O-Ton 07 - Fatih (rappt. Ggf. vorher ausblenden): Nun steh ich hier. Und versuche irgendwelche Worte zu finden, die passender Sorte, um meine Mitmenschen einzustimmen, einzuspinnen, sie mit Schallwellen zu stimulieren, zu neuen Weltsichten zu motivieren, sie mit Reimen und Versen einzumassieren, unter ihre Haut einzudringen, um mich festzusetzen, festzusprechen, feste mit Worten einzunisten, wie ein Echo weiterhallen in Hallen voll mit versammelten Massen meine Meinung freizulassen, die Spuren hinterlassen, 2
Hinterlassenschaften die ihre Wirkung entfalten, medizinmäßig eine Impfung verpassen, heilende Zeilen loszulassen, sie prasseln nieder wie ein Gewitter nieder, doch. Sprecherin: Lyrik, rezitiert im Rap-Rhythmus - in einer Art des Sprechgesangs, der zusammen mit der Hiphop-Musik seit den 1970er Jahren aus den afroamerikanischen Großstadtghettos in die Jugendkulturen der Welt gelangte - und damit aus dem sozialen Abseits in die Mitte einer globalisierten Mainstream-Kultur. Doch der Rap ist nur eine von vielen Sprechweisen, die auf solchen Veranstaltungen zu hören sind. Auch bei traditionellen Dichterlesungen gibt es heute ganz unterschiedlichen Vortragsweisen. Und wir begegnen Autoren, die sich nicht damit begnügen, eigene Texte zu lesen, sondern die eigene Stimme bewusst zum Teil des kreativen Prozesses machen. Ein solcher Autor ist Michael Lentz. O-Ton 08 - Lentz: Es gibt ja in der Theorie die Rede von der Stimmenschrift, das heißt: Man schreibt mit der Stimme auf ein anderes Trägermaterial als das Papier. Wenn man mit der Stimme ohne ein Aufzeichnungsmedium außer den akustischen Medien arbeitet, dann überlässt man sich auch der Momentaneität, man überlässt sich der Erinnerung und den Fertigkeiten, die man hat und erprobt diese aus, und erlebt damit natürlich ganz bestimmte positive oder negative Grenzerfahrungen. Sprecherin: Lentz, 1964 am Niederrhein geboren, wurde unter anderem mit dem Ingeborg- Bachmann-Preis ausgezeichnet und ist Professor für literarisches Schreiben in Leipzig. Früher hat er selbst an Poetry Slam-Wettbewerben teilgenommen und 1998 sogar die deutsche Meisterschaft im Poetry Slam gewonnen. Heute ist sein Selbstverständnis als Lyriker, Textkomponist, Hörspielautor oder Live- Sprechkünstler von anderen Konzepten geprägt: von der Neuen Musik, wie sie etwa Komponisten wie Dieter Schnebel, Josef Anton Riedl oder John Cage repräsentieren. Aber auch von der Tradition der Lautpoesie, wie sie in den 1950er und 1960er Jahren Ernst Jandl oder Peter Rühmkorf verkörperten. O-Ton 09 - Lentz: Ja, wie geht man mit diesen Traditionen um? Also ich hab relativ schnell versucht zu lernen, das genau zu Kenntnis zu nehmen, was schon gemacht ist, um das nicht zu wiederholen. Und ganz bestimmte Dinge, wie rasende Artikulation oder ein hochenergetisches Sprechen, ist so in dieser Form nicht gemacht worden: das war für mich von Anfang an ein Feld, was noch nicht so richtig bestellt war. Mich interessieren symbiotische Verbindungen zwischen musikalischen und literarischen Strukturen und zwar eine Musik, die schon selber gewissermaßen textlich strukturiert ist, und einen Text, der von seinen Verfahrensweisen selber schon musikalische Prinzipien hat und ein solches musikalisches Prinzip wäre ja zum Beispiel das Anagramm. Sprecherin: Ein Verfahren also, das mit Buchstaben- Wort- oder Silbenumstellungen arbeitet - wie etwa im Sprech-Musikstück „Schöne Grüße“, das auf der CD 3
„Sprechakte/X/Treme“ zu hören ist. Michael Lentz hat sie 2005 zusammen mit vier Jazzmusikern konzipiert. O-Ton 10: Rezitation „Schöne Grüße“ bis 1’31 oder früher raus O-Ton 11 - Lentz: In der Tat haben solche Erfahrungen, die ich mit der Stimme mache, ja auch einen Rückfluss gewissermaßen in das Verfertigen von Texten. Es gibt aber eine Tradition, die kombinatorische Tradition, die allerspätestens im Mittelalter angefangen hat, dass man einen Text hat, der auf der Oberfläche scheinbar ein linearer Text ist, aber dann in den Sinnbezügen noch einige Treppen in die Tiefe führen kann und dort eingelagert gewissermaßen noch ganz andere Sinnbezüge ermöglicht. Und manche Sinnbezüge ermöglicht auch nur die Stimme die gewissermaßen mir als Partitur dienen kann zum Abrufen dann zum Beispiel bei Live-Auftritten. Sprecherin: Die eigene Stimme dient bei Michael Lentz also nie zur bloßen akustischen Illustration seiner Texte, sondern ist bereits Bestandteil der kreativen Arbeit. Durch die Modulation von Wörtern und Sätzen, durch rhythmisches Gliedern, scharfe Akzentuierung oder die Verwendung des Dialekts werden Bedeutungen und inhaltliche Verweise erst erkennbar. Damit knüpft Lentz nicht nur an moderne Avantgarde-Bewegungen an, sondern auch an weitaus ältere Traditionen, die in der barocken Rhetorik, aber auch in den poetischen Erneuerungsbewegungen des 18. Jahrhunderts zu verorten sind. Eine dieser Traditionen ist die Praxis der Dichterlesung. O-Ton 12 - Meyer-Kalkus: Der Erfinder der Dichterlesung in Deutschland ist Klopstock gewesen. Von 1750 an hat er regelmäßig in Freundeskreisen seine Verse vorgetragen. Und er hat die Sprechung, wie er sie nannte, also den mündlichen Vortrag von Dichtung als eine entscheidende Komponente der Dichtung selber betrachtet. Dichtung müsse gesprochen werden, gerade wenn sie gesprochen wird, könne man ihre Qualität erst recht erkennen. Sprecherin: Reinhart Meyer-Kalkus, Germanist an der Universität Potsdam und am Wissenschaftskolleg in Berlin. Er hat sich intensiv mit Stimme und Sprechkünsten in Literatur, Theater und Film befasst. O-Ton 13 - Meyer-Kalkus: Ab 1895 beginnen deutsche Autoren öffentlich vor anonymen, Eintrittsgeld zahlendem Publikum ihre Texte vorzutragen. Voraussetzung dafür war das Entstehen von literarischen Vereinigungen in fast allen größeren deutschen, Schweizer, österreichischen Städten: die konnten solche Dichter-Lesereisen organisieren und finanzieren. Und wir sehen von 1895 an Autoren wie Detlev von Liliencron, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Else Lasker-Schüler, Gustav Falke und viele andere, wie sie durch die Lande touren und, manche wöchentlich einmal, einige viel seltener, vor einem anonymen Publikum auftreten und ihre Texte vortragen. 4
Sprecherin: Dabei konkurrierten die Schriftsteller mit jenen Profis, die seit dem 19. Jahrhundert mit ihren Programmen die Vortragssäle füllten. Das Einer von ihnen war der berühmte Schauspieler Alexander Moissi (Betonung auf „oi“ = Móissi). Wie er Goethe- Verse zu rezitieren pflegte, überliefert eine Tonaufnahme aus dem Jahre 1920: Moissi spricht eine kurze Szene aus dem zweiten Teil von Goethes Faust. O-Ton 15 - Rezitation Alexander Moissi (mit Rauschen im Hintergrund): Die Nacht scheint tiefer tief hereinzudringen, / Allein im Innern leuchtet helles Licht / Was ich gedacht, ich eil‘ es zu vollbringen / Des Herren Wort, es gibt allein Gewicht./ Vom Lager auf, ihr Knechte! Mann für Mann! / Lasst glücklich schauen, was ich kühn ersann./ Ergreift das Werkzeug, Schaufel rührt und Spaten! / Das Abgesteckte muss sogleich geraten. / Dass sich das größte Werk vollende, / Genügt e i n Geist für tausend Hände. Sprecherin: Vor Pathos triefend, übertrieben theatralisch und unfreiwillig komisch - so klingt diese Sprechweise heutzutage in unseren Ohren. Doch damals bekamen Moissi und viele seiner Kollegen vom Publikum frenetischen Beifall. Zahlreiche Autoren der damaligen Moderne zeigten sich von solchen Darbietungen jedoch peinlich berührt. Franz Kafka etwa notierte 1912 nach dem Besuch eines Rezitationsabends mit Alexander Moissi: Zitator: Die Möglichkeiten der eigenen Stimme, die man hier sieht. So wie der Saal für Moissis Stimme, arbeitet seine Stimme für unsere: Unverschämte Kunstgriffe und Überraschungen, bei denen man zu Boden schauen muss und die man selbst niemals machen würde. Sprecherin: Aber waren die Lesungen der Dichter selbst damals eine überzeugende Alternative? O-Ton 16 - Meyer-Kalkus: Wir haben immer wieder Erfahrungen, dass die erste Begegnung des Publikums mit den Autoren ungemein enttäuschend war. Man hörte sie nur in den ersten drei Reihen. Man rief „lauter, lauter!“ Sie konnten aber nicht lauter, sie nuschelten, sie hatten dialektale Eigenheiten, kurz: Sie hatten keine Sprecherziehung, wie sie alle Schauspieler im 19. Jahrhundert hatten. Und deshalb sind die großen Vortragskünstler im 19. Jahrhundert, die Jordan, Lewinski, dann Josef Kainz, Alexander Moissi, die literarische Texte vortragen, große Schauspieler, die aufgrund ihrer Sprechkunst ohne Mikrofon, aber mit laut entfalteter Stimme Texte bis in hintere Reihen transportieren können. Kurzum: Das, was die Autoren als theatralisch empfanden, war dies insofern, als es einer Sprechtechnik entsprach, die für ein Reden ohne Mikrofon und ohne Lautsprecher bestimmt war. Sprecherin: Die von Moissi und seinen Kollegen praktizierte Art des Sprechens war zudem mit einer Institution verbunden, die im 19. Jahrhundert den deutschsprachigen Regionen 5
einheitliche Sprach- und Sprechstandards vorgab: dem Theater, insbesondere dem Burgtheater in der Metropole Wien. O-Ton 17 - Meyer-Kalkus: Die Bühnenaussprache hat die Maßstäbe gesetzt für die deutsche Aussprache. Und in der Tat war das Wiener Burgtheater eines der Zentren für diese Art von gesprochener Sprache. Die großen Schauspieler Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20.Jahrhunderts: Josef Lewinsky, Josef Kainz und andere: das waren Verkörperungen dieses Burgtheaterdeutschs: eines gespannten, akzentreichen, sprechmelodiereichen Sprechens. Sprecherin: Diese Sprechweise mit all ihren Merkmalen wie dem rollenden „R“, der Dehnung der Vokale und ihrem pathetischen Tremolo wirkt heute ekstatisch, ja nahezu fanatisch. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts pflegten Poeten wie Rainer Maria Rilke oder Else Lasker-Schüler in ihren Lesungen eine ausgeprägte individuelle Sprechweise, abseits jeder Theatralik. Die jungen expressionistischen Lyriker hingegen schleuderten in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ihre emotionsgeladenen Verse mit pathetischem Verve ins Publikum. Theatralisches Sprechen aber praktizierte auch der scharfzüngige, gesellschaftskritische Schriftsteller Karl Kraus. Mit seinen öffentlich vorgetragenen Gedichten und Polemiken soll er seine zahlreichen Bewunderer regelrecht hypnotisiert haben. Eine Ahnung davon vermittelt die Anfang der 1930er Jahre entstandene Tonaufnahme seines Gedichts „Weg damit!“ O-Ton 18 - Karl Kraus: Die ihr errungnes Gut geschändet habt / bezwungnes Böses nicht beendet habt,/ der Freiheit Glück in Fluch gewendet habt/ Hinaufgelangte, die den Wanst gefüllt,/ vor fremdem Hunger eigne Gier gestillt,/ vom Futtertrog zu weichen nicht gewillt; /Pfründner des Fortschritts, die das Herz verließ,/ da Weltwind in die schlaffen Segel blies,/ vom Bürgergift berauschte Parvenüs,/ die mit dem Todfeind, mit dem Lebensfeind/ Profit der Freiheit brüderlich vereint, / die freier einst und reiner war gemeint -/ mein Schritt ist nicht dies schleichende Zickzack,/ mein Stich ist nicht dies zögernde Tricktrack:/ er gilt politischem Paktiererpack! Von Karl Kraus haben wir eine ganze Reihe von Lesungen eigener Texte und was dort befremdet, ist dieser fanatische Tonfall, den er hat, wo die Studenten heute sagen: „Das klingt ja wie Hitler.“ Und es klingt ja auch so, weil das natürlich die Generation dieser großen Sprecher des Burgtheaterdeutschs waren, die Hitler auf seine Weise nachgeahmt hat, von denen er Töne dann aufgegriffen und in die politische Rhetorik übertragen hat. Nur muss man andererseits nicht den Fehler begehen, Hitlers, noch aus dem Burgtheater herkommende sehr spezielle Sprechweise, mit der Nazi-Sprechweise schlechthin zu identifizieren. Sprecherin: Die nämlich ist zu einem beachtlichen Teil von einer Entwicklung geprägt, die sich bereits seit Ende der 1920er Jahre im neuen Medium Radio vollzieht: O-Ton 20 - Meyer-Kalkus: Die Veränderung tritt ein von 1928 mit der Einführung der elektronischen Mikrofone im Radio. Schlagartig wird den Leuten bewusst, dass die alte Schauspielerdeklamation für dieses Medium nicht mehr geeignet ist. Und es gibt 6
signifikanterweise gerade in dieser Zeit eine große Diskussion unter Radioverantwortlichen: Man will nun Autoren vor die Mikrofone holen, man will nicht länger, dass die Schauspieler das Sprechen vor den Mikrofonen dominieren, weil eben deren Sprechen unnatürlich erscheint. Sprecherin: Schriftsteller wie Bertolt Brecht oder Gottfried Benn rezitieren ihre Gedichte weder mit expressionistischem Pathos noch im Burgtheaterdeutsch, sondern bedienen sich im Radio wie bei Publikums- Lesungen einer betont nüchtern-sachlichen Diktion. Im Tonfilm der 1930er Jahre spricht der Schauspielerstar Heinz Rühmann ein schnoddriges Alltagsdeutsch. Eine Rhetorik der Sachlichkeit findet Eingang in die Schulungen politischer Parteien, auch in die Funktionärssprachr der NSDAP. Wie allerdings dann nach 1945 Sprechtraditionen bewertet und interpretiert wurden, zeigt ein Vorfall, von dem Reinhart Meyer Kalkus sagt: O-Ton 21 - Meyer-Kalkus: Das ist einer der großen Skandale in der Geschichte der Vortragskunst, aber darüber hinaus in der Geschichte der Lyrik der Bundesrepublik nach 1945. Sprecherin: Wir schreiben das Jahr 1952. Aus Paris reist der Dichter Paul Celan nach Niendorf an die Ostsee zur Jahrestagung der Gruppe 47. Unter der Ägide ihres Organisators Hans-Werner Richter haben sich hier jene westdeutschen Jungautoren und Kritiker versammelt, die in den folgenden Jahrzehnten den Literaturbetrieb der Bundesrepublik dominieren sollten. Paul Celan ist hier ein Außenseiter: ein in Paris lebender, jüdischer, in der Bukowina aufgewachsener Dichter deutscher Sprache, dessen Familie in den Vernichtungslagern der Nazis ausgelöscht wurde und dessen Gedichte von diesem Trauma gezeichnet sind. O-Ton 22 - Meyer-Kalkus: Er tritt dort auf, liest einige seiner Gedichte und hat ein sehr zwiespältiges Echo. Einige wenige Wiener Freunde unterstützen ihn, die Mehrheit ist ablehnend - und zwar ablehnend vor allen Dingen nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern ablehnend aus Gründen seiner Vortragsweise. Insbesondere der Magister dieser Gruppe, Hans- Werner Richter, formuliert es und bringt es dann auf den Begriff, als er sagt: „Das klingt ja fast wie Synagogengesang“. Sprecherin: Oder klang es für Richter und Kollegen doch eher nach den fanatisch-pathetischen Nazitiraden, die man in der Gruppe 47 mit den Reden eines Joseph Goebbels identifizierte? Paul Celan schreibt jedenfalls rückblickend an den Dichterfreund Klaus Demus: Zitator: Ich war dort oben beleidigt worden: H.W. Richter, (…) sagte nämlich, meine Gedichte seien ihm auch darum so zuwider gewesen, weil ich sie im „Tonfall von Goebbels“ gelesen hätte. (Nach der Lesung der Todesfuge!). Und so etwas muss ich erleben! Sprecherin: 7
Offenbar hatte Celan mit seiner Rezitation einen wunden Punkt getroffen. Und der hatte zweifellos mit den Generationserfahrungen der Autoren der Gruppe 47 zu tun. Meist in den 1920er Jahren geboren, hatten viele von ihnen den Krieg als jugendliche Soldaten erlebt. Ihr Verhältnis zu Literatur und Sprache war häufig in britischen oder amerikanischen Gefangenenlagern geprägt worden - und vom Ideal sachlicher Nüchternheit, das sie nun als Gegenmittel gegen die Propaganda der nationalsozialistischen Ära empfanden. Wie schief sich jedoch dieses vermeintliche Gegensatzpaar bei näherer Betrachtung ausnimmt, erläutert Reinhart Meyer Kalkus: O-Ton 23 - Meyer-Kalkus: Wenn man dieser Gruppe nachgeht, wird man sogar sagen können: Bereits ihre Deutschlehrer auf dem Gymnasium waren anti-expressionistisch eingestellt. Wir finden dort bereits in den dreißiger Jahren eine Diskussion, die sich vehement von den expressionistischen Sprechweisen der Zehner Jahre, der Zeit des Ersten Weltkrieges entfernt. Man möchte sachlicher, man möchte argumentbezogener sprechen. Und nun tritt ihnen jemand gegenüber, der den alten expressionistischen Sprechgesang von vor und nach dem Weltkrieg noch einmal verkörpert. Das ist ein Schock ohnegleichen. Und diesen Schock versuchen sie durch radikale Abwehrgesten zu verarbeiten. Die Standardvokabel ist „Wie pathetisch“! Sprecherin: Aber spricht Paul Celan seine Texte wirklich im expressionistischen Pathoston? Von seiner Lesung auf der Tagung der Gruppe 47 gibt es keine Tonaufnahmen. Doch zwei Jahre später, im Jahre 1954, liest Paul Celan im Studio des damaligen Süddeutschen Rundfunks unter anderem das Gedicht „Ich hörte sagen“ - und vermittelt damit einen Eindruck von seiner schwebenden, musikalisch anmutenden Vortragsweise in diesen Jahren: O-Ton 24 - Paul Celan (Einspielung/Gespräch m. Karl Schwedhelm/Lesung): Ich hörte sagen, es sei / im Wasser ein Stein und ein Kreis / und über dem Wasser ein Wort,/ das den Kreis um den Stein legt. Ich sah meine Pappel hinabgehn zum Wasser, / ich sah, wie ihr Arm hinuntergriff in die Tiefe, / ich sah ihre Wurzeln gen Himmel um Nacht flehn. / Ich eilt ihr nicht nach, / ich las nur vom Boden auf jene Krume, / die deines Auges Gestalt hat und Adel,/ ich nahm dir die Kette der Sprüche vom Hals und säumte mit ihr den Tisch, / wo die Krume nun lag. /Und sah meine Pappel nicht mehr. Sprecherin: An expressionistisches Pathos erinnert ein solcher fast schon singender Rezitationsstil nicht. Eher an die älteren Burgtheater-Sprechtraditionen, wie sie Alexander Moissi einst verkörpert hatte und die, durch Sprechschallplatten vermittelt, ehemals auch in Celans Freundeskreis in der Bukowina populär gewesen waren. Und auch gegen diese Sprechtradition hatte die Lehrergeneration der Autoren der Gruppe 47 polemisiert. Es gab nationalsozialistische Sprecherzieher wie etwa Erich Drach, die die Sprechweise eines Moissi als Negativbeispiel für - wen wundert es - vorgeblich „jüdische Anverwandlungskunst“ denunzierten. Nach 1945 wiederum identifizierte man in Forschung und Medien solch pathetische Sprechtraditionen mit dem Nationalsozialismus, während die sachlich-nüchternen Sprechweisen als Sprache des demokratischen Wiederaufbaus galten. Ein Mythos, meint Reinhart Meyer-Kalkus: 8
