T akte - Bärenreiter Verlag

Die Seite wird erstellt Luca Scherer
 
WEITER LESEN
T akte - Bärenreiter Verlag
[t]akte
                                         Das Bärenreiter-Magazin

                      Politischer Gestus

 1I2020
                      Das Opernschaffen Paul Dessaus
                      Der italienische „Fidelio“
  Informationen für
                      „Leonora“ von Ferdinando Paër
Bühne und Orchester   Im Haifischbecken
                      Ľubica Čekovskás Oper „Impresario Dotcom“
T akte - Bärenreiter Verlag
[t]akte
                               5                                 6                                   8                                10

  Ein Heerführer zwischen           Weniger „Merveilleux“, mehr       Der italienische „Fidelio“          Kein Aufguss der Neunten
  zwei Frauen                       Erfolg                            „Leonora ossia L’amor conju-        Felix Mendelssohns Symphonie-
  Händels Oper „Alessandro“ in      Rameaus „Dardanus“ jetzt auf      gale“ von Ferdinando Paër           Kantate „Lobgesang“ in einer
  der Hallischen Händel-Ausgabe     verlässlicher Basis                                                   neuen Urtext-Edition
                                                                      Beethovens „Fidelio“ hat die
  Für seinen „Alessandro“ konn-     Die Neuausgabe der Oper           anderen „Leonoren“-Opern            Felix Mendelssohn Bartholdy
  te Händel 1726 die besten Sän-    „Dardanus“ von Jean-Philippe      in den Hintergrund gedrängt.        verknüpft in seinem groß
  gerinnen und Sänger seiner        Rameau in der Fassung vom         Doch Ferdinando Paërs               angelegten „Lobgesang“
  Zeit verpflichten. Auch heute     Mai 1744 präsentiert das Werk     „Leonora“ verdient durchaus         Bibelworte, Gedanken Martin
  noch bietet das Werk mit der      in seiner vom Komponisten         eigene Aufmerksamkeit. Eine         Luthers und Versatzstücke
  fiktiven Handlung reichlich       beabsichtigten definitiven        neue Edition hilft bei der          voriger Kompositionen zu ei-
  Stoff für einen bravourösen       Gestalt.                          Wiederentdeckung.                   nem runden und effektvollen
  Opernabend.                                                                                             chorsinfonischen Werk.

  Oper                              Oper                              Orchester / Oratorium               Neue Musik

  Geläuterte Schönheit              Cilea oder Die Wahrheit des       Kein Aufguss der Neunten            Ohne Beethoven mit
  Händels erstes Oratorium in der   Gesangs                           Felix Mendelssohns                  Beethoven
  Hallischen Händel-Ausgabe     4   Die Opern Francesco Cileas        Symphonie-Kantate „Lob-             „red china green house für
                                    (Teil 2)                    12    gesang“ in einer neuen Urtext-      orchester“ von Philipp Maintz 17
  Ein Heerführer zwischen zwei                                        Edition                      10
  Frauen                            „Der Grundgestus meiner                                               „Blick – Traum – Übergang“
  Händels Oper „Alessandro“         Musik ist ein politischer“        Klein, aber wirkungsvoll            Manfred Trojahns Prolog zu
  in der Hallischen Händel-         Das Opernschaffen Paul            Das „Oratorio de Noël“ von          Verdis „Don Carlo“         17
  Ausgabe                      5    Dessaus                      14   Camille Saint-Saëns            11
                                                                                                          Im Haifischbecken
  Weniger „Merveilleux“, mehr                                         „Gebet für die Heimat“              Ľubica Čekovskás Oper
  Erfolg                                                              Bohuslav Martinůs                   „Impresario Dotcom“ für
  Rameaus „Dardanus“ jetzt                                            „Feldmesse“ im Urtext          16   Bregenz                      18
  auf verlässlicher Basis     6
                                                                                                          Dieter Ammann – aktuell      19
  Der italienische „Fidelio“
  „Leonora ossia L‘amor conju-                                                                            Beat Furrer – aktuell        19
  gale“ von Ferdinando Paër    8
                                                                                                          Matthias Pintscher – aktuell 19

                                                                                                          Thomas Daniel Schlee –
                                                                                                          aktuell                      19

2 [t]akte 1I2020
T akte - Bärenreiter Verlag
1I2020
                             11                                  12                                  14                                18

Klein, aber wirkungsvoll           Cilea oder Die Wahrheit des          „Der Grundgestus meiner           Im Haifischbecken
Das „Oratorio de Noël“ von         Gesangs                              Musik ist ein politischer“        Ľubica Čekovskás Oper „Im-
Camille Saint-Saëns                Die Opern Francesco Cileas           Das Opernschaffen Paul            presario Dotcom” für Bregenz
                                   (Teil 2)                             Dessaus
Mit seinem Weihnachtsora-                                                                                 Was sind schon 260 Jahre?
torium schrieb Saint-Saëns         Francesco Cileas schmales            Die Neuinszenierung der Oper      Goldonis „Der Impresario von
in jungen Jahren ein leicht        Opernschaffen nimmt eine             „Lanzelot“ in Weimar wurde        Smyrna“ lässt sich mühelos
zugängliches Werk, das nun in      singuläre Position im veristi-       hymnisch als „Sensation“ und      in unsere Zeit holen, denn
einer verlässlichen Urtextaus-     schen Musiktheater ein. Im           „Wiederentdeckung erster          auch heute tragen Menschen
gabe vorliegt.                     zweiten Teil der Vorstellung         Güte“ gefeiert. Vier andere       ihre Haut im Theaterbetrieb
                                   porträtiert der Hans-Joachim         Opern von Paul Dessau warten      zu Markte. Die neue Oper von
                                   Wagner „L’Arlesiana“ und             noch auf ihre Rückkehr auf die    Ľubica Čekovská macht aus
                                   „Gloria“.                            Bühne.                            dem Stoff eine musikdramati-
                                                                                                          sche Tragikomödie.

Neue Musik                         Nachrichten / Publikationen          Termine
                                                                                                            Titelbild
Ein Cembalokonzert?                Nachrichten                      7   Festspielsommer 2020         26     Paul Dessaus Lanzelot am
Ein Cembalokonzert!                                                                                         Nationaltheater Weimar
Miroslav Srnkas neues Werk         Neue Bücher                   25     Termine                             Premiere: 23.11.2020 (Musi-
für Mahan Esfahani         20                                           April – September 2020       29     kalische Leitung: Dominik
                                   Neue Aufnahmen                28                                         Beykirch, Inszenierung:
Das himmlische Leben                                                                                        Peter Konwitschny) –
Andrea Lorenzo Scartazzinis                                                                                 (Foto: Candy Welz)
Orchesterstück zu Mahlers
4. Symphonie                21
                                                                                                            Übersetzungen
Aus der Vergangenheit für
die Gegenwart                                                                                               S. 6: Annette Thein
Salvatore Sciarrinos „Aischylos-                                                                            S. 10 / 24: Salome Obert
Szenen“ für Klagenfurt        22                                                                            S. 23: Irene Weber-
                                                                                                            Froboese
Vibrierende Klanggewebe
Die französische Komponistin
Édith Canat de Chizy wird 70 23

Neue Bühnenwerke von
Thomas Adès und Torsten
Rasch                        24

                                                                                                                              [t]akte 1I2020 3
T akte - Bärenreiter Verlag
[t]akte
                                                                      Das Gute siegt, und die Schönheit wird geläutert:

          Geläuterte Schönheit                                        Händels allegorisches Oratorium „La Bellezza
                                                                      ravveduta nel trionfo del Tempo e del Disinganno“
          Händels erstes Oratorium in der Hallischen                  ist durch melodischen Reichtum und hinreißende
          Händel-Ausgabe                                              Arien, Duette und Quartette überaus attraktiv.

