TOCHTERUNTERNEHMEN DEUTSCHER KONZERNE IN DEN USA UND IHR VERHÄLTNIS ZU US-AMERIKANISCHEN GEWERKSCHAFTEN - IG Metall

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                                                   01 | 2018

TOCHTERUNTERNEHMEN DEUTSCHER KONZERNE
IN DEN USA UND IHR VERHÄLTNIS
ZU US-AMERIKANISCHEN GEWERKSCHAFTEN
Wilma B. Liebman, Rutgers University School of Management and Labor Relations,
New Brunswick, New Jersey, USA

I. EINLEITUNG:                                              mehr Einfluss haben sollten. Im Jahr 2009 waren es noch
LANDSCHAFT DER EXTREME                                      25 Prozent. Gleichzeitig waren allerdings auch 35 Pro-
                                                            zent der Befragten der Ansicht, die Bedeutung von Ge-
Schon vor rund 20 Jahren beschrieb der US-amerikani-        werkschaften sei zu groß. Bei den Parteigängern der De-
sche Wissenschaftler Thomas Kochan1 die industriellen       mokraten wünschten sich 55 Prozent mehr Einfluss der
Beziehungen in den USA als »Landschaft der Extreme«.        Gewerkschaften, bei den Republikanern waren es jedoch
Die Spannbreite reiche von unversöhnlichem Lagerden-        nur 18 Prozent.3 Die Amerikaner sind also auch in dieser
ken und Union Busting bis hin zu ausgeprägt kollaborati-    Frage tief gespalten.
ven strategischen Partnerschaften. Das Gros, so Kochan,
liege jedoch dazwischen und könne vielleicht als Waffen-    Die Beziehungen von Tochterunternehmen deutscher
stillstand oder mehr oder weniger friedliche Koexistenz     Konzerne zu US-amerikanischen Gewerkschaften müssen
charakterisiert werden. Vor etwa fünf Jahren fragte ich     in diesem Kontext bewertet werden. Und es scheint, dass
Kochan, ob er die Situation noch immer so beschreiben       sie sich ähnlich verhalten wie US-Unternehmen. Das von
würde. Seine Antwort: Es sei jetzt noch schlimmer.          Thomas Kochan beschriebene Spektrum findet sich auch
                                                            bei ihnen – mit einer Ausnahme: Die meisten wollen die
Tatsache ist, dass die Arbeitsbeziehungen in den USA        Extreme und den kritischen Blick der Öffentlichkeit lieber
schon immer eine Landschaft der Extreme waren. Aber         vermeiden.
die Extreme liegen heute deutlich weiter auseinander,
insbesondere aufgrund der Haltung der Unternehmen. In       Obwohl die meisten deutschen Firmen zu Hause (und
den letzten Jahren sind die Auseinandersetzungen zwi-       weltweit) mit Gewerkschaften zusammenarbeiten, haben
schen Arbeit und Kapital erbitterter geworden. Das spie-    viele von ihnen ihre US-Niederlassungen in den ausgewie-
gelt den Zustand unserer Politik wider. Die Entwicklung     sen gewerkschaftsfeindlichen Südstaaten errichtet – mit
ist vergleichbar mit der Radikalisierung der Republika-     deren spezifischer Geschichte, Wirtschaft und politischer
nischen Partei. »Es ist noch schlimmer, als es aussieht«,   Kultur sowie den dort überall geltenden Right-to-Work-
brachten es unlängst die Politikwissenschaftler Thomas      Gesetzen.4 Auch wehren sie sich so lange gegen eine ge-
Mann und Norman Ornstein auf den Punkt.2                    werkschaftliche Organisierung, bis sie gezwungen sind,
                                                            sie zu akzeptieren. Gewerkschaften und Arbeitsrechtler
Tatsächlich dürfen die Arbeitsbeziehungen in den USA
nicht isoliert von der Politik betrachtet werden – von
den politischen Wirren der letzten Jahre, vom zutiefst                                          Wilma B. Liebman ist eine US-ameri-
polarisierten Land und dem Stillstand im Kongress. Ein                                          kanische Arbeitsrechtlerin und war
                                                                                                von 1997 bis 2011 Mitglied des National
solches politisches Umfeld, verbunden mit einer langen                                          Labor Relations Board, dem obersten
Geschichte der institutionalisierten Gewerkschafts-                                             Entscheidungsorgan der US-Bundes-
                                                                                                                                          Hintergrund

