SWR2 Wissen Lyrik sprechen Moden und Stile der Rezitation

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SWR2 Wissen
Lyrik sprechen
Moden und Stile der Rezitation
Von Dagmar Lorenz

Sendung: Donnerstag, 27. November 2014, 8.30 Uhr
Redaktion: Anja Brockert
Regie: Maria Ohmer
Produktion: SWR 2014

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MANUSKRIPT

O-Ton 01 - Marcel Beyer liest aus „Wespe, komm in meinen Mund“:
Wespe, komm in meinen Mund, mach mir Sprache, innen, und außen mach mir was
am Hals, zeig’s dem Gaumen, zeig es uns.

O-Ton 02 - Michael Lentz liest „Schöne Grüße“:
Auch wieder, auch Grüße wieder, auch schöne, schöne Grüße wieder (06 sec.)

O-Ton 03 - Rezitation Karl Kraus:
Die ihr errungnes Gut geschändet habt / bezwungnes Böses nicht beendet habt,/ der
Freiheit Glück in Fluch gewendet habt/

Ansage:
„Lyrik sprechen - Moden und Stile der Rezitation“.
Eine Sendung von Dagmar Lorenz.

Atmo 1: Slamatmo, Kneipengeräusche, Stimmengewirr, etc.

O-Ton 04 - Miriam/Marielle moderieren mit „Geräuschkulisse“-Vorlauf:
Hallo, Hallo das ist die Miriam! Das ist die Marielle! Und wir heißen euch herzlich
willkommen zum Wham Bam Poetry Slam! Applaus.

Sprecherin:
Ein Spätsommerabend in einem Studentencafé in Frankfurt am Main. Die
Schwestern Miriam und Marielle Meurers führen ihr vorwiegend jugendliches
Publikum durch eine Poetry Slam Veranstaltung.

Atmo 05: optional: Publikumsmurmeln

Sprecherin:
Slam Poetry, Poetry Slam, oder - wie hier in Frankfurt - der „Wham Bam Slam“ sind
Wettbewerbe, bei denen die Verfasser eigener literarischer Texte gegeneinander
antreten. Hier wird nicht nur gelesen, sondern „performt“, wie es auf Neudeutsch
heißt, immer mit Blick auf die erhoffte Wirkung beim Publikum, das unterhalten und
mitgerissen werden will. Versierte Slammer setzen ihre Texte daher stimmlich
möglichst effektvoll in Szene, akzentuieren und modulieren, oft mit Anleihen bei
Musikrichtungen wie Rap und Hiphop.

O-Ton 06 - Miriam/Marielle:
Weiter geht’s - zwei Slammer sind noch im Rennen: Ok, sagen wir alle gemeinsam
ein „Wham Bam Slam" für Fatih Servesd aus Mainz! Applaus

O-Ton 07 - Fatih (rappt. Ggf. vorher ausblenden):
Nun steh ich hier. Und versuche irgendwelche Worte zu finden, die passender Sorte,
um meine Mitmenschen einzustimmen, einzuspinnen, sie mit Schallwellen zu
stimulieren, zu neuen Weltsichten zu motivieren, sie mit Reimen und Versen
einzumassieren, unter ihre Haut einzudringen, um mich festzusetzen,
festzusprechen, feste mit Worten einzunisten, wie ein Echo weiterhallen in Hallen voll
mit versammelten Massen meine Meinung freizulassen, die Spuren hinterlassen,
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Hinterlassenschaften die ihre Wirkung entfalten, medizinmäßig eine Impfung
verpassen, heilende Zeilen loszulassen, sie prasseln nieder wie ein Gewitter nieder,
doch.

Sprecherin:
Lyrik, rezitiert im Rap-Rhythmus - in einer Art des Sprechgesangs, der zusammen
mit der Hiphop-Musik seit den 1970er Jahren aus den afroamerikanischen
Großstadtghettos in die Jugendkulturen der Welt gelangte - und damit aus dem
sozialen Abseits in die Mitte einer globalisierten Mainstream-Kultur. Doch der Rap ist
nur eine von vielen Sprechweisen, die auf solchen Veranstaltungen zu hören sind.
Auch bei traditionellen Dichterlesungen gibt es heute ganz unterschiedlichen
Vortragsweisen. Und wir begegnen Autoren, die sich nicht damit begnügen, eigene
Texte zu lesen, sondern die eigene Stimme bewusst zum Teil des kreativen
Prozesses machen. Ein solcher Autor ist Michael Lentz.