          Händels Anfang 1707 in Rom entstandenes erstes, lange       Librettodruck erhalten. Ob die heute verlorene Musik
          als Il trionfo del Tempo e del Disinganno („Der Sieg der    gänzlich von Cesarini geschrieben oder ob noch etwas
          Zeit und der Erhellung“), HWV 46a, bekanntes Oratori-       von Händels Komposition übriggeblieben war, bleibt
          um heißt in der Primärquelle, einer in Münster in West-     offen. Als Händel-Rudimente in Cesarinis Oratorium
          falen aufbewahrten Handschrift, La Bellezza Raueduta        könnte man sich diejenigen Arien aus La Bellezza rav-
          nell’ Trionfo Del Tempo e del Disinganno. Normalisiert      veduta vorstellen, deren Worttexte metrisch zu Händels
          lautet der Titel dieses allegorischen Oratoriums La         Musik passend im Libretto von 1725 stehen. Vielleicht
          Bellezza ravveduta nel trionfo del Tempo e del Disin-       bewog die Schönheit von Arien wie Tempos gewaltigem
          ganno („Die durch den Sieg der Zeit und der Erhellung       „Urne voi, che racchiudete“, Piaceres „Lascia la spina“,
          geläuterte Schönheit“). Der korrekte Titel fördert die      eine der berühmtesten Melodien Händels, oder Piaceres
          Abgrenzung des im vokalen Bereich ausschließlich von        virtuosem „Come nembo che fugge col vento“ Cesarini,
          vier Solisten (die die Schönheit, die Zeit, die Erhellung   den Ehrgeiz, Händels Musik durch seine eigene zu er-
          und das Vergnügen verkörpern) bestrittenen, strikt dra-     setzen, zu zügeln, auch könnte er gehofft haben, dass
          matisch angelegten frühen Werkes von dem späteren,          die Hörer ihn für den Komponisten auch dieser Stücke
          fünf Chöre und mit ihnen stärker reflexive Elemente         halten würden.
          einbeziehenden Oratorium Il trionfo del Tempo e della          Mit La Bellezza ravveduta gelang dem 22-jährigen
          Verità, („Der Sieg der Zeit und der Wahrheit“), HWV 46b,    Händel gleich zu Beginn seines Oratorienschaffens
          in der Fassung von 1737. HWV 46b besteht zu mehr als        einer seiner größten Würfe auf diesem Gebiet. Im
          der Hälfte aus von HWV 46a völlig oder weitgehend           vielfach von Erfindungen Reinhard Keisers (1674–1739)
          unabhängiger Musik und nur zu etwa einem Drittel            inspirierten melodischen Reichtum wird das Werk von
          aus gleicher bzw. kaum veränderter Musik – eine Tat-        keinem anderen Oratorium übertroffen. Am Ende ei-
          sache, die fortan nicht mehr durch fast gleich lautende     ner imponierenden Reihung von hinreißenden Arien,
          Werktitel verschleiert wird.                                Duetten und Quartetten wird Bellezzas Läuterung zum
             La Bellezza ravveduta ist ein allegorisches Oratorium,   gottgefälligen Leben von ihrem überwältigend schö-
          dessen Handlung dem für diese Gattung wohl häufigs-         nen, todtraurigen Schlussgesang „Tu del ciel ministro
          ten Muster, der Kontroverse, folgt. Die Dialoge in Ora-     eletto“ in schneidendem E-Dur begleitet, ein absoluter
          torien dieses Typs werden teilweise oder, wie in HWV        Höhepunkt dramatischer Ironie in Händels Schaffen.
          46a, ausschließlich von Personifikationen geführt. Eine        Auch wegen seiner schlackenlosen dramatischen
          reale Person oder eine Personifikation steht zwischen       Struktur – anders als in vielen anderen Oratorien und
          den Fronten. Man streitet um sie, sie ist hin- und her-     in allen Opern des Barock wird niemals aus der Hand-
          gerissen, verharrt aber letztlich standhaft im Glauben      lung ausgestiegen, alle Arien gehören zum Disput der
          oder wird bekehrt oder geläutert. Die Personifikationen     vier dramatischen Personen – erlebte das Oratorium
          allegorischer Oratorien sind Abstrakta und als solche       noch unter dem nun veraltenden, wenig aussagekräf-
          meist festgeschrieben, entweder der guten (Tempo und        tigen Titel Il trionfo del Tempo e del Disinganno in den
          Disinganno) oder der schlechten (Piacere) Seite zuge-       letzten Jahren lange Reihen umjubelter, meist szeni-
          hörig. Bellezza allerdings ist ein Paradebeispiel für die   scher Aufführungen.                     Michael Pacholke
          Offenheit, Wandelbarkeit und den Facettenreichtum
          mancher allegorischer Figuren. Der Ausgang – das Gute
          siegt und das Schlechte unterliegt – steht von Beginn
          an fest, in unserem Falle: Die Schönheit wird durch           Georg Friedrich Händel
          den Sieg der Zeit und der Erhellung über das weltliche        La Bellezza ravveduta nel trionfo del Tempo e del
          Vergnügen geläutert.                                          Disinganno HWV 46a. Oratorium in zwei Teilen.
             Da im offiziellen Diario di Roma von Francesco             Hrsg. von Michael Pacholke. Hallische Händel-
          Valesio (1670–1742) eine entsprechende Notiz fehlt,           Ausgabe I/4.1
          kann es als einigermaßen sicher gelten, dass HWV              Erstaufführung nach der Edition: 7.6.2020 Halle
          46a weder in Rom noch anderswo zu Händels Lebzei-             (Händel-Festspiele), Accademia Bizantina, Lei-
          ten aufgeführt wurde. Aufführungen von La Bellezza            tung: Ottavio Dantone
          ravveduta während der Fastenzeit 1707 könnten durch           Besetzung: Bellezza (Soprano), Piacere (Soprano),
          Carlo Cesarini (1666 bis 1741 oder später), „maestro di       Disinganno (Contralto), Tempo (Tenore)
          musica“ am Hofe des Kardinals Benedetto Pamphili              Orchester: Flauto dolce I, II, Oboe I, II, Violino solo
          (1653–1730), dem Librettisten des Oratoriums, hinter-         I, II del concertino, Violino I, II, III del concerto
          trieben worden sein. Für den Zeitraum von 1718 bis 1725       grosso, Viola I, II, Organo, Bassi
          sind Aufführungen von Cesarinis Oratorium Il trionfo          Verlag: Bärenreiter, BA 10721, Aufführungsmate-
          del Tempo nella Bellezza ravveduta („Der Sieg der Zeit        rial leihweise
          in der geläuterten Schönheit“) bezeugt, von 1725 ist ein

4 [t]akte 1I2020
T akte - Bärenreiter Verlag
1I2020
Ein Heerführer                                             Für seinen „Alessandro“ konnte Händel 1726 die

zwischen zwei Frauen                                       besten Sängerinnen und Sänger seiner Zeit ver-
                                                           pflichten. Auch heute noch bietet das Werk mit der
Händels Oper „Alessandro“ in der                           fiktiven Handlung reichlich Stoff für einen bra-
Hallischen Händel-Ausgabe                                  vourösen Opernabend.

Durchaus typisch für seine Zeit handelt Händels Oper
Alessandro von einzelnen Episoden aus Leben und
Herrschaft Alexanders des Großen (356–323 v. Chr.). Der
legendäre Krieger und Heerführer eroberte weite Teile
der Welt, bevor er im Alter von 32 Jahren ein frühzeiti-
ges Ende fand. Ein zentraler Konflikt in Händels Oper
besteht in Alessandros natürlich nicht belegter Liebe zu
zwei Frauen, Lisaura und Rossane; diese konkurrieren
um seine Gunst. Daneben wird seine Berufung auf sei-
ne göttliche Abstammung hervorgehoben, die er zum
Anlass nimmt, die Unterwürfigkeit seiner Gefolgschaft
einzufordern, was auf große Ablehnung stößt.
    Händel komponierte Alessandro in der Spielzeit
1725/26 für die Royal Academy of Music nach einem
Libretto von Paolo Antonio Rolli. Die Uraufführung
fand am 5. Mai 1726 im King’s Theatre in London statt.
Alessandro war die erste von fünf Opern für die Royal
Academy, in denen Händel für drei der berühmtesten
Sänger seiner Zeit – Francesco Bernardi, genannt Sene-
sino, Faustina Bordoni und Francesca Cuzzoni – kom-        Alexander der Große, Mosaik aus Pompeji, Museo Archeologico Neapel
ponieren konnte. Der Bordoni und Cuzzoni wurden der
konkurrierende Konflikt um den begehrten Feldherren,
seinerzeit verkörpert von Senesino, quasi auf den Leib        Wie üblich, präsentiert die Hallische Händel-Ausgabe
geschrieben. Dadurch konnte bereits im Vorfeld das         auch dieses Werk in sämtlichen zu Händels Lebzeiten
öffentliche Interesse an der Oper gesteigert werden.       nachweisbaren Fassungen: Im Hauptteil wird die
Das Werk enthält folglich eine große Anzahl virtuoser      Werkgestalt der ersten Aufführungen 1726 abgedruckt.
Bravourarien, während verhaltene, aber fein gezeich-       Insgesamt drei Anhänge geben Frühfassungen einzel-
nete Musik von Händel eher in die dramaturgischen          ner Sätze, während der ersten Aufführungsserie 1726
Nebenschauplätze verlagert wurde.                          hinzugefügte Arien sowie die Fassung von 1732 wieder.
    Ortensio Mauros Libretto La superbia d’Alessandro,     Eine ausführliche, auf dem aktuellen Forschungsstand
das 1690 in einer Vertonung von Agostino Steffani in       beruhende Entstehungsgeschichte der Oper und eine
Hannover erstmals zur Aufführung kam und dort im           Gegenüberstellung der Fassungen von 1726 und 1732
folgenden Jahr unter dem Titel Il zelo di Leonato mit      sind in deutscher und englischer Sprache abgedruckt.
zahlreichen Änderungen erneut gespielt wurde, dien-        Der Kritische Apparat informiert ausführlich über die
te als Vorlagetext für Händels bzw. Rollis Alessandro.     Quellenlage sowie Einzelentscheidungen des Heraus-
Bei der Einrichtung des Librettos für die Londoner         gebers Richard G. King. Julia Hebecker / Tobias Gebauer
Aufführungen bestand eine wesentliche Aufgabe des
Librettisten darin, die Rollen der berühmten Sänger
der Royal Academy in Balance zu halten, zugleich aber         Georg Friedrich Händel
einen musikalischen Wettstreit der Primadonnen zu             Alessandro. Opera in tre atti HWV 21. Hrsg. von
inszenieren.                                                  Richard G. King. Hallische Händel-Ausgabe II/18.
    Welche Änderungen Händel während der folgenden            Erstaufführung (konzertant) nach der Neuedition:
Aufführungsserie in der Spielzeit von 1727/28 vornahm,        16.5.2020 Basel (Peterskirche), Basler Kammer-
ist nicht mehr zu ermitteln. Für die Aufführungsserie         orchester, Leitung: Diego Fasolis, auch 21. Mai
von 1732/33 hingegen überarbeitete der Komponist              Göttingen (Händel-Festspiele)
die Oper substanziell: Sechs Musiknummern wurden              Besetzung: Alessandro magno (Alt), Tassile, re
ganz, das Finale teilweise gestrichen, die Rezitative         indiano (Alt), Clito (Bass), Cleone (Alt). Leonato
stark gekürzt, und die Partien von Cleone und Leonato         (Tenor), Rossane (Sopran), Lisaura (Sopran)
entfielen vollständig; ihre Anteile wies Händel anderen       Orchester: Flauto dolce I, II, Ob I, II, Fag I, II, Cor I,
Bühnenfiguren zu oder strich sie. Für die neuen Sänger        II, Tr I, II, Vl I, II, III, Va, Bassi (Vc, Kb, Fag, Cemb)
ließ Händel drei Arien transponieren. Es ist denkbar,         Verlag: Bärenreiter, BA 4073, Partitur käuflich,
dass einige der Änderungen von 1732 schon bei der Wie-        Aufführungsmaterial leihweise
deraufnahme von 1727/28 vorgenommen worden sind.

                                                                                                                                    ]
                                                                                                                           [t]akte 1I2020 5
T akte - Bärenreiter Verlag
[t]akte
              Weniger „Merveilleux“,                                            Die Neuausgabe der Oper „Dardanus“ von Jean-

              mehr Erfolg                                                       Philippe Rameau in der Fassung vom Mai 1744
                                                                                präsentiert das Werk in seiner vom Komponisten
              Rameaus „Dardanus“ jetzt auf verlässlicher Basis                  beabsichtigten definitiven Gestalt.

                Nach Hippolyte et Aricie (1733) und Castor et Pollux (1737)     Anténor änderten sich gegenüber der Version von 1739,
                ist Dardanus Rameaus dritte „Tragédie lyrique“, die             die Prinzessin ist nun deutlich aktiver: Im vierten Akt
                in Paris zur Aufführung gelangte. Dass sie innerhalb            entschließt sie sich, Dardanus zu befreien, damit er der
                von nur fünf Jahren in zwei deutlich verschiedenen              Ermordung durch Anténor entkommen kann. Aténor
                Fassungen vorgelegt wurde, verweist bereits auf ihre            fühlt sich aus Eifersucht und Zurückweisung dazu
                einzigartige Rezeptionsgeschichte. Das Libretto von             gedrängt, einen Plan zu Dardanus Verschwinden aus-
                Leclerc de La Bruère schildert die Liebesgeschichte zwi-        zuhecken, womit sein Heldentum zu bröckeln beginnt.
                schen dem jungen Krieger Dardanus, der gegen Teucer,               Es gibt also nicht nur eine Version von Dardanus aus
                König der Phryger, Krieg führt, und dessen Tochter              dem Jahr 1744, sondern für die letzten drei Akte zwei.
                Iphise. Doch die junge Frau ist einem anderen Krieger           Die neue kritische Ausgabe von Denis Herlin bietet
                versprochen, Anténor, der ein Verbündeter Teucers ist.          erstmals die Möglichkeit, auch die Fassung vom Mai
                                             Sie erliegt der verbotenen Liebe   1744 wiederherzustellen. Zugleich geben ihre Anhänge
                                             und schließt sich ‒ nach ver-      den Ausführenden das vollständige Material, um die
                                             schiedenen Abenteuern und          Fassung vom April 1744 zu spielen, von der viele Teile
                                             der Intervention der Göttin        seither nicht mehr zu hören waren. Im Zuge seiner
                                             Venus ‒ mit Dardanus zusam-        Wiederaufnahme 1760 wurde Dardanus bis 1771 zu einer
                                             men, was schließlich Teucers       der erfolgreichsten Opern. Neben der Auslassung des
                                             Unnachgiebigkeit bricht. Als       Prologs nahm Rameau nur geringfügige Änderungen
                                             Rameau im November 1739            an der Fassung vom Mai 1744 vor. Auch diese wenigen
                                             Dardanus an der Königlichen        Änderungen sind in der kritischen Neuausgabe ent-
                                             Musikakademie in Paris zur         halten.
                                             Aufführung brachte, sah er            Als Rameau im April 1744 Dardanus als Partitur her-
                                             sich wegen der Unglaubwür-         ausbrachte, vermerkte er auf dem Titelblatt „Nouvelle
                                             digkeit des Librettos von Lec-     tragédie“, andere, später überarbeitete Opern erhielten
                                             lerc de La Bruère starker Kritik   keinen solchen Vermerk. Ganz offenbar stellte die Fas-
                                             ausgesetzt – was dazu führte,      sung von 1744, obgleich seine Musik in weiten Teilen
                                             dass die Oper trotz allen musi-    mit der der Fassung von 1739 identisch ist, in seinen
                                             kalischen Reichtums abgesetzt      Augen eine neue Oper dar.                   Denis Herlin
                                             wurde.
                                                Rameau jedoch gab sich
                                             nicht geschlagen und bereitete       Jean-Philippe Rameau
                                             1744 das Werk zur Wiederauf-         Dardanus. Tragédie in einem Prolog und fünf
                                             nahme vor. Dafür befreite er         Akten. Libretto von Charles-Antoine Leclerc de
                                             es von den Bestandteilen des         La Bruère RCT 35 B. Fassung Mai 1744, Fassungen
   Dardanus, Kostümmodell von Louis-René     „Merveilleux“ zugunsten der          April 1744, 1760 und 1764 (Anhang). Hrsg. von
Bouquet (1717–1814). Bibliothèque nationale  Darstellung der Leidenschaf-         Denis Herlin. Opera omnia Rameau IV/8
de France, département Bibliothèque-musée
                                             ten. Für die Reprise wurden der      Erstaufführungen nach der Edition: 8.3.2020
                    de l‘opéra, D216O-7 (66)
                                             Prolog und der zweite Akt nur        Budapest, Purcell Chor, Orfeo Orchestra, Leitung:
                geringfügig überarbeitet, während die letzten drei Akte           György Vashegyi / 26.6.2020 New York (St. Paul‘s
                völlig neu waren. Das „Wunderbare“ des vierten Aktes              Chapel), Choir of Trinity Wall Street, Trinity
                (Dardanus’ Schlaf und sein Kampf mit dem Monster)                 Baroque Orchestra, Musikalische Leitung: Avi
                verschwand zugunsten einer prachtvollen Szene zu                  Stein, Inszenierung: John La Bouchardière
                Beginn des Aktes, die den verzweifelten Dardanus im               Besetzung: Prologue: Vénus (Sopran), L’Amour
                Kerker zeigt. Ab dem 15. Mai 1744, also nicht einmal              (Sopran) – Tragédie: (Sopran), Dardanus (Tenor),
                drei Wochen nach der Premiere, überarbeitete Rameau,              Anténor (Bass), Teucer (Bass), Isménor (Bass), Arcas
                wohl wegen gewisser Längen, wiederum den Großteil                 (Tenor), Vénus (Sopran), Phrygierin (Sopran), Chor
                des dritten Aktes, die drei letzten Szenen des vierten            Orchester: 2 Picc,2,2,0,2 – 0,0,0,0 – 2 Musettes –
                sowie das Divertissement des fünften Aktes. Diese                 Str, B. c.
                Überarbeitungen veränderten den Sinn der Handlung                 Verlag: Société Jean-Philippe Rameau/Bärenrei-
                nicht tiefergreifend, sondern verschärften das drama-             ter, BA 8868, Aufführungsmaterial leihweise
                tische Geschehen. Auch die Rollen der Iphise und des

   6 [t]akte 1I2020
T akte - Bärenreiter Verlag
1I2020

Nachrichten
Im Bärenreiter-Verlag ist ein neuer Klavierauszug zu
Christoph Willibald Glucks „Tragedia per musica“ Alceste
(Wiener Fassung 1767) erschienen. Auf Basis des von
Gerhard Croll herausgegebenen Gesamtausgabenban-
                                                                                                                                                         Einladung
des hat Hans Schellevis ein gut spielbares Arrangement                                                                                                   zur Subskription
geschaffen. Neben dem originalen Librettotext von
Ranieri de’ Calzabigi ist den Singstimmen eine sang-
bare deutsche Übersetzung unterlegt. Es wurde großer
                                                                                                                                                         Die ersten Bände
Wert auf einen übersichtlichen Notensatz gelegt. Ein                                                                                                     der Reihe:
informatives zweisprachiges Vorwort (dt./engl.) rundet
die Ausgabe ab.

Zur Eröffnung einer auf mehrere Jahre angelegten,                                                                                                                                           DIE EDITION
mit „Wagner-Kosmos“ betitelten Auseinandersetzung                                                                                                                                           Der Großteil des heutigen
mit dem Schaffen Richard Wagners im Kontext seiner                                                                                                                                          Opernrepertoires ist italie-
Vorläufer, Zeitgenossen und Antipoden kündigt die                                                                                                                                           nisch. Und doch sind viele
Oper Dortmund für den 21. Mai 2020 die erste Wieder-                                                                                                                                        der beliebtesten oder
aufführung der dritten Fassung von Gaspare Spontinis                                                                                                                                        bedeutendsten Werke nicht
                                                                                                                                                                                            in einer kritischen Ausgabe
Opéra Fernand Cortez (Berlin 1824) in französische Spra-                                                                                                                                    erhältlich.
che an. Die Berliner Fassung unterscheidet sich von
                                                                                                                                                                                            Bärenreiters neue Reihe
der zweiten, 1817 in Paris gespielten Version vor allem
                                                                                                                                                                                            Masterpieces of Italian Opera
durch das als „Denouement“ bezeichnete Ende des                                                                                                                                             entstand aus dem Bedarf an
dritten Aktes, das dem Finale größere dramaturgische                                                                                                                                        solchen Ausgaben, sowohl
Plausibilität verleihen sollte. Die entscheidende Quelle                                                                                                                                    für Aufführungs- als auch für
für das Denouement wurde von Klaus Pietschmann in                                                                                                                                           Forschungszwecke.
der Musik-och teaterbiblioteket Stockholm ausfindig                                                                                                                                         Die in Zusammenarbeit
gemacht und vom Bärenreiter-Verlag im Vorgriff auf die                                                                                                                                      mit Philip Gossett (†) kon-
Kritische Neuausgabe von Fernand Cortez in der Reihe                                                                                                                                        zipierte und von Andreas
                                                                                                                                                         Ruggero Leoncavallo                Giger und Francesco Izzo
OPERA erstmals in Partitur und Aufführungsmaterial
                                                           € = geb. Euro-Preis in Deutschland – Irrtum, Preisänderung u. Lieferungsmöglichkeiten vorb.

                                                                                                                                                         Pagliacci                          herausgegebene Reihe
publiziert. Eva-Maria Höckmeyer wird das Drama der                                                                                                       Hrsg. Andreas Giger                erfüllt dieses Bedürfnis,
Eroberung von Mexiko inszenieren, die musikalische                                                                                                       BA 7648-01* · € 344,–              beginnend mit vier Opern.
Leitung hat Motonori Kobayashi.                                                                                                                          Bereits erschienen
                                                                                                                                                                                            Die Fortführung der Reihe
                                                                                                                                                                                            ist geplant.
Die Karriere der Komponistin und Dirigentin Vítězslava                                                                                                   In Vorbereitung:
Kaprálová (1915–1940) fand durch ihren frühen Tod ein                                                                                                                                       DIE SUBSKRIPTION
                                                                                                                                                         Pietro Mascagni
jähes Ende. 1937 schrieb sie das Lied für Gesang und                                                                                                                                        Die ersten vier Bände können
                                                                                                                                                         Cavalleria rusticana
Klavier „Sbohem a šáteček“ (Lebewohl und Tüchlein)                                                                                                                                          einzeln bezogen oder kom-
                                                                                                                                                         Hrsg. Andreas Giger                plett zu reduzierten Preisen
op. 14 auf den Text des surrealistischen Dichters                                                                                                        BA 7649-01*
                                                                                                                                                                                            subskribiert werden.
Vítězslav Nezval. In Paris bearbeitete sie das Lied dann
noch für Orchester. In die sehr farbenreiche Instrumen-                                                                                                                                     Über die Fortsetzung der
                                                                                                                                                         Gaetano Donizetti                  Reihe informieren wir Sie
tierung griff wahrscheinlich auch ihr Lehrer und enger                                                                                                   Caterina Cornaro                   rechtzeitig.
Freund Bohuslav Martinů ein. Das neu gesetzte Auf-                                                                                                       Hrsg. Hans Schellevis              Jeder Band enthält (engl./
führungsmaterial ist bei Bärenreiter Praha erhältlich.                                                                                                   BA 8747-01                         ital.) ein ausführliches
                                                                                                                                                                                            Vorwort, eine Quellenbe-
Beim Deutschen Dirigentenpreis im Oktober 2019 in                                                                                                        Domenico Cimarosa                  schreibung und Erläuterun-
Köln wurde die Französin Chloé van Soeterstède mit                                                                                                       Il matrimonio segreto              gen zur Aufführungspraxis.
dem Bärenreiter-Sonderpreis, einem großzügigen No-                                                                                                                                          Der Kritische Bericht (engl.)
                                                                                                                                                         Hrsg. Federico Gon und
                                                                                                                                                                                            wird kostenlos über die
tengutschein für die beste Interpretation eines Werks                                                                                                    Guido Olivieri · BA 7647-01
                                                                                                                                                                                            Bärenreiter-Homepage
des 20./21. Jahrhunderts, ausgezeichnet. Sie überzeugte                                                                                                                                     zugänglich sein.
in der zweiten Runde am Pult des WDR Sinfonieorches-                                                                                                     * in Kooperation mit
                                                                                                                                                          Casa Musicale Sonzogno            Format 26 x 33 cm, Leinen
ters mit Anton von Weberns Sechs Stücken für Orchester
op. 6 sowie mit Rebecca Saunders‘ traces. Den Haupt-
preis gewann der Spanier Julio García Vico (*1992), der
Ungar Gábor Hontvári erhielt den 2. Preis, den 3. Preis                                                                                                            Bärenreiter
                                                                                                                                                                    w w w . b a e r e n r e i t e r. c o m
erhielt Chloé van Soeterstède.

                                                                                                                                                                                                                                     ]
                                                                                                                                                                                                                            [t]akte 1I2020 7
T akte - Bärenreiter Verlag
[t]akte
                                                                     Beethovens „Fidelio“ hat die anderen „Leonoren“-

          Der italienische „Fidelio“                                 Opern in den Hintergrund gedrängt. Doch Ferdi-
                                                                     nando Paërs „Leonora“ verdient durchaus eigene
          „Leonora ossia L’amor conjugale“                           Aufmerksamkeit. Eine neue Edition hilft bei der
          von Ferdinando Paër                                        Wiederentdeckung.