feindlichkeit, führt zwangsläufig zu einem schwierigen                                          behörde für Arbeitsbeziehungen. Als
                                                                                                erste Frau in der Geschichte des NLRB
Klima. Das US-Arbeitsgesetz, der »National Labor Rela-                                          hatte sie zwischen 2009 und 2011 den
tions Act« von 1935, ist das Resultat erbitterter Kämpfe                                        Vorsitz des Gremiums inne. Seither hat
und war von Anbeginn umstritten. Noch heute sind we-                                            sie an verschiedenen Universitäten
                                                                                                gelehrt, darunter die New York Uni-
der das Arbeitsgesetz noch der rechtliche Status von            versity, die George Washington University und die Cornell University.
Gewerkschaften in allen Teilen der US-Gesellschaft voll-        Der Aufsatz basiert auf Ausführungen der Autorin anlässlich einer
ständig akzeptiert.                                             Vortragsveranstaltung des Hugo Sinzheimer Instituts in Frankfurt
                                                                am Main. Er wurde für die Veröffentlichung aktualisiert und erschien
                                                                zuerst in englischer Sprache in der Ausgabe 4/2016 der Zeitschrift
Jüngste Umfragen belegen das: So sind zwar 37 Prozent           Soziales Recht.
der Öffentlichkeit der Meinung, dass Gewerkschaften                                                                                           1
Deutsche Konzerne in den USA und US-amerikanische Gewerkschaften | Wilma B. Liebman                          01 | 2018

bezichtigen sie deshalb der Doppelzüngigkeit und werfen        Vor diesem Hintergrund haben sich die USA für einzelne
ihnen vor, dass sie es sich unter dem Motto: »Andere Län-      ausländische Investoren nicht nur zu einem wichtigen Pro-
der, andere Sitten« einfach machen würden.                     duktionsstandort, sondern auch zu einem wichtigen Stand-
                                                               ort für den globalen Export entwickelt. Das zeigt das Bei-
Zu Beginn werde ich zunächst einige grundlegende Fak-          spiel BMW. Über die Hälfte der Fahrzeuge, die der deutsche
ten über deutsche Investitionen in den USA darlegen. Da-       Autobauer in seinem Werk in Spartanburg (South Carolina)
nach will ich meine Eindrücke über die Erfahrungen der         produziert, werden ins Ausland exportiert.6
US-amerikanischen Gewerkschaften mit deutschen Toch-
terunternehmen schildern. Um diese Erfahrungen einzu-          Deutsche Investoren sind bereits seit langer Zeit stark in
ordnen, beschreibe ich als Nächstes das Arbeitsrecht sowie     den USA vertreten. So befanden sich im Jahr 2013 etwa
die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen,        3.500 Unternehmen mehrheitlich in deutscher Hand.
in denen sich die Investitionen und wirtschaftlichen Aktivi-   Mit rund 36 Prozent bildete das produzierende Gewer-
täten deutscher Niederlassungen in den USA bewegen. Da-        be dabei den Schwerpunkt. 2014 war Deutschland der
bei lege ich ein besonderes Augenmerk auf den Süden der        fünftgrößte ausländische Investor in den USA. Deutsche
USA. Zum Abschluss werde ich auf die schwierigen Fragen        Firmen beschäftigen über 620.000 Arbeitnehmer. Nach
eingehen, die sich aus dieser Diskussion ergeben:              Firmen aus Großbritannien und Japan ist dies die dritt-
                                                               größte Anzahl.7 Insgesamt bringen deutsche Unterneh-
• Welche Verpflichtungen haben bzw. sollten deutsche           men dem Standort USA großes Vertrauen entgegen – mit
  Tochterunternehmen haben, sich bei ihrer Geschäfts-          Ausnahme einiger Bedenken aufgrund des Mangels an
  tätigkeit in den USA an einem höheren Standard zu            qualifizierten Facharbeitern.8
  orientieren, als es das US-Arbeitsrecht verlangt?
                                                               Bundesstaaten und Kommunen in den USA bemühen sich
• Können wir überzeugend argumentieren, dass deut-             aktiv um deutsche Investitionen und haben deutschen
  sche Tochterunternehmen anders als US-Firmen han-            Firmen großzügige Subventionen sowie Steueranreize
  deln sollten? Sollten sie den Ansatz, sich an die ört-       gewährt. Dies war besonders in den Südstaaten der Fall:
  lichen Gepflogenheiten anzupassen, aufgeben und
  stattdessen, wie es viele von uns gerne sehen würden,        • BMW – ein erstes Anreizpaket von $ 150 Millionen im
  die »Vordenkerrolle« einnehmen und so dazu beitra-             Jahr 1992; $ 103,5 Millionen für die Erweiterung in
  gen, die vergifteten US-Arbeitsbeziehungen in etwas            2002; 8.000 Beschäftigte (South Carolina).
  Konstruktiveres zu verwandeln?
                                                               • Mercedes – ein erstes Anreizpaket von $ 238 Millionen
• Lassen es die jeweiligen Eigeninteressen Deutsch-              im Jahr 1993, weitere $ 119 Millionen und $ 100 Milli-
  lands und der USA überhaupt zu, höhere Standards               onen für Erweiterungen in 2000 und in 2009; 8.000
  anzustreben?                                                   Beschäftigte (Alabama).