O-Ton 08 - Lentz:
Es gibt ja in der Theorie die Rede von der Stimmenschrift, das heißt: Man schreibt
mit der Stimme auf ein anderes Trägermaterial als das Papier. Wenn man mit der
Stimme ohne ein Aufzeichnungsmedium außer den akustischen Medien arbeitet,
dann überlässt man sich auch der Momentaneität, man überlässt sich der Erinnerung
und den Fertigkeiten, die man hat und erprobt diese aus, und erlebt damit natürlich
ganz bestimmte positive oder negative Grenzerfahrungen.

Sprecherin:
Lentz, 1964 am Niederrhein geboren, wurde unter anderem mit dem Ingeborg-
Bachmann-Preis ausgezeichnet und ist Professor für literarisches Schreiben in
Leipzig. Früher hat er selbst an Poetry Slam-Wettbewerben teilgenommen und 1998
sogar die deutsche Meisterschaft im Poetry Slam gewonnen.
Heute ist sein Selbstverständnis als Lyriker, Textkomponist, Hörspielautor oder Live-
Sprechkünstler von anderen Konzepten geprägt: von der Neuen Musik, wie sie etwa
Komponisten wie Dieter Schnebel, Josef Anton Riedl oder John Cage repräsentieren.
Aber auch von der Tradition der Lautpoesie, wie sie in den 1950er und 1960er
Jahren Ernst Jandl oder Peter Rühmkorf verkörperten.

O-Ton 09 - Lentz:
Ja, wie geht man mit diesen Traditionen um? Also ich hab relativ schnell versucht zu
lernen, das genau zu Kenntnis zu nehmen, was schon gemacht ist, um das nicht zu
wiederholen. Und ganz bestimmte Dinge, wie rasende Artikulation oder ein
hochenergetisches Sprechen, ist so in dieser Form nicht gemacht worden: das war
für mich von Anfang an ein Feld, was noch nicht so richtig bestellt war. Mich
interessieren symbiotische Verbindungen zwischen musikalischen und literarischen
Strukturen und zwar eine Musik, die schon selber gewissermaßen textlich strukturiert
ist, und einen Text, der von seinen Verfahrensweisen selber schon musikalische
Prinzipien hat und ein solches musikalisches Prinzip wäre ja zum Beispiel das
Anagramm.

Sprecherin:
Ein Verfahren also, das mit Buchstaben- Wort- oder Silbenumstellungen arbeitet -
wie etwa im Sprech-Musikstück „Schöne Grüße“, das auf der CD

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„Sprechakte/X/Treme“ zu hören ist. Michael Lentz hat sie 2005 zusammen mit vier
Jazzmusikern konzipiert.

O-Ton 10:
Rezitation „Schöne Grüße“ bis 1’31 oder früher raus

O-Ton 11 - Lentz:
In der Tat haben solche Erfahrungen, die ich mit der Stimme mache, ja auch einen
Rückfluss gewissermaßen in das Verfertigen von Texten. Es gibt aber eine Tradition,
die kombinatorische Tradition, die allerspätestens im Mittelalter angefangen hat, dass
man einen Text hat, der auf der Oberfläche scheinbar ein linearer Text ist, aber dann
in den Sinnbezügen noch einige Treppen in die Tiefe führen kann und dort
eingelagert gewissermaßen noch ganz andere Sinnbezüge ermöglicht. Und manche
Sinnbezüge ermöglicht auch nur die Stimme die gewissermaßen mir als Partitur
dienen kann zum Abrufen dann zum Beispiel bei Live-Auftritten.

Sprecherin:
Die eigene Stimme dient bei Michael Lentz also nie zur bloßen akustischen
Illustration seiner Texte, sondern ist bereits Bestandteil der kreativen Arbeit. Durch
die Modulation von Wörtern und Sätzen, durch rhythmisches Gliedern, scharfe
Akzentuierung oder die Verwendung des Dialekts werden Bedeutungen und
inhaltliche Verweise erst erkennbar. Damit knüpft Lentz nicht nur an moderne
Avantgarde-Bewegungen an, sondern auch an weitaus ältere Traditionen, die in der
barocken Rhetorik, aber auch in den poetischen Erneuerungsbewegungen des 18.
Jahrhunderts zu verorten sind. Eine dieser Traditionen ist die Praxis der
Dichterlesung.