          Die vier „Leonoren“

          Im Kontext des Beethoven-Jahres 2020 rücken die Par-
          allelvertonungen des Fidelio einmal mehr in den Blick-
          punkt des Interesses. Mehr noch werden im Rahmen
          des Beethovenfestes Bonn im Herbst dieses Jahres alle
          vier „Leonoren“ zur Aufführung kommen. Neben der
          Vertonung des Bonner Komponisten sind dies Leonora
          ossia L’amor conjugale von Ferdinando Paër, die einak-
          tige „farsa sentimentale“ L’amor conjugale von Simon
          Mayr sowie die französische Opéra comique Léonore, ou
          L’amour conjugal von Pierre Gaveaux. In Bonn wird sich
          somit die seltene Gelegenheit bieten, alle vier Opern
          nebeneinander zu sehen und zu hören.
             Der Leonoren-Stoff nahm bekanntermaßen seinen
          Ausgang in der Französischen Revolution: 1798 ver-
          fasste Jean Nicolas Bouilly das Textbuch Léonore, ou
          L’amour conjugal, das der Sänger und Komponist Pierre
          Gaveaux in Musik setzte. Im Mittelpunkt der Handlung
          steht Léonore, die, als Mann verkleidet und unter dem
          Namen Fidélio, alles tut, um ihren zu Unrecht inhaftier-
          ten Mann Florestan aus der Gefangenschaft respektive
          Kerkerhaft zu retten. Hintergrund war eine wahre Be-
          gebenheit in Frankreich, die Bühnenhandlung wurde
          jedoch nach Spanien verlegt. Bouillys dramatischer
                                                                     Ferdinando Paër 1771–1839
          Text beschwört das Ideal ehelicher Liebe, die – entgegen
          allen widrigen Umständen – das Humanitäre in den           eindeutig Giuseppe Maria Foppa (1760–1845) zuweisen
          Vordergrund rückt. Das Libretto steht in einer Reihe       konnte. Damit kommt nun ein genuiner und prominen-
          französischer „Revolutionsopern“ der 1790er Jahre, in      ter Librettist ins Spiel, denn Foppa verfasste über 100
          denen die Politik mitunter so stark in den Mittelpunkt     Libretti für die verschiedensten Komponisten. Nicht
          trat, dass die Liebeshandlung dahinter zu verschwin-       zuletzt verband ihn auch eine Zusammenarbeit mit
          den drohte. In Bouillys Léonore ist die eheliche Liebe     seinem Landsmann Paër, der ein gutes Dutzend seiner
          jedoch Triebfeder der Handlung.                            Libretti vertont hat. Im Licht der Autorschaft Foppas
             War Bouillys und Gaveaux’ zweiaktiger „Fait his-        wird nun auch die Rolle Cintis klarer, dessen Aufgabe
          torique“ schon sehr früh als Vorlage für das Libretto      wohl vornehmlich darin bestand, die textlichen An-
          von Beethovens Fidelio identifiziert worden, so hat die    passungen, die der Komponist wünschte, in Dresden
          Musikwissenschaft erst relativ spät zwei italienische      umzusetzen.
          Opern erschlossen, die ebenfalls auf Bouillys Textbuch
          zurückgehen: Ferdinando Paërs Leonora ossia L’amor
          conjugale (Dresden 1804) und die einaktige Vertonung       Französisches Textbuch – italienische Oper
          des Ingolstädter Komponisten Simon Mayr (Venedig
          1805). Zusammen mit Gaveaux’ „Ur-Leonore“ kreisen sie      Mit der Leonora liegt uns ein klassischer Fall eines
          wie Trabanten um Beethoven, mit mehr oder weniger          Kulturtransfers vor, insofern als ein französisches
          Gravitationskraft.                                         Textbuch zu einer italienischen Oper umgeformt wird.
             In einer Studie zu Paërs Leonora hatte der Musikhis-    Mehr noch verbindet sich damit auch ein Gattungs-
          toriker Richard Engländer 1930 bereits einen Librettis-    transfer, denn die Léonore von Bouilly und Gaveaux war
          ten für die Leonora identifiziert, nämlich den Sänger      eine Opéra comique – also eine Oper mit gesprochenem
          Giacomo Cinti, der an der Königlichen Oper in Dresden      Dialog –, die es in ein durchgehend musikalisiertes
          die Aufgabe hatte, Textbücher einzurichten. Auch dies      Bühnenwerk zu verwandeln galt. Genau dies war eine
          blieb lange Zeit unbeachtet, stattdessen geisterte der     Spezialität Foppas, der äußerst versiert französische
          Name Giovanni Federico Schmidt durch die Opern-            Operntexte für die italienische Oper adaptierte. Nicht
          literatur. Klarheit über die primäre Autorschaft des       selten war das Resultat wie bei Leonora eine Opera
          Librettos herrscht allerdings erst seit 2016, nachdem      semiseria, ein Genre, das ernste Stoffe mit „leichteren“
          die Mayr-Spezialistin Iris Winkler ein handschriftli-      Zügen anreicherte. Dazu zählt in Paërs Oper vor allem
          ches Textbuch der Leonora aufgefunden hatte, das sie       Giachino, der Ehekandidat von Marcellina, dessen

8 [t]akte 1I2020
T akte - Bärenreiter Verlag
1I2020

Partie hier aufgewertet wird, um neben Florestano          und Neapel. In den frühen 1820er Jahren gingen die
und Leonora ein zweites Liebespaar zu kreieren. Zu         Aufführungen deutlich zurück, als der zunehmende
den entscheidenden Veränderungen gegenüber dem             Erfolg von Beethovens Fidelio die Oper Paërs zu überla-
französischen Originaltext gehört die Figur des Pizzar-    gern begann. Ins Blickfeld geriet die Leonora erst wieder
ro, der bei Bouilly eine reine Sprechrolle gewesen war     im 20. Jahrhundert mit punktuellen Aufführungen,
und jetzt durch die Verwandlung in eine Gesangspartie      u.a. in Schwetzingen 1976, und einer (stark gekürz-
deutlich an Kontur gewinnt. Anders als bei Beethoven       ten) Einspielung von 1979 durch Peter Maag mit dem
ist Pizzarro bei Paër ein Tenor, wie auch der Minister     BR-Symphonieorchester.
Don Fernando, was der traditionellen Stimmfachver-            Die erste kritische Ausgabe von Päers Leonora wird
teilung der italienischen Oper geschuldet ist.             von dem Editionsprojekt OPERA – Spektrum des euro-
   Die eigentliche Transformation von der französi-        päischen Musiktheaters in Einzeleditionen erarbeitet,
schen Léonore zu Foppas und Paërs Oper besteht in          herausgegeben von Christin Seidenberg. Für die Auf-
der Schaffung großer musikalischer Nummern. Dies           führungen 2020 wurde eine Vorabpartitur auf der
betrifft sowohl die Soloarien, die im französischen        Basis der Hauptquellen erstellt. Päers Autograph ist
Original mitunter über die strophische Form kaum           verschollen. Ziel der Edition ist eine Rekonstruktion
hinausgehen, bis hin zu großen Komplexen wie den           der frühen Dresdner Fassung auf der Basis unterschied-
Finali. Handlungsrelevante Elemente werden gleicher-       licher Quellentypen Dresdner Provenienz. Da diese
maßen in Musik gesetzt wie große Leidenschaften.           Quellen auch Bearbeitungsstadien späterer Dresdner
Dabei geht Paër alles andere als schematisch vor: Große    Aufführungen enthalten, müssen für die Rekonstruk-
orchesterbegleitete Rezitative führen nicht nur zu einer   tion weitere Vergleichsquellen herangezogen werden.
musikalischen Nummer hin, sondern setzen diese auch           Mit der kritischen Ausgabe von Oper Paërs Leonora
im Anschluss an die Arie fort. Die sehr reduzierten        ossia L’amor conjugale wird ein zentrales Werk der „Sat-
Secco-Rezitative wirken daneben wie Rudimente einer        telzeit“ um 1800 editorisch erschlossen. Es ist zu hoffen,
älteren Zeit.                                              dass sich auch das Musikleben des 21. Jahrhunderts
                                                           seiner Qualität wieder versichert. Unter den Auspizien
                                                           der Historischen Aufführungspraxis erscheint eine
Strukturelle Analogien zu Beethovens „Fidelio“             „Wiederentdeckung“ besonders vielversprechend.
                                                                                                 Thomas Betzwieser
In Beethovens Fidelio ist das Ringen des Komponisten
mit der großen Form auf der einen und der traditionel-
len Singspielstruktur mit gesprochenem Text auf der
anderen Seite auf Schritt und Tritt zu beobachten. Dass      Ferdinando Paër
Beethoven damit das Koordinatensystem der Gattung            Leonora ossia L’amor conjugale. Fatto storico in
veränderte, war ein Resultat seiner einzig(artig)en          due atti. Libretto von Giuseppe Maria Foppa und
Oper. Dagegen präsentierte sich Paërs Leonora weitaus        Giacomo Cinti nach Jean Nicolas Bouilly. Hrsg.
einheitlicher, gleichsam aus einem Guss, was bereits         von Christin Seidenberg (OPERA – Spektrum des
die Zeitgenossen attestierten.                               europäischen Musiktheaters, Leitung: Thomas
   Auch wenn unklar ist, wann Beethoven genau                Betzwieser)
Kenntnis von Paërs Oper hatte – eine Abschrift der           Erstaufführung nach der Edition: 16.5.2020 Schwet-
Partitur befand sich in seinem Nachlass –, so verblüffen     zingen (Festspiele, konzertant), Innsbrucker
doch die strukturellen Analogien, also die musikali-         Festwochenorchester, Musikalische Leitung:
schen Lösungen für die jeweiligen Szenen.                    Alessandro de Marchi; auch 7.8.2020 Innsbruck
   Die Dresdener Uraufführung der Leonora, die der           (Festwochen für Alte Musik)
Komponist selbst leitete, wurde nicht einhellig positiv      Besetzung: Don Fernando (Tenor), Don Pizzarro
aufgenommen. Die Allgemeine Musikalische Zeitung             (Tenor), Florestano (Tenor), Leonora (Sopran),
wusste zu berichten, dass man sich „von dem Ganzen           Rocco (Bass), Marcellina (Sopran), Giachino (Bass),
noch mehr Wirkung versprochen“ hätte. Dem Erfolg             Wachen, Gefangene (stumme Rollen)
des Stückes auf den europäischen Bühnen tat dies             Orchester: 2,2,2,2 – 2,2 (3. Trp von der Loge),0,0 –
keinen Abbruch: Wien, Leipzig, Stuttgart, Frankfurt,         Pk, Str, B. c.
Berlin und München waren die Stationen in den Fol-           Verlag: Bärenreiter. BA 8813-01
gejahren bis 1816, im Ausland Fontainebleau, Florenz