                                                               • Volkswagen – ein erstes Anreizpaket von $ 554 Millio-
                                                                 nen 2008; ein Zuschlag in Höhe von $ 263,3 Millionen
II. AUSLÄNDISCHE INVESTITIONEN IN DEN                            in 2014; 2.400 Beschäftigte (Tennessee).
USA: DEUTSCHLAND
                                                               • Jeder dieser Konzerne erhielt zudem kleinere Subven-
Die ausländischen Direktinvestitionen (Foreign direct in-        tionen für die Ausbildung von Arbeitskräften.
vestment – FDI) in den USA beliefen sich 2015 auf die Re-
kordsumme von $ 353 Milliarden. Gleichzeitig nimmt der         • Airbus – Zusagen im Jahr 2012 in Höhe von $ 158 Mil-
weltweite Wettbewerb um ausländische Investitionen zu.           lionen; offiziell 2015 mit etwa 250 Angestellten eröff-
Der Grund: Immer mehr Entwicklungsländer bringen sich            net, ungefähr ein Viertel der Kapazität (Alabama).
als Investitionsstandorte in Position. So ist seit dem Jahr
2000 der globale Anteil an den FDI in den entwickelten         Wir konzentrieren uns zwar auf deutsche Unternehmen,
Ländern zurückgegangen. Dennoch: Insgesamt betrach-            aber eine weitere Entwicklung sollte nicht verschwie-
tet sind die USA nach wie vor das bevorzugte Ziel auslän-      gen werden: Chinas wirtschaftliches Engagement in den
discher Direktinvestitionen.5                                  USA nimmt rapide zu, insbesondere in den Südstaaten.
                                                                                                                            Hintergrund

                                                               Zwischen 2000 und 2014 investierten Unternehmen aus
Ausländische Unternehmen investieren aus vielen Grün-          dem Reich der Mitte $ 46 Milliarden, den größten Teil
den in den USA. Das Land gilt als vitaler Produktions­         in den letzten Jahren. In North und South Carolina sind
standort mit stabilen rechtlichen Rahmenbedingungen            mindestens 20 chinesische Hersteller ansässig, die Infra­
und als bedeutsames Forschungszentrum mit Universitä-          strukturzuschüsse und Subventionen in beträchtlicher
ten von Weