Theodosia - SCSC Ingenbohl

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Theodosia - SCSC Ingenbohl
Theodosia
1/2 2021
Theodosia - SCSC Ingenbohl
Theodosia - SCSC Ingenbohl
Zeitschrift der
Barmherzigen Schwestern
vom heiligen Kreuz
Institut Ingenbohl
CH-6440 Brunnen

136. Jahrgang Nr. 1/2 2021
Theodosia - SCSC Ingenbohl
Redaktionsteam:
    Schwester Christiane Jungo
    Schwester Elsit J. Ampattu
    Schwester Dorothee Halbach

    Adresse:
    christiane.jungo@kloster-ingenbohl.ch

    Layout und Druck:
    Triner Media + Print
    6430 Schwyz

    Design:
    Schwester Gielia Degonda
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Theodosia - SCSC Ingenbohl
Inhalt
                                                                         Theodosia 2021, 1/2

Titelbild                                 4   Jeder unter der Sonne ist mein             29
                                              Bruder und meine Schwester
Editorial                                 5   Sr. Veera Bara Namugongo, Kampala,
Sr. Christiane Jungo, Ingenbohl               Vikariat Uganda

Von Gottes Geist bewegt,                  7   Am Strand liess ich mein                   33
als Frauen auf dem Weg                        Schiff ­zurück und fand mit dir
Sr. Christiane Jungo, Ingenbohl               ein neues Meer
                                              Sr. Eva Christa Bannwart, Ingenbohl
Die zweite Geige                         13
P. Emmeram Stacheder OFM, Ingenbohl           Der Sonnengesang des heiligen              37
                                              Franziskus
Ihr werdet meine Zeugen sein,            16   Sr. M. Raphaela Bürgi †, Ingenbohl
Apg 1,8
Zeugin unserer Zeit - Sr. Edith Lang †        Stelle dein Leben unter das                47
Sr. Elsit Ampattu, Ingenbohl                  ­Geheimnis des Kreuzes
                                              Sr. Marie-Salome Schwert, Hegne,
Den Jahren Leben geben                   22   Provinz Baden-Württemberg
Sr. Liliane Juchli †
Sr. Edelina Uhr, St. Elisabethenheim,         Mitteilungen der Generalleitung            48
Bleichenberg, Zuchwil, Provinz Schweiz
                                              Eingegangen in Gottes Verheissung          49
Erinnerungen an Perm                     24   2020
Sr. Filipa Macháčková, Kroměříž,
Provinz Tschechien
                                                                                               3
Theodosia - SCSC Ingenbohl
Geborgen und bewegt, Johanna Heimgartner, Meggen
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Theodosia - SCSC Ingenbohl
Editorial

Seit einem guten Jahr leben wir weltweit mit dem Coronavirus. Diese Zeit hat vie-
les um uns und vielleicht in uns verändert. Unter den 2,78 Millionen Toten sind auch
Mitschwestern aus verschiedenen Provinzen. Viel Selbstverständliches und Ge-
wohntes ist plötzlich nicht mehr oder anders als bisher. Diese Umstellungen setzen
uns zu. Und doch: Da liegen auch Chancen! Neue Antworten sind gefragt: Wie
helfen wir einander? Wie feiern wir unsere Liturgien? Was brauchen wir wirklich?
Was gibt uns Halt?
Auffallend ist die Natur! Sie scheint nicht um das Virus zu wissen, denn sie ent-
faltet sich wiederum mit neuer Kraft. Frühling, neues Leben! Vielleicht entdecken
wir auch neue Räume und innere Weiten unserer Seele. Die österlichen Liturgien
werden das Ihrige dazu beitragen!

Die zwei ersten Beiträge der Doppelnummer «Theodosia» basieren auf religiösen
Themen: «Von Gottes Geist bewegt, als Frauen unterwegs» von Sr. Christiane Jun-
go als Impulsvortrag zum Tag des gottgeweihten Lebens und «Die zweite Geige»
als Predigt am Fest des heiligen Josef von P. Emmeram Stacheder OFM in der
Klosterkirche Ingenbohl.

Unter dem Titel «Ihr werdet meine Zeugen sein», Apg 1,8, sollen in Zukunft Por­
träts von Schwestern erscheinen, die als «Zeuginnen unserer Zeit» betrachtet wer-
den können. Den Anfang macht Sr. Edith Lang, die vom April 1960 bis August 2020
als «Mutter der Armen» in Indien wirkte. Sr. Elsit hat Erfahrungen von Weggefährt*
innen zusammengetragen.

«Den Jahren Leben geben», das war ein Motto von Sr. Liliane Juchli. Nach ihrem
Tod am 30. November 2020 zeigt Sr. Edelina Uhr, welche Hilfen sie uns angeboten
hat für das Älterwerden in Gemeinschaft.

Nach 18 Jahren Tätigkeit in Perm haben sich die drei Schwestern von der Pfarrei
verabschiedet und sind in ihre Provinzen heimgekehrt. Sr. Filipa Macháčková teilt
mit uns «Erinnerungen an Perm».

Nach ihrem Einsatz bei den Flüchtlingen in Sizilien ist Sr. Veera Bara Namugongo
ebenfalls heimgekehrt und hat in Kampala, Uganda, eine neue Aufgabe übernom-
men. Für sie gilt weiter: «Jeder unter der Sonne ist mein Bruder und meine
Schwester».
                                                                                       5
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«Am Strand liess ich mein Schiff zurück und fand mit dir ein neues Meer», schreibt
    Sr. Eva Christa Bannwart, die sich nach 43 Jahren Brasilienerfahrung in Ingenbohl
    neuen Aufgaben zuwendet.

    Die Bilder von Sr. M. Raphaela Bürgi erfreuen viele Menschen. «Der Sonnengesang
    des heiligen Franziskus» ist ein Gruss an uns alle, nachdem sie am 7. Januar 2021
    gestorben ist.

    Nach ihrer Erstprofess im Kloster Hegne teilt Sr. Marie-Salome Schwert mit uns die
    Freude über ihre Berufung: «Stelle dein Leben unter das Geheimnis des Kreuzes».

    Durch die «Mitteilungen der Generalleitung» erfahren wir von der Ernennung der
    neuen Provinzleitung von Europa Mitte. Angefügt sind ein Dank an Sr. Edelgund
    Kuhn als langjähriges Mitglied der Redaktionskommission und eine kleine Statistik
    des Jahres 2020.

    «Eingegangen in Gottes Verheissung» sind im Jahr 2020 109 Mitschwestern.
    ­Mögen sie begleitet sein von unserem Dank und gesegnet von ihrem und unserem
     Gott!

    Sr. Christiane Jungo
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Theodosia - SCSC Ingenbohl
Von Gottes Geist bewegt, als Frauen auf dem Weg
Sr. Christiane Jungo, Ingenbohl

Am 6. Januar 1997 erklärte Papst Johannes Paul II., dass am Fest der Darstellung des Herrn künftig
der «Tag des geweihten Lebens» begangen werden solle. Dieser Tag ist seither im Mutterhaus ein
interner Feiertag, dem ein Einkehrtag mit Impulsen für unseren Ordensalltag vorausgeht. Der dies-
jährige Denkanstoss folgte dem Jahresmotto «Von Gottes Geist bewegt, als Frauen auf dem Weg».

Zum Beginn ein Gebet                              Jesus. Schauen wir also zuerst in die
                                                  Bibel!
Barmherziger Gott, durch das Leben
und Wirken der seligen Maria Theresia             Lukas wird in den ersten Kapiteln sei-
Scherer hast du der Welt den Reichtum             nes Evangeliums nicht müde, das Wirken
deines Erbarmens sichtbar gemacht. Du             des Heiligen Geistes zu betonen. Für
hast sie gelehrt, die Zeichen der Zeit zu         ihn war Jesus der Geistträger schlecht-
erkennen und mit ihren Schwestern den             hin: Jesus verdankt sein Dasein dem
Menschen in leiblicher und geistiger Not          Heiligen Geist, denn der Heilige Geist
zu helfen. Lehre auch uns, in der Kraft           war auf Maria herabgekommen, der
deines Geistes den Menschen zu die-               Heilige Geist senkt sich bei der Taufe
nen, für die dein Sohn, unser Herr Jesus          auf Jesus, Jesus widersteht durch die
Christus am Kreuz gestorben ist. Er, der          Kraft des Heiligen Geistes den Versu-
in der Einheit des Heiligen Geistes mit           chungen in der Wüste. Sein ganzes
dir lebt und wirkt in Ewigkeit. Amen.             weiteres Leben ist durchwirkt von die-
                                                  sem Gottesgeist.
Im Gebet an Gedenktagen von Mutter
M. Theresia hören wir heraus, wie ihr             Schon zu Beginn des öffentlichen Wir-
von Gott, von Gottes Geist gezeigt wur-           kens erzählt Lukas vom Auftreten Jesu
de, die Zeichen ihrer Zeit zu erkennen.           in der Synagoge von Nazareth. Dort
Und wir bitten darum, dass wir in der             stellt Jesus gleichsam sein Programm,
Kraft des gleichen Geistes Gottes un-             sein Leitbild vor. Es heisst:
sere Aufgabe hier und heute erfüllen.             «Er öffnete die Buchrolle und fand die
                                                  Stelle bei Jesaja, wo geschrieben steht:
                                                  Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn
Ein Blick in die Bibel                            er hat mich gesalbt. Er hat mich ge-
                                                  sandt, damit ich den Armen eine frohe
«Von Gottes Geist erfüllt», «von Gottes           Botschaft bringe; damit ich den Gefan-
Geist bewegt», «der Geist Gottes ruht             genen die Entlassung verkünde und
auf ihm», «Ich habe meinen Geist auf              den Blinden das Augenlicht; damit ich
ihn gelegt», diese Ausdrücke kennen               die Zerschlagenen in Freiheit setze und
wir aus der Bibel, meistens in Bezug auf          ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe. Da
                                                                                                     7
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begann er, ihnen darzulegen: Heute hat        wird nicht müde und bricht nicht zu-
    sich das Schriftwort, das ihr eben ge-        sammen, bis er auf der Erde das Recht
    hört habt, erfüllt» (Lk 4,17ff).              begründet hat.»

    Mit diesen Worten nimmt Jesus vorweg,         Zurück zu Lukas! Es scheint ihm wichtig
    was er in den kommenden Jahren tun            gewesen zu sein, uns klar zu machen,
    wird, nämlich: Der Geist Gottes bewegt        wer Jesus bewegte, eben der Geist
    ihn, wenn er Kranken die Hände auflegt;       Gottes. Jesu Leben wird so zur Bot-
    wenn er mit Menschen spricht, um die          schaft für uns, dass Gottes Geist auch
    man sonst einen Bogen macht; wenn er          uns zugedacht ist. Vor seinem Leiden
    Menschen ansieht, die sonst keinem            versprach Jesus diesen Geist:
    unter die Augen zu treten wagen. Und          «Ich werde den Vater bitten und er wird
    dieser Geist Gottes ist es, durch den Je-     euch einen anderen Beistand geben,
    sus Leben schafft, sodass Menschen            der für immer bei euch bleiben soll, den
    wieder atmen, lachen und lieben kön-          Geist der Wahrheit» (Joh 14,17).
    nen. Dieser Geist ist schliesslich auch
    die Kraft, in der Jesus die Liebe gegen       Immer wieder wundere ich mich, wie die
    den Hass und die Gewalt setzt. Die Lie-       Apostel, die so nah bei Jesus waren und
    be ist stärker als der Tod. Und so – vom      ihn erlebt haben, ihn kurz vor seiner
    Geist Gottes bewegt und angetrieben –         Himmelfahrt, also fast im letzten Moment
    ist sein ganzes öffentliches Wirken.          fragen konnten: «Stellst du in dieser Zeit
                                                  für Israel das Reich wieder her?» Die
    In Jesus sieht man auch den «Knecht           Antwort Jesu ist klar: Das müsst ihr
    Gottes», den Jesaja meinte: «Auf ihn hat      nicht wissen! Das ist nicht eure Sache!
    Gott seinen Geist gelegt» (Jes 42,1-4).       Was ist denn ihre Sache? «Ihr werdet
    Was zeichnet diesen Knecht Gottes             Kraft empfangen, wenn der Heilige
    aus? «Er schreit nicht und lärmt nicht        Geist auf euch herabkommen wird; und
    und lässt seine Stimme nicht auf der          ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusa-
    Strasse erschallen.» Der Gesandte Got-        lem und in ganz Judäa und Samarien
    tes tritt also nicht wie ein Fanatiker auf.   und bis an die Grenzen der Erde» (Apg
    Stattdessen wendet er sich dem Einzel-        1,8). Das also ist ihre Sache, ihr Auftrag:
    nen und Unvollkommenen zu und be-             Zeugnis zu geben von dem, was sie bei
    hütet ihn. «Das geknickte Rohr zerbricht      Jesus gesehen und gelernt hatten.
    er nicht, und den glimmenden Docht
    löscht er nicht aus.» Diese Behutsam-         Was geschah nach der Himmelfahrt?
    keit geht auch mit Ausdauer einher: «Er       «Die Apostel verharrten zusammen mit
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den Frauen und mit Maria, der Mutter
Jesu, und seinen Brüdern, einmütig im
Gebet.» (Apg 1,14.) Und dann: «Als der
Tag des Pfingstfestes gekommen war,
waren alle zusammen am selben Ort.
Da kam plötzlich vom Himmel her ein
Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm
daher fährt, und erfüllte das ganze
Haus, in dem sie sassen. Und es er-
schienen ihnen Zungen wie von Feuer,
die sich verteilten; auf jeden von ihnen
liess sich eine nieder. Und alle wurden
vom Heiligen Geist erfüllt» (Apg 2,1-4).

Die nächsten Kapitel der Apostelge-
schichte zeigen in vielen Ereignissen,
wie die junge Kirche miteinander betet,
und wie der Heilige Geist dann Men-
schen erfüllt und verändert. Sie beten
vor schwierigen Entscheidungen. Sie
beten in Notsituationen. Sie beten zum
Lobe Gottes im Tempel. Sie beten in
ihren Häusern. Und immer wieder erfah-      Pfingsten, M. Clara Winkler
ren sie, der Geist Gottes kommt in jede
Situation, wenn wir ihn darum bitten. Die   zeigen, dass jede in ihrer Weise ergrif-
Apostelgeschichte wird gleichsam das        fen und beauftragt wird. Jede soll auf je
Evangelium des Heiligen Geistes.            persönliche Art dazu beitragen, das
                                            Antlitz der Erde zu erneuern.
Der Auftrag Jesu und die Kraft des Hei-
ligen Geistes haben die Apostel und die
Frauen (die Frauen werden explizit er-      Wie war Mutter M. Theresia von
wähnt), ja die ganze Gemeinschaft der       Gottes Geist bewegt?
Gläubigen in der Kirche bis heute her-
ausgefordert und oft auch überfordert.      Sie selbst spricht kaum vom Heiligen
Das Feuer des Geistes, das sich in ein-     Geist. Wir können jedoch sehen, wie er
zelne Feuerzungen aufteilte, könnte uns     in ihr wirkte, wie er sie führte, unter-
                                                                                        9
scheiden und vertrauen lehrte – im            serst schwere Zeiten und hätte der lie-
     Grossen und im Kleinen. Es wäre auch          be Gott mich nicht besonders gestärkt,
     leicht, an ihr die Früchte des Geistes        und der Beichtvater nicht beständig zur
     abzulesen. Ich möchte einfach ein paar        Ausdauer aufgemuntert, so wäre ich si-
     Beispiele erzählen, die uns zeigen, wie       cher um den Beruf gekommen (Gewis-
     sie mit dem Geist Gottes unterwegs            sensbericht).»
     war –, ohne dass ich einen grossen
     Kommentar dazu gebe!                          Als sie gefragt wurde, wie sie denn als
                                                   Generaloberin alles schaffe – Tag für
     Als sie als schulentlassenes Mädchen          Tag – antwortete sie wie selbstver-
     ins Bürgerspital nach Luzern geschickt        ständlich: «Ich überlege – bete – und
     wurde, war sie von allem recht überfor-       handle.» Was mich für die damalige Zeit
     dert, und sie schreibt: «Ich kam hin, al-     verwundert, ist die Tatsache, dass Mut-
     lein zuerst fiel es mir schwer, nur bestän-   ter M. Theresia nicht nur den Geist des
     dig Religiöses zu sehen und zu hören          Rates anrief, sondern für besonders
     und dazu noch Kranke und Arme immer           schwierige Angelegenheiten auch welt-
     vor Augen. Ich war auch einige Male           liche Berater oder einen Anwalt zuzog.
     über Prediger ungehalten, die gegen
     Tanz etc. predigten. Doch die Gnade           Als sie im Oktober 1878 nach Mähren
     siegte bald. Nach kurzer Zeit gefiel es       (heute Tschechien) zur Visitation kam,
     mir dort, und ich fing auch an, mehr zu       liess sie sich am Vorabend der Einklei-
     beten und öfter zu den hl. Sakramenten        dung die vorgesehenen Schwesternna-
     zu gehen; und liess mich in den Jung-         men zeigen. Es waren lauter deutsch-
     frauen-Bund aufnehmen, ebenso in den          sprachige Namen. Mutter M. Theresia
     3. Orden des hl. Vaters Franziskus und        verlangte, dass diese sofort gestrichen
     fing mit Gottes Gnade ernstlich an, an        und an ihre Stelle tschechische Namen
     meiner Verbesserung zu arbeiten» (Ge-         gesetzt werden, weil sie fand, deutsche
     wissensbericht 1867). Sie schreibt «die       Namen hinderten die Integration im
     Gnade», wir könnten sicher sagen, «der        Volk. Heute wäre das verständlich, aber
     Heilige Geist wirkte in ihr».                 für die damalige Zeit war ihre Entschei-
                                                   dung sicher überraschend und ausser-
     Nach den ersten schweren Jahren in            gewöhnlich.
     Ingenbohl bemerkt sie: «Es gab noch
     andere Schwierigkeiten und Leiden, die        Als sie 1886 nochmals zur Generalobe-
     mir namentlich in meinem Seelenleben          rin gewählt wurde, schrieb sie in einem
     sehr hinderlich waren. Es waren äus-          Zirkular am 1. November an die Schwes-
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tern, wie schwer es ihr gefallen sei, die-   zu helfen, wie es das Eingangsgebet
ses Amt nochmals anzunehmen, aber            formulierte. Er ist die Kraft gegen Ent-
einige Gründe hätten sie dazu bewo-          täuschungen und Entmutigungen. Er ist
gen, nämlich: «Die Liebe zur Gemein-         die Kraft zur Hoffnung – trotz allem. Er
schaft, das Vertrauen auf den Beistand       ist die Kraft zur Liebe – auch wenn wir
von oben, der ihr bis jetzt nicht gefehlt    keine Gegenliebe, keine Dankbarkeit zu
habe und der Glaube an das tägliche          erwarten haben. Er ist die Kraft, die uns
Gebet der Schwestern und die ihr bis-        absichtslos das Gute tun lässt.
her erwiesene Liebe.»
                                             Wir wissen es: Wir werden nie vollkom-
Als sie schwer krank war und die             men sein, sondern immer auf dem Weg
Schwestern bangten, wie es ohne sie          bleiben. Unsere Konstitutionen betonen
weitergehen solle, sagte sie schlicht:       in A 7: «Unser Leben ist somit der Ver-
«Wenn ich sterbe, wird ein Generalka-        such, etwas von jener Torheit der Liebe
pitel gehalten, wobei es sich dann           sichtbar zu machen, die Christus den
schon geben wird.» So kann nur eine          Tod am Kreuz, der Menschheit jedoch
Frau sprechen, die dem Geist Gottes          die Erlösung gebracht hat.»
etwas zutraut.
                                             Ich möchte noch zwei Impulse anfüh-
Viele andere Beispiele liessen sich an-      ren, die besonders für die Corona-Zeit
führen, die indirekt zeigen, wie Mutter      ein Versuch sein könnten. In dieser Zeit
M. Theresia mit dem Geist Gottes un-         fühlen wir uns äusserlich einge-
terwegs war. Der Geist Gottes ruhte          schränkt, wir können uns nicht frei be-
auch auf ihr und liess sie zu einer star-    wegen. Darunter leiden wir mehr oder
ken Frau werden.                             weniger. Beim Nachdenken spürte ich,
                                             dass das ja längst nicht alles ist: Der
                                             Glaube schliesst uns einen grossen in-
Wie sind wir, von Gottes Geist               neren Raum auf, in dem wir frei atmen
bewegt, auf dem Weg?                         und uns bewegen können. Wenn ich
                                             also an äusseren Grenzen leide, könnte
Christus hat uns allen seinen Geist ver-     ich mich vielleicht nur einmal umwen-
heissen und geschenkt: «Ihn hat er in        den und in mich hineinsehen und dabei
reichem Mass über uns ausgegossen»,          entdecken, dass da ein grosser innerer
so der Titusbrief (Tit 3,6). Dieser Geist    Raum ist, in dem der Glaube und die
des Herrn hilft uns nicht nur, den Men-      Hoffnung und die Liebe zu Hause sind.
schen in leiblicher und geistlicher Not      Es ist der Raum des Geistes und des
                                                                                         11
Gebetes. Es ist gleichsam der heilige      lehr es fest zu glauben:
     Raum des Menschen. Vielleicht ist das      Jesus erwartet mich.
     ein Auftrag, den inneren Raum mehr zu      Wecke mich, Heiliger Atem,
     bewohnen und zu pflegen.                   mach du mich neu bereit
                                                in den Dienst zu treten
     Natürlich können in demselben inneren      gegen die Traurigkeit.
     Raum auch die Angst, die Sorge und         Gottes Geist, komm und erleuchte mich
     die Enttäuschung wohnen. Das gehört        mit Entschluss und Rat.
     zu uns Menschen, dass wir gleichzeitig     Sag: der Herr tut heute,
     verschiedene Geister, Gedanken und         was er vor Zeiten tat.
     Gefühle in uns haben. Ich erinnere mich    Fass du mich, Heiliger Atem,
     an Jesus, wie zu seinen wichtigen Hei-     Gottesgeist, treib mich an.
     lungen die Austreibung böser Geister       Dank für Christi Auftrag, Dank,
     gehört – wie im gestrigen Evangelium       dass ich dienen kann.
     (Mk 1,21 – 28). Wer diese «bösen» Geis-
     ter auch sein mögen, Fridolin Stier        Das Lied ist eigentlich ein persönliches
     nennt sie die «Aber-Geister»! Und die      Gebet, eine Zwiesprache zwischen dem
     kennen wir wohl. Die Aber-Geister, die     einzelnen Menschen und dem Geist
     so vieles lähmen und hindern. Der Geist    Gottes: nimm – zünde an – zeig – komm
     Gottes will uns erlösen von solchen        und berühre – lehr – wecke – mach be-
     Geistern. Das könnte in diesem Jahr        reit – komm und erleuchte – sag – fass
     auch eine Aufgabe sein, dem Heiligen       – treib an. Diese Verben, eigentliche
     Geist Raum zu gewähren gegen die           Wirkworte, zeigen die ganze Breite, in
     Aber-Geister!                              der der Geist Gottes in uns wirken will
                                                – wenn auch wir wollen. Sag: Der Herr
     Noch ein letzter Gedanke: Im Kirchen-      tut heute, was er vor Zeiten tat.
     gesangbuch finden wir starke Lieder
     zum Heiligen Geist. Eines hat es mir be-   Unter den Bitten im Lied ist wohl jene in
     sonders angetan: Nimm du mich, Heili-      der 4. Str. ein besonderer Auftrag für die
     ger Atem (KG 233):                         heutige Zeit:
     Nimm du mich, Heiliger Atem,               Wecke mich, Heiliger Atem, mach du
     zünde dein Feuer an,                       mich neu bereit in den Dienst zu treten
     zeig den Weg, gib Antwort,                 gegen die Traurigkeit.
     aus der ich leben kann.                    Ein Werk der Barmherzigkeit für heute
     Gottes Geist, komm und berühre             in der Corona-Zeit!
     mein mir verborgenes Ich,                                                         r
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Die zweite Geige
P. Emmeram Stacheder OFM, Ingenbohl
Predigt am Hochfest des heiligen Josef 2021
Dass Josef aus Nazareth vor 150 Jahren zum Patron der Weltkirche proklamiert wurde, war Papst
Franziskus am 8. Dezember 2020 ein Apostolisches Schreiben Wert. In diesem Text, namens «Patris
corde» (Mit dem Herzen eines Vaters), widmet der Papst das Jahr 2021 dem heiligen Josef. Zudem
wurde an diesem Tag unser neuer Bischof geweiht mit dem Namen Joseph. Im Kanton Schwyz ist
der 19. März ein Feiertag. Die Predigt in der Klosterkirche möchten wir gerne mit vielen teilen.

Liebe Schwestern!                                Tirol ist Josef bei der Geburtsszene
                                                 dargestellt, wie er an der Feuerstelle
Der berühmte Dirigent Leonard Bern-              sitzt und für Mutter und Kind eine Sup-
stein wurde gefragt: «Welches Instru-            pe kocht. Das mag zum Schmunzeln
ment ist am schwierigsten zu spielen?»           anregen, aber dahinter steht eine wich-
Seine Antwort überraschte den Journa-            tige Aussage. Diese Art Darstellung ver-
listen, als er sagte: «Die zweite Geige!         mittelt ein Männerbild, das ein Kontra-
Schauen Sie: Nicht nur im Orchester will         punkt zu den patriarchalen Rollenzu-
heute jeder die erste Geige spielen und          weisungen ist.
den Ton angeben. Jemanden zu finden,
der die zweite Geige mit Begeisterung            Der Theologe Josef Wittig hat schon im
spielt, das ist eine schwere Angelegen-          19. Jahrhundert Josef als den Vertreter
heit. Und jeder weiss es: Wenn man nie-          eines neuen Männerbildes bezeichnet.
manden hat, der diese wirklich gut               D. h.: Es braucht Männer, die auch Ka-
spielt, wird man niemals perfekte Har-           renz in Anspruch nehmen. Männer, die
monie im Klang des Orchesters haben!»            kochen und Wäsche waschen, Windeln
                                                 wechseln. Was lange Zeit belächelt und
Der heilige Josef hat sein Leben lang            an Stammtischen, dort wo die «richti-
«nur» die zweite Geige gespielt. Er war          gen Männer» sind, bespöttelt wurde, ist
«bloss» der Ersatzvater. Der Ruhm der            für viele moderne Väter heute normal
ersten Geige, die seine Frau Maria               geworden. Die Darstellung des kochen-
spielte, ist ihm niemals zuteil geworden.        den Josef an der Feuerstelle steht also
Obwohl er «bloss» diese Rolle spielte,           schon weit vor unserer Zeit für diese
war er kein frustrierter Mensch. Durch           Haltung. Das passt auch zur Kampagne
seine Menschlichkeit konnte Jesus so             in der Corona-Zeit: «Hausarbeit ist
aufwachsen, dass es von ihm später               mehr als Homeoffice.»
hiess: «Er war bei Gott und Menschen
beliebt.»                                        Ist das alles zu Josef? Ich denke nicht.
                                                 Die Hinweise aus dem Neuen Testa-
Auf einem gotischen Freskenzyklus                ment zeigen uns, dass er nicht nur am
über das Leben Jesu in einer Kirche in           Kochtopf war oder in der Werkstatt. In
                                                                                                   13
den Kindheitsgeschichten bei Lukas
     und Matthäus wird Josef «aus dem Ge-
     schlechte Davids stammend» bezeich-
     net. Die Volkszählung und die Geburt
     Jesu in der Davidstadt Bethlehem un-
     terstreichen das noch. Das ist nicht
     nebensächlich, sondern für damals
     hochpolitisch.

     Wer mit König David und seinem Ge-
     schlecht in Verbindung gebracht wurde,
     der stand in Opposition zum Kaiser in
     Rom und seinen Statthaltern in Judäa.
     Nachfolger Davids zu sein bedeutete:
     im Widerstand zu sein. Josef lebte mit
     seiner Familie in Nazareth in Galiläa.
     Das war die Gegend des politischen
     Widerstands. Darum auch der Aus-
     spruch des Nathanael: «Kann denn aus
     Nazareth etwas Gutes kommen?»
                                                Heiliger Josef, Kloster Maria Hilf, Bühl, Baden
     Josef flieht mit Maria und dem Kind
     nach Ägypten. Warum ausgerechnet           immer dort, wo es «Baustellen» gab, ob
     dorthin? Ägypten war jenes Land, wo        in Familie oder Beruf.
     der politische Aufbruch des Volkes Is-
     rael begann. Der Auszug aus der            An einer Hausfassade in Delft – Nieder-
     Knechtschaft in das Gelobte Land.          lande – ist Josef mit Maria und Jesus
     «Aus Ägypten habe ich meinen Sohn          dargestellt. Von Josef sind nur Gesicht
     gerufen», heisst es über Jesus. Er führt   und Hände deutlich hervorgehoben.
     die Menschen aus der Knechtschaft          Dieser Josef schaut über Frau und Kind
     der Sünde in die Freiheit der Kinder       hinweg in die Ferne. Josef hat mehr im
     Gottes, in das Reich Gottes.               Blick als das, was gerade vor Augen
                                                liegt. Auch dort in der belebten Strasse
     Josef wird in den Evangelien mit «Tek-     in Delft. Ein stiller Hinweis, dass im Le-
     ton» bezeichnet, was so viel wie Bau-      ben, in den Alltagspflichten und -ge-
     handwerker bedeutet. Er war im Leben       schäften, mehr zählt als das, was vor
14
Augen liegt. Da geht es um das Zusam-    wie es Bernstein gesagt hat, damit die
menstehen und das Füreinandereinste-     Harmonie des Orchesters im Leben
hen. Da geht es um das einfühlsame       stimmig ist. Menschen, die den Weit-
Dasein statt schnelle Lösungen und       blick haben über alles Alltägliche hi­
Hauruck-Aktionen. Da geht es um den      naus. Menschen, die bei aller Unruhe
Weitblick und das rechte Einschätzen     die Ruhe bewahren und mit Entschie-
der sozialen und politischen Lage. Da    denheit das Gute tun. Wir brauchen sie
geht es um das Grundvertrauen, dass      mehr als diese ewigen Dumm-Schwät-
miteinander auch ungute und missliche    zer und Nervensägen, die das Leben
Situationen durchgestanden werden        oft so unerträglich machen und nie-
können. Solche Menschen brauchen         mandem dienen oder nützen, nur alles
wir in Kirche und Gesellschaft. Men-     und alle herunterziehen. Heiliger Josef,
schen wie Josef. Menschen, die die       bitte für uns und die Kirche in unserem
zweite Geige mit Begeisterung spielen,   Land. Amen.                          r

                                                                                    15
Ihr werdet meine Zeugen sein, Apg 1,8
     Zeugin unserer Zeit – Schwester Edith Lang †
     Gestorben in Balupar, Patna, Provinz Indien Nordost
     Zusammengestellt von Sr. Elsit Ampattu, Generalrätin, Ingenbohl

     Das Redaktionsteam der «Theodosia» plant, das Leben und Wirken von Schwestern aus verschiede-
     nen Provinzen unter dem Titel «Zeugin unserer Zeit» vorzustellen. So werden wir von Zeit zu Zeit in-
     spirierende Persönlichkeiten unserer Kongregation kennenlernen. Voll Dankbarkeit blicken unsere
     indischen Mitschwestern auf das Leben von Schwester Edith Lang, deren Leben ein Versuch war,
     «allen alles zu werden» (1 Kor 9, 22).

     Ein Blick zurück                                   Lang von uns im Asha Sadan, Holy
                                                        Cross Convent, Balupar, Patna, Bihar,
     Die Schwestern in Indien sagen mit viel            verabschiedet und ging heim in den
     Liebe und Respekt, dass Bettiah die                Himmel (Sr. Edith = Sr. Irmtraud Lang,
     «Wiege der indischen Mission» sei. Die-            die später wieder ihren Taufnamen an-
     ser Ausdruck führt uns in das Jahr 1894            genommen hat). Sr. Edith war die letzte
     zurück, als unsere europäischen Mis-               europäische Missionarin in der Nordost-
     sionarinnen zum ersten Mal indischen               Provinz. Jetzt sind nur noch zwei euro-
     Boden betraten, und dann die Mission               päische Missionarinnen in Indien, Sr. Jo-
     in Bettiah, Nord-Bihar, begonnen ha-               hanna Brandstätter, Süd Provinz, und
     ben. Im Jahr 2019 hatte ich Gelegen-               Sr. M. Lucia Grabner, Zentral Provinz.
     heit, an der Jubiläumsfeier «125 Jahre
     Präsenz und Mission der Kreuzschwes-               In der Tat ist Sr. Edith eine Zeugin unse-
     tern in Indien» teilzunehmen. Ich be-              rer Zeit! Schwestern, die mit ihr gelebt
     suchte auch den Friedhof in Bettiah, auf           haben, waren gerne bereit, einige per-
     dem die meisten der früheren Missio-               sönliche Erfahrungen und Zeugnisse
     narinnen in Frieden ruhen. Es war ein              mitzuteilen. Sowohl in Indien als auch in
     herzergreifender Moment, eine Reihe                Europa hatten viele Paare, die Kinder
     von schön geschmückten Gräbern zu                  aus dem Kinderheim Delhi adoptiert ha-
     sehen. Ich wurde still, und mein Herz              ben, die Möglichkeit, mit Sr. Edith in
     flüsterte: «Danke, liebe Schwestern! Ihr           Kontakt zu kommen. Ihre Liebe, Aufop-
     seid unsere Fürsprecherinnen! Einen                ferung, Fürsorge und Hingabe für die
     grossen Gruss an euch alle, ihr tapferen           verlassenen Kinder waren eine Inspira-
     Frauen, die ihr Zeuginnen des 19., 20.             tion für sie. Ihre Zeugnisse sind eben-
     und 21. Jahrhunderts seid!»                        falls in diesem Bericht enthalten.

     Am 26. August 2020 um 14.15 Uhr hat                Sr. Edith Lang wurde am 31. Oktober
     sich unsere geliebte Schwester Edith               1927 geboren. Das war ein ganz beson-
16
sie voller Begeisterung und Liebe, den
                                                Armen und Bedürftigen zu helfen.

                                                Mitschwestern erinnern sich

                                                Sr. Mary James Monteiro lebte viele
                                                Jahre mit ihr zusammen und hat viele
                                                denkwürdige Erlebnisse mit Sr. Edith,
                                                die auch Kindheitserinnerungen mit ihr
                                                geteilt hat: «Als Sr. Edith ihre technische
                                                Ausbildung als Schneiderin beendet
                                                hatte, fragte sie ihre Mutter. ‹Wer ver-
                                                dient mehr, eine Schneiderin oder eine
                                                Schwester im Kloster?› Ihre Mutter ant-
                                                wortete: ‹Natürlich verdient eine Schnei-
                                                derin mehr Geld, aber eine Schwester
                                                verdient mehr für die Mission und rettet
                                                mehr Seelen für den Himmel.› Da ent-
                                                schied sie sich, in ein Kloster einzutre-
                                                ten, um Seelen für das Reich Gottes zu
                                                gewinnen.

                                                Im Juli 1947 trat Sr. Edith Lang in die
Sr. Edith Lang, 60 Jahre Profess mit Sr. Mary   Kongregation der Barmherzigen Schwes-
James und Sr. Elisabeth Brandstätter            tern vom heiligen Kreuz in Tirol, Öster-
                                                reich, ein. Ihre ersten Gelübde legte sie
derer Tag für die Eltern Max und Frieda         am 23. März 1952 ab. Vom ersten Tag
Lang von St. Gerold, Vorarlberg, Öster-         an im Kloster erwies sie sich als ein Ge-
reich. Ihre Freude war grenzenlos, denn         fäss, das ganz von der Liebe zu Gott
die Familie wurde mit Zwillingen geseg-         und zu den Menschen gefüllt war. Am
net: Edith und Peter. Von ihrem Vater           13. April 1960 verabschiedete sie sich
erbte sie die Eigenschaften Fleiss, Sorg-       von ihrer Familie und Heimat und reiste
falt und Organisationstalent, von ihrer         nach Indien. Obwohl ihr der Ort, die
Mutter das liebevolle und fürsorgliche          Menschen, die Sitten, die Traditionen,
Wesen. Schon als kleines Mädchen war            die Umgebung und die Sprache völlig
                                                                                              17
fremd waren, stellte sie sich mutig ganz      Energie. Die Kinder und die Schwestern
     der Aufgabe, ihre mitfühlende Liebe mit       in der Gemeinschaft nannten sie liebe-
     den armen und bedürftigen Frauen der          voll ‹Nani›. Nani ist das Hindi-Wort für
     St. Rita’s Knitting School Bettiah, West      Grossmutter.»
     Champaran, Bihar, zu teilen. Von 1960
     bis 1972 widmete sie sich ganz dem            Sr. Pauline Kerketta, die ihre Assisten-
     Wohl dieser Frauen, die merheitlich Wit-      tin im Ozanam-Heim in Delhi war, sagt:
     wen waren. Eines ihrer besonderen An-         «Sr. Edith war so bemüht, jedes Bedürf-
     liegen war die Erziehung der Kinder von       nis der Bewohner so bald wie möglich
     armen Familien.                               zu erfüllen, dass auch ich lernte, schnell
                                                   auf Situationen zu reagieren und ande-
     Von 1984 bis 1995 reagierte Sr. Edith auf     ren zu helfen. Wir haben regelmässig
     die Not der Zeit und übernahm die Ver-        mit den Bewohnern gebetet und ihnen
     antwortung für das ‹Ozanam-Heim›, ein         das Beten beigebracht. Das Heim war
     Heim für verlassene alte Menschen in          immer voll mit armen Menschen. Es
     Delhi. Ohne jegliche Berührungsängste         gab viel zu tun, trotzdem bereitete sie
     kümmerte sie sich Tag und Nacht um            sich jeden Tag eifrig auf die heilige
     sie und bereitete sie liebevoll auf die Be-   Messe in der Rosenkranzkirche vor.»
     gegnung mit dem Herrn vor, indem sie
     friedlich bei ihnen wachte und mit ihnen      Sr. Pushpita Chathamalil, die Provinz-
     betete. 1996 übernahm sie die Verant-         oberin der Nordost-Provinz, teilt ihre Er-
     wortung im Holy Cross Social Service          fahrung mit, die sie für kurze Zeit mit
     Centre in Delhi, das sich um verwaiste        Sr. Edith gemacht hat: «Das Geheimnis
     Babys und Kinder kümmert. Eines Ta-           von Sr. Edith Langs Erfolg als Ordens-
     ges sagte sie: ‹Als ich jung war, habe ich    frau war ihr strahlendes und anstecken-
     mich um die alten Menschen geküm-             des Lächeln, ihre kindliche Einfachheit,
     mert, und jetzt in meinem hohen Alter         ihr Optimismus, ihre systematische Ar-
     habe ich das Privileg, mich um die Klei-      beit, ihr unbedingtes Vertrauen auf das
     nen zu kümmern.› Sie war sehr aufmerk-        göttliche Eingreifen, ihre herzliche Wert-
     sam und kreativ für die Bedürfnisse der       schätzung für ihre Mitarbeitenden und
     Kleinen. Für sie war jedes Kind ein kost-     ihre harmonische Beziehung zu den
     bares Geschenk Gottes. So knüpfte sie         Oberinnen und den Mitschwestern. Ihre
     zu jedem von ihnen einen Herz-zu-Herz-        sachliche Einstellung zu den Bedürfnis-
     Kontakt, und nichts konnte sie von die-       sen der Menschen, die sie im Kinder-
     ser liebevollen Aufgabe abhalten. Sie         heim und im Ozanam-Heim in Delhi be-
     zählte nie die Kosten für ihre Zeit und       suchten, inspirierte sowohl die Men-
18
schen als auch die Schwestern in der         und Liebe zu empfangen. Der Schmutz
Gemeinschaft. Selbst wenn das Leben          und der Gestank hinderten sie nicht da-
in der Gemeinschaft nicht so angenehm        ran, das Kind in ihr Herz und in ihre
war, blieb sie ruhig und gelassen mit        Arme zu schliessen. Ihre Zuneigung
einem Lächeln. Sie hegte keinen Groll        und Freundlichkeit zog die Kinder mehr
gegen diejenigen, die sie verletzt hatten.   zu ihr hin als zu irgendjemand anderem
Sie vertraute auf die Gnade Gottes und       im Haus. Die Besucher betrachteten sie
nicht auf menschliches Tun.»                 als eine besondere Person und fragten
                                             nach ihr, wenn sie sie nicht sahen. Man
Sr. Teresa Dorjee, eine Rätin der indi-      fand sie immer entweder bei den Kin-
schen Ostprovinz, Siliguri, hatte die Ge-    dern oder beim Nähen und Ordnen von
legenheit, mit Sr. Edith Lang in Delhi zu    Kinderkleidung. Sie bleibt ein Vorbild
leben und teilt ihre Bewunderung:            und eine Inspiration für uns alle.»
«Sr. Edith war die eifrigste und leiden-
schaftlichste Ordensfrau, mit der ich je     Sr. Lucy Jose Kakkarakunnel war
gelebt habe. Ihre Einfachheit und ihre       Oberin des Kinderheims. Sie teilt ihre
unübertroffene Hingabe für einen guten       schönen Erinnerungen in einigen Worten:
Zweck sind in der Tat zutiefst bewun-        «Sr. Edith strahlte die Liebe Gottes aus
dernswert. Ich war in der Gemeinschaft       und tat alles mit grosser Leidenschaft.
in Mukherjee Nagar, Delhi, als Studen-       Sie kümmerte sich um die Armen und
tin. Obwohl sie sehr beschäftigt war,        Bedürftigen, unabhängig von Kaste,
wartete sie immer auf meine Rückkehr         Glaube, Alter und Geschlecht. Sie res-
vom College und sorgte dafür, dass ich       pektierte jeden Menschen und sah Gott
etwas zu essen bekam. Sie liebte junge       in jedem.
Schwestern; wir scherzten und lachten        Unsere geliebte Schwester Edith,
und hatten viel Spass zusammen. Ihre         wir vermissen dich.
Anwesenheit war anregend und inspi-          Du hast eine Leere in unseren
rierend. Sie war immer die Erste, die ihr    Herzen hinterlassen.
Zimmer für Besucher freimachte, da wir       Deine Scherze und dein Lachen
in Delhi nicht genug Zimmer hatten.          klingen in uns nach.
Wenn die Polizei in Delhi verlassene         Du einzigartiges, kostbares Juwel,
Kinder fand, rief sie uns jeweils an, um     Du bist unsere Fürsprecherin
sie in unser Waisenhaus zu bringen. Ich      im Himmel.»
bin ein paar Mal hingefahren, um Kinder
von Polizeistationen zu holen. Sie war       Sr. Albina Kisku, von der Tripolia Ge-
immer präsent, um das Kind mit Wärme         meinschaft schreibt: «Dankbar erinnere
                                                                                        19
Mita lernt ihre Adoptivmutter kennen

     ich mich an die drei bedeutungsvollen       Einmal habe ich zufällig gehört, wie
     Jahre, die ich als junge Schwester mit      unsere Oberin zu einer anderen
     ihr verbracht habe. Sr. Edith Lang war      Schwester in der Gemeinschaft sagte:
     mein Vorbild, deren Leben und Sen-          ‹Ich kann mir dieses Haus ohne
     dung mich zutiefst beeindruckt hat. Ich     Sr. Edith nicht vorstellen.› Das hat mich
     war sehr berührt von ihrer Nächstenlie-     zutiefst berührt. Ihr Herz war offen für
     be, die sie in- und ausserhalb der Ge-      alle – Erwachsene und Kinder.
     meinschaft übte. Selbst mit einem
     Fremden ging sie um wie mit einem Be-       Von Zeit zu Zeit schickten ihre Verwand-
     kannten. Sie behandelte sie mit viel Lie-   ten etwas Geld für unser Kinderheim.
     be, Zuneigung und Rücksicht. In ihrer       Immer wenn sie gebeten wurde, einen
     Anwesenheit blieb keiner unbemerkt.         Teil für sich selbst zu nehmen, lehnte sie
     Wann immer Eltern von adoptierten           das rundweg ab und sagte: ‹Es ist für
     Kindern aus Deutschland, der Schweiz,       unsere Kinder bestimmt. Sie haben es
     Italien oder Österreich das Kinderheim      am meisten verdient, und ich kann sie
     in Delhi besuchten, fühlten sie sich sehr   nicht berauben.› Es schien, dass sie es
     geehrt und wie zu Hause, da sie mit ih-     genoss, ihr Armutsgelübde in vollen Zü-
     nen in ihrer eigenen Sprache sprach.        gen zu leben. Sie besass nur das Nö-
20
ben, eine Kreuzschwester in Indien,
                                              eine sehr liebevolle Person voller Res-
                                              pekt für die Menschen. Sie ist für uns
                                              ein Vorbild, dem wir im Leben folgen
                                              sollten. Sie wird nie vergessen werden.»