                                                                                                                          ]
                                                                                                                 [t]akte 1I2020 9
T akte - Bärenreiter Verlag
[t]akte
                                                                            Felix Mendelssohn Bartholdy verknüpft in seinem

              Kein Aufguss der Neunten                                      groß angelegten „Lobgesang“ Bibelworte, Gedan-
                                                                            ken Martin Luthers und Versatzstücke voriger
              Felix Mendelssohns Symphonie-Kantate                          Kompositionen zu einem runden und effektvollen
              „Lobgesang“ in einer neuen Urtext-Edition                     chorsinfonischen Werk.

               Felix Mendelssohn Bartholdys Lobgesang galt während          typische Selbstkritik führte jedoch bald dazu, dass er
               der 1840er Jahre und darüber hinaus als eine seiner          mit dem Werk nicht mehr zufrieden war und bis zum 16.
               originellsten Kompositionen, die in den sieben Jahren        Dezember 1840 umfangreiche Änderungen vornahm.
               zwischen ihrer Fertigstellung und Mendelssohns Tod           Eine Aufführung der überarbeiteten Fassung fand im
               bemerkenswerte 26 Aufführungen erlebte. Robert Schu-         Rahmen eines Sonderkonzerts am 16. Dezember statt,
               mann schrieb über sie: „Was den Menschen beglückt            dem auch König Friedrich August II. von Sachsen und
               und adelt.“ Dennoch wurde das Werk von Kritikern wie         sein Gefolge beiwohnten. Der sächsische König war
               Adolph Bernhard Marx, Richard Wagner und George              von dem Werk so begeistert, dass er auf die Bühne kam
               Bernard Shaw verdächtigt, ein unbedeutendes Derivat          und den Komponisten dazu beglückwünschte – sehr
                                  von Beethovens Neunter Sinfonie zu        zum Vergnügen des Publikums, der Ausführenden und
                                  sein. Im Zuge neuerer Forschungen         des Komponisten selbst. Als die Partitur schließlich
                                  wurde diese anachronistische und oft      im September 1841 erschien, war sie dem Monarchen
                                  auch antisemitische Ansicht hinter-       gewidmet.
                                  fragt, denn bis heute wurden Werk-,          Neben den bereits erwähnten grundsätzlichen
                                  Aufführungs- und Überlieferungsge-        Aspekten bezüglich der Chronologie und Philologie
                                  schichte des Lobgesangs letztlich nicht   des Werks, erläutert die Neuedition erstmals die Be-
                                  vollständig durchdrungen.                 deutung des zugrundeliegenden Mottos von Martin
                                     Die Edition bietet einerseits einen    Luther „Sondern ich möcht’ alle Künste, sonderlich
                                  verlässlichen Text des Werks und          die Musika gern sehen im Dienst deß der sie geben
                                  andererseits neue Einblicke in den        und geschaffen hat“, das der Komponist im Kopf der
                                  Lobgesang, da sie auf die Erkennt-        gedruckten Partitur ausdrücklich wünschte, das
                                  nisse bisheriger Editionen und For-       jedoch von allen modernen Editionen weggelassen
                                  schungen aufbaut, das dichte Netz         wurde. Des Weiteren – und vielleicht am wichtigsten
                                  von Manuskripten und autorisierten        – führt die Ausgabe erstmals mögliche Gründe für die
                                  Ausgaben akribisch entwirrt und sich      damals weitverbreitete Meinung zur Originalität des
     Felix Mendelssohn Bartholdy, die kürzlich edierten Korresponden-       Lobgesangs aus, die sich mindestens ebenso sehr von
Gemälde von Eduard Magnus (1846)
                                  zen zunutze machen kann. Darüber          seiner Form wie von seinem Inhalt ableitet. So sprach
                                  hinaus stellt sie die Erstausgabe der     Gustav Schilling beispielsweise von einem Grundstein
               Eröffnungs-Sinfonia in einer Fassung für Klavier solo        „eine[r] ganz neue[n] Kunstform“. Denn offensichtlich
               sowie Mendelssohns eigenhändige Klavierbegleitun-            wurde Mendelssohns Symphonie-Kantate weder als
               gen weiterer Nummern vor. Außerdem kann erstmals             lose Aneinanderreihung von Sätzen nach dem Vorbild
               der englische Übersetzer identifiziert und die Rolle         von Beethovens Neunter Symphonie konzipiert noch
               Mendelssohns bei der Einrichtung der englischen              als solche verstanden – auch wenn Kritiker dies später
               Übersetzung herausgestellt werden. Zum ersten Mal            behaupteten –, sondern vielmehr als parabelähnliches
               wird der Entstehungsprozess des Werks ausführlich            Narrativ, das sich in die rahmenartige Symphonie-Kan-
               dargestellt, und die vielen Fragen, die durch das präch-     tate einfügte. Dieses eingebettete Narrativ ist der
               tige Autograph der Partitur, den Klavierauszug und die       Grund für den verwegenen Beitrag zur romantischen
               Erstausgabe der Stimmen sowie der Partitur entstan-          Form, den Mendelssohns Lobgesang darstellt. Daher ist
               den sind, werden ausführlich beleuchtet. Denn obwohl         der Lobgesang weit davon entfernt, eine uninspirierte
               all diese Quellen von Mendelssohn selbst geprüft wor-        Nachahmung einer bereits existierenden Form zu sein,
               den sind, widersprechen sie sich in vielerlei Hinsicht.      sondern ein kühnes Experiment innerhalb des musika-
                   Das musikalische Material ist aus der Verschmel-         lischen Narrativs und des symbolisch-musikalischen
               zung von drei kompositorischen Projekten hervorge-           Gedächtnisses.                     John Michael Cooper
               gangen: dem Festgesang B-Dur Möge das Siegeszeichen
               (MWV E 2), der unvollendeten Symphonie in B-Dur
               (MWV N 17) und „einen größeren Psalm“, den Mendels-            Felix Mendelssohn Bartholdy
               sohn für die von der Stadt Leipzig geplante 400-Jahr-          Lobgesang. Eine Symphonie-Kantate nach Worten
               Feier der Erfindung der Buchdruckerkunst durch                 der Heiligen Schrift MWV A 18 op. 52. Deutscher
               Johannes Gutenberg komponiert hatte. Die Arbeit an             Text von Felix Mendelssohn Bartholdy nach der
               der ersten Fassung ging schnell voran, so dass im Juni         Luther-Bibel und Martin Rinckart. Englischer Text
               1840 der Lobgesang unter Mendelssohns Leitung in der           von Charles Henry Monicke. Bärenreiter Urtext.
               Leipziger Thomaskirche erstmals erklang. So wie diese          Hrsg. von John Michael Cooper. Bärenreiter-Verlag
               Uraufführung in Deutschland war auch die englische             2020. BA 9092. Partitur, Klavierauszug, Chorpar-
               Erstaufführung beim Birmingham Festival im Septem-             titur und Stimmen käuflich.
               ber desselben Jahres ein voller Erfolg. Mendelssohns

   10 [t]akte 1I2020
1I2020
                                                                      Mit seinem Weihnachtsoratorium schrieb Saint-

Klein, aber wirkungsvoll                                              Saëns in jungen Jahren ein leicht zugängliches
                                                                      Werk, das nun in einer verlässlichen Urtextausga-
Das „Oratorio de Noël“ von Camille Saint-Saëns                        be vorliegt.

