Symptom- und Beschwerdevalidierung chronifizierter Schmerzen in sozialmedizinischer Begutachtung
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Übersichten Schmerz 2009 R. Dohrenbusch DOI 10.1007/s00482-009-0788-3 Abteilung für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Biopsychologie, © Deutsche Gesellschaft zum Studium Institut für Psychologie, Universität Bonn des Schmerzes. Published by Springer Medizin Verlag - all rights reserved 2009 Symptom- und Beschwerdevalidie- rung chronifizierter Schmerzen in sozialmedizinischer Begutachtung Teil I: Terminologische und methodologische Zugänge Nach vorliegenden Schätzungen stellen bis wendung psychologischer Testprinzipien denz, Aggravation und Simulation un- zu 30–40% der Patienten mit chronischen kontrolliert werden können. Der vorlie- terschieden [20, 35, 41, 42, 43]. „Verdeut- Schmerzen in sozialmedizinischer Begut- gende erste Teil begründet aus der Kri- lichungstendenz“ bezeichnet die unwill- achtung ihre Beschwerden nicht realis- tik an der derzeitigen Begutachtungspra- kürlich übertreibende Darstellung ge- tisch dar [29, 31]. Den geschätzten Basis- xis ein gestuftes Vorgehen, das eine stär- sundheitlicher Beschwerden aus dem raten steht eine vergleichsweise schwache kere Umsetzung testtheoretischer und Motiv heraus, den Untersucher von der explizite Berücksichtigung möglicher psychodiagnostischer Prinzipien bei der Schwere der Erkrankung zu überzeu- Fehlerquellen gegenüber. Merten [30] und Begutachtung Schmerzkranker vorsieht. gen. Aggravation steht für die absichtlich Aronoff et al. [1] beklagen einen zurück- Der zweite Teil, „Analyseebenen und Be- verfälschend übertreibende Darstellung haltenden Umgang vieler Gutachter mit wertungsvorschläge“ [10], konkretisiert vorhandener Beschwerden zu bestimm- dem Problem willentlich verzerrter Be- Möglichkeiten einer testtheoretisch hin- ten Zwecken, Simulation für das Vortäu- schwerden, obwohl Studien zeigen, dass reichend begründeten, aber auch ökono- schen nicht vorhandener Beschwerden. Patienten ihre Beeinträchtigungen im misch vertretbaren Beschwerdevalidie- Allerdings fehlen für diese Differenzie- Streit um Entschädigungs- oder Renten- rung. Dazu werden Funktionsebenen aus- rungen bislang überzeugende Operatio- zahlungen tendenziell stärker hervorhe- gewählt, für die eine Validierung erfolgen nalisierungen [2, 13]. ben als Patienten im Therapiesetting [3, sollte, und es werden Vorschläge für kon- Um von vorgetäuschten Beschwerden 4, 19, 38]. Kausalanalysen zeigen, dass di- krete Validierungsmaßnahmen und Ent- sprechen zu können, sollte nach aktuellen ese Hervorhebungen zumeist tatsächlich scheidungshilfen insbesondere bei Ver- Regelungen zum einen Bewusstseinsnä- eher Folge als Ursache von Entlastungs- dacht auf fraglich gültige Beschwerden he nachgewiesen werden, zum anderen motiven sind [40]. Neuropsychologische unterbreitet. sollten die Beschwerden „nicht aus der Studien belegen zudem, dass Testmotive Beide Beiträge richten sich an Ärzte Untersuchungssituation heraus erklär- das gezeigte Funktionsniveau häufig stär- und Psychologen, die Personen mit chro- bar sein“ [20, 23, 41]. Die Bewusstseinsnä- ker bestimmen als objektive gesundheit- nischen Schmerzen und schmerzbeglei- he verzerrter Beschwerdeschilderungen liche Schäden [18]. Aufgabe der Sachver- tenden psychischen Störungen im sozial- kann derzeit aber weder für Schmerzen ständigen ist es daher, vor der sozialrecht- oder zivilrechtlichen Kontext begutachten noch für andere psychische Symptome lichen Bewertung die Gültigkeit des be- und mit psychodiagnostischen Methoden oder psychosomatische Beschwerden klagten Beschwerdebildes zu sichern. weniger vertraut sind. hinreichend zuverlässig bestimmt wer- Um dies leisten zu können, ist eine den. Zwar existieren experimentelle Me- Ausrichtung des gutachterlichen Vorge- Terminologische Probleme: thoden, die eine Unterscheidung willent- hens an psychodiagnostischen Konzepten Die Unterscheidung von licher und unwillentlicher Antwortver- und Methoden unabdingbar. Selbstbe- „Verdeutlichung“, „Aggravation“ zerrungen und Reaktionsmuster wahr- richte über Schmerzen unterliegen eben- und „Simulation“ ist scheinlichkeitsbasiert ermöglichen [19, so wie Angaben zu Funktions- und Leis- operational ungesichert 27]. Auf die Analyse verfälschter Klagen tungsbeeinträchtigungen Interpretations- über Schmerzen und Funktionsbeein- risiken, die erst durch den Einsatz psy- In der Begutachtungspraxis wird ge- trächtigungen sind diese Verfahren (z. B. chodiagnostischer Verfahren und die An- meinhin zwischen Verdeutlichungsten- implizite Assoziationstests, Prozess-Dis- Der Schmerz 2009 |
Übersichten soziations-Paradigma) bislang aber nicht lation“, „Aggravation“ und „Verdeutli- F das individuelle Antwortmuster vom angewendet worden. chungstendenz“, die eine geeignete Dif- Antwortmuster anderer Personen mit Ebenfalls operational ungesichert ist ferenzierungsmethodik bereits voraus- gleichem Störungsbild abweicht (Vali- die Ausrichtung an der Situationsange- setzen, stellt der Validierungsbegriff den ditätsproblem), messenheit des Untersuchungsverhal- Untersuchungsprozess selbst bzw. das F die Aussagen des Probanden von ei- tens [9, 35]. Die Angemessenheitsbewer- methodische Vorgehen zur Identifikati- genen früher gemachten Aussagen tung unterliegt wesentlich dem subjek- on fraglich gültiger Angaben in den Mit- abweichen (Reliabilitätsproblem), tiven Eindruck des Sachverständigen. Als telpunkt. F Differenzen zwischen Aussagen oder Interpretationshilfe werden in der psych- Die Etablierung des Validierungsbe- Testergebnissen auf Zufallsschwan- iatrischen Literatur die Gegenübertra- griffs in der Aggravationsforschung ging kungen zurückzuführen sind (Relia- gungsreaktionen des Gutachters genannt von der Entwicklung neuropsycholo- bilitätsproblem) oder [14]. Aus psychodiagnostischer Sicht un- gischer Symptomvalidierungstests aus F sich kontrolliert variierte Itemschwie- terliegt aber auch ein geschulter Gutach- [30]. Deren Prinzip besteht in der Vorga- rigkeiten auf das Lösungsverhal- ter vielfältigen unkontrollierten Einflüs- be von Testaufgaben, die so leicht zu lö- ten auswirken (Validitätsproblem bei sen durch die Auswahl von Informati- sen sind, dass sie problemlos auch von Symptomvalidierungstests). onen, die Gewichtung von Zufällen, die schwer objektiv geschädigten Probanden Auswahl von Vergleichsnormen und er- bewältigt werden können [24]. Wenn ob- Derartige Vergleiche erfordern in der Re- fahrungsabhängige Akzentuierungen jektiv leicht geschädigte Probanden auf- gel Testverfahren mit ausreichender Mess- [28]. Die Ausrichtung der Aggravations- fällig viele Fehler machen, spricht das ge- und Testgüte. Individuelle Antwortten- und Simulationsdiagnostik an der Bewer- gen die Gültigkeit der Ergebnisse. Zu- denzen, motivationale Einflüsse auf Ant- tung der Situationsangemessenheit durch gleich lässt sich so die Gültigkeit von Be- wortverhalten, die Kontextabhängigkeit den Gutachter erscheint insofern proble- schwerdeaussagen zufallskritisch abschät- von Beschwerden oder intraindividuelle matisch und mit testtheroretischen Prin- zen. Zwar lässt sich das Messprinzip dieser Konsistenzen sind nur mit Hilfe genorm- zipien nicht vereinbar. Weder das Merk- Tests nicht auf alle Aspekte der Begutach- ter, hinreichend reliabler und valider Er- mal der Bewusstseinsnähe noch das der tung chronischer Schmerzpatienten über- hebungsverfahren überzeugend zu beur- Situationsangemessenheit stützen sich tragen, doch unterstreicht der Einsatz die- teilen. Eine Exploration, die auf Kontroll- demnach auf eine überzeugende metho- ser Verfahren die Vorteile einer Ausrich- fragen und Messwiederholungen verzich- dologische Grundlage. Der Wert der Un- tung an testtheoretischen Prinzipien und tet, eignet sich demgegenüber nur sehr terscheidung von Verdeutlichungsten- Gütekriterien [28]: bedingt zur Beschwerdevalidierung. Auch denz, Aggravation und Simulation für die F Normierung, schriftliche Einpunktmessungen etwa zur gutachterliche Praxis wird dadurch relati- F Objektivität, Schmerzintensität sind bei fraglicher Re- viert. Auch in den aktuellen Leitlinien der F Reliabilität, liabilität zur Beschwerdevalidierung nicht medizinischen Fachgesellschaften finden F Validität, geeignet. sich zu dieser Unterscheidung kaum Prä- F Nützlichkeit, Zugleich sind multiple Vergleiche er- zisierungen [43]. Zwar wird betont, dass F Zumutbarkeit, forderlich, um Entscheidungen über die die Aufgabe des Sachverständigen u. a. in F Unverfälschbarkeit. Wahrscheinlichkeit ungültiger Schmerz- einer umfassenden Konsistenzprüfung und Beschwerdedarstellungen auf eine der geklagten Beschwerden und Beein- Diese Ausrichtung sollte auch bei der Be- möglichst breite empirische Grundlage trächtigungen bestehe. Zugleich werden gutachtung von Personen mit chronischen stellen zu können. Datenvielfalt durch ver- aus Erfahrungswerten abgeleitete Hinwei- Schmerzen ihren Ausdruck finden. schiedene Datenquellen (körperliche Un- se auf wahrscheinlich aggraviert vorgetra- tersuchung, Selbstbericht, Fremdbericht, gene Funktionsbeeinträchtigungen gege- Überlegungen zur Verhaltensbeobachtung) und Untersu- ben. Ein Bezug zur Unterscheidung von Beschwerdevalidierung chungsmethoden (Exploration, Fragebo- Verdeutlichungstendenz und Aggravati- gen, Antworttendenzskalen, Symptomva- on/Simulation fehlt aber. Im Gegensatz zu Merkmalen wie „Be- lidierungstest, Funktions- und Leistungs- Demgegenüber hat sich in der For- wusstseinsnähe“ und „Situationsange- tests, Labortests) mit unterschiedlichen schung zur Aggravationsdiagnostik in messenheit“ des Verhaltens kann die An- zeitlichen Bezügen (State-vs.-trait-Merk- den letzten Jahren der Begriff der Symp- wendbarkeit gängiger Testprinzipien wie male) liefert dazu die Grundlage. Weder tom- bzw. Beschwerdevalidierung stär- Normierung, Testgenauigkeit (Reliabi- eine Einzelinformation noch eine einzel- ker durchgesetzt. Validierung bezeich- lität) und Validität am Einzelfall geprüft ne diagnostische Methode genügen in der net Maßnahmen zur inhaltlichen und werden. So kann kontrolliert werden, in Regel den Anforderungen einer zuverläs- statistischen Absicherung von Schluss- welchem Umfang sigen Beschwerdevalidierung. folgerungen, die aufgrund eines Tester- F eine Person zu motivational ver- In diesem Zusammenhang ist auf die gebnisses in Bezug auf ein Zielmerkmal zerrten Antwortmustern wie z. B. Zu- kritische Haltung gegenüber standardi- (z. B. „Schmerzintensität“) gezogen wer- stimmungstendenzen neigt (Validi- sierten und normierten psychologischen den [28]. Anders als die Begriffe „Simu- tätsproblem), Erhebungsverfahren in der Begutach- | Der Schmerz 2009
Zusammenfassung · Abstract tungsliteratur hinzuweisen, die nach un- Schmerz 2009 DOI 10.1007/s00482-009-0788-3 serer Auffassung sachlich nicht begründet © Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes. Published by Springer Medizin Verlag - all rights reserved 2009 ist. So heißt es u. a. in der aktuellen Leitli- nie zur Begutachtung von Schmerzen [42] R. Dohrenbusch pauschal, dass Selbsteinschätzungsskalen Symptom- und Beschwerdevalidierung chronifizierter und Fragebögen für die Begutachtungs- Schmerzen in sozialmedizinischer Begutachtung. situation nicht valide seien. In der Argu- Teil I: Terminologische und methodologische Zugänge mentation wird ein einheitlicher Validie- rungsbegriff voraussetzt, den es so nicht Zusammenfassung gibt [11, 28]. Bislang liegen unseres Wis- Schmerzbedingte Funktions- und Leistungs- und normierten Verfahren wird ein beson- sens keine empirischen Belege dafür vor, beeinträchtigungen sind häufiger Anlass für derer Stellenwert für die Beschwerdevalidie- dass sich die für die Beschwerdevalidie- sozialmedizinische Begutachtungen. Bislang rung beigemessen. Für die gutachterliche rung besonders wichtige konvergente und existieren nur wenige Standards zum Um- Praxis ergibt sich ein adaptives Vorgehen, diskriminante Validität, die durch Ver- gang mit bewusstseinsnah verzerrten Klagen das den Einsatz aggravationssensitiver Me- gleich verschiedener Messverfahren an über Beschwerden und Beeinträchtigungen. thoden von Screeningergebnissen abhängig Die derzeitigen Empfehlungen und Begut- macht und den Validierungsaufwand bei Ver- einer Stichprobe ermittelt wird, unter Be- achtungsleitlinien orientieren sich an der Un- dacht auf fraglich ungültige Angaben schritt- gutachtungsbedingungen anders darstellt terscheidung von Verdeutlichungstendenz, weise erhöht. als unter Behandlungsbedingungen. Ob Aggravation und Simulation. Diese ist aber z. B. das Konstrukt „affektive Schmerz- operational nur unzureichend gesichert. Als Schlüsselwörter qualität“ konstruktvalide ist, hängt nicht Alternative wird eine Ausrichtung des Un- Sozialrechtliche Begutachtung · Schmerz- davon ab, ob es an einer Begutachtungs- tersuchungsvorgehens am Validierungsbe- therapeutische Begutachtung · Chronische griff und an psychologischen Mess- und Test- Schmerzen · Beschwerdevalidierung · Aggra- stichprobe oder einer Behandlungsstich- prinzipien vorgeschlagen. Standardisierten vation · Simulation probe gemessen wurde, sondern davon, wie hoch das Messverfahren mit ande- ren Verfahren korreliert, die unter sonst gleichen Bedingungen das gleiche Merk- Symptom and complaint validation of chronic pain in social medical mal (oder ggf. ein komplementäres Merk- evaluation. Part I: Terminological and methodological approaches mal bei diskriminanter Validität) messen. Ein intraindividueller Vergleich individu- Abstract malized psychological assessment methods eller Messwerte, die auf vergleichbaren Chronic pain accompanied by disability and and symptom validation techniques should Normierungen an klinischen Stichpro- handicap is a frequent symptom necessitat- be used in the assessment of subjects with ben oder repräsentativen Bevölkerungs- ing medical assessment. Current guidelines chronic pain problems. An adaptive proce- for the assessment of malingering suggest dure for assessing the validity of complaints stichproben basieren, ist daher auch un- discrimination between explanatory demon- is suggested to minimize effort and costs. ter Begutachtungsbedingungen durchaus stration, aggravation and simulation. Howev- möglich. er, this distinction has not clearly been put in- Keywords Ein weiterer Einwand gegen den Ein- to operation and validated. The necessity of Medical assessment · Pain therapy assess- satz psychologischer Messverfahren in assessment strategies based on general prin- ment · Chronic pain · Symptom validation · der Begutachtung betrifft die Normie- ciples of psychological assessment and test- Aggravation · Simulation ing is emphasized. Standardized and nor- rung der Instrumente. Es wird argumen- tiert, die Verfahren seien nicht an Pro- banden im Begutachtungskontext nor- miert und daher für diese Zielgruppe ungeeignet. Dem ist zu entgegnen, dass das relevante Vergleichskollektiv in so- zialrechtlicher Begutachtung in der Re- gel nicht Personen in der Begutachtung sind, sondern Versicherte ohne gesund- heitliche Beeinträchtigungen. Ob und wie sehr die Klagen eines Begutachte- ten von den Klagen anderer Begutachte- ter abweichen, ist rechtlich nachrangig. Bedeutsam ist vielmehr, wie sehr sich die begutachteten Probanden von nicht kranken, normal leistungsfähigen Nor- malpersonen der gleichen Altersgruppe unterscheiden. Der Schmerz 2009 |
Übersichten Tab. 1 Übersicht über mögliche Datenquellenvergleiche zur Beurteilung von Inkonsistenzen in der Begutachtunga Interview Fragebogen Untersuchungsverhalten Leistungstest Physiologische Fremdbericht Merkmale Interview (c) x x x x x Fragebogen (g) x x x x Untersuchungsverhalten x x x Leistungstest (d) (e) x x Physiologische Merkmale (a) (b) x Fremdbericht (f) aErläuterung an Beispielen im nachfolgenden Text. Bevölkerungsnormierte Verfahren und für die Begutachtung von Personen terdurchschnittliche Leistungen im sind deshalb geeignet für die Begutach- mit chronischen Schmerzen im Besonde- Konzentrationstest (e); tung, weil sie den rechtlich geforderten ren [2, 9, 13, 14, 18, 24, 31, 37, 41, 42, 43]. In- F zwischen Selbstberichten und Fremd- Vergleich mit der Allgemeinbevölkerung konsistenzen können innerhalb einer Da- berichten; Beispiel: Laut Entlassungs- leisten [11]. Unabhängig davon ist selbst- tenebene, zwischen verschiedenen Da- bericht habe der Patient keine anal- verständlich mittels geeigneter Metho- tenebenen, zwischen verschiedenen Da- getische Medikation mehr gebraucht, den zu prüfen, inwiefern die Angaben tenquellen oder zwischen verschiedenen der Proband gibt aber schriftlich für und Testleistungen durch motivationale Messmethoden bestehen. Eine Übersicht die fragliche Zeit einen intensiven Bedingungen, Antworttendenzen oder über Vergleichsmöglichkeiten in der Be- Medikamentenkonsum an (f); Entlastungsmotive beeinflusst sind. Erst gutachtung chronisch Schmerzkranker F zwischen Ergebnissen des Probanden nachdem solche Einflüsse durch geeig- gibt . Tab. 1. Demnach können unter- in verschiedenen konvergent validen nete Beschwerdevalidierungsmaßnahmen schiedliche Datenquellen, aber auch In- Funktionstests oder Fragebögen. Bei- (z. B. Kontrollskalen) ausgeschlossen wur- formationen derselben Datenquelle mit- spiel: Ein Proband erzielt bei Fragen den, können die zugrunde gelegten Test- einander verglichen und auf Konsistenz zu depressiven Symptomen im De- normen interpretiert werden. Umgekehrt geprüft werden. pressionsfragebogen weit überdurch- sagt ein Verfahren, das an Probanden in Die verschiedenen Vergleiche werfen schnittliche, im Persönlichkeitsfrage- der Begutachtung normiert wurde, we- jeweils unterschiedliche Reliabilitäts- und bogen knapp durchschnittliche Wer- nig darüber aus, ob die ggf. abweichende Validitätsprobleme auf, die bei der Inter- te, obwohl die Konstrukte hoch kon- Norm durch krankheitsbedingte Verän- pretation möglicher Inkonsistenzen be- vergent valide sind (g). derungen oder willentliche Verzerrungen rücksichtigt werden müssen. Bei Klagen zustande gekommen ist. Eine gesonderte über chronische Schmerzen und deren Die Tabelle macht deutlich, dass selbst Beschwerdevalidierung ist demnach auch Auswirkungen können z. B. Inkonsisten- umfangreiche Inkonsistenzprüfungen in bei denjenigen standardisierten Fragebö- zen bestehen der Regel nur einen begrenzten Teil aller gen und Testverfahren unverzichtbar, die F zwischen subjektiven Beschwer- möglichen Vergleiche betreffen. Dabei ist an Gutachtenkollektiven standardisiert den und körperlichen Prozess- oder zu berücksichtigen, dass nicht alle Inkon- und normiert wurden. Strukturmerkmalen; Beispiel: Münd- sistenzen als Hinweise auf invalide Anga- Mit anderen Worten: Die ganz über- lich (a; . Tab. 1) oder schriftlich (b) ben interpretierbar sind. Fishbain et al. wiegende Anzahl bevölkerungsnormier- beklagte „bandscheibenbedingte“ [13] konnten in einer Metaanalyse zeigen, ter psychologischer Testverfahren ist Schmerzen passen nicht zum Derma- dass sich Inkonsistenzen zwischen subjek- selbstverständlich auch unter Begutach- tom [13, 23]; tiven Klagen und anatomischen Bedin- tungsbedingungen einsetzbar, allerdings F innerhalb eines Messverfahrens; Bei- gungen oder physiologischen Mechanis- nur von Sachverständigen, die in der La- spiel: Der Patient gibt zunächst im In- men häufig nicht zur Beschwerdevalidie- ge sind, vorhandene Verfälschungsten- terview an, selbst leichteste körper- rung eignen. Inkonsistenzen sind je nach denzen und Verzerrungen zufallskritisch liche Tätigkeiten schmerzbedingt zu bewertendem Merkmal unterschied- zu identifizieren und diese bei der Ergeb- nicht mehr durchführen zu kön- lich zu bewerten. Widerspricht sich der nisinterpretation zu berücksichtigen. nen und berichtet später über mittel- Proband selbst, muss v. a. die Abhängig- schwere Gartenarbeit (c); keit der Angaben von den Befragungs- Zur Bedeutung von F zwischen geklagten Beschwerden und und Kontextbedingungen geprüft wer- Inkonsistenzen dem Untersuchungsverhalten; Bei- den. Widerspricht er anderen Personen, spiel: Der Proband argumentiert im muss geprüft werden, ob die Personen, Methodenübergreifend gilt der Nachweis Interview dauerhaft wach und kon- deren Aussagen verglichen werden, über von Inkonsistenzen als wichtigster Zu- zentriert, klagt aber im Fragebogen die gleiche Daten- bzw. Wissensbasis ver- gang zur Beschwerdevalidierung in so- über ständige massive Konzentrati- fügen. Berichtet z. B. eine Probandin über zialmedizinischer Begutachtung generell onsprobleme (d) und erzielt weit un- tägliche Krankengymnastik, während der | Der Schmerz 2009
Ehepartner angibt, er wisse nichts davon, Tab. 2 Reliabilitäten ausgewählter psychologischer Testverfahren zur Erfassung ist das nicht inkonsistent, so lange die- von Schmerzmerkmalen, schmerzassoziierten Beschwerden und schmerzbedingten se Einschätzungen auch auf eine unter- Beeinträchtigungen schiedliche Wissensbasis der Befragten Testverfahren α rtt VAL zurückgeführt werden können. Inkonsis- Allgemeine Depressionsskala [22] 0,79–0,95 EB tenzen zwischen Aktenbefunden und ak- Beeinträchtigungs-Schwere-Score [34] 0,90 AF tuellen Ergebnissen können durch zeitbe- Beschwerdenliste [44] 0,91–0,96 0,85–0,96 B dingte Veränderungen oder unterschied- Brief Symptom Inventory [15], Skala Somatisierung 0,63–0,85 0,68–0,83 B liche Untersuchungskontexte bedingt Brief Symptom Inventory [15], Gesamtwert 0,92–0,96 0,90–0,93 EB sein. Bevor also Inkonsistenzen als Indi- Fragebogen zur Erfassung der Schmerzverarbeitung [17] 0,77–0,88 0,79–0,84 zien für ein fraglich gültiges Antwortver- Skala Schmerzbedingte psychische Beeinträchtigung 0,83–0,92 0,81–0,83 EB halten bewertet werden, müssen die spe- Gießener Beschwerdebogen [5] 0,75–0,94 B zifischen Interpretationsvoraussetzungen Hamburger Schmerz-Adjektiv-Liste [25] 0,80–0,90 0,80 S geprüft werden. Hypochondrie-Hysterie-Inventar [39] 0,90 KÄ Konzentrations- und Merkfähigkeitstests (div. Autoren) 0,85–0,96 >0,85 AF Hinweise zur Interpretation MMPI-2, Skala Arbeitsstörung [21] 0,84–0,85 0,86–0,88 AF von Inkonsistenzen MMPI-2, Skala Gesundheitssorgen [21] 0,83 -0,85 0,82–0,88 EB MMPI-2, Skala Hypochondrie [21] 0,68–0,74 0,71–0,84 B, KA Am ehesten spricht es für eine einge- MMPI-2, Skala Psychasthenie [21] 0,87–0,88 0,83–0,90 EB schränkte Gültigkeit der Beschwerden, Pain Disability Index [8] 0,88 AF wenn der Proband sich inkonsistent zu Profil der Lebensqualität chronisch Kranker [36] >0,80 >0,80 AF, EB sich selbst äußert oder verhält, wenn er Schmerzempfindungsskala [16] 0,72–0,98 0,89–0,98 S sich z. B. in Bezug auf Behandlungsmaß- Screening für somatoforme Störungen [32] 0,79–0,88 0,76–0,87 B nahmen im Untersuchungsverlauf selbst SF-36, Fragebogen zum Gesundheitszustand [6] 0,57–0,94 AF widerspricht [9]. Dabei erfordert ein di- α innere Konsistenz, rtt Retest-Reliabilität, VAL Validierungsergebnisse zur Beurteilung von Inkonsistenzen rekter Vergleich in der Regel konkrete und liegen vor. eindeutige Aussagen (z. B. „Ich kann noch B körperliche Beschwerden, S Schmerzqualität, EB emotionale Beeinträchtigung, KÄ Krankheitsängste, etwa 20 min/einen Kilometer ohne Hil- AF allgemeine Funktionsbeeinträchtigung. fe gehen“). Bei Aussagen mit uneindeu- tigem zeitlichem oder thematischem Be- lide. Da inkonsistente und stereotype Ant- Die zufallskritische Differenz bemisst sich zug ist die Vergleichbarkeit eingeschränkt wortmuster gleichermaßen Indikatoren dann nach [28]. Eine Inkonsistenz kann dann erst einer fraglich validen Beschwerdedarstel- bei erheblicher Abweichung interpretiert lung sein können, sind konsistente Ant- diff ( X1-X2 ) = z a · SX · 2 - (r11 + r22 ) werden. worten kein Gültigkeitsbeweis. Dabei ist zu berücksichtigen, dass F mit diff(X1-X2) = kritische Differenz der zeitliche Bezug und die Konkret- Zufallskritische Absicherung zwischen Testscore X1 und X2, heit der Fragen bei einer Befragung zu inkonsistenter Testergebnisse F zα = Rest- bzw. Fehlerwahrscheinlich- Schmerzen in Wechselbeziehung ste- keit (die Entscheidung soll auf dem hen und das Befragungsergebnis wech- Inkonsistenzen sind umso eindeutiger als 5%-Fehlerniveau getroffen werden), selseitig beeinflussen. Patienten mit dau- Hinweise auf fraglich gültige Angaben in- F SX = Standardabweichung der Norm- erhaft ausgedehnten Schmerzen neigen terpretierbar, je zuverlässiger sie gegen werte (bei x-normierten Werten SX = dazu, bei differenzierter Befragung sys- zufällige Inkonsistenzen abgesichert wer- 10), tematisch mehr Schmerzen anzugeben den können. Eine zufallskritische Bewer- F r11 = Reliabilität des Tests 1, als bei globaler Befragung [12]. Die Ab- tung des Einzelfalls kann nur mit Hilfe F r22 = Reliabilität des Tests 2. hängigkeit der Angaben von spezifischen reliabler und valider Messverfahren erfol- Befragungsbedingungen spricht zwar ge- gen. Sie ist daran gebunden, dass die zu Beispiel: Ein Proband erzielt im Brief gen die Validität der Angaben, nicht aber beurteilenden Merkmale (z. B. Testwerte Symptom Inventory (BSI) einen über- für willentliche und zielgerichtete Verfäl- zu Beschwerden oder Funktionsbeein- durchschnittlichen Gesamt-T-Wert von schungen. trächtigung) ausreichend reliabel mit ei- 67 und in der Skala „Emotionale Labilität“ Ein weiteres Interpretationsproblem ner inneren Konsistenz von etwa α ≥0,90 des Freiburger Persönlichkeitsinventars besteht darin, dass Antwortmuster durch gemessen werden [26] und die zu prü- (FPI-R) einen durchschnittlichen T-Wert stereotypes Antwortverhalten scheinbar fenden Merkmale zugleich konvergent von 59. Die Messwerte weichen also um „konsistent“ gemacht werden können. valide sind, sodass von hoher Ausprä- 8 Punkte voneinander ab. Beide Dimen- Die Angabe maximaler Schmerzintensi- gung in dem einen Test/Fragebogen auf sionen bilden Beeinträchtigungen durch tät unter wechselnden Bedingungen ist eine vergleichbar hohe Ausprägung im psychische und körperliche Beschwerden zwar konsistent, aber nicht notwendig va- Vergleichstest geschlossen werden kann. ab und sind nachweislich konvergent va- Der Schmerz 2009 |
Übersichten Gutachterliche Prüfmerkmale Validierungsrelevante Anforderungen Entscheidungen Sicherung der Diagnose ungesichert Sicherung der kein nach ICD-10 Krankheits- Validierungs- Ausschluss von wertigkeit bedarf Verdachtsdiagnosen keine Abweichung körperlicher / Abweichung kein Alterskorrektur psychischer / sozialer Funk- Validierungs- tionen von der Altersnorm bedarf Grad der Behinderung, Validierungs- Minderung der bedarf für Akti- Erwerbsfähigkeit vität/Partizipation Auswahl rele- vanter Validie- rungsbereiche Validierungsbe- Kausalität darf prämorbides Funktionsniveau Validierungs- screening Validierung Analyse Vorberichte / unauffällig ausreichend Beschwerde- und Ausrichtung an Behandlungsinformation klin. Befunden auffällig Vertiefende Validierungs- unauffällig Ausrichtung Beschwerde- diagnostik: Konsistenz- an klinischen validierung bei prüfung, Kontrollskalen, Befunden Ausgangsverdacht Symptomvalidierungstests, multiple Normvergleiche Relativierung der klinischen Abb. 1 9 Ablaufschema inkonsistent/auffällig Befunde zur adaptiven Beschwerde- validierung (Erläuterung im Text) lide (Korrelationen von r=0,73). Die Re- tigung durch psychische Symptome und tionsbeeinträchtigungen vorliegen und liabilität des BSI-Werts liegt laut Testma- Beschwerden inkonsistent, wäre in die- deren Zahl ständig wächst. Die rech- nual bei α=0,92, die der FPI-R-Skala bei sem Fall nicht zulässig. te Spalte enthält einen Hinweis zur kon- α=0,83. Eine Übersicht über ausgewählte Test- vergenten Validität. So sind z. B. die Ska- Die kritische Differenz liegt bei diff(BSI- verfahren und die in den Testhandbü- la „Schmerzbedingte psychische Beein- FPI) = 1,96×10×√2−(0,92+0,83)=9,8. In chern angegebenen Reliabilitäten, die trächtigung“ der FESV [17] und der Ge- diesem Fall ist die beobachtete Differenz zur zufallskritischen Überprüfung von samtwert der Allgemeinen Depressions- bei einer Fehlerwahrscheinlichkeit von Inkonsistenzen genutzt werden können, skala [22] aufgrund der im Testhandbuch 5% kleiner als die kritische, d. h. die Dif- gibt . Tab. 2. Die Zusammenstellung ist angegebenen Korrelation von r=0,70 ferenz kann durch die Messungenauig- exemplarisch, weil derzeit über 500 va- konvergent valide in Bezug auf die Beur- keit erklärt werden. Die Interpretation, lidierte Verfahren zur Beurteilung bio- teilung emotional-affektiver Beeinträch- der Proband beschreibe die Beeinträch- psychosozialer Funktionen und Funk- tigungen (EB). | Der Schmerz 2009
Begutachtungsökonomie: Tab. 3 Beschwerdevalidierungsscreeninga Beschwerdevalidierung Datenquelle Verdachtsmerkmale als adaptiver Prozess Vorberichte/ Vordiagnose „Entwicklung körperlicher Symptome aus psychischen Vorgutachten/ Gründen (ICD-10:F68.0)“ Die Komplexität der Beschwerdevalidie- sonstige Akteninformation Formulierungen in Vorgutachten wie z. B. „Verdeutlichungsten- rung in sozialmedizinischer Begutach- denz“, „auffällig demonstratives Schmerzverhalten“, „Aggravation“, „Zweckreaktion“, „tendenziöse Darstellung“, „offensichtliches Ren- tung erfordert praxistaugliche Lösungen. tenbegehren“ Es würde die zeitlichen und finanziellen Belege über wiederholte Rentenanträge bei dauerhaft schlechten Möglichkeiten der Begutachtungspra- Arbeitsleistungen xis überfordern, wollte man für alle rele- Beschwerdeinformation Angaben zu Hauptbeschwerden, Aktivität oder Partizipationsstö- vanten Funktions- und Partizipationsebe- aus der Untersuchung rungen sind auffällig inkonsistent nen umfassende Validitätskontrollen vor- Klagen stimmen nicht mit dem Untersuchungsverhalten überein nehmen. Als Lösung wird ein adaptives Beschwerden wirken übertrieben oder demonstrativ verzerrt Inhaltliche Festlegungen werden vermieden Procedere zur Beschwerdevalidierung Es werden sehr unwahrscheinliche Symptome oder Beschwerden vorgeschlagen, das abhängig von Zwi- beklagt schenergebnissen eine Ausweitung oder Schmerz- oder beschwerdemodulierende Einflüsse werden stereo- Abkürzung der weiteren Validierungsbe- typ verneint mühungen vorsieht. Das Procedere glie- Behandlungsinformationen Leugnung jeglichen Behandlungserfolgs dert sich in einen 5-stufigen Ablauf, der in aus der Untersuchung Hinweise auf mangelnde Behandlungscompliance Kontrolle des Serumspiegels: Pharmaka werden abweichend von . Abb. 1 veranschaulicht ist. Die einzel- der Verschreibung in therapeutisch unwirksamer Dosierung einge- nen Stufen werden nachfolgend erläutert. nommen aDatenquellen und Merkmale, die einen Ausgangsverdacht auf fraglich gültige Angaben begründen können. Stufe 1: Sicherung der Krankheits- wertigkeit der Beschwerden oder seelischen Gesundheit von dem wenn die Selbstwahrnehmung des Pro- Es gilt die Ausrichtung an den ICD-10- für das Lebensalter typischen Zustand“. banden Teil einer krankheitswertigen oder DSM-IV-Kriterien, weil sich bei un- Zu beurteilen ist daher die schmerz- Störung ist, besteht noch weiterer Vali- sicherem oder fehlendem Nachweis des bedingte „Regelwidrigkeit gegenüber dierungsbedarf. Krankheitswerts (z. B. bei Bezeichnungen dem für das Lebensalter typischen Zu- wie „Verdacht auf …“ oder „subsyndro- stand“. Schmerzsyndrome bei degenera- Stufe 3: Auswahl relevanter male Störung“) weitere Validierungsbe- tiven Wirbelsäulenveränderungen (z. B. Validierungsbereiche mühungen erübrigen. Bei Klagen über Schulter-Arm-Syndrom, Lumbalgie) chronifizierte Schmerzen ist zu prüfen, ob werden indessen nicht als Anzeichen al- Die Auswahl relevanter Validierungsbe- eine somatoforme Störung vorliegt. Dazu tersbedingter Veränderungen bewertet, reiche bemisst sich zum einen an der gut- dürfen die Schmerzen nicht absichtlich er- weil sie „nicht regelmäßig und nicht nur achterlichen Fragestellung, zum anderen zeugt oder vorgetäuscht sein, sie müssen im Alter beobachtet werden können“. an Vorinformationen über fraglich gül- Leiden oder Beeinträchtigungen in wich- Auch schmerzbegleitende psychische tige oder inkonsistente Angaben des Pro- tigen Funktionsbereichen verursachen, Störungen und psychosomatische Be- banden. Orientierende Hinweise zu Va- und psychischen Einflüssen sollte eine schwerden treten im Alter nicht gene- lidierungsbereichen liefern die ICF-Kri- wichtige Rolle für Beginn, Schweregrad, rell vermehrt auf [7] und können da- terien zur Klassifikation der Funktions- Exazerbation oder Aufrechterhaltung bei- her nicht automatisch als altersbedingt fähigkeit, Behinderung und Gesundheit gemessen werden (vgl. aber [32]). bewertet werden. Bewertungshilfen zu (s. Tonhauser in [9]), sie sind aber selbst Zur Diagnosesicherung kann der Ab- dem für das Lebensalter typischen Zu- nicht validierungstauglich. Beweisfragen gleich mit Vorgutachten hilfreich sein. Ab- stand ergeben sich am sichersten aus zur Kausalität in der gesetzlichen Unfall- weichungen von der gängigen Nomenkla- dem Vergleich der Individualwerte mit versicherung oder im sozialen Entschädi- tur (z. B. larvierte Depression, psychoso- altersgleichen Kontrollpersonen. Alters- gungsrecht führen in der Regel zu ande- matischer Beschwerdekomplex, Tendenz- normierten Funktions- und Leistungs- ren Validierungsbereichen als Fragen zum reaktion) können den Nutzen derartiger tests sowie altersnormierten Fragebögen Grad der Behinderung oder zur Arbeits- Vergleiche einschränken. kommt hier eine besondere Bedeutung fähigkeit. zu. Klagt ein Proband z. B. über „mas- Stufe 2: Alterskorrektur sive schmerzbedingte Konzentrations- Schritt 4: Validierungsscreening störungen“ und erzielt er in Konzentra- Nach den Anhaltspunkten für die ärzt- tionstests gut durchschnittliche Leistun- Gemeint ist die Sammlung von Informati- liche Gutachtertätigkeit [7] bezeichnet gen, gibt nach den rechtlichen Vorga- onen, die bereits bei oberflächlicher Sich- Behinderung „die Abweichung der kör- ben die gemessene und nicht die subjek- tung den Verdacht auf eine erhebliche Be- perlichen Funktion, geistigen Fähigkeit tive Vergleichsnorm den Ausschlag. Nur teiligung motivationaler Einflüsse an der Der Schmerz 2009 |
Übersichten Tab. 4 Kriterien für die Diagnose aggravierter schmerzbezogener Funktionsbeeinträchtigungena. (Nach [2]) Kriterium Merkmale A Nachweis bedeutsamer äußerer Anreize B Evidenz im Rahmen der körperlichen Untersuchung 1. Hinweise aus validierten körperliche Funktionstests (z. B. Griffstärke) 2. Diskrepanzen zwischen subjektiven Schmerzangaben und physiologischen (z. B. kardiovaskulären) Parametern 3. Unnormale/unnatürliche Befunde: Klagen oder Funktionseinschränkungen passen nicht zu bekannten physiologischen Mechanismen 4. Diskrepanzen zwischen Testergebnissen und beobachtetem Verhalten C Evidenz aus neuropsychologischen Untersuchungen 1. Gesicherte auffällige negative Antwort- bzw. Reaktionstendenzen in mindestens einem Forced-choice-Test oder Symptomvalidierungs- test zur Aggravationsdiagnostik 2. Wahrscheinliche auffällige negative Antwort- bzw. Reaktionstendenzen in mindestens einem der unter C1 genannten Tests 3. Diskrepanzen zwischen neuropsychologischen Testergebnissen und bekannten Mustern/Gesetzmäßigkeiten der Hirnfunktion 4. Diskrepanzen zwischen neuropsychologischen Testdaten und beobachtetem Verhalten D Evidenz aus Selbstberichten 1. Unterschiedliche Darstellungen je nach Untersuchungskontext (unterschiedliche Angaben innerhalb und außerhalb der Untersuchungs- situation) 2. Diskrepanzen zwischen selbstberichteter Anamnese und Vorbefunden 3. Diskrepanzen zwischen selbstberichteten Symptomen und bekannten physiologischen oder neurologischen Funktionsmustern 4. Diskrepanzen zwischen selbstberichteten Symptomen und beobachtetem Verhalten 5. Hinweise aus standardisierten Selbstberichtsverfahren darauf, dass die Person ihren aktuellen Zustand unzutreffend und verzerrt interpre- tiert (z. B. im MMPI dazu neigt, die eigene verringerte Belastbarkeit demonstrativ herauszustellen oder psychische Probleme zu leugnen) E Die unter B bis D genannten Auffälligkeiten können nicht vollständig durch eine psychische Störung oder eine neurologische Erkrankung oder durch Entwicklungseinflüsse erklärt werden, sondern spiegeln willentliche (bewusstseinsnahe) Bemühungen um sekundäre Anreize wider aMalingered Pain-Related Disability, MPRD.1. Gesicherte MPRD: A + gesichert C1 oder D1 + E.2. Wahrscheinliche MPRD: A + mindestens 2 „wahrscheinlich gesicherte“ Merk- male aus B1 bis B5 und/oder C2 bis C5 oder D2 bis D6. Werden die Kriterien einer wahrscheinlichen MPRD nicht erreicht, kann eine „mögliche“ MPRD vorliegen. Beschwerdedarstellung begründen. Das Schmerzen oder Funktionseinschrän- F Nutzung empirisch gesicherter Cut- Screening sollte sich auf die Validierung kungen nicht zutreffend dargestellt wur- off-Werte für simulierte Beschwer- derjenigen Merkmale beschränken, die den, sollte eine vertiefende Beschwerde- den in Beschwerdefragebögen oder für die Beantwortung der Beweisfragen validierung erfolgen. körperlichen/psychologischen Funk- entscheidend sind. Angaben ohne Rele- tions- und Leistungstests; vanz für die Beantwortung der gutach- Schritt 5: Beschwerdevalidierung F Einsatz neuropsychologischer Sym- terlichen Fragestellung müssen nicht va- bei Ausgangsverdacht ptomvalidierungstests. lidiert werden (z. B. inkonsistente Anga- ben zur Schmerzverursachung bei soma- Eine vertiefende Beschwerdevalidierung Erläuterungen und Konkretisierungen toformen Beschwerden ohne Beweisfra- beinhaltet die systematische Überprüfung dazu liefert der zweite Teil „Analyseebe- gen zur Kausalität). Gleiches gilt für un- aller Funktionsbereiche, die für die Beant- nen und Bewertungsvorschläge“ [10]. In auffällige Untersuchungs- oder Tester- wortung der gutachterlichen Fragestellun- der Literatur liegt bereits ein Vorschlag gebnisse. Es wird vorgeschlagen, ein Vali- gen relevant sind [9]. Dazu gehören: zur Integration derart komplexer Infor- dierungsscreening überwiegend auf Plau- F systematische Konsistenzprüfungen mationen zur Beschwerdevalidierung für sibilitätskontrollen und Konsistenzprü- (insbesondere Selbst- vs. Fremdbe- Personen mit chronischen Schmerzen fungen zur Krankheitsentwicklung, zum richt und Selbst- vs. Selbstbericht, von Bianchini et al. [2] vor. Dieser dürf- Beschwerdestatus und zur bisherigen Be- Abgleich der Ergebnisse konvergent te aber aufgrund seines Umfangs eher für handlung zu stützen. Die in . Tab. 3 be- valider kognitiver Funktionstests); die Forschung als für die alltägliche Begut- schriebenen Verdachtsmomente orientie- F die Abgrenzung intraindividueller In- achtungspraxis richtungsweisend sein. ren sich an den gängigen und in der Praxis konsistenzen gegen Zufallsschwan- Die Heuristik orientiert sich an den vielfach verwendeten Kriterien [14, 42, 43]. kungen; von Slick et al [37] formulierten Krite- Sie gründen sich überwiegend auf Vorbe- F Einsatz von Antworttendenzskalen rien zur Beurteilung neurokognitiver De- funde und Verhaltensbeobachtungen in zur Kontrolle formaler und inhalt- fizite. Die Autoren unterscheiden die in der gutachterlichen Untersuchung. licher Antwortmuster; . Tab. 4 genannten Kriteriengruppen Ergeben sich aus Vorberichten, dem F Vergleich von Personenkennwerten und leiten daraus eine Dreiteilung in beobachteten Untersuchungsverhalten mit verschiedenen Normpopulati- F „sicher vorgetäuschte/aggravierte“, oder aus Angaben zur bisherigen Behand- onen (z. B. Anwendung von Normen F „wahrscheinlich vorgetäuschte/aggra- lung mehrere Hinweise auf eine fragliche Demenzkranker zur Bewertung ange- vierte“ oder Gültigkeit der Angaben oder führen Kon- gebener oder gemessener kognitiver F „möglicherweise vorgetäuschte/ag- sistenzabgleiche zu dem Verdacht, dass Beeinträchtigungen); gravierte“ | Der Schmerz 2009
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