                                              Prof. Dr. Arno Steudter ist auch ein
                                              Wohltäter des Kinderheims in Delhi und
                                              hilft vielen Armen und Ausgegrenzten,
                                              ihre Würde wiederzuerlangen. Er hat
                                              auch ein Kind aus diesem Kinderheim
                                              adoptiert. Er schrieb: «Wir alle in
                                              Deutschland, die Kinder aus Delhi ad-
                                              optiert haben, sind sehr traurig, dass
                                              Schwester Edith am 26. August 2020
                                              verstorben ist. Für uns Eltern und unsere
Sr. Edith im Kinderheim Delhi                 adoptierten Kinder aus dem Holy Cross
                                              Social Service Centre in Delhi war
tigste. Eines ihrer Hobbys war es, die        Schwester Edith eine warmherzige,
zerrissenen Kleider zu flicken, sei es ihre   herzliche und wunderbare Schwester,
eigenen oder die der Kinder. Ohne Zwei-       die sich so unendlich um unsere kleinen
fel hatte sie Gespür für franziskanische      Kinder gekümmert hat. Ich kann mich
Armut. Man kann von ihr wohl sagen:           noch sehr gut an den Moment erinnern,
‹Eine lebende Heilige unserer Zeit›».         in dem meine Frau Claudia und ich un-
                                              sere erste Begegnung mit Schwester
                                              Edith hatten. Es war der 8. Dezember
Bekannten ist aufgefallen                     2001, als wir zum HCSSC Delhi fuhren,
                                              um unsere Tochter Mita zu treffen. Es
Herr Norbert Scheiwe ist unser Wohl-          war das erste Treffen im Wohnzimmer
täter aus Deutschland, der ein Kind aus       des alten HCSSC-Hauses mit Schwester
dem Kinderheim in Delhi adoptiert hat.        Edith, Schwester Lucy Joseph und Mita.
Er ist ein regelmässiger Besucher in          Es war der Beginn einer wunderbaren
den indischen Provinzen und hilft finan-      Zeit mit Mita in unserer Familie. Deshalb
ziell bei vielen unserer Projekte. Er         sind wir sehr dankbar, und Schwester
schrieb: «Wir alle sind sehr dankbar,         Edith ist immer in unseren Gedanken
diese wunderbare Frau gekannt zu ha-          und wir werden für sie beten.»        r
                                                                                          21
Den Jahren Leben geben
     Sr. Liliane Juchli †
     Sr. Edelina Uhr, Elisabethenheim Bleichenberg, Provinz Schweiz

     Sr. Liliane Juchli hat im Auftrag unserer Gemeinschaft jahrzehntelang «durch ihr Schaffen für die
     Krankenpflege beigetragen zur diakonischen Kirche und zur heilenden Dimension des Glaubens». Im
     Jahr der Pflege durfte sie am 30. November 2020 im Haus für Pflege heimgehen. In Fachkreisen ist
     ihr Wirken über die Landesgrenzen hinaus gewürdigt worden. Sr. Edelina bringt als Mitschwester,
     ehemalige Schulleiterin für Krankenpflege und Provinzoberin einen anderen Aspekt zur Sprache.

     Alt werden in der Gemeinschaft

     1995 hat sich unsere Provinz stark mit
     dem Älterwerden unserer Mitschwes-
     tern auseinandergesetzt. Dabei wurde
     auch die Option für das Alter getroffen.
     Im Anschluss daran hat sich Schwester
     Liliane zusammen mit Schwester Wibo-
     rada Elsener intensiv mit dieser Thema-
     tik auseinandergesetzt. Sie hat ver-
     schiedene Modelle entwickelt, die in
     der Ordenslandschaft einmalig waren.              Sr. Liliane Juchli 1933 – 2020

     Zum Einen war es eine Fachausbildung              Schwester Liliane verstand es, ihr Wis-
     für Schwestern, die betagte Schwestern            sen «herabzubrechen», verständlich
     begleiten, betreuen und pflegen, es               und nachvollziehbar zu machen für die
     ging um Sinnfindung und Lebensge-                 Kursteilnehmerinnen. Aber, wie es ih-
     staltung im Alter. Wie ich Schwester Li-          rem Wesen entsprach, hat sie auch he-
     liane immer erlebte, so ging es auch in           rausgefordert. Das hat bei vielen
     dieser Fachausbildung zuerst darum,               Schwestern Fähigkeiten herausgelockt,
     bei sich selber zu schauen, und das bei           die sonst verborgen geblieben wären.
     jedem sogenannten Baustein:                       Das war eine Stärke von Schwester Li-
     Mein Lebens- und Glaubensweg –                    liane in ihrem ganzen Leben als Kran-
     Lebensprozesse und Übergänge                      kenschwester, Lehrerin für Pflege,
     Wege zur Lebensganzheit –                         Schulleiterin, Dozentin: Fordern und
     Sorge für das Leben                               fördern!
     Abschiedlich leben –
     Pflege ist mehr als…                              War der Kurs zunächst nur für unsere
     Sich auf den Weg machen                           eigenen Schwestern gedacht, kamen
22
bald viele Anfragen von anderen Klös-      5. Baustein
tern im In- und Ausland; einerseits weil   Wendezeiten der Frau – mein eigenes
alle Klöster sich mit dem Älterwerden      Frau- und Ordensfrausein
der Schwestern befassten, andererseits,    6. Baustein
weil das gute Echo der Kurse sich rasch    Mitte des Lebens – Leben zwischen
verbreitete. So waren die Kurse bald       Spannung und Versöhnung
kongregationsübergreifend gemischt,        7. Baustein
was für alle eine Bereicherung war.        Alter als Chance – Vision und Hoffnung
                                           Die Übersicht allein zeigt den Reichtum
Zum Andern waren es zwei Kurse:            dieses Kurses und das Anliegen der
«Chancen ab 60 und Chancen ab 70»,         Ganzheitlichkeit auf.
die das Älterwerden der einzelnen
Schwestern unterstützt und bereichert      Für ihre Anliegen hat sie bis zum
haben. Den Kurs «Chancen ab 60»            Schluss alles gegeben und an deren
habe ich selbst besucht. Zeit zu haben     Verwirklichung geglaubt, nämlich:
für die Auseinandersetzung mit folgen-     Raum schaffen für menschliche, religiö-
den Themen war eine Bereicherung:          se, kulturelle und schöpferisch-gestal-
1. Baustein                                terische Bildung, die das Ganzheitliche
Und plötzlich bin ich alt – mein Lebens-   und das Zeitgemässe beinhaltet, An-
und Glaubensweg                            passungsfähigkeit an die Bedürfnisse
2. Baustein                                der Zeit, dabei aber die Selbstpflege
Übergänge und Reifewege – Heilsge-         nicht vernachlässigen.
schichte und Berufungsweg
3. Baustein                                Dir, liebe Schwester Liliane, ein grosser
Gesundheit als Gabe und Aufgabe –          Dank von mir und uns allen und eine
Pflege das Leben, auch Deines              tiefe Wertschätzung über den Tod hi­
4. Baustein                                naus.
Grenzsituationen des Lebens – Wege
zur Lebensganzheit                         Schwester Edelina Uhr                r
                                                                                       23
Erinnerungen an Perm
     Sr. Filipa Macháčková, jetzt Kroměříž, Provinz Tschechien

     Die Mission in Perm begann im Jahr 2002. Der damalige Pfarrer hat für die pastorale Tätigkeit und
     die Sozialarbeit in der Pfarrei Perm um die Unterstützung unserer Schwestern gebeten. Die drei
     Schwestern Sr. Katarína Jureková (SK), Sr. Petra Krištofíková (SK) und Sr. Filipa Macháčková (CZ) ha-
     ben in den zurückliegenden 18 Jahren segensreich in der Pfarrei gewirkt und mitgeholfen, das Ge-
     meindeleben in der Pfarrei aufzubauen. Sie haben mit den Menschen gelebt, ihr Los geteilt und ver-
     sucht, etwas vom Evangelium, von Jesus Christus sichtbar zu machen. Sie haben nun ihren Auftrag
     im November 2020 im Namen der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Kreuz beendet. Aus ihrem
     reichen Schatz der Erinnerungen holt Sr. Filipa einige schmerzliche und freudige hervor und teilt sie
     mit uns.