Gerade einmal 23 Jahre alt war Camille Saint-Saëns                    Musik – insbesondere auch für Johann Sebastian Bach.
(1835–1921), als er im Dezember 1858 innerhalb we-                    Auch wenn Saint-Saëns sich später sehr gegen diese
niger Tage die ersten sechs Sätze seines Oratorio de                  Mode aufgelehnt hat, teilte er doch das Interesse für
Noël komponierte, die dann – möglicherweise in der                    deutsche Instrumentalmusik. Seine Vorliebe für Werke
Mitternachtsmesse – in der Pfarrkirche Sainte-Ma-                     Bachs ist u. a. in den Transkriptionen
rie-Madeleine in Paris uraufgeführt wurden. Vier                      einiger Kantaten- und Sonatensätze
weitere Sätze fügte Saint-Saëns in den folgenden fünf                 für Klavier dokumentiert, die be-
Jahren hinzu. Wann genau und vor allem warum Saint-                   zeichnenderweise in derselben Zeit
Saëns diese Sätze nachkomponiert hat, ist anhand der                  entstanden wie das Oratorio de Noël.
Quellen nicht nachvollziehbar. Denkbar ist, dass er                      Die Parallelen zwischen der Kom-
nach der Uraufführung Ideen umgesetzt hat, die er in                  position von Saint-Saëns und Bachs
der Kürze der Zeit 1858 nicht hatte realisieren können.               Weihnachtsoratorium sind nicht nur
Möglich ist aber auch, dass die Sätze (sukzessive) für                aufgrund des Titelzusatzes auf der ers-
drei Aufführungen in den Folgejahren geschrieben                      ten gedruckten Partiturseite („Dans le
wurden, um jeweils etwas Neues bieten zu können.                      style de Séb. Bach“) deutlich.
Vielleicht war die große Fassung auch von Anfang an                      Im Gegensatz zu Bach wird die
geplant, um dem Werk ein anderes Gewicht zu geben.                    Weihnachtsgeschichte bei Saint-Saëns
Eine systematische Überarbeitung der Urfassung nahm                   aber nicht von einem Evangelisten
er allerdings erst sehr viel später vor.                              erzählt, der Franzose „verteilt“ die
   Deutlich später äußerte Saint-Saëns sich zur Ur-                   Darstellungen auf verschiedene So- Camille Saint-Saëns 1858
aufführung des Werks 1858, mit der er scheinbar sehr                  listen. Auch verwendet Saint-Saëns
zufrieden gewesen ist, vor allem wegen der „Super-                    keine freien Texte: Er vertont ausschließlich Texte der
stars“ – wie er sie bezeichnete –, die die Solopartien                Vulgata und der katholischen Liturgie.
sangen. In der Presse wurde die Aufführung hingegen                      Erst fünf Jahre nach der Uraufführung wurde die
                                                                      Komposition allgemein zugänglich, als ein Klavieraus-
                                                                      zug des Oratorio de Noël von dem Saint-Saëns-Schüler
                                                                      Eugène Gigout im Verlag von Gustave Flaxland (spä-
                                                                      terer Durand) veröffentlicht wurde. Interessant ist,
                                                                      dass es für die nächsten knapp 30 Jahre weder einen
                                                                      Druck der Partitur noch der Orchesterstimmen gab. Erst
                                                                      1892 kam es zur Drucklegung der Partitur bei Durand.
                                                                      Die hohen Auflagenzahlen der Chorstimmen und des
                                                                      Klavierauszugs deuten darauf hin, dass das Werk un-
                                                                      glaublich beliebt war. In späteren Jahren bezeichnete
                                                                      Saint-Saëns selbst dieses Jugendwerk als sein „petit
                                                                      oratorio de noël“. Es ist vielleicht ein kleines Werk,
                                                                      aber mit großer Wirkung, das sowohl für kleine Chöre
                                                                      als auch für größere Ensembles reizvoll ist. Schon jetzt
                                                                      erfreut es sich international großer Beliebtheit.
                                                                         Erstmals liegt das Werk nun in einer umfassenden
                                                                      wissenschaftlich-kritischen Urtext-Ausgabe vor, die
                                                                      nicht nur die Umarbeitungen durch den Komponisten
Die Madeleine in Paris zur Entstehungszeit von Camille Saint-Saëns’   dokumentiert, sondern auch wertvolle Hinweise zu der
„Oratorio de Noël“                                                    gallikanischen Aussprache des lateinischen Textes gibt,
                                                                      die bis ins Jahr 1903 in Frankreich üblich war.
nicht besprochen, was möglicherweise auch damit                          Der Klavierauszug basiert auf dem zeitgenössischen
zusammenhing, dass das Werk nicht dem Geschmack                       Arrangement von Gigout.               Christina M. Stahl
der Zeit entsprach: Paris in den 1850er-Jahren atmete
den Geist des Musiktheaters, und im liturgischen Raum
dominierten an Weihnachten Zusammenstellungen
bekannter Weihnachtslieder (Noëls), die in verschiede-                  Camille Saint-Saëns
nen Besetzungen zu Suiten oder Kantaten verarbeitet                     Oratorio de Noël. Hrsg. von Christina M. Stahl.
worden waren und eine lange Tradition hatten.                           Bärenreiter-Verlag. BA 11304. Partitur, Klavier-
   Ausgelöst durch die Beethoven-Rezeption, gab es im                   auszug, Chorpartitur, Stimmen käuflich
Frankreich dieser Zeit eine große Vorliebe für deutsche

                                                                                                                                    ]
                                                                                                                         [t]akte 1I2020 11
[t]akte
           Cilea oder                                                         Francesco Cileas schmales Opernschaffen nimmt

           Die Wahrheit des Gesangs                                           eine singuläre Position im veristischen Musikthea-
                                                                              ter ein. Im zweiten Teil der Vorstellung porträtiert
           Die Opern Francesco Cileas (Teil 2)                                der Autor „L‘Arlesiana“ und „Gloria“.

