T akte - Bärenreiter Verlag
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[t]akte Das Bärenreiter-Magazin Politischer Gestus 1I2020 Das Opernschaffen Paul Dessaus Der italienische „Fidelio“ Informationen für „Leonora“ von Ferdinando Paër Bühne und Orchester Im Haifischbecken Ľubica Čekovskás Oper „Impresario Dotcom“
[t]akte 5 6 8 10 Ein Heerführer zwischen Weniger „Merveilleux“, mehr Der italienische „Fidelio“ Kein Aufguss der Neunten zwei Frauen Erfolg „Leonora ossia L’amor conju- Felix Mendelssohns Symphonie- Händels Oper „Alessandro“ in Rameaus „Dardanus“ jetzt auf gale“ von Ferdinando Paër Kantate „Lobgesang“ in einer der Hallischen Händel-Ausgabe verlässlicher Basis neuen Urtext-Edition Beethovens „Fidelio“ hat die Für seinen „Alessandro“ konn- Die Neuausgabe der Oper anderen „Leonoren“-Opern Felix Mendelssohn Bartholdy te Händel 1726 die besten Sän- „Dardanus“ von Jean-Philippe in den Hintergrund gedrängt. verknüpft in seinem groß gerinnen und Sänger seiner Rameau in der Fassung vom Doch Ferdinando Paërs angelegten „Lobgesang“ Zeit verpflichten. Auch heute Mai 1744 präsentiert das Werk „Leonora“ verdient durchaus Bibelworte, Gedanken Martin noch bietet das Werk mit der in seiner vom Komponisten eigene Aufmerksamkeit. Eine Luthers und Versatzstücke fiktiven Handlung reichlich beabsichtigten definitiven neue Edition hilft bei der voriger Kompositionen zu ei- Stoff für einen bravourösen Gestalt. Wiederentdeckung. nem runden und effektvollen Opernabend. chorsinfonischen Werk. Oper Oper Orchester / Oratorium Neue Musik Geläuterte Schönheit Cilea oder Die Wahrheit des Kein Aufguss der Neunten Ohne Beethoven mit Händels erstes Oratorium in der Gesangs Felix Mendelssohns Beethoven Hallischen Händel-Ausgabe 4 Die Opern Francesco Cileas Symphonie-Kantate „Lob- „red china green house für (Teil 2) 12 gesang“ in einer neuen Urtext- orchester“ von Philipp Maintz 17 Ein Heerführer zwischen zwei Edition 10 Frauen „Der Grundgestus meiner „Blick – Traum – Übergang“ Händels Oper „Alessandro“ Musik ist ein politischer“ Klein, aber wirkungsvoll Manfred Trojahns Prolog zu in der Hallischen Händel- Das Opernschaffen Paul Das „Oratorio de Noël“ von Verdis „Don Carlo“ 17 Ausgabe 5 Dessaus 14 Camille Saint-Saëns 11 Im Haifischbecken Weniger „Merveilleux“, mehr „Gebet für die Heimat“ Ľubica Čekovskás Oper Erfolg Bohuslav Martinůs „Impresario Dotcom“ für Rameaus „Dardanus“ jetzt „Feldmesse“ im Urtext 16 Bregenz 18 auf verlässlicher Basis 6 Dieter Ammann – aktuell 19 Der italienische „Fidelio“ „Leonora ossia L‘amor conju- Beat Furrer – aktuell 19 gale“ von Ferdinando Paër 8 Matthias Pintscher – aktuell 19 Thomas Daniel Schlee – aktuell 19 2 [t]akte 1I2020
1I2020 11 12 14 18 Klein, aber wirkungsvoll Cilea oder Die Wahrheit des „Der Grundgestus meiner Im Haifischbecken Das „Oratorio de Noël“ von Gesangs Musik ist ein politischer“ Ľubica Čekovskás Oper „Im- Camille Saint-Saëns Die Opern Francesco Cileas Das Opernschaffen Paul presario Dotcom” für Bregenz (Teil 2) Dessaus Mit seinem Weihnachtsora- Was sind schon 260 Jahre? torium schrieb Saint-Saëns Francesco Cileas schmales Die Neuinszenierung der Oper Goldonis „Der Impresario von in jungen Jahren ein leicht Opernschaffen nimmt eine „Lanzelot“ in Weimar wurde Smyrna“ lässt sich mühelos zugängliches Werk, das nun in singuläre Position im veristi- hymnisch als „Sensation“ und in unsere Zeit holen, denn einer verlässlichen Urtextaus- schen Musiktheater ein. Im „Wiederentdeckung erster auch heute tragen Menschen gabe vorliegt. zweiten Teil der Vorstellung Güte“ gefeiert. Vier andere ihre Haut im Theaterbetrieb porträtiert der Hans-Joachim Opern von Paul Dessau warten zu Markte. Die neue Oper von Wagner „L’Arlesiana“ und noch auf ihre Rückkehr auf die Ľubica Čekovská macht aus „Gloria“. Bühne. dem Stoff eine musikdramati- sche Tragikomödie. Neue Musik Nachrichten / Publikationen Termine Titelbild Ein Cembalokonzert? Nachrichten 7 Festspielsommer 2020 26 Paul Dessaus Lanzelot am Ein Cembalokonzert! Nationaltheater Weimar Miroslav Srnkas neues Werk Neue Bücher 25 Termine Premiere: 23.11.2020 (Musi- für Mahan Esfahani 20 April – September 2020 29 kalische Leitung: Dominik Neue Aufnahmen 28 Beykirch, Inszenierung: Das himmlische Leben Peter Konwitschny) – Andrea Lorenzo Scartazzinis (Foto: Candy Welz) Orchesterstück zu Mahlers 4. Symphonie 21 Übersetzungen Aus der Vergangenheit für die Gegenwart S. 6: Annette Thein Salvatore Sciarrinos „Aischylos- S. 10 / 24: Salome Obert Szenen“ für Klagenfurt 22 S. 23: Irene Weber- Froboese Vibrierende Klanggewebe Die französische Komponistin Édith Canat de Chizy wird 70 23 Neue Bühnenwerke von Thomas Adès und Torsten Rasch 24 [t]akte 1I2020 3
[t]akte Das Gute siegt, und die Schönheit wird geläutert: Geläuterte Schönheit Händels allegorisches Oratorium „La Bellezza ravveduta nel trionfo del Tempo e del Disinganno“ Händels erstes Oratorium in der Hallischen ist durch melodischen Reichtum und hinreißende Händel-Ausgabe Arien, Duette und Quartette überaus attraktiv. Händels Anfang 1707 in Rom entstandenes erstes, lange Librettodruck erhalten. Ob die heute verlorene Musik als Il trionfo del Tempo e del Disinganno („Der Sieg der gänzlich von Cesarini geschrieben oder ob noch etwas Zeit und der Erhellung“), HWV 46a, bekanntes Oratori- von Händels Komposition übriggeblieben war, bleibt um heißt in der Primärquelle, einer in Münster in West- offen. Als Händel-Rudimente in Cesarinis Oratorium falen aufbewahrten Handschrift, La Bellezza Raueduta könnte man sich diejenigen Arien aus La Bellezza rav- nell’ Trionfo Del Tempo e del Disinganno. Normalisiert veduta vorstellen, deren Worttexte metrisch zu Händels lautet der Titel dieses allegorischen Oratoriums La Musik passend im Libretto von 1725 stehen. Vielleicht Bellezza ravveduta nel trionfo del Tempo e del Disin- bewog die Schönheit von Arien wie Tempos gewaltigem ganno („Die durch den Sieg der Zeit und der Erhellung „Urne voi, che racchiudete“, Piaceres „Lascia la spina“, geläuterte Schönheit“). Der korrekte Titel fördert die eine der berühmtesten Melodien Händels, oder Piaceres Abgrenzung des im vokalen Bereich ausschließlich von virtuosem „Come nembo che fugge col vento“ Cesarini, vier Solisten (die die Schönheit, die Zeit, die Erhellung den Ehrgeiz, Händels Musik durch seine eigene zu er- und das Vergnügen verkörpern) bestrittenen, strikt dra- setzen, zu zügeln, auch könnte er gehofft haben, dass matisch angelegten frühen Werkes von dem späteren, die Hörer ihn für den