O-Ton 12 - Meyer-Kalkus:
Der Erfinder der Dichterlesung in Deutschland ist Klopstock gewesen. Von 1750 an
hat er regelmäßig in Freundeskreisen seine Verse vorgetragen. Und er hat die
Sprechung, wie er sie nannte, also den mündlichen Vortrag von Dichtung als eine
entscheidende Komponente der Dichtung selber betrachtet. Dichtung müsse
gesprochen werden, gerade wenn sie gesprochen wird, könne man ihre Qualität erst
recht erkennen.

Sprecherin:
Reinhart Meyer-Kalkus, Germanist an der Universität Potsdam und am
Wissenschaftskolleg in Berlin. Er hat sich intensiv mit Stimme und Sprechkünsten in
Literatur, Theater und Film befasst.

O-Ton 13 - Meyer-Kalkus:
Ab 1895 beginnen deutsche Autoren öffentlich vor anonymen, Eintrittsgeld
zahlendem Publikum ihre Texte vorzutragen. Voraussetzung dafür war das
Entstehen von literarischen Vereinigungen in fast allen größeren deutschen,
Schweizer, österreichischen Städten: die konnten solche Dichter-Lesereisen
organisieren und finanzieren. Und wir sehen von 1895 an Autoren wie Detlev von
Liliencron, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Else Lasker-Schüler, Gustav
Falke und viele andere, wie sie durch die Lande touren und, manche wöchentlich
einmal, einige viel seltener, vor einem anonymen Publikum auftreten und ihre Texte
vortragen.
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Sprecherin:
Dabei konkurrierten die Schriftsteller mit jenen Profis, die seit dem 19. Jahrhundert
mit ihren Programmen die Vortragssäle füllten. Das Einer von ihnen war der
berühmte Schauspieler Alexander Moissi (Betonung auf „oi“ = Móissi). Wie er Goethe-
Verse zu rezitieren pflegte, überliefert eine Tonaufnahme aus dem Jahre 1920:
Moissi spricht eine kurze Szene aus dem zweiten Teil von Goethes Faust.

O-Ton 15 - Rezitation Alexander Moissi (mit Rauschen im Hintergrund):
Die Nacht scheint tiefer tief hereinzudringen, / Allein im Innern leuchtet helles Licht /
Was ich gedacht, ich eil‘ es zu vollbringen / Des Herren Wort, es gibt allein Gewicht./
Vom Lager auf, ihr Knechte! Mann für Mann! / Lasst glücklich schauen, was ich kühn
ersann./ Ergreift das Werkzeug, Schaufel rührt und Spaten! / Das Abgesteckte muss
sogleich geraten. / Dass sich das größte Werk vollende, / Genügt e i n Geist für
tausend Hände.

Sprecherin:
Vor Pathos triefend, übertrieben theatralisch und unfreiwillig komisch - so klingt diese
Sprechweise heutzutage in unseren Ohren. Doch damals bekamen Moissi und viele
seiner Kollegen vom Publikum frenetischen Beifall.
Zahlreiche Autoren der damaligen Moderne zeigten sich von solchen Darbietungen
jedoch peinlich berührt. Franz Kafka etwa notierte 1912 nach dem Besuch eines
Rezitationsabends mit Alexander Moissi:

Zitator:
Die Möglichkeiten der eigenen Stimme, die man hier sieht. So wie der Saal für
Moissis Stimme, arbeitet seine Stimme für unsere: Unverschämte Kunstgriffe und
Überraschungen, bei denen man zu Boden schauen muss und die man selbst
niemals machen würde.

Sprecherin:
Aber waren die Lesungen der Dichter selbst damals eine überzeugende Alternative?