     Aller Anfang ist schwer                             einem Blockhaus, ungefähr eine halbe
                                                         Stunde Busfahrt von der Kirche ent-
     «So führt uns Gott an verschiedene                  fernt, in einer kleinen Siedlung von
     Orte, um für seine Ehre und zum Wohl                5-stöckigen Häusern, nicht weit vom
     der Menschen zu wirken.»                            Zentrum einer Millionenstadt. Hier lern-
     P. Theodosius Florentini                            ten wir Menschen, Kultur und Mentalität
                                                         kennen. Die Pfarrgemeinschaft begeg-
     Die Stadt Perm in Russland ist einer der            nete uns mit grosser Offenheit. Unsere
     Orte, wohin uns Gott geführt hat. Dem               Hauptaufgabe bestand darin zu lernen,
     Antrag der Pfarrei zufolge halfen wir seit          die Menschen zu verstehen, die anders
     dem Jahre 2002 mit der Pfarrkatechese               waren als wir, und den Weg zu ihnen zu
     aus, und wir bemühten uns im Sinne                  suchen. Das geschieht vor allem durch
     unseres Charismas, mit den Menschen                 die Sprache. Deswegen nahmen wir am
     in diesem räumlich ausgedehnten Land                Sprachunterricht der Dozentin der Phi-
     auf dem Weg zu sein. Unsere wenigen                 lologie Irina Nikolajevna teil, die unserer
     Zeilen sind so etwas wie eine kleine Re-            Pfarrei angehörte. Sie versuchte, uns
     miniszenz, eine Erinnerung nach etwas               auch mit der russischen Kultur bekannt
     mehr als 18 Jahren «Arbeit». Aber es ist            zu machen – mit der hohen Kultur von
     viel eher eine Erinnerung daran, wie uns            Literatur, Musik, Ballett, Theater, denn
     der Herr geführt hat.                               das Äussere der Stadt war das Gegen-
                                                         teil davon. Die Menschen schienen uns
     Perm empfing uns mit einer Menge                    finster und verschlossen zu sein, sie
     Schnee und Frost, so wie sich die meis-             grüssten einander nicht. In der Stras-
     ten von uns Russland vorstellen. Unser              senbahn gab es oft Streit. Erst später
     erstes «Kloster» war eine 4-Zimmer-                 nahmen wir wahr, dass die grobe Scha-
     wohnung mit einer winzigen Küche in                 le ein gutes und weiches Herz birgt.
24
Trotzdem war die Anfangszeit sehr            Eine unserer ersten und sehr schweren
schwer. Das, was wir früher über Russ-       Erfahrungen war die Zusammenarbeit
land gehört hatten, von Hunger nach          mit der amerikanischen Organisation
Geistigem, von Menschen, die nach            «Liebesbrücke», deren Ziel es war, den
dem Sinn des Lebens in der Kirche su-        Strassenkindern zu helfen. In den 90er
chen, bestätigte sich nicht. Wir sind zu     Jahren fielen aufgrund des zerfallenden
der Zeit gekommen, als die erste Welle       staatlichen Systems viele Kinder aus
der Suche nach dem Spirituellen nach         Schule und Familie. Sie begannen, auf
der Perestrojka schon vorbei war.            der Strasse zu leben. Kriminalität und
                                             Drogenhandel usw. stiegen an. Ein paar
                                             Jahre lang halfen wir bei dieser Organi-
Auf der Suche nach Aufgaben                  sation aus, versuchten mit den Kindern
                                             in Kommunikation zu treten, sie zu mo-
Zugleich entstanden die historisch ers-      tivieren, Menschen in Krankenhäusern
ten katholischen Diözesen, was zu stür-      und Gefängnissen zu besuchen. Lang-
mischen Reaktionen in der Gesellschaft       sam beruhigte sich die Situation im
führte. Der Priester, auf dessen Einla-      Land, und es sank das Bedürfnis nach
dung wir gekommen waren, entschied           dieser Tätigkeit. Zu dieser Zeit kam die
sich nach einem halben Jahr, nach Po-        Nachfrage eines Schuldirektors nach
len zurückzukehren. Er war erschöpft.        Aushilfe im Unterricht bei einer Klasse
Er hinterliess eine gut geleistete Arbeit,   Roma-Kindern. Wir halfen der Lehrerin
gute Beziehungen mit anderen Konfes-         vor allem im praktischen Unterricht. Es
sionen und Religionsgemeinschaften.          war eine schöne Erfahrung der Zusam-
Deshalb spürten wir die interkonfessio-      menarbeit mit der Lehrerin, der Schul-
nelle Spannung nie besonders stark und       leitung, und wir knüpften freundschaft-
hatten deswegen z. B. keine Pro­bleme        liche Beziehungen, die über diese Tä-
mit unseren Dokumenten o. ä. Und doch        tigkeit hinaus erhalten geblieben sind.
war die erste Etappe nicht einfach. Am       Nach vier Jahren übersiedelten die
mühsamsten war es, eine Tätigkeit, eine      Roma in eine andere Stadt, die Schule
Arbeit zu finden. Es reicht nicht nur «mit   wurde geschlossen, und so beendeten
den Menschen» zu sein, das «Sein»            wir auch unsere Tätigkeit hier.
musste eine Form bekommen, musste
in der Arbeit für das Wohl der Menschen      Eine ähnliche Aufgabe fanden wir in
Gestalt finden. Auf diesem Feld ver-         einem Kinderheim, in dem wir uns den
suchten wir viele Wege zu gehen, um          Kindern in ihrer Freizeit widmeten. Die-
dem Menschen nah zu sein.                    se Aufgabe übten wir 15 Jahre lang aus.
                                                                                        25
Betreuung von betagten Menschen                       Ich nenne nur ein Beispiel einer älteren
                                                           Frau, um die wir uns fast 15 Jahre mit
     Eines der wichtigsten Bedürfnisse, das                Hilfe ihrer leiblichen Schwester geküm-
     wir als Priorität sahen, war die Betreu-              mert haben. Einmal pro Woche besuch-
     ung der Alten und Kranken in ihren                    ten wir sie, kauften für sie ein, kochten,
     Haushalten. Dieses Anliegen begleitete                räumten auf, halfen bei der Hygiene.
     uns während der ganzen Zeit. Ich kann                 Frau Irina erzählte oft mit Lachen, was
     nicht über alle schönen Begegnungen                   für Vorstellungen sie hatte, bevor sie
     mit älteren Menschen sprechen, die wir                uns kennenlernte. Als sie erfahren hat-
     betreut und gepflegt haben. Viele von                 te, dass sie von katholischen Ordens-
     ihnen sind schon heimgegangen. Unter                  frauen betreut werde, bekam sie Angst.
     den Leuten waren nicht nur Mitglieder                 Sie stellte sich ältere, strenge, trübe
     unserer Pfarrei. Diese Aufgabe half uns,              Frauen vor – und das Gegenteil war der
     den Menschen nahe zu stehen und die                   Fall. Oft bat sie uns, länger zu bleiben,
     Barrieren der Vorurteile und Ängste vor               damit sie uns einfach nur anschauen
     Katholiken zu überwinden.                             konnte.

     Sr. Filipa, Sr. Katarina und Sr. Petra mitten unter Pfarreiangehörigen
26
Pfarrkatechese                              Noch eine Tätigkeit half uns, tiefer in die
                                            Gesellschaft zu kommen – die Führun-
Was die Pfarrkatechese betrifft, war der    gen in der Kirche. Unsere Kirche war
Beginn sehr schmerzlich und fast trau-      ein historisches Gebäude, und es gab
matisch. Zur Katechese kam fast nie-        nicht viele in Perm. Am meisten kamen
mand, ausser Zwillingen, die auch in        Schüler und Studenten, die die Synago-
der Sonntagsmesse waren. Ich erinne-        ge, die Moschee, die protestantische
re mich oft an den heutigen Bischof Ni-     Kirche und unsere Kirche besichtigten.
kolaj, der damals sagte: «Nach Russ-        Es war für uns sehr schön zu erfahren,
land kommen Missionare, um zu säen.»        dass sie am liebsten dort hingingen, wo
Aber es zeigt sich, dass es nicht einmal    die Führung mit einem ungewöhnlichen
die Zeit zum Säen war, sondern erst die     Akzent war – und das war bei uns.
Zeit, um den Boden vorzubereiten. Ich
kann nach fast 20 Jahren sagen, dass        Ein Jahr nach unserer Ankunft sind wir
es wirklich so ist. Die Pflanze des Glau-   in ein 9-stöckiges Haus umgezogen,
bens ist noch sehr zart, und man muss       nahe der Kirche. Unter so vielen Men-
für sie mit besonderen Aufmerksamkeit       schen zu wohnen, war für uns auch
sorgen.                                     eine Erfahrung einer ungezwungenen
                                            Nähe der Menschen in ihrem Alltag. Sie
Wir haben keine Früchte erwartet und        hatten sich zwar lange an uns gewön-
doch: Vor unserem Abschied von der          nen müssen, aber letztendlich sind wir
Pfarrei wurden in vielen jungen Familien    ein Bestandteil ihres Lebens geworden.
Kinder geboren. Wir konnten dabei           Ohne es zu ahnen, teilten wir sozusa-
auch Freude über unsere katechetische       gen ihr Zuhause mit ihnen.
Arbeit erleben, Freude über neues Le-
ben in der Pfarrei. Unsere Pfarrei wurde
zu einer jungen Pfarrei, und das erfüllt    Langsamer Abschied
uns mit grosser Hoffnung, dass unser
Werk weiter lebendig bleib und besteht.     Im Jahr 2019 wurde die Entscheidung
In den letzten zehn Jahren gab es in der    getroffen, die Arbeit in Perm zu been-
Pfarrei mehrere Kinder, für die wir Som-    den. Vor uns stand ein Jahr der Über-
merlager organisieren konnten. Diese        gabe unserer Tätigkeit in der Pfarrei.
sind in der Erinnerung der Menschen         Die Nachricht von unserem Abschied
lebendig geblieben. Dazu trug auch die      löste in der Pfarrei grosse Trauer aus.
gute Zusammenarbeit mit unserem             Die Pfarrmitglieder nannten die Zeit
Pfarrer, Vater Dimitrij, bei.               unseres Wirkens «Flitterwochen», und
                                                                                          27
das half jedem, die Realität positiv an-   Angesichts der schweren pandemi-
     zunehmen. Die Verbreitung der Covid-       schen Situation war die Flugverbindung
     19-Infektion beeinflusste auch den Pro-    mit Europa sehr ungewiss. Unsere Flü-
     zess des Abschiednehmens. Fast ein         ge wurden mehrmals versetzt, und so
     halbes Jahr war es schwierig, über-        war auch der Abschied von der Pfarrei
     haupt zusammenzukommen. Aber wir           sehr einfach und bescheiden. Doch die
     durften noch erleben, dass nach zwei       Emotionen gingen trotzdem hoch – vor
     Jahren Vorbereitung vier unserer Mäd-      allem bei den Kindern in ihrer Unmittel-
     chen zur Erstkommunion kamen. Es           barkeit und Freundlichkeit.
     war ein wunderschönes Fest.

                                                Dank

                                                Nun möchten wir unseren Dank an die
                                                Schwestern aussprechen, die uns wäh-
                                                rend der ganzen Zeit in Perm mit ihrem
                                                Gebet begleitet haben. Wir möchten uns
                                                auch bei allen bedanken, die uns mit ge-
                                                strickten Sachen versorgt haben. Wir
                                                glauben, dass diese Zeichen ein Zeugnis
                                                waren für die Menschen, ein Zeugnis der
                                                Verbundenheit quer durch alle Alters-
                                                schichten und Nationalitäten. Wir dan-
                                                ken Ihnen von Herzen und bitten Sie um
                                                Ihr Gebet für unseren neuen Beginn.

     Sr. Filipa und Sr. Petra                   Die Schwestern aus Perm             r
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Jeder unter der Sonne ist mein Bruder und meine
Schwester
Sr. Veera Bara Namugongo, Kampala, Uganda

Die Internationale Union der Generaloberinnen (UISG) in Rom hat anlässlich ihres 50-jährigen Be-
stehens im Jahr 2015 ein interkongregationales und internationales Projekt zur Begleitung von Mi­
granten in Sizilien gestartet. Unsere Kongregation hat sich seit Beginn an diesem Projekt beteiligt.
Unter den zehn ersten Schwestern aus acht verschiedenen Kongregationen war auch Sr. Veera Bara
vom Vikariat Uganda. Sr. Veera setzte sich sehr engagiert ein, um den Migranten aus den afrikani-
schen wie auch aus den asiatischen Ländern beizustehen. Sie nahm sich das Motto des UISG-Pro-
jektes zu Herzen: für die Migranten und die italienische Bevölkerung eine Brückenbauerin zu sein.
Nach fünf Jahren verlässt sie dieses Projekt und kehrt nach Uganda zurück, um ihre neue Aufgabe
in der Vikariatsleitung zu übernehmen. Durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie konnte Sr. Vee-
ra nicht wie geplant im Sommer nach Uganda zurückkehren. Sie beendete ihr Wirken am 12. Septem-
ber und reiste erst am 20. November zunächst nach Indien und ist nun bereits nach Uganda zurück-
gekehrt. Von dort aus berichtet sie von ihren Erfahrungen.

Der Ausspruch unseres Gründers,                    den Menschen in Sizilien säen und sie
P. Theodosius Florentini, «Jeder unter             begleiten.
der Sonne ist mein Bruder und meine
Schwester», wurde in mir lebendig, als             Im Bewusstsein, dass Religionsfreiheit
ich die letzten fünf Jahre (2015 –2020) in         ein Zeichen des friedlichen Zusammen-
Sizilien, im südlichen Teil Italiens, mit          lebens ist, lebten wir vor, dass wir Kinder
Flüchtlingen lebte. Wenn ich auf diese             Gottes sind, indem wir immer wieder mit
fünf Jahre zurückblicke, bin ich voll              christlichen und muslimischen Flücht-
Freude und Dankbarkeit.                            lingen beteten, entweder in ihren Fami-
                                                   lien oder in Kirchenräumen. Der Res-
Unser Einsatz für die Flüchtlinge in Si-           pekt, den wir für die Kostbarkeit des
zilien entsprach einer Bitte von Papst             Lebens und für die Würde und Freiheit
Franziskus an die UISG – Internationale            des anderen zeigten, durchbrach die
Vereinigung von Generaloberinnen                   Mauern der Diskriminierung und Gewalt.
im Jahr 2015. Wir, zehn Ordensschwes-              Wir teilten die geistlichen und morali-
tern aus verschiedenen Kongregationen              schen Werte im Geist der Evangelisie-
mit unterschiedlichen Charismen und                rung, und Gott überraschte uns mit eini-
Spiritualitäten, wurden ausgewählt, da-            gen Migranten, die um die Taufe baten.
mit wir kleine Gemeinschaften bilden,
Hoffnung leben, Zeichen der Einheit                Ich bin Gott sehr dankbar für meine Be-
seien, Brücken bauen und den Samen                 rufung in die Kongregation der Barm-
der Versöhnung und des Friedens unter              herzigen Schwestern vom heiligen
                                                                                                       29
Kreuz, die es mir ermöglichte, unser       sis der globalen Familie unter der glei-
     Charisma und das Motto der Kongre-         chen Sonne und der einzigen Sonne zu
     gation in einem unbekannten Land un-       finden.
     ter fremden Menschen mit anderer Kul-
     tur und Religion zu leben. 90% der         Eines unserer Hauptziele der Mission
     Flüchtlinge und Migranten, unter denen     war es, zwischen Bürgern und Auslän-
     ich lebte und arbeitete, waren Muslime.    dern, zwischen Reichen und Armen,
     Die unbewusste Angst, die sich ihnen       zwischen Ärzten und Kranken, zwi-
     gegenüber in mir angesammelt hatte,        schen Behörden und Untertanen, zwi-
     begann zu verschwinden, als mir die        schen ethnischen Gruppen und Religio-
     Worte unseres Gründers neu aufgingen:      nen Brücken zu bauen. Dies war mit
     «Jeder Mensch unter der Sonne ist          Hilfe der örtlichen Kirchenführer und
     mein Bruder und meine Schwester.»          Behörden verschiedener Verbände
     Diese Aussage stärkte mich und mir         möglich. und die Bindung der Brücken
     wurde wirklich bewusst, dass alle Men-     wurde immer stärker mit festen Steinen,
     schen Kinder des einen Gottes und Va-      Zement und Sand der Liebe und der
     ters sind. Diese Einstellung half mir,     Zusammenarbeit. Ich erinnere mich
     Menschen unterschiedlicher Hautfarbe,      dankbar an Bischof Mario Russotto von
     Glaubensbekenntnisse, ethnischer           Caltanissetta, den Diözesandirektor der
     Gruppen und Bildungsstatus den nöti-       Caritas, die Leiterin des Diözesanbüros
     gen Respekt und die hohe Würde ent-        für Migranten, die Anwälte, die Sozial-
     gegenzubringen. Dabei fühlten wir uns      behörden der Stadt, die Leiter der so-
     untereinander wohl.                        ziokulturellen Einrichtungen, die ver-
                                                schiedenen Schulverwaltungen und
     Die vier Säulen unserer Mission, die
     Papst Franziskus vor Beginn unseres
     Einsatzes genannt hatte, waren: «Auf-
     nehmen, integrieren, fördern und schüt-
     zen.» Sie gleichen eigentlich unserem
     Charisma «Option für die Armen» und
     unserem Motto, «Das Bedürfnis der Zeit
     ist der Wille Gottes». Die Vorgehenswei-
     se, das Sprechen, das Zuhören, das
     Betrachten, das Verstehen und das
     Wahrnehmen der Situation des anderen
     hat mir geholfen, eine gemeinsame Ba-      Sr. Veera links
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