Komponisten auch dieser Stücke fünf Chöre und mit ihnen stärker reflexive Elemente halten würden. einbeziehenden Oratorium Il trionfo del Tempo e della Mit La Bellezza ravveduta gelang dem 22-jährigen Verità, („Der Sieg der Zeit und der Wahrheit“), HWV 46b, Händel gleich zu Beginn seines Oratorienschaffens in der Fassung von 1737. HWV 46b besteht zu mehr als einer seiner größten Würfe auf diesem Gebiet. Im der Hälfte aus von HWV 46a völlig oder weitgehend vielfach von Erfindungen Reinhard Keisers (1674–1739) unabhängiger Musik und nur zu etwa einem Drittel inspirierten melodischen Reichtum wird das Werk von aus gleicher bzw. kaum veränderter Musik – eine Tat- keinem anderen Oratorium übertroffen. Am Ende ei- sache, die fortan nicht mehr durch fast gleich lautende ner imponierenden Reihung von hinreißenden Arien, Werktitel verschleiert wird. Duetten und Quartetten wird Bellezzas Läuterung zum La Bellezza ravveduta ist ein allegorisches Oratorium, gottgefälligen Leben von ihrem überwältigend schö- dessen Handlung dem für diese Gattung wohl häufigs- nen, todtraurigen Schlussgesang „Tu del ciel ministro ten Muster, der Kontroverse, folgt. Die Dialoge in Ora- eletto“ in schneidendem E-Dur begleitet, ein absoluter torien dieses Typs werden teilweise oder, wie in HWV Höhepunkt dramatischer Ironie in Händels Schaffen. 46a, ausschließlich von Personifikationen geführt. Eine Auch wegen seiner schlackenlosen dramatischen reale Person oder eine Personifikation steht zwischen Struktur – anders als in vielen anderen Oratorien und den Fronten. Man streitet um sie, sie ist hin- und her- in allen Opern des Barock wird niemals aus der Hand- gerissen, verharrt aber letztlich standhaft im Glauben lung ausgestiegen, alle Arien gehören zum Disput der oder wird bekehrt oder geläutert. Die Personifikationen vier dramatischen Personen – erlebte das Oratorium allegorischer Oratorien sind Abstrakta und als solche noch unter dem nun veraltenden, wenig aussagekräf- meist festgeschrieben, entweder der guten (Tempo und tigen Titel Il trionfo del Tempo e del Disinganno in den Disinganno) oder der schlechten (Piacere) Seite zuge- letzten Jahren lange Reihen umjubelter, meist szeni- hörig. Bellezza allerdings ist ein Paradebeispiel für die scher Aufführungen. Michael Pacholke Offenheit, Wandelbarkeit und den Facettenreichtum mancher allegorischer Figuren. Der Ausgang – das Gute siegt und das Schlechte unterliegt – steht von Beginn an fest, in unserem Falle: Die Schönheit wird durch Georg Friedrich Händel den Sieg der Zeit und der Erhellung über das weltliche La Bellezza ravveduta nel trionfo del Tempo e del Vergnügen geläutert. Disinganno HWV 46a. Oratorium in zwei Teilen. Da im offiziellen Diario di Roma von Francesco Hrsg. von Michael Pacholke. Hallische Händel- Valesio (1670–1742) eine entsprechende Notiz fehlt, Ausgabe I/4.1 kann es als einigermaßen sicher gelten, dass HWV Erstaufführung nach der Edition: 7.6.2020 Halle 46a weder in Rom noch anderswo zu Händels Lebzei- (Händel-Festspiele), Accademia Bizantina, Lei- ten aufgeführt wurde. Aufführungen von La Bellezza tung: Ottavio Dantone ravveduta während der Fastenzeit 1707 könnten durch Besetzung: Bellezza (Soprano), Piacere (Soprano), Carlo Cesarini (1666 bis 1741 oder später), „maestro di Disinganno (Contralto), Tempo (Tenore) musica“ am Hofe des Kardinals Benedetto Pamphili Orchester: Flauto dolce I, II, Oboe I, II, Violino solo (1653–1730), dem Librettisten des Oratoriums, hinter- I, II del concertino, Violino I, II, III del concerto trieben worden sein. Für den Zeitraum von 1718 bis 1725 grosso, Viola I, II, Organo, Bassi sind Aufführungen von Cesarinis Oratorium Il trionfo Verlag: Bärenreiter, BA 10721, Aufführungsmate- del Tempo nella Bellezza ravveduta („Der Sieg der Zeit rial leihweise in der geläuterten Schönheit“) bezeugt, von 1725 ist ein 4 [t]akte 1I2020
1I2020 Ein Heerführer Für seinen „Alessandro“ konnte Händel 1726 die zwischen zwei Frauen besten Sängerinnen und Sänger seiner Zeit ver- pflichten. Auch heute noch bietet das Werk mit der Händels Oper „Alessandro“ in der fiktiven Handlung reichlich Stoff für einen bra- Hallischen Händel-Ausgabe vourösen Opernabend. Durchaus typisch für seine Zeit handelt Händels Oper Alessandro von einzelnen Episoden aus Leben und Herrschaft Alexanders des Großen (356–323 v. Chr.). Der legendäre Krieger und Heerführer eroberte weite Teile der Welt, bevor er im Alter von 32 Jahren ein frühzeiti- ges Ende fand. Ein zentraler Konflikt in Händels Oper besteht in Alessandros natürlich nicht belegter Liebe zu zwei Frauen, Lisaura und Rossane; diese konkurrieren um seine Gunst. Daneben wird seine Berufung auf sei- ne göttliche Abstammung hervorgehoben, die er zum Anlass nimmt, die Unterwürfigkeit seiner Gefolgschaft einzufordern, was auf große Ablehnung stößt. Händel komponierte Alessandro in der Spielzeit 1725/26 für die Royal Academy of Music nach einem Libretto von Paolo Antonio Rolli. Die Uraufführung fand am 5. Mai 1726 im King’s Theatre in London statt. Alessandro war die erste von fünf Opern für die Royal Academy, in denen Händel für drei der berühmtesten Sänger seiner Zeit – Francesco Bernardi, genannt Sene- sino, Faustina Bordoni und Francesca Cuzzoni – kom- Alexander der Große, Mosaik aus Pompeji, Museo Archeologico Neapel ponieren konnte. Der Bordoni und Cuzzoni wurden der konkurrierende Konflikt um den begehrten Feldherren, seinerzeit verkörpert von Senesino, quasi auf den Leib Wie üblich, präsentiert die Hallische Händel-Ausgabe geschrieben. Dadurch konnte bereits im Vorfeld das auch dieses Werk in sämtlichen zu Händels Lebzeiten öffentliche Interesse an der Oper gesteigert werden. nachweisbaren Fassungen: Im Hauptteil wird die Das Werk enthält folglich eine große Anzahl virtuoser Werkgestalt der ersten Aufführungen 1726 abgedruckt. Bravourarien, während verhaltene, aber fein gezeich- Insgesamt drei Anhänge geben Frühfassungen einzel- nete Musik von Händel eher in die dramaturgischen ner Sätze, während der ersten Aufführungsserie 1726 Nebenschauplätze verlagert wurde. hinzugefügte Arien sowie die Fassung von 1732 wieder. Ortensio Mauros Libretto La superbia d’Alessandro, Eine ausführliche, auf dem aktuellen Forschungsstand das 1690 in einer Vertonung von Agostino Steffani in beruhende Entstehungsgeschichte der Oper und eine Hannover erstmals zur Aufführung kam und dort im Gegenüberstellung der Fassungen von 1726 und 1732 folgenden Jahr unter dem Titel Il zelo di Leonato mit sind in deutscher und englischer Sprache abgedruckt. zahlreichen Änderungen erneut gespielt wurde, dien- Der Kritische Apparat informiert ausführlich über die te als Vorlagetext für Händels bzw. Rollis Alessandro. Quellenlage sowie Einzelentscheidungen des Heraus- Bei der Einrichtung des Librettos für die Londoner gebers Richard G. King. Julia Hebecker / Tobias Gebauer Aufführungen bestand eine wesentliche Aufgabe des Librettisten darin, die Rollen der berühmten Sänger der Royal Academy in Balance zu halten, zugleich aber Georg Friedrich Händel einen musikalischen Wettstreit der Primadonnen zu Alessandro. Opera in tre atti HWV 21. Hrsg. von inszenieren. Richard G. King. Hallische Händel-Ausgabe II/18. Welche Änderungen Händel während der folgenden Erstaufführung (konzertant) nach der Neuedition: Aufführungsserie in der Spielzeit von 1727/28 vornahm, 16.5.2020 Basel (Peterskirche), Basler Kammer- ist nicht mehr zu ermitteln. Für die Aufführungsserie orchester, Leitung: Diego Fasolis, auch 21. Mai von 1732/33 hingegen überarbeitete der Komponist Göttingen (Händel-Festspiele) die Oper substanziell: Sechs Musiknummern wurden Besetzung: Alessandro magno (Alt), Tassile, re ganz, das Finale teilweise gestrichen, die Rezitative indiano (Alt), Clito (Bass), Cleone (Alt). Leonato stark gekürzt, und die Partien von Cleone und Leonato (Tenor), Rossane (Sopran), Lisaura (Sopran) entfielen vollständig; ihre Anteile wies Händel anderen Orchester: Flauto dolce I, II, Ob I, II, Fag I, II, Cor I, Bühnenfiguren zu oder strich sie. Für die neuen Sänger II, Tr I, II, Vl I, II, III, Va, Bassi (Vc, Kb, Fag, Cemb) ließ Händel drei Arien transponieren. Es ist denkbar, Verlag: Bärenreiter, BA 4073, Partitur käuflich, dass einige der Änderungen von 1732 schon bei der Wie- Aufführungsmaterial leihweise deraufnahme von 1727/28 vorgenommen worden sind. ] [t]akte 1I2020 5
[t]akte Weniger „Merveilleux“, Die Neuausgabe der Oper „Dardanus“ von Jean- mehr Erfolg Philippe Rameau in der Fassung vom Mai 1744 präsentiert das Werk in seiner vom Komponisten Rameaus „Dardanus“ jetzt auf verlässlicher Basis beabsichtigten definitiven Gestalt. Nach Hippolyte et Aricie (1733) und Castor et Pollux (1737) Anténor änderten sich gegenüber der Version von 1739, ist Dardanus Rameaus dritte „Tragédie lyrique“, die die Prinzessin ist nun deutlich aktiver: Im vierten Akt in Paris zur Aufführung gelangte. Dass sie innerhalb entschließt sie sich, Dardanus zu befreien, damit er der von nur fünf Jahren in zwei deutlich verschiedenen Ermordung durch Anténor entkommen kann. Aténor Fassungen vorgelegt wurde, verweist bereits auf ihre fühlt sich aus Eifersucht und Zurückweisung dazu einzigartige Rezeptionsgeschichte. Das Libretto von gedrängt, einen Plan zu Dardanus Verschwinden aus- Leclerc de La Bruère schildert die Liebesgeschichte zwi- zuhecken, womit sein Heldentum zu bröckeln beginnt. schen dem jungen Krieger Dardanus, der gegen Teucer, Es gibt also nicht nur eine Version von Dardanus aus König der Phryger, Krieg führt, und dessen Tochter dem Jahr 1744, sondern für die letzten drei Akte zwei. Iphise. Doch die junge Frau ist einem anderen Krieger Die neue kritische Ausgabe von Denis Herlin bietet versprochen, Anténor, der ein Verbündeter Teucers ist. erstmals die Möglichkeit, auch die Fassung vom Mai Sie erliegt der verbotenen Liebe 1744 wiederherzustellen. Zugleich geben ihre Anhänge und schließt sich ‒ nach ver- den Ausführenden das vollständige Material, um die schiedenen Abenteuern und Fassung vom April 1744 zu spielen, von der viele Teile der Intervention der Göttin seither nicht mehr zu hören waren. Im Zuge seiner Venus ‒ mit Dardanus zusam- Wiederaufnahme 1760 wurde Dardanus bis 1771 zu einer men, was schließlich Teucers der erfolgreichsten Opern. Neben der Auslassung des Unnachgiebigkeit bricht. Als Prologs nahm Rameau nur geringfügige Änderungen Rameau im November 1739 an der Fassung vom Mai 1744 vor. Auch diese wenigen Dardanus an der Königlichen Änderungen sind in der kritischen Neuausgabe ent- Musikakademie in Paris zur halten. Aufführung brachte, sah er Als Rameau im April 1744 Dardanus als Partitur her- sich wegen der Unglaubwür- ausbrachte, vermerkte er auf dem Titelblatt „Nouvelle digkeit des Librettos von Lec- tragédie“, andere, später überarbeitete Opern erhielten lerc de La Bruère starker Kritik keinen solchen Vermerk. Ganz offenbar stellte die Fas- ausgesetzt – was dazu führte, sung von 1744, obgleich seine Musik in weiten Teilen dass die Oper trotz allen musi- mit der der Fassung von 1739 identisch ist, in seinen kalischen Reichtums abgesetzt Augen eine neue Oper dar. Denis Herlin wurde. Rameau jedoch gab sich nicht geschlagen und bereitete Jean-Philippe Rameau 1744 das Werk zur Wiederauf- Dardanus. Tragédie in einem Prolog und fünf nahme vor. Dafür befreite er Akten. Libretto von Charles-Antoine Leclerc de es von den Bestandteilen des La Bruère RCT 35 B. Fassung Mai 1744, Fassungen Dardanus, Kostümmodell von Louis-René „Merveilleux“ zugunsten der April 1744, 1760 und 1764 (Anhang). Hrsg. von Bouquet (1717–1814). Bibliothèque nationale Darstellung der Leidenschaf- Denis Herlin. Opera omnia Rameau IV/8 de France, département Bibliothèque-musée ten. Für die Reprise wurden der Erstaufführungen nach der Edition: 8.3.2020 de l‘opéra, D216O-7 (66) Prolog und der zweite Akt nur Budapest, Purcell Chor, Orfeo Orchestra, Leitung: geringfügig überarbeitet, während die letzten drei Akte György Vashegyi / 26.6.2020 New York (St. Paul‘s völlig neu waren. Das „Wunderbare“ des vierten Aktes Chapel), Choir of Trinity Wall Street, Trinity (Dardanus’ Schlaf und sein Kampf mit dem Monster) Baroque Orchestra, Musikalische Leitung: Avi verschwand zugunsten einer prachtvollen Szene zu Stein, Inszenierung: John La Bouchardière Beginn des Aktes, die den verzweifelten Dardanus im Besetzung: Prologue: Vénus (Sopran), L’Amour Kerker zeigt. Ab dem 15. Mai 1744, also nicht einmal (Sopran) – Tragédie: (Sopran), Dardanus (Tenor), drei Wochen nach der Premiere, überarbeitete Rameau, Anténor (Bass), Teucer (Bass), Isménor (Bass), Arcas wohl wegen gewisser Längen, wiederum den Großteil (Tenor), Vénus (Sopran), Phrygierin (Sopran), Chor des dritten Aktes, die drei letzten Szenen des vierten Orchester: 2 Picc,2,2,0,2 – 0,0,0,0 – 2 Musettes – sowie das Divertissement des fünften Aktes. Diese Str, B. c. Überarbeitungen veränderten den Sinn der Handlung Verlag: Société Jean-Philippe Rameau/Bärenrei- nicht tiefergreifend, sondern verschärften das drama- ter, BA 8868, Aufführungsmaterial leihweise tische Geschehen. Auch die Rollen der Iphise und des 6 [t]akte 1I2020
1I2020 Nachrichten Im Bärenreiter-Verlag ist ein neuer Klavierauszug zu Christoph Willibald Glucks „Tragedia per musica“ Alceste (Wiener Fassung 1767) erschienen. Auf Basis des von Gerhard Croll herausgegebenen Gesamtausgabenban- Einladung des hat Hans Schellevis ein gut spielbares Arrangement zur Subskription geschaffen. Neben dem originalen Librettotext von Ranieri de’ Calzabigi ist den Singstimmen eine sang- bare deutsche Übersetzung unterlegt. Es wurde großer Die ersten Bände Wert auf einen übersichtlichen Notensatz gelegt. Ein der Reihe: informatives zweisprachiges Vorwort (dt./engl.) rundet die Ausgabe ab. Zur Eröffnung einer auf mehrere Jahre angelegten, DIE EDITION mit „Wagner-Kosmos“ betitelten Auseinandersetzung Der Großteil des heutigen mit dem Schaffen Richard Wagners im Kontext seiner Opernrepertoires ist italie- Vorläufer, Zeitgenossen und Antipoden kündigt die nisch. Und doch sind viele Oper Dortmund für den 21. Mai 2020 die erste Wieder- der beliebtesten oder aufführung der dritten Fassung von Gaspare Spontinis bedeutendsten Werke nicht in einer kritischen Ausgabe Opéra Fernand Cortez (Berlin 1824) in französische Spra- erhältlich. che an. Die Berliner Fassung unterscheidet sich von Bärenreiters neue Reihe der zweiten, 1817 in Paris gespielten Version vor allem Masterpieces of Italian Opera durch das als „Denouement“ bezeichnete Ende des entstand aus dem Bedarf an dritten Aktes, das dem Finale größere dramaturgische solchen Ausgaben, sowohl Plausibilität verleihen sollte. Die entscheidende Quelle für Aufführungs- als auch für für das Denouement wurde von Klaus Pietschmann in Forschungszwecke. der Musik-och teaterbiblioteket Stockholm ausfindig Die in Zusammenarbeit gemacht und vom Bärenreiter-Verlag im Vorgriff auf die mit Philip Gossett (†) kon- Kritische Neuausgabe von Fernand Cortez in der Reihe zipierte und von Andreas Ruggero Leoncavallo Giger und Francesco Izzo OPERA erstmals in Partitur und Aufführungsmaterial € = geb. Euro-Preis in Deutschland – Irrtum, Preisänderung u. Lieferungsmöglichkeiten vorb. Pagliacci herausgegebene Reihe publiziert. Eva-Maria Höckmeyer wird das Drama der Hrsg. Andreas Giger erfüllt dieses Bedürfnis, Eroberung von Mexiko inszenieren, die musikalische BA 7648-01* · € 344,– beginnend mit vier Opern. Leitung hat Motonori Kobayashi. Bereits erschienen Die Fortführung der Reihe ist geplant. Die Karriere der Komponistin und Dirigentin Vítězslava In Vorbereitung: Kaprálová (1915–1940) fand durch ihren frühen Tod ein DIE SUBSKRIPTION Pietro Mascagni jähes Ende. 1937 schrieb sie das Lied für Gesang und Die ersten vier Bände können Cavalleria rusticana Klavier „Sbohem a šáteček“ (Lebewohl und Tüchlein) einzeln bezogen oder kom- Hrsg. Andreas Giger plett zu reduzierten Preisen op. 14 auf den Text des surrealistischen Dichters BA 7649-01* subskribiert werden. Vítězslav Nezval. In Paris bearbeitete sie das Lied dann noch für Orchester. In die sehr farbenreiche Instrumen- Über die Fortsetzung der Gaetano Donizetti Reihe informieren wir Sie tierung griff wahrscheinlich auch ihr Lehrer und enger Caterina Cornaro rechtzeitig. Freund Bohuslav Martinů ein. Das neu gesetzte Auf- Hrsg. Hans Schellevis Jeder Band enthält (engl./ führungsmaterial ist bei Bärenreiter Praha erhältlich. BA 8747-01 ital.) ein ausführliches Vorwort, eine Quellenbe- Beim Deutschen Dirigentenpreis im Oktober 2019 in Domenico Cimarosa schreibung und Erläuterun- Köln wurde die Französin Chloé van Soeterstède mit Il matrimonio segreto gen zur Aufführungspraxis. dem Bärenreiter-Sonderpreis, einem großzügigen No- Der Kritische Bericht (engl.) Hrsg. Federico Gon und wird kostenlos über die tengutschein für die beste Interpretation eines Werks Guido Olivieri · BA 7647-01 Bärenreiter-Homepage des 20./21. Jahrhunderts, ausgezeichnet. Sie überzeugte zugänglich sein. in der zweiten Runde am Pult des WDR Sinfonieorches- * in Kooperation mit Casa Musicale Sonzogno Format 26 x 33 cm, Leinen ters mit Anton von Weberns Sechs Stücken für Orchester op. 6 sowie mit Rebecca Saunders‘ traces. Den Haupt- preis gewann der Spanier Julio García Vico (*1992), der Ungar Gábor Hontvári erhielt den 2. Preis, den 3. Preis Bärenreiter w w w . b a e r e n r e i t e r. c o m erhielt Chloé van Soeterstède. ] [t]akte 1I2020 7
[t]akte Beethovens „Fidelio“ hat die anderen „Leonoren“- Der italienische „Fidelio“ Opern in den Hintergrund gedrängt. Doch Ferdi- nando Paërs „Leonora“ verdient durchaus eigene „Leonora ossia L’amor conjugale“ Aufmerksamkeit. Eine neue Edition hilft bei der von Ferdinando Paër Wiederentdeckung. Die vier „Leonoren“ Im Kontext des Beethoven-Jahres 2020 rücken die Par- allelvertonungen des Fidelio einmal mehr in den Blick- punkt des Interesses. Mehr noch werden im Rahmen des Beethovenfestes Bonn im Herbst dieses Jahres alle vier „Leonoren“ zur Aufführung kommen. Neben der Vertonung des Bonner Komponisten sind dies Leonora ossia L’amor conjugale von Ferdinando Paër, die einak- tige „farsa sentimentale“ L’amor conjugale von Simon Mayr sowie die französische Opéra comique Léonore, ou L’amour conjugal von Pierre Gaveaux. In Bonn wird sich somit die seltene Gelegenheit bieten, alle vier Opern nebeneinander zu sehen und zu hören. Der Leonoren-Stoff nahm bekanntermaßen seinen Ausgang in der Französischen Revolution: 1798 ver- fasste Jean Nicolas Bouilly das Textbuch Léonore, ou L’amour conjugal, das der Sänger und Komponist Pierre Gaveaux in Musik setzte. Im Mittelpunkt der Handlung steht Léonore, die, als Mann verkleidet und unter dem Namen Fidélio, alles tut, um ihren zu Unrecht inhaftier- ten Mann Florestan aus der Gefangenschaft respektive Kerkerhaft zu retten. Hintergrund war eine wahre Be- gebenheit in Frankreich, die Bühnenhandlung wurde jedoch nach Spanien verlegt. Bouillys dramatischer Ferdinando Paër 1771–1839 Text beschwört das Ideal ehelicher Liebe, die – entgegen allen widrigen Umständen – das Humanitäre in den eindeutig Giuseppe Maria Foppa (1760–1845) zuweisen Vordergrund rückt. Das Libretto steht in einer Reihe konnte. Damit kommt nun ein genuiner und prominen- französischer „Revolutionsopern“ der 1790er Jahre, in ter Librettist ins Spiel, denn Foppa verfasste über 100 denen die Politik mitunter so stark in den Mittelpunkt Libretti für die verschiedensten Komponisten. Nicht trat, dass die Liebeshandlung dahinter zu verschwin- zuletzt verband ihn auch eine Zusammenarbeit mit den drohte. In Bouillys Léonore ist die eheliche Liebe seinem Landsmann Paër, der ein gutes Dutzend seiner jedoch Triebfeder der Handlung. Libretti vertont hat. Im Licht der Autorschaft Foppas War Bouillys und Gaveaux’ zweiaktiger „Fait his- wird nun auch die Rolle Cintis klarer, dessen Aufgabe torique“ schon sehr früh als Vorlage für das Libretto wohl vornehmlich darin bestand, die textlichen An- von Beethovens Fidelio identifiziert worden, so hat die passungen, die der Komponist wünschte, in Dresden Musikwissenschaft erst relativ spät zwei italienische umzusetzen. Opern erschlossen, die ebenfalls auf Bouillys Textbuch zurückgehen: Ferdinando Paërs Leonora ossia L’amor conjugale (Dresden 1804) und die einaktige Vertonung Französisches Textbuch – italienische Oper des Ingolstädter Komponisten Simon Mayr (Venedig 1805). Zusammen mit Gaveaux’ „Ur-Leonore“ kreisen sie Mit der Leonora liegt uns ein klassischer Fall eines wie Trabanten um Beethoven, mit mehr oder weniger Kulturtransfers vor, insofern als ein französisches Gravitationskraft. Textbuch zu einer italienischen Oper umgeformt wird. In einer Studie zu Paërs Leonora hatte der Musikhis- Mehr noch verbindet sich damit auch ein Gattungs- toriker Richard Engländer 1930 bereits einen Librettis- transfer, denn die Léonore von Bouilly und Gaveaux war ten für die Leonora identifiziert, nämlich den Sänger eine Opéra comique – also eine Oper mit gesprochenem Giacomo Cinti, der an der Königlichen Oper in Dresden Dialog –, die es in ein durchgehend musikalisiertes die Aufgabe hatte, Textbücher einzurichten. Auch dies Bühnenwerk zu verwandeln galt. Genau dies war eine blieb lange Zeit unbeachtet, stattdessen geisterte der Spezialität Foppas, der äußerst versiert französische Name Giovanni Federico Schmidt durch die Opern- Operntexte für die italienische Oper adaptierte. Nicht literatur. Klarheit über die primäre Autorschaft des selten war das Resultat wie bei Leonora eine Opera Librettos herrscht allerdings erst seit 2016, nachdem semiseria, ein Genre, das ernste Stoffe mit „leichteren“ die Mayr-Spezialistin Iris Winkler ein handschriftli- Zügen anreicherte. Dazu zählt in Paërs Oper vor allem ches Textbuch der Leonora aufgefunden hatte, das sie Giachino, der Ehekandidat von Marcellina, dessen 8 [t]akte 1I2020
1I2020 Partie hier aufgewertet wird, um neben Florestano und Neapel. In den frühen 1820er Jahren gingen die und Leonora ein zweites Liebespaar zu kreieren. Zu Aufführungen deutlich zurück, als der zunehmende den entscheidenden Veränderungen gegenüber dem Erfolg von Beethovens Fidelio die Oper Paërs zu überla- französischen Originaltext gehört die Figur des Pizzar- gern begann. Ins Blickfeld geriet die Leonora erst wieder ro, der bei Bouilly eine reine Sprechrolle gewesen war im 20. Jahrhundert mit punktuellen Aufführungen, und jetzt durch die Verwandlung in eine Gesangspartie u.a. in Schwetzingen 1976, und einer (stark gekürz- deutlich an Kontur gewinnt. Anders als bei Beethoven ten) Einspielung von 1979 durch Peter Maag mit dem ist Pizzarro bei Paër ein Tenor, wie auch der Minister BR-Symphonieorchester. Don Fernando, was der traditionellen Stimmfachver- Die erste kritische Ausgabe von Päers Leonora wird teilung der italienischen Oper geschuldet ist. von dem Editionsprojekt OPERA – Spektrum des euro- Die eigentliche Transformation von der französi- päischen Musiktheaters in Einzeleditionen erarbeitet, schen Léonore zu Foppas und Paërs Oper besteht in herausgegeben von Christin Seidenberg. Für die Auf- der Schaffung großer musikalischer Nummern. Dies führungen 2020 wurde eine Vorabpartitur auf der betrifft sowohl die Soloarien, die im französischen Basis der Hauptquellen erstellt. Päers Autograph ist Original mitunter über die strophische Form kaum verschollen. Ziel der Edition ist eine Rekonstruktion hinausgehen, bis hin zu großen Komplexen wie den der frühen Dresdner Fassung auf der Basis unterschied- Finali. Handlungsrelevante Elemente werden gleicher- licher Quellentypen Dresdner Provenienz. Da diese maßen in Musik gesetzt wie große Leidenschaften. Quellen auch Bearbeitungsstadien späterer Dresdner Dabei geht Paër alles andere als schematisch vor: Große Aufführungen enthalten, müssen für die Rekonstruk- orchesterbegleitete Rezitative führen nicht nur zu einer tion weitere Vergleichsquellen herangezogen werden. musikalischen Nummer hin, sondern setzen diese auch Mit der kritischen Ausgabe von Oper Paërs Leonora im Anschluss an die Arie fort. Die sehr reduzierten ossia L’amor conjugale wird ein zentrales Werk der „Sat- Secco-Rezitative wirken daneben wie Rudimente einer telzeit“ um 1800 editorisch erschlossen. Es ist zu hoffen, älteren Zeit. dass sich auch das Musikleben des 21. Jahrhunderts seiner Qualität wieder versichert. Unter den Auspizien der Historischen Aufführungspraxis erscheint eine Strukturelle Analogien zu Beethovens „Fidelio“ „Wiederentdeckung“ besonders vielversprechend. Thomas Betzwieser In Beethovens Fidelio ist das Ringen des Komponisten mit der großen Form auf der einen und der traditionel- len Singspielstruktur mit gesprochenem Text auf der anderen Seite auf Schritt und Tritt zu beobachten. Dass Ferdinando Paër Beethoven damit das Koordinatensystem der Gattung Leonora ossia L’amor conjugale. Fatto storico in veränderte, war ein Resultat seiner einzig(artig)en due atti. Libretto von Giuseppe Maria Foppa und Oper. Dagegen präsentierte sich Paërs Leonora weitaus Giacomo Cinti nach Jean Nicolas Bouilly. Hrsg. einheitlicher, gleichsam aus einem Guss, was bereits von Christin Seidenberg (OPERA – Spektrum des die Zeitgenossen attestierten. europäischen Musiktheaters, Leitung: Thomas Auch wenn unklar ist, wann Beethoven genau Betzwieser) Kenntnis von Paërs Oper hatte – eine Abschrift der Erstaufführung nach der Edition: 16.5.2020 Schwet- Partitur befand sich in seinem Nachlass –, so verblüffen zingen (Festspiele, konzertant), Innsbrucker doch die strukturellen Analogien, also die musikali- Festwochenorchester, Musikalische Leitung: schen Lösungen für die jeweiligen Szenen. Alessandro de Marchi; auch 7.8.2020 Innsbruck Die Dresdener Uraufführung der Leonora, die der (Festwochen für Alte Musik) Komponist selbst leitete, wurde nicht einhellig positiv Besetzung: Don Fernando (Tenor), Don Pizzarro aufgenommen. Die Allgemeine Musikalische Zeitung (Tenor), Florestano (Tenor), Leonora (Sopran), wusste zu berichten, dass man sich „von dem Ganzen Rocco (Bass), Marcellina (Sopran), Giachino (Bass), noch mehr Wirkung versprochen“ hätte. Dem Erfolg Wachen, Gefangene (stumme Rollen) des Stückes auf den europäischen Bühnen tat dies Orchester: 2,2,2,2 – 2,2 (3. Trp von der Loge),0,0 – keinen Abbruch: Wien, Leipzig, Stuttgart, Frankfurt, Pk, Str, B. c. Berlin und München waren die Stationen in den Fol- Verlag: Bärenreiter. BA 8813-01 gejahren bis 1816, im Ausland Fontainebleau, Florenz ] [t]akte 1I2020 9
[t]akte Felix Mendelssohn Bartholdy verknüpft in seinem Kein Aufguss der Neunten groß angelegten „Lobgesang“ Bibelworte, Gedan- ken Martin Luthers und Versatzstücke voriger Felix Mendelssohns Symphonie-Kantate Kompositionen zu einem runden und effektvollen „Lobgesang“ in einer neuen Urtext-Edition chorsinfonischen Werk. Felix Mendelssohn Bartholdys Lobgesang galt während typische Selbstkritik führte jedoch bald dazu, dass er der 1840er Jahre und darüber hinaus als eine seiner mit dem Werk nicht mehr zufrieden war und bis zum 16. originellsten Kompositionen, die in den sieben Jahren Dezember 1840 umfangreiche Änderungen vornahm. zwischen ihrer Fertigstellung und Mendelssohns Tod Eine Aufführung der überarbeiteten Fassung fand im bemerkenswerte 26 Aufführungen erlebte. Robert Schu- Rahmen eines Sonderkonzerts am 16. Dezember statt, mann schrieb über sie: „Was den Menschen beglückt dem auch König Friedrich August II. von Sachsen und und adelt.“ Dennoch wurde das Werk von Kritikern wie sein Gefolge beiwohnten. Der sächsische König war Adolph Bernhard Marx, Richard Wagner und George von dem Werk so begeistert, dass er auf die Bühne kam Bernard Shaw verdächtigt, ein unbedeutendes Derivat und den Komponisten dazu beglückwünschte – sehr von Beethovens Neunter Sinfonie zu zum Vergnügen des Publikums, der Ausführenden und sein. Im Zuge neuerer Forschungen des Komponisten selbst. Als die Partitur schließlich wurde diese anachronistische und oft im September 1841 erschien, war sie dem Monarchen auch antisemitische Ansicht hinter- gewidmet. fragt, denn bis heute wurden Werk-, Neben den bereits erwähnten grundsätzlichen Aufführungs- und Überlieferungsge- Aspekten bezüglich der Chronologie und Philologie schichte des Lobgesangs letztlich nicht des Werks, erläutert die Neuedition erstmals die Be- vollständig durchdrungen. deutung des zugrundeliegenden Mottos von Martin Die Edition bietet einerseits einen Luther „Sondern ich möcht’ alle Künste, sonderlich verlässlichen Text des Werks und die Musika gern sehen im Dienst deß der sie geben andererseits neue Einblicke in den und geschaffen hat“, das der Komponist im Kopf der Lobgesang, da sie auf die Erkennt- gedruckten Partitur ausdrücklich wünschte, das nisse bisheriger Editionen und For- jedoch von allen modernen Editionen weggelassen schungen aufbaut, das dichte Netz wurde. Des Weiteren – und vielleicht am wichtigsten von Manuskripten und autorisierten – führt die Ausgabe erstmals mögliche Gründe für die Ausgaben akribisch entwirrt und sich damals weitverbreitete Meinung zur Originalität des Felix Mendelssohn Bartholdy, die kürzlich edierten Korresponden- Lobgesangs aus, die sich mindestens ebenso sehr von Gemälde von Eduard Magnus (1846) zen zunutze machen kann. Darüber seiner Form wie von seinem Inhalt ableitet. So sprach hinaus stellt sie die Erstausgabe der Gustav Schilling beispielsweise von einem Grundstein Eröffnungs-Sinfonia in einer Fassung für Klavier solo „eine[r] ganz neue[n] Kunstform“. Denn offensichtlich sowie Mendelssohns eigenhändige Klavierbegleitun- wurde Mendelssohns Symphonie-Kantate weder als gen weiterer Nummern vor. Außerdem kann erstmals lose Aneinanderreihung von Sätzen nach dem Vorbild der englische Übersetzer identifiziert und die Rolle von Beethovens Neunter Symphonie konzipiert noch Mendelssohns bei der Einrichtung der englischen als solche verstanden – auch wenn Kritiker dies später Übersetzung herausgestellt werden. Zum ersten Mal behaupteten –, sondern vielmehr als parabelähnliches wird der Entstehungsprozess des Werks ausführlich Narrativ, das sich in die rahmenartige Symphonie-Kan- dargestellt, und die vielen Fragen, die durch das präch- tate einfügte. Dieses eingebettete Narrativ ist der tige Autograph der Partitur, den Klavierauszug und die Grund für den verwegenen Beitrag zur romantischen Erstausgabe der Stimmen sowie der Partitur entstan- Form, den Mendelssohns Lobgesang darstellt. Daher ist den sind, werden ausführlich beleuchtet. Denn obwohl der Lobgesang weit davon entfernt, eine uninspirierte all diese Quellen von Mendelssohn selbst geprüft wor- Nachahmung einer bereits existierenden Form zu sein, den sind, widersprechen sie sich in vielerlei Hinsicht. sondern ein kühnes Experiment innerhalb des musika- Das musikalische Material ist aus der Verschmel- lischen Narrativs und des symbolisch-musikalischen zung von drei kompositorischen Projekten hervorge- Gedächtnisses. John Michael Cooper gangen: dem Festgesang B-Dur Möge das Siegeszeichen (MWV E 2), der unvollendeten Symphonie in B-Dur (MWV N 17) und „einen größeren Psalm“, den Mendels- Felix Mendelssohn Bartholdy sohn für die von der Stadt Leipzig geplante 400-Jahr- Lobgesang. Eine Symphonie-Kantate nach Worten Feier der Erfindung der Buchdruckerkunst durch der Heiligen Schrift MWV A 18 op. 52. Deutscher Johannes Gutenberg komponiert hatte. Die Arbeit an Text von Felix Mendelssohn Bartholdy nach der der ersten Fassung ging schnell voran, so dass im Juni Luther-Bibel und Martin Rinckart. Englischer Text 1840 der Lobgesang unter Mendelssohns Leitung in der von Charles Henry Monicke. Bärenreiter Urtext. Leipziger Thomaskirche erstmals erklang. So wie diese Hrsg. von John Michael Cooper. Bärenreiter-Verlag Uraufführung in Deutschland war auch die englische 2020. BA 9092. Partitur, Klavierauszug, Chorpar- Erstaufführung beim Birmingham Festival im Septem- titur und Stimmen käuflich. ber desselben Jahres ein voller Erfolg. Mendelssohns 10 [t]akte 1I2020
1I2020 Mit seinem Weihnachtsoratorium schrieb Saint- Klein, aber wirkungsvoll Saëns in jungen Jahren ein leicht zugängliches Werk, das nun in einer verlässlichen Urtextausga- Das „Oratorio de Noël“ von Camille Saint-Saëns be vorliegt. Gerade einmal 23 Jahre alt war Camille Saint-Saëns Musik – insbesondere auch für Johann Sebastian Bach. (1835–1921), als er im Dezember 1858 innerhalb we- Auch wenn Saint-Saëns sich später sehr gegen diese niger Tage die ersten sechs Sätze seines Oratorio de Mode aufgelehnt hat, teilte er doch das Interesse für Noël komponierte, die dann – möglicherweise in der deutsche Instrumentalmusik. Seine Vorliebe für Werke Mitternachtsmesse – in der Pfarrkirche Sainte-Ma- Bachs ist u. a. in den Transkriptionen rie-Madeleine in Paris uraufgeführt wurden. Vier einiger Kantaten- und Sonatensätze weitere Sätze fügte Saint-Saëns in den folgenden fünf für Klavier dokumentiert, die be- Jahren hinzu. Wann genau und vor allem warum Saint- zeichnenderweise in derselben Zeit Saëns diese Sätze nachkomponiert hat, ist anhand der entstanden wie das Oratorio de Noël. Quellen nicht nachvollziehbar. Denkbar ist, dass er Die Parallelen zwischen der Kom- nach der Uraufführung Ideen umgesetzt hat, die er in position von Saint-Saëns und Bachs der Kürze der Zeit 1858 nicht hatte realisieren können. Weihnachtsoratorium sind nicht nur Möglich ist aber auch, dass die Sätze (sukzessive) für aufgrund des Titelzusatzes auf der ers- drei Aufführungen in den Folgejahren geschrieben ten gedruckten Partiturseite („Dans le wurden, um jeweils etwas Neues bieten zu können. style de Séb. Bach“) deutlich. Vielleicht war die große Fassung auch von Anfang an Im Gegensatz zu Bach wird die geplant, um dem Werk ein anderes Gewicht zu geben. Weihnachtsgeschichte bei Saint-Saëns Eine systematische Überarbeitung der Urfassung nahm aber nicht von einem Evangelisten er allerdings erst sehr viel später vor. erzählt, der Franzose „verteilt“ die Deutlich später äußerte Saint-Saëns sich zur Ur- Darstellungen auf verschiedene So- Camille Saint-Saëns 1858 aufführung des Werks 1858, mit der er scheinbar sehr listen. Auch verwendet Saint-Saëns zufrieden gewesen ist, vor allem wegen der „Super- keine freien Texte: Er vertont ausschließlich Texte der stars“ – wie er sie bezeichnete –, die die Solopartien Vulgata und der katholischen Liturgie. sangen. In der Presse wurde die Aufführung hingegen Erst fünf Jahre nach der Uraufführung wurde die Komposition allgemein zugänglich, als ein Klavieraus- zug des Oratorio de Noël von dem Saint-Saëns-Schüler Eugène Gigout im Verlag von Gustave Flaxland (spä- terer Durand) veröffentlicht wurde. Interessant ist, dass es für die nächsten knapp 30 Jahre weder einen Druck der Partitur noch der Orchesterstimmen gab. Erst 1892 kam es zur Drucklegung der Partitur bei Durand. Die hohen Auflagenzahlen der Chorstimmen und des Klavierauszugs deuten darauf hin, dass das Werk un- glaublich beliebt war. In späteren Jahren bezeichnete Saint-Saëns selbst dieses Jugendwerk als sein „petit oratorio de noël“. Es ist vielleicht ein kleines Werk, aber mit großer Wirkung, das sowohl für kleine Chöre als auch für größere Ensembles reizvoll ist. Schon jetzt erfreut es sich international großer Beliebtheit. Erstmals liegt das Werk nun in einer umfassenden wissenschaftlich-kritischen Urtext-Ausgabe vor, die nicht nur die Umarbeitungen durch den Komponisten Die Madeleine in Paris zur Entstehungszeit von Camille Saint-Saëns’ dokumentiert, sondern auch wertvolle Hinweise zu der „Oratorio de Noël“ gallikanischen Aussprache des lateinischen Textes gibt, die bis ins Jahr 1903 in Frankreich üblich war. nicht besprochen, was möglicherweise auch damit Der Klavierauszug basiert auf dem zeitgenössischen zusammenhing, dass das Werk nicht dem Geschmack Arrangement von Gigout. Christina M. Stahl der Zeit entsprach: Paris in den 1850er-Jahren atmete den Geist des Musiktheaters, und im liturgischen Raum dominierten an Weihnachten Zusammenstellungen bekannter Weihnachtslieder (Noëls), die in verschiede- Camille Saint-Saëns nen Besetzungen zu Suiten oder Kantaten verarbeitet Oratorio de Noël. Hrsg. von Christina M. Stahl. worden waren und eine lange Tradition hatten. Bärenreiter-Verlag. BA 11304. Partitur, Klavier- Ausgelöst durch die Beethoven-Rezeption, gab es im auszug, Chorpartitur, Stimmen käuflich Frankreich dieser Zeit eine große Vorliebe für deutsche ] [t]akte 1I2020 11
[t]akte Cilea oder Francesco Cileas schmales Opernschaffen nimmt Die Wahrheit des Gesangs eine singuläre Position im veristischen Musikthea- ter ein. Im zweiten Teil der Vorstellung porträtiert Die Opern Francesco Cileas (Teil 2) der Autor „L‘Arlesiana“ und „Gloria“. Francesco Cilea (1866–1950) hinterließ im Unterschied strenger Moral und sozialer Kontrolle. Für Federico zu seinen Zeitgenossen Pietro Mascagni, Ruggero Leon- bleibt nur die Flucht in den Wahnsinn, schließlich cavallo, Umberto Giordano und Giacomo Puccini, mit stürzt er sich in den Tod. Wer aber die Frau aus Arles denen er gemeinsam im öffentlichen Bewusstsein als ist, bleibt im Ungewissen, denn sie ist – so die drama- „Giovane scuola italiana“ firmierte, ein nur schmales turgische Pointe – eine nie in Erscheinung tretende, musiktheatrales Œuvre. Von den fünf Opern, begonnen verborgene Antagonistin. mit dem Frühwerk Gina über La Tilda, L’Arlesiana, Adri- Die musikalisch-dramaturgische Konzeption von ana Lecouvreur bis zu Gloria, konnte sich allein das Dra- L’Arlesiana zeigt eine durchkomponierte Großform, aus ma über die französische Tragödin Adriana Lecouvreur der sich einzelne Szenen bzw. geschlossene Nummern dauerhaft im internationalen Repertoire etablieren. herausschälen lassen, deren Abfolge einer beständi- Dabei erweist sich Cileas Opernschaffen bei näherer gen Kontrastierung von dramatischer Situation und Betrachtung als eine klug konzipierte Versuchsanord- psychologischer Introspektion folgt. Cilea gestaltet nung über die Möglichkeiten des Komponierens für das den musikalischen Ton der Oper durchgängig wie eine italienische Musiktheater des Verismo im ausgehenden Pastorale: L’Arlesiana ist ein musikalisches Naturbild, 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. das von der mythischen Einheit des Menschen mit einer intakten und unberührten Natur erzählt, von einer Einheit, die es vor aller äußeren Gefährdung zu „L’Arlesiana“ bewahren gilt – beispielhaft in Baldassarres mit „An- dante pastorale“ überschriebenen Arie „Come due tizzi In besonderer Weise trifft dies auf L’Arlesiana zu, ein accessi“, im Intermezzo „La notte di Sant’Eligio“ und in Dramma lirico, dessen Libretto von Leopoldo Marenco der Soloszene von Federicos Mutter eingefangen. Auch auf der Grundlage von Alphonse Daudets Schauspiel in der ausladenden Szene zwischen Federico und sei- L’Arlesienne (1872) bzw. dessen Erzählsammlung Lettres nem Widersacher Baldassarre rekurriert Cilea auf den de mon moulin (1869) entstanden ist. Bereits 1872 hatte Pastoralton, um zum Abschluss mit Federicos Arie „E la Georges Bizet eine umfangreiche Bühnenmusik zu solita storia del pastore“ eine gleichsam idealtypische Daudets Schauspiel komponiert, eine Musik, die rasch Formulierung des Lyrisch-Pastoralen zu finden. Wie populär wurde, während Daudets Werk sich nicht Cilea L’Arlesiana interpretiert wissen möchte, doku- durchzusetzen vermochte. Für Cilea war dies kein mentiert das Finale. Ein kurzes Orchesternachspiel Hinderungsgrund. Durch die innere thematische Nähe zitiert aus Federicos Arie. Es ist das Motiv zur Textzeile zwischen Daudets Drama und den Ideen des Verismo „Anch’io vorrei dormir così, nel sonno almen l’oblìo tro- – Regionalismus des Sujets und Fokussierung auf das var!