O-Ton 25 - Meyer-Kalkus: Wir wissen doch, dass es auch in den 50er Jahren pathetisches Sprechen gegeben hat. Wir wissen doch, dass es einen Oskar Werner, einen Klaus Kinsky, einen Will Quadflieg gegeben hat - Schauspieler, die großes Pathos praktiziert haben. Kurz: Das Sprechen vor 1945 als pathetisch zu bezeichnen, das nach 1945 als durch Pathosschwund und Sachlichkeit gekennzeichnet, das ist schlicht Mythologie. Man wird näher hinschauen müssen und man wird sehen, dass jede Zeit ihre spezifischen pathetischen Ausdrucksmittel hat, dass sie allerdings auch ihre spezifischen sachlichen Ausdrucksmittel hat und dass diese verschiedenen Ausdrucksmittel in jeder Zeit eine ganz einzigartige Konstellation darbieten, die man nicht über den groben Leisten Pathos oder Antipathos schlagen kann. Sprecherin: Der Fall Paul Celan zeigt, wie problematisch es sein kann, Rezitationsstile in ethischen Kategorien zu bewerten. Dem 1965 geborenen Schriftsteller Marcel Beyer jedenfalls scheint es geraten, jeder Rede mit Distanz zu lauschen: O-Ton 26 - Marcel Beyer: Diese enorme Macht, die eine Stimme haben kann und auch die Bereitwilligkeit von Menschen, sich dieser Macht hinzugeben, ist natürlich ein Phänomen, das gerade vor dem Hintergrund der politischen Geschichte immer eine große Rolle spielte, auch für die Dichtung. Spricht man wie ein Politiker spricht? Brüllt man wie ein Politiker brüllt? Muss man nicht heute - ich denke jetzt gerade an unsere unmittelbare Gegenwart – eher ungeheuer misstrauisch werden, wenn ein Politiker sehr leise und sehr sachlich spricht. Ich merke das so. Da werde ich aber sehr aufmerksam: Was führt der dann im Schilde wenn er so vermeintlich zurückgenommen redet? Sprecherin: Mit der Wahrnehmung von Stimmen und Worten hat sich Marcel Beyer in seinen Büchern immer wieder beschäftigt. Etwa in seinem frühen Roman „Flughunde“ aus dem Jahr 1995, in dem er vom diabolischen Treiben eines fiktiven Akustikers während der letzten Tage in Hitlers Führerbunker erzählt. Dass Marcel Beyer sich auch ausgiebig mit der Lautpoesie Ernst Jandls auseinandergesetzt hat, erscheint da nur schlüssig. O-Ton 27 - Einspielung Ernst Jandl („Viel Vieh“ aus: Autorenlesung Jandl): viel vieh/ o /so / viel vieh so o so viel vieh so o so viel vieh sophie(…) etc. O-Ton 28 - Marcel Beyer: Man kann zum Beispiel mit Ernst Jandl zeigen, wie er mit traditionellen Rezitationsformen bricht: also das weihevolle Deklamieren von Hölderlin-Gedichten, was bis in die 50er, fast 60er Jahre hinein verbreitet war. Also Ernst Jandl reagiert darauf, ironisiert das, aber nicht einfach, indem er es bricht oder zerstört oder konterkariert, sondern er zeigt mit seinen Sprechgedichten, die ja auch jedes Kind gut nachsprechen kann, dass man ganz anderer Traditionen des Rezitierens freilegen oder schaffen kann, die einfach von der Freude am Sprachmaterial leben und nicht von der Hoffnung, dass uns ein Hölderlin in irgendwelche metaphysischen Sphären entheben wird. Ich glaube, die Materialität der Sprache ist interessant und 9