O-Ton 16 - Meyer-Kalkus:
Wir haben immer wieder Erfahrungen, dass die erste Begegnung des Publikums mit
den Autoren ungemein enttäuschend war. Man hörte sie nur in den ersten drei
Reihen. Man rief „lauter, lauter!“ Sie konnten aber nicht lauter, sie nuschelten, sie
hatten dialektale Eigenheiten, kurz: Sie hatten keine Sprecherziehung, wie sie alle
Schauspieler im 19. Jahrhundert hatten. Und deshalb sind die großen
Vortragskünstler im 19. Jahrhundert, die Jordan, Lewinski, dann Josef Kainz,
Alexander Moissi, die literarische Texte vortragen, große Schauspieler, die aufgrund
ihrer Sprechkunst ohne Mikrofon, aber mit laut entfalteter Stimme Texte bis in hintere
Reihen transportieren können. Kurzum: Das, was die Autoren als theatralisch
empfanden, war dies insofern, als es einer Sprechtechnik entsprach, die für ein
Reden ohne Mikrofon und ohne Lautsprecher bestimmt war.

Sprecherin:
Die von Moissi und seinen Kollegen praktizierte Art des Sprechens war zudem mit
einer Institution verbunden, die im 19. Jahrhundert den deutschsprachigen Regionen

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einheitliche Sprach- und Sprechstandards vorgab: dem Theater, insbesondere dem
Burgtheater in der Metropole Wien.

O-Ton 17 - Meyer-Kalkus:
Die Bühnenaussprache hat die Maßstäbe gesetzt für die deutsche Aussprache. Und
in der Tat war das Wiener Burgtheater eines der Zentren für diese Art von
gesprochener Sprache. Die großen Schauspieler Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang
des 20.Jahrhunderts: Josef Lewinsky, Josef Kainz und andere: das waren
Verkörperungen dieses Burgtheaterdeutschs: eines gespannten, akzentreichen,
sprechmelodiereichen Sprechens.

Sprecherin:
Diese Sprechweise mit all ihren Merkmalen wie dem rollenden „R“, der Dehnung der
Vokale und ihrem pathetischen Tremolo wirkt heute ekstatisch, ja nahezu fanatisch.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts pflegten Poeten wie Rainer Maria Rilke oder Else
Lasker-Schüler in ihren Lesungen eine ausgeprägte individuelle Sprechweise,
abseits jeder Theatralik. Die jungen expressionistischen Lyriker hingegen
schleuderten in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ihre emotionsgeladenen Verse
mit pathetischem Verve ins Publikum. Theatralisches Sprechen aber praktizierte
auch der scharfzüngige, gesellschaftskritische Schriftsteller Karl Kraus. Mit seinen
öffentlich vorgetragenen Gedichten und Polemiken soll er seine zahlreichen
Bewunderer regelrecht hypnotisiert haben. Eine Ahnung davon vermittelt die Anfang
der 1930er Jahre entstandene Tonaufnahme seines Gedichts „Weg damit!“

O-Ton 18 - Karl Kraus:
Die ihr errungnes Gut geschändet habt / bezwungnes Böses nicht beendet habt,/ der
Freiheit Glück in Fluch gewendet habt/ Hinaufgelangte, die den Wanst gefüllt,/ vor
fremdem Hunger eigne Gier gestillt,/ vom Futtertrog zu weichen nicht gewillt;
/Pfründner des Fortschritts, die das Herz verließ,/ da Weltwind in die schlaffen Segel
blies,/ vom Bürgergift berauschte Parvenüs,/ die mit dem Todfeind, mit dem
Lebensfeind/ Profit der Freiheit brüderlich vereint, / die freier einst und reiner war
gemeint -/ mein Schritt ist nicht dies schleichende Zickzack,/ mein Stich ist nicht dies
zögernde Tricktrack:/ er gilt politischem Paktiererpack! Von Karl Kraus haben wir eine
ganze Reihe von Lesungen eigener Texte und was dort befremdet, ist dieser
fanatische Tonfall, den er hat, wo die Studenten heute sagen: „Das klingt ja wie
Hitler.“ Und es klingt ja auch so, weil das natürlich die Generation dieser großen
Sprecher des Burgtheaterdeutschs waren, die Hitler auf seine Weise nachgeahmt
hat, von denen er Töne dann aufgegriffen und in die politische Rhetorik übertragen
hat. Nur muss man andererseits nicht den Fehler begehen, Hitlers, noch aus dem
Burgtheater herkommende sehr spezielle Sprechweise, mit der Nazi-Sprechweise
schlechthin zu identifizieren.

Sprecherin:
Die nämlich ist zu einem beachtlichen Teil von einer Entwicklung geprägt, die sich
bereits seit Ende der 1920er Jahre im neuen Medium Radio vollzieht:

O-Ton 20 - Meyer-Kalkus:
Die Veränderung tritt ein von 1928 mit der Einführung der elektronischen Mikrofone
im Radio. Schlagartig wird den Leuten bewusst, dass die alte
Schauspielerdeklamation für dieses Medium nicht mehr geeignet ist. Und es gibt
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signifikanterweise gerade in dieser Zeit eine große Diskussion unter
Radioverantwortlichen: Man will nun Autoren vor die Mikrofone holen, man will nicht
länger, dass die Schauspieler das Sprechen vor den Mikrofonen dominieren, weil
eben deren Sprechen unnatürlich erscheint.

Sprecherin:
Schriftsteller wie Bertolt Brecht oder Gottfried Benn rezitieren ihre Gedichte weder
mit expressionistischem Pathos noch im Burgtheaterdeutsch, sondern bedienen sich
im Radio wie bei Publikums- Lesungen einer betont nüchtern-sachlichen Diktion. Im
Tonfilm der 1930er Jahre spricht der Schauspielerstar Heinz Rühmann ein
schnoddriges Alltagsdeutsch. Eine Rhetorik der Sachlichkeit findet Eingang in die
Schulungen politischer Parteien, auch in die Funktionärssprachr der NSDAP. Wie
allerdings dann nach 1945 Sprechtraditionen bewertet und interpretiert wurden, zeigt
ein Vorfall, von dem Reinhart Meyer Kalkus sagt:

O-Ton 21 - Meyer-Kalkus:
Das ist einer der großen Skandale in der Geschichte der Vortragskunst, aber darüber
hinaus in der Geschichte der Lyrik der Bundesrepublik nach 1945.

Sprecherin:
Wir schreiben das Jahr 1952. Aus Paris reist der Dichter Paul Celan nach Niendorf
an die Ostsee zur Jahrestagung der Gruppe 47. Unter der Ägide ihres Organisators
Hans-Werner Richter haben sich hier jene westdeutschen Jungautoren und Kritiker
versammelt, die in den folgenden Jahrzehnten den Literaturbetrieb der
Bundesrepublik dominieren sollten. Paul Celan ist hier ein Außenseiter: ein in Paris
lebender, jüdischer, in der Bukowina aufgewachsener Dichter deutscher Sprache,
dessen Familie in den Vernichtungslagern der Nazis ausgelöscht wurde und dessen
Gedichte von diesem Trauma gezeichnet sind.

O-Ton 22 - Meyer-Kalkus:
Er tritt dort auf, liest einige seiner Gedichte und hat ein sehr zwiespältiges Echo.
Einige wenige Wiener Freunde unterstützen ihn, die Mehrheit ist ablehnend - und
zwar ablehnend vor allen Dingen nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern ablehnend
aus Gründen seiner Vortragsweise. Insbesondere der Magister dieser Gruppe, Hans-
Werner Richter, formuliert es und bringt es dann auf den Begriff, als er sagt: „Das
klingt ja fast wie Synagogengesang“.

Sprecherin:
Oder klang es für Richter und Kollegen doch eher nach den fanatisch-pathetischen
Nazitiraden, die man in der Gruppe 47 mit den Reden eines Joseph Goebbels
identifizierte? Paul Celan schreibt jedenfalls rückblickend an den Dichterfreund Klaus
Demus:

Zitator:
Ich war dort oben beleidigt worden: H.W. Richter, (…) sagte nämlich, meine Gedichte
seien ihm auch darum so zuwider gewesen, weil ich sie im „Tonfall von Goebbels“
gelesen hätte. (Nach der Lesung der Todesfuge!). Und so etwas muss ich erleben!

Sprecherin:

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Offenbar hatte Celan mit seiner Rezitation einen wunden Punkt getroffen. Und der
hatte zweifellos mit den Generationserfahrungen der Autoren der Gruppe 47 zu tun.
Meist in den 1920er Jahren geboren, hatten viele von ihnen den Krieg als
jugendliche Soldaten erlebt. Ihr Verhältnis zu Literatur und Sprache war häufig in
britischen oder amerikanischen Gefangenenlagern geprägt worden - und vom Ideal
sachlicher Nüchternheit, das sie nun als Gegenmittel gegen die Propaganda der
nationalsozialistischen Ära empfanden. Wie schief sich jedoch dieses vermeintliche
Gegensatzpaar bei näherer Betrachtung ausnimmt, erläutert Reinhart Meyer Kalkus:

O-Ton 23 - Meyer-Kalkus:
Wenn man dieser Gruppe nachgeht, wird man sogar sagen können: Bereits ihre
Deutschlehrer auf dem Gymnasium waren anti-expressionistisch eingestellt. Wir
finden dort bereits in den dreißiger Jahren eine Diskussion, die sich vehement von
den expressionistischen Sprechweisen der Zehner Jahre, der Zeit des Ersten
Weltkrieges entfernt. Man möchte sachlicher, man möchte argumentbezogener
sprechen. Und nun tritt ihnen jemand gegenüber, der den alten expressionistischen
Sprechgesang von vor und nach dem Weltkrieg noch einmal verkörpert. Das ist ein
Schock ohnegleichen. Und diesen Schock versuchen sie durch radikale
Abwehrgesten zu verarbeiten. Die Standardvokabel ist „Wie pathetisch“!

Sprecherin:
Aber spricht Paul Celan seine Texte wirklich im expressionistischen Pathoston? Von
seiner Lesung auf der Tagung der Gruppe 47 gibt es keine Tonaufnahmen. Doch
zwei Jahre später, im Jahre 1954, liest Paul Celan im Studio des damaligen
Süddeutschen Rundfunks unter anderem das Gedicht „Ich hörte sagen“ - und
vermittelt damit einen Eindruck von seiner schwebenden, musikalisch anmutenden
Vortragsweise in diesen Jahren:

O-Ton 24 - Paul Celan (Einspielung/Gespräch m. Karl Schwedhelm/Lesung):
Ich hörte sagen, es sei / im Wasser ein Stein und ein Kreis / und über dem Wasser
ein Wort,/ das den Kreis um den Stein legt. Ich sah meine Pappel hinabgehn zum
Wasser, / ich sah, wie ihr Arm hinuntergriff in die Tiefe, / ich sah ihre Wurzeln gen
Himmel um Nacht flehn. / Ich eilt ihr nicht nach, / ich las nur vom Boden auf jene
Krume, / die deines Auges Gestalt hat und Adel,/ ich nahm dir die Kette der Sprüche
vom Hals und säumte mit ihr den Tisch, / wo die Krume nun lag. /Und sah meine
Pappel nicht mehr.

Sprecherin:
An expressionistisches Pathos erinnert ein solcher fast schon singender
Rezitationsstil nicht. Eher an die älteren Burgtheater-Sprechtraditionen, wie sie
Alexander Moissi einst verkörpert hatte und die, durch Sprechschallplatten vermittelt,
ehemals auch in Celans Freundeskreis in der Bukowina populär gewesen waren.
Und auch gegen diese Sprechtradition hatte die Lehrergeneration der Autoren der
Gruppe 47 polemisiert. Es gab nationalsozialistische Sprecherzieher wie etwa Erich
Drach, die die Sprechweise eines Moissi als Negativbeispiel für - wen wundert es -
vorgeblich „jüdische Anverwandlungskunst“ denunzierten. Nach 1945 wiederum
identifizierte man in Forschung und Medien solch pathetische Sprechtraditionen mit
dem Nationalsozialismus, während die sachlich-nüchternen Sprechweisen als
Sprache des demokratischen Wiederaufbaus galten. Ein Mythos, meint Reinhart
Meyer-Kalkus:
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O-Ton 25 - Meyer-Kalkus:
Wir wissen doch, dass es auch in den 50er Jahren pathetisches Sprechen gegeben
hat. Wir wissen doch, dass es einen Oskar Werner, einen Klaus Kinsky, einen Will
Quadflieg gegeben hat - Schauspieler, die großes Pathos praktiziert haben. Kurz:
Das Sprechen vor 1945 als pathetisch zu bezeichnen, das nach 1945 als durch
Pathosschwund und Sachlichkeit gekennzeichnet, das ist schlicht Mythologie. Man
wird näher hinschauen müssen und man wird sehen, dass jede Zeit ihre spezifischen
pathetischen Ausdrucksmittel hat, dass sie allerdings auch ihre spezifischen
sachlichen Ausdrucksmittel hat und dass diese verschiedenen Ausdrucksmittel in
jeder Zeit eine ganz einzigartige Konstellation darbieten, die man nicht über den
groben Leisten Pathos oder Antipathos schlagen kann.

Sprecherin:
Der Fall Paul Celan zeigt, wie problematisch es sein kann, Rezitationsstile in
ethischen Kategorien zu bewerten. Dem 1965 geborenen Schriftsteller Marcel Beyer
jedenfalls scheint es geraten, jeder Rede mit Distanz zu lauschen:

O-Ton 26 - Marcel Beyer:
Diese enorme Macht, die eine Stimme haben kann und auch die Bereitwilligkeit von
Menschen, sich dieser Macht hinzugeben, ist natürlich ein Phänomen, das gerade
vor dem Hintergrund der politischen Geschichte immer eine große Rolle spielte, auch
für die Dichtung. Spricht man wie ein Politiker spricht? Brüllt man wie ein Politiker
brüllt? Muss man nicht heute - ich denke jetzt gerade an unsere unmittelbare
Gegenwart – eher ungeheuer misstrauisch werden, wenn ein Politiker sehr leise und
sehr sachlich spricht. Ich merke das so. Da werde ich aber sehr aufmerksam: Was
führt der dann im Schilde wenn er so vermeintlich zurückgenommen redet?

Sprecherin:
Mit der Wahrnehmung von Stimmen und Worten hat sich Marcel Beyer in seinen
Büchern immer wieder beschäftigt. Etwa in seinem frühen Roman „Flughunde“ aus
dem Jahr 1995, in dem er vom diabolischen Treiben eines fiktiven Akustikers
während der letzten Tage in Hitlers Führerbunker erzählt. Dass Marcel Beyer sich
auch ausgiebig mit der Lautpoesie Ernst Jandls auseinandergesetzt hat, erscheint da
nur schlüssig.

O-Ton 27 - Einspielung Ernst Jandl („Viel Vieh“ aus: Autorenlesung Jandl):
viel vieh/ o /so / viel vieh so o so viel vieh so o so viel vieh sophie(…) etc.

O-Ton 28 - Marcel Beyer:
Man kann zum Beispiel mit Ernst Jandl zeigen, wie er mit traditionellen
Rezitationsformen bricht: also das weihevolle Deklamieren von Hölderlin-Gedichten,
was bis in die 50er, fast 60er Jahre hinein verbreitet war. Also Ernst Jandl reagiert
darauf, ironisiert das, aber nicht einfach, indem er es bricht oder zerstört oder
konterkariert, sondern er zeigt mit seinen Sprechgedichten, die ja auch jedes Kind
gut nachsprechen kann, dass man ganz anderer Traditionen des Rezitierens
freilegen oder schaffen kann, die einfach von der Freude am Sprachmaterial leben
und nicht von der Hoffnung, dass uns ein Hölderlin in irgendwelche metaphysischen
Sphären entheben wird. Ich glaube, die Materialität der Sprache ist interessant und

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indem man dem seine Aufmerksamkeit schenkt, lernt man viel und man gewinnt
auch eine Aufmerksamkeit für die Stimmtöne, die einen umgeben.

Sprecherin:
Um diesen Effekt zu erzielen, bedarf es beim Verfassen von Gedichten zuweilen
einer Tonlage, die Marcel Beyer „trockenes Pathos“ nennt:

O-Ton 30 - Marcel Beyer:
Ich arbeite sehr gerne mit einem - wie ich es nenne - trockenem Pathos, das dann
mit einem Mal abbricht und sich hoffentlich dem Leser gegenüber als sehr trockener
Humor, als trockener Galgenhumor zu erkennen gibt. Ich arbeite sehr gerne mit der
Gegenüberstellung von Hochdeutsch und dialektalen oder regionalen Einsprengseln,
also versucht eigentlich, doch so etwas wie eine Mehrstimmigkeit aufzubauen oder
als möglichen Horizont immer präsent zu halten.

Sprecher/in.:
Und manchmal bedeutet dieser Begriff der Mehrstimmigkeit sogar, dass Marcel
Beyer sein Gedicht überhaupt nicht für den Vortrag durch die eigene Stimme
schreibt, sondern für einen Komponisten. Wie etwa Enno Poppe, für dessen
Opernkompositionen der Autor in den vergangenen Jahren mehrere Libretti verfasst
hat. „Wespe komm“ heißt ein Titel aus dem 2014 veröffentlichten Gedichtband
„Graphit“, den der Autor eigentlich für eine Singstimme geschrieben hatte - bis er
feststellte, dass er auch als Sprechgedicht funktioniert:

O-Ton 31 - Marcel Beyer („Wespe komm“):
Wespe, komm in meinen Mund,
mach mir Sprache, innen,
und außen mach mir was am
Hals, zeig’s dem Gaumen, zeig es
uns. So ging das. So gingen die
achtziger Jahre. Als wir jung
und im Westen waren. Sprache,
mach die Zunge heiß, mach
den ganzen Rachen wund, gib mir
Farbe, kriech da rein. Zeig mir
Wort- und Wespenfleiß, mach’s
dem Deutsch am Zungengrund,
innen muß die Sprache sein.

Atmo 2 Beifall: Applaus, Johlen im Publikum, ggf. mit folgendem Sprechertext
überblenden

Sprecherin:
Im Studentencafé in Frankfurt am Main nähert sich der Wham Bam Poetry Slam
seinem Ende. Aus den Finalisten des Wettbewerbs wird der Gewinner per Beifall
gekürt. Es ist Fatih mit seinem Rap-Gedicht.

O-Ton 33 - Fatih (Atmovorlauf Fatih summt):
Jeden Morgen werd‘ ich von neuem geboren, trage keine Sorgen, die mich überall
plagen, kein Platz für sie, ich musste sie abladen, um weiterzugehen und
                                                                                 10
weiterzusehen als meine Beine je bewältigen können, als meine Augen je bewältigen
können, kein Platz für sie ich musste sie abladen, um weiterzugehen um
weiterzusehen. [rappt] Beifall.

*****

Literaturliste

Reinhart Meyer-Kalkus:
„Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert“. Berlin (Akademie Verlag) 2001.

Lothar Müller:
„Die zweite Stimme. Vortragskunst von Goethe bis Kafka“. Berlin (Verlag Klaus
Wagenbach), 2007.

Doris Kolesch /Sybille Krämer (Hg.): „Stimme. Annäherung an ein Phänomen.“
Frankfurt/M (Suhrkamp), 2006.

Claudia Schmölders:
„Stimmen von Führern. Auditorische Szenen 1900-1945. „
In: Friedrich Kittler/Thomas Macho/Sigrid Weigel (Hg): Zwischen Rauschen und
Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme.
2.Auflage. S. 175-195. Berlin 2008.

Rüdiger Schaper:
„Moissi. Eine Schauspielerlegende“. Berlin (Argon Verlag) 2000.

Michael Lentz:
„Atmen, Ordnung, Abgrund. Frankfurter Poetikvorlesungen.“ Frankfurt/M (S. Fischer
Verlag) 2013.

(Eine vollständige Liste seiner Publikationen findet sich auf der Webpage des
Künstlers unter: www.michaellentz.com)

Marcel Beyer:
„Flughunde“. Roman. Frankfurt/M (Suhrkamp) 1995

Marcel Beyer:
„Kaltenburg“. Roman. Frankfurt/M (Suhrkamp) 2008

Marcel Beyer:
„Graphit. Gedichte.“ Frankfurt/M (Suhrkamp) 2014.

Hinweis:
Unter „www.lyrikline.org“ betreibt die Literaturwerkstatt Berlin eine Internet-Plattform
mit Audioaufnahmen bekannter Dichterstimmen: Lyriker aus unterschiedlichen
Nationen rezitieren ihre eigenen Werke in ihrer jeweiligen Sprache. Hineinhören lohnt
sich!

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