“ Der Schlaf ist das Synonym für den Tod; und erst Bild einer intakten Natur – und durch die Erkenntnis, im Tod, wenn der Mensch zurücksinkt in den Kreislauf dass Daudet eine für das Musiktheater singuläre der Natur, kann man Vergessen finden. Dramaturgie entworfen hat, war der Stoff für Cilea L’Arlesiana wurde am 27. November 1897 am Teatro besonders reizvoll. Lirico in Mailand uraufgeführt. Der Abend begründe- Der Protagonist Federico verzehrt sich in Liebe zu te die Weltkarriere Enrico Carusos, der mit der Partie einer namenlosen Frau aus Arles, muss aber zugleich des Federico sein vielbeachtetes Debüt gab. Die Kritik erfahren, dass seine Familie und die Bewohner seines aber beklagte Längen der Oper selbst, so dass Cilea die Heimatdorfes diese Liebe strikt ablehnen. Unüberwind- vier Akte auf drei kürzte. Doch er unterzog die Oper lich ist der Konflikt zwischen individuellen Wünschen, weiteren Überarbeitungen und Ergänzungen. Eine als endgültig zu betrachtende Fassung erlebte am 26. Februar 1935 am Teatro di San Carlo in Neapel ihre Uraufführung. „Gloria“ Francesco Cileas letzte vollendete Oper Gloria prob- lematisiert nochmals in pointierter Weise die Frage nach der Bedeutung veristischen Komponierens. Die dreiaktige Oper entstand nach einem Libretto des Publizisten Arturo Colautti (1851–1914) und wurde am 15. April 1907 an der Mailänder Scala uraufgeführt. Die Modell des Bühnenbilds für die Uraufführung von „L’Arlesiana“ am kritischen Reaktionen von Presse und Publikum veran- Teatro Lirico Milano 1897 (Fotos: Sonzogno) lassten Cilea, das Werk zu modifizieren (Uraufführung 12 [t]akte 1I2020
1I2020 der neuen Version war am 4. Februar 1908 am Teatro Costanzi in Rom) und schließlich mit einer Neufassung des Librettos von Ettore Moschino teilweise neu zu komponieren. Diese Fassung wurde am 20. April 1932 am Teatro di San Carlo in Neapel uraufgeführt. Im Zentrum von Gloria steht die Stadt Siena in der Toskana, an der exemplarisch das Machtgefüge Italiens im 14. Jahrhundert dargestellt wird. Arturo Colautti zeigt die Stadt in einer Zeit, als die Fehden zwischen einzelnen Familien die Zeitläufe bestimmten. Die Familie der Bardi hat sich im Gefüge der Signoria etab- liert und untergräbt die republikanischen Strukturen, so dass die Bevölkerung von der politischen Entscheidungsfindung ausgeschlossen wird. Im Kampf der Fa- „Gloria“ 1996 am Teatro Regio di Parma milien muss sich Lionetto Ricci beugen und die Stadt verlassen, versucht nun ein von Orgel und Kirchenglocken begleitetes Magnifi- aber mit Unterstützung des Kaisers, den cat, später einen festlichen Hochzeitsmarsch, einen ein- Widerstand der herrschenden Signoria zig von der Orgel begleiteten Choral und kontrastierend und damit der Stadt militärisch zu bre- ein „Dies irae“ als Synonym für den bevorstehenden chen. In diese Konstellation positioniert Mord an Lionetto ein. Dem Höhepunkt der Oper, dem Colautti die tragische Liebesgeschichte Mord an Lionetto, verleiht hingegen das Hauptmotiv zwischen Gloria de’ Bardi und Lionetto aus dessen Erzählung „Storia ho di sangue“ musikali- Ricci. Diese Liebe ist jenseits der inneren sche Prägnanz. Und es ist dieses Motiv des politischen Nähe zur Romeo-und-Julia-Thematik zu- Widerstands gegen die herrschende Macht der Signoria, gleich Sinnbild der politischen Situation. das in der ersten Fassung die Oper beschließt, während Die Partikularinteressen können nicht in der späteren Version das Magnificat-Thema und die zum Ausgleich gelangen, womit Colautti mit der Liebe zwischen Gloria und Lionetto assoziierten einem Geschichtspessimismus Ausdruck Themen das entpolitisierte Finale markieren. verliehen hat, dem man angesichts der Lage in Italien zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine Aktualität nicht Francesco Cilea war Teil des italienischen Opernsys- absprechen kann. Gloria ist also eine Parabel. tems; zugleich aber dokumentiert sein Œuvre jenseits Gerade diese inhaltliche Zuspitzung aber ist in der personalstilistischer Besonderheiten eine planmäßige Fassung von Ettore Moschino relativiert, denn hier wird Reflexion über die Bedingungen veristischen Kom- der politische Konflikt verkürzt und ins Private umge- ponierens. La Tilda erprobt die mit Pietro Mascagnis bogen. Folgerichtig gerinnen die Oper zur Liebestragö- Cavalleria rusticana etablierten Verfahren im Kontext die und das Finale mit dem Selbstmord Glorias zu einem einer dreiaktigen Oper, L’Arlesiana problematisiert Dokument der über den Tod hinaus dauernden Liebe. die ideologischen Grundlagen des Verismo, Adriana Colauttis Libretto steht in der Tradition des histori- Lecouvreur ist das Dokument einer Ästhetik der Wahr- schen Verismo – eines Verismo, der historisch-politi- heit und Wahrhaftigkeit des Gesangs und Gloria die sche Ereignisse mit konkreten Orten, Dekorationen und sinnfällige Verknüpfung der Ideen des Verismo mit Kostümen zu fundieren sucht. Wie schon in Ruggero einem historischen Stoff, um ein im emphatischen Leoncavallos I Medici oder Umberto Giordanos Andrea Sinne aktuelles Werk hervorzutreiben. Chenier wird die Bühne zum Abbild historischer Wirk- Hans-Jochim Wagner lichkeit. Gleichermaßen ist Cileas Musik von der Idee getragen, dem historischen Sujet ein Fundament zu geben. Der Rekonstruktion der Historie wird besonde- Die Opern Francesco Cileas re Aufmerksamkeit gewidmet, indem der Komponist ganz im Sinne veristischen Komponierens die zitierte Gina Musik auf und hinter der Bühne, vor allem aber einen L’Arlesiana gleichsam historisierenden Religioso-Ton als durchgän- Adriana Lecouvreur giges Modell nutzt – paradigmatisch gegenwärtig im Gloria (Colautti) kurzen Schlussakt, der szenisch und musikalisch nichts Verlag: Casa Musicale Sonzogno · Vertrieb: Bären- anderes als eine Kirchenszene ist. Als Chiffren der reiter · Alkor Atmosphäre im Dom zu Siena setzt Cilea im Präludium ] [t]akte 1I2020 13
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