           Francesco Cilea (1866–1950) hinterließ im Unterschied              strenger Moral und sozialer Kontrolle. Für Federico
           zu seinen Zeitgenossen Pietro Mascagni, Ruggero Leon-              bleibt nur die Flucht in den Wahnsinn, schließlich
           cavallo, Umberto Giordano und Giacomo Puccini, mit                 stürzt er sich in den Tod. Wer aber die Frau aus Arles
           denen er gemeinsam im öffentlichen Bewusstsein als                 ist, bleibt im Ungewissen, denn sie ist – so die drama-
           „Giovane scuola italiana“ firmierte, ein nur schmales              turgische Pointe – eine nie in Erscheinung tretende,
           musiktheatrales Œuvre. Von den fünf Opern, begonnen                verborgene Antagonistin.
           mit dem Frühwerk Gina über La Tilda, L’Arlesiana, Adri-               Die musikalisch-dramaturgische Konzeption von
           ana Lecouvreur bis zu Gloria, konnte sich allein das Dra-          L’Arlesiana zeigt eine durchkomponierte Großform, aus
           ma über die französische Tragödin Adriana Lecouvreur               der sich einzelne Szenen bzw. geschlossene Nummern
           dauerhaft im internationalen Repertoire etablieren.                herausschälen lassen, deren Abfolge einer beständi-
           Dabei erweist sich Cileas Opernschaffen bei näherer                gen Kontrastierung von dramatischer Situation und
           Betrachtung als eine klug konzipierte Versuchsanord-               psychologischer Introspektion folgt. Cilea gestaltet
           nung über die Möglichkeiten des Komponierens für das               den musikalischen Ton der Oper durchgängig wie eine
           italienische Musiktheater des Verismo im ausgehenden               Pastorale: L’Arlesiana ist ein musikalisches Naturbild,
           19. und beginnenden 20. Jahrhundert.                               das von der mythischen Einheit des Menschen mit
                                                                              einer intakten und unberührten Natur erzählt, von
                                                                              einer Einheit, die es vor aller äußeren Gefährdung zu
           „L’Arlesiana“                                                      bewahren gilt – beispielhaft in Baldassarres mit „An-
                                                                              dante pastorale“ überschriebenen Arie „Come due tizzi
           In besonderer Weise trifft dies auf L’Arlesiana zu, ein            accessi“, im Intermezzo „La notte di Sant’Eligio“ und in
           Dramma lirico, dessen Libretto von Leopoldo Marenco                der Soloszene von Federicos Mutter eingefangen. Auch
           auf der Grundlage von Alphonse Daudets Schauspiel                  in der ausladenden Szene zwischen Federico und sei-
           L’Arlesienne (1872) bzw. dessen Erzählsammlung Lettres             nem Widersacher Baldassarre rekurriert Cilea auf den
           de mon moulin (1869) entstanden ist. Bereits 1872 hatte            Pastoralton, um zum Abschluss mit Federicos Arie „E la
           Georges Bizet eine umfangreiche Bühnenmusik zu                     solita storia del pastore“ eine gleichsam idealtypische
           Daudets Schauspiel komponiert, eine Musik, die rasch               Formulierung des Lyrisch-Pastoralen zu finden. Wie
           populär wurde, während Daudets Werk sich nicht                     Cilea L’Arlesiana interpretiert wissen möchte, doku-
           durchzusetzen vermochte. Für Cilea war dies kein                   mentiert das Finale. Ein kurzes Orchesternachspiel
           Hinderungsgrund. Durch die innere thematische Nähe                 zitiert aus Federicos Arie. Es ist das Motiv zur Textzeile
           zwischen Daudets Drama und den Ideen des Verismo                   „Anch’io vorrei dormir così, nel sonno almen l’oblìo tro-
           – Regionalismus des Sujets und Fokussierung auf das                var!“ Der Schlaf ist das Synonym für den Tod; und erst
           Bild einer intakten Natur – und durch die Erkenntnis,              im Tod, wenn der Mensch zurücksinkt in den Kreislauf
           dass Daudet eine für das Musiktheater singuläre                    der Natur, kann man Vergessen finden.
           Dramaturgie entworfen hat, war der Stoff für Cilea                    L’Arlesiana wurde am 27. November 1897 am Teatro
           besonders reizvoll.                                                Lirico in Mailand uraufgeführt. Der Abend begründe-
              Der Protagonist Federico verzehrt sich in Liebe zu              te die Weltkarriere Enrico Carusos, der mit der Partie
           einer namenlosen Frau aus Arles, muss aber zugleich                des Federico sein vielbeachtetes Debüt gab. Die Kritik
           erfahren, dass seine Familie und die Bewohner seines               aber beklagte Längen der Oper selbst, so dass Cilea die
           Heimatdorfes diese Liebe strikt ablehnen. Unüberwind-              vier Akte auf drei kürzte. Doch er unterzog die Oper
           lich ist der Konflikt zwischen individuellen Wünschen,             weiteren Überarbeitungen und Ergänzungen. Eine
                                                                              als endgültig zu betrachtende Fassung erlebte am 26.
                                                                              Februar 1935 am Teatro di San Carlo in Neapel ihre
                                                                              Uraufführung.

                                                                              „Gloria“

                                                                              Francesco Cileas letzte vollendete Oper Gloria prob-
                                                                              lematisiert nochmals in pointierter Weise die Frage
                                                                              nach der Bedeutung veristischen Komponierens. Die
                                                                              dreiaktige Oper entstand nach einem Libretto des
                                                                              Publizisten Arturo Colautti (1851–1914) und wurde am
                                                                              15. April 1907 an der Mailänder Scala uraufgeführt. Die
           Modell des Bühnenbilds für die Uraufführung von „L’Arlesiana“ am   kritischen Reaktionen von Presse und Publikum veran-
           Teatro Lirico Milano 1897 (Fotos: Sonzogno)                        lassten Cilea, das Werk zu modifizieren (Uraufführung

12 [t]akte 1I2020
1I2020

der neuen Version war am 4. Februar 1908 am Teatro
Costanzi in Rom) und schließlich mit einer Neufassung
des Librettos von Ettore Moschino teilweise neu zu
komponieren. Diese Fassung wurde am 20. April 1932
am Teatro di San Carlo in Neapel uraufgeführt.
   Im Zentrum von Gloria steht die Stadt Siena in der
Toskana, an der exemplarisch das Machtgefüge Italiens
im 14. Jahrhundert dargestellt wird. Arturo Colautti
zeigt die Stadt in einer Zeit, als die Fehden zwischen
einzelnen Familien die Zeitläufe bestimmten. Die
Familie der Bardi hat sich im Gefüge der Signoria etab-
              liert und untergräbt die republikanischen
              Strukturen, so dass die Bevölkerung von
              der politischen Entscheidungsfindung
              ausgeschlossen wird. Im Kampf der Fa-
                                                            „Gloria“ 1996 am Teatro Regio di Parma
              milien muss sich Lionetto Ricci beugen
              und die Stadt verlassen, versucht nun         ein von Orgel und Kirchenglocken begleitetes Magnifi-
              aber mit Unterstützung des Kaisers, den       cat, später einen festlichen Hochzeitsmarsch, einen ein-
              Widerstand der herrschenden Signoria          zig von der Orgel begleiteten Choral und kontrastierend
              und damit der Stadt militärisch zu bre-       ein „Dies irae“ als Synonym für den bevorstehenden
              chen. In diese Konstellation positioniert     Mord an Lionetto ein. Dem Höhepunkt der Oper, dem
              Colautti die tragische Liebesgeschichte       Mord an Lionetto, verleiht hingegen das Hauptmotiv
              zwischen Gloria de’ Bardi und Lionetto        aus dessen Erzählung „Storia ho di sangue“ musikali-
              Ricci. Diese Liebe ist jenseits der inneren   sche Prägnanz. Und es ist dieses Motiv des politischen
              Nähe zur Romeo-und-Julia-Thematik zu-         Widerstands gegen die herrschende Macht der Signoria,
              gleich Sinnbild der politischen Situation.    das in der ersten Fassung die Oper beschließt, während
              Die Partikularinteressen können nicht         in der späteren Version das Magnificat-Thema und die
              zum Ausgleich gelangen, womit Colautti        mit der Liebe zwischen Gloria und Lionetto assoziierten
              einem Geschichtspessimismus Ausdruck          Themen das entpolitisierte Finale markieren.
verliehen hat, dem man angesichts der Lage in Italien
zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine Aktualität nicht       Francesco Cilea war Teil des italienischen Opernsys-
absprechen kann. Gloria ist also eine Parabel.              tems; zugleich aber dokumentiert sein Œuvre jenseits
   Gerade diese inhaltliche Zuspitzung aber ist in der      personalstilistischer Besonderheiten eine planmäßige
Fassung von Ettore Moschino relativiert, denn hier wird     Reflexion über die Bedingungen veristischen Kom-
der politische Konflikt verkürzt und ins Private umge-      ponierens. La Tilda erprobt die mit Pietro Mascagnis
bogen. Folgerichtig gerinnen die Oper zur Liebestragö-      Cavalleria rusticana etablierten Verfahren im Kontext
die und das Finale mit dem Selbstmord Glorias zu einem      einer dreiaktigen Oper, L’Arlesiana problematisiert
Dokument der über den Tod hinaus dauernden Liebe.           die ideologischen Grundlagen des Verismo, Adriana
   Colauttis Libretto steht in der Tradition des histori-   Lecouvreur ist das Dokument einer Ästhetik der Wahr-
schen Verismo – eines Verismo, der historisch-politi-       heit und Wahrhaftigkeit des Gesangs und Gloria die
sche Ereignisse mit konkreten Orten, Dekorationen und       sinnfällige Verknüpfung der Ideen des Verismo mit
Kostümen zu fundieren sucht. Wie schon in Ruggero           einem historischen Stoff, um ein im emphatischen
Leoncavallos I Medici oder Umberto Giordanos Andrea         Sinne aktuelles Werk hervorzutreiben.
Chenier wird die Bühne zum Abbild historischer Wirk-                                          Hans-Jochim Wagner
lichkeit. Gleichermaßen ist Cileas Musik von der Idee
getragen, dem historischen Sujet ein Fundament zu
geben. Der Rekonstruktion der Historie wird besonde-           Die Opern Francesco Cileas
re Aufmerksamkeit gewidmet, indem der Komponist
ganz im Sinne veristischen Komponierens die zitierte           Gina
Musik auf und hinter der Bühne, vor allem aber einen           L’Arlesiana
gleichsam historisierenden Religioso-Ton als durchgän-         Adriana Lecouvreur
giges Modell nutzt – paradigmatisch gegenwärtig im             Gloria (Colautti)
kurzen Schlussakt, der szenisch und musikalisch nichts         Verlag: Casa Musicale Sonzogno · Vertrieb: Bären-
anderes als eine Kirchenszene ist. Als Chiffren der            reiter · Alkor
Atmosphäre im Dom zu Siena setzt Cilea im Präludium

                                                                                                                          ]
                                                                                                                [t]akte 1I2020 13
Sie können auch lesen