indem man dem seine Aufmerksamkeit schenkt, lernt man viel und man gewinnt auch eine Aufmerksamkeit für die Stimmtöne, die einen umgeben. Sprecherin: Um diesen Effekt zu erzielen, bedarf es beim Verfassen von Gedichten zuweilen einer Tonlage, die Marcel Beyer „trockenes Pathos“ nennt: O-Ton 30 - Marcel Beyer: Ich arbeite sehr gerne mit einem - wie ich es nenne - trockenem Pathos, das dann mit einem Mal abbricht und sich hoffentlich dem Leser gegenüber als sehr trockener Humor, als trockener Galgenhumor zu erkennen gibt. Ich arbeite sehr gerne mit der Gegenüberstellung von Hochdeutsch und dialektalen oder regionalen Einsprengseln, also versucht eigentlich, doch so etwas wie eine Mehrstimmigkeit aufzubauen oder als möglichen Horizont immer präsent zu halten. Sprecher/in.: Und manchmal bedeutet dieser Begriff der Mehrstimmigkeit sogar, dass Marcel Beyer sein Gedicht überhaupt nicht für den Vortrag durch die eigene Stimme schreibt, sondern für einen Komponisten. Wie etwa Enno Poppe, für dessen Opernkompositionen der Autor in den vergangenen Jahren mehrere Libretti verfasst hat. „Wespe komm“ heißt ein Titel aus dem 2014 veröffentlichten Gedichtband „Graphit“, den der Autor eigentlich für eine Singstimme geschrieben hatte - bis er feststellte, dass er auch als Sprechgedicht funktioniert: O-Ton 31 - Marcel Beyer („Wespe komm“): Wespe, komm in meinen Mund, mach mir Sprache, innen, und außen mach mir was am Hals, zeig’s dem Gaumen, zeig es uns. So ging das. So gingen die achtziger Jahre. Als wir jung und im Westen waren. Sprache, mach die Zunge heiß, mach den ganzen Rachen wund, gib mir Farbe, kriech da rein. Zeig mir Wort- und Wespenfleiß, mach’s dem Deutsch am Zungengrund, innen muß die Sprache sein. Atmo 2 Beifall: Applaus, Johlen im Publikum, ggf. mit folgendem Sprechertext überblenden Sprecherin: Im Studentencafé in Frankfurt am Main nähert sich der Wham Bam Poetry Slam seinem Ende. Aus den Finalisten des Wettbewerbs wird der Gewinner per Beifall gekürt. Es ist Fatih mit seinem Rap-Gedicht. O-Ton 33 - Fatih (Atmovorlauf Fatih summt): Jeden Morgen werd‘ ich von neuem geboren, trage keine Sorgen, die mich überall plagen, kein Platz für sie, ich musste sie abladen, um weiterzugehen und 10
weiterzusehen als meine Beine je bewältigen können, als meine Augen je bewältigen können, kein Platz für sie ich musste sie abladen, um weiterzugehen um weiterzusehen. [rappt] Beifall. ***** Literaturliste Reinhart Meyer-Kalkus: „Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert“. Berlin (Akademie Verlag) 2001. Lothar Müller: „Die zweite Stimme. Vortragskunst von Goethe bis Kafka“. Berlin (Verlag Klaus Wagenbach), 2007. Doris Kolesch /Sybille Krämer (Hg.): „Stimme. Annäherung an ein Phänomen.“ Frankfurt/M (Suhrkamp), 2006. Claudia Schmölders: „Stimmen von Führern. Auditorische Szenen 1900-1945. „ In: Friedrich Kittler/Thomas Macho/Sigrid Weigel (Hg): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme. 2.Auflage. S. 175-195. Berlin 2008. Rüdiger Schaper: „Moissi. Eine Schauspielerlegende“. Berlin (Argon Verlag) 2000. Michael Lentz: „Atmen, Ordnung, Abgrund. Frankfurter Poetikvorlesungen.“ Frankfurt/M (S. Fischer Verlag) 2013. (Eine vollständige Liste seiner Publikationen findet sich auf der Webpage des Künstlers unter: www.michaellentz.com) Marcel Beyer: „Flughunde“. Roman. Frankfurt/M (Suhrkamp) 1995 Marcel Beyer: „Kaltenburg“. Roman. Frankfurt/M (Suhrkamp) 2008 Marcel Beyer: „Graphit. Gedichte.“ Frankfurt/M (Suhrkamp) 2014. Hinweis: Unter „www.lyrikline.org“ betreibt die Literaturwerkstatt Berlin eine Internet-Plattform mit Audioaufnahmen bekannter Dichterstimmen: Lyriker aus unterschiedlichen Nationen rezitieren ihre eigenen Werke in ihrer jeweiligen Sprache. Hineinhören lohnt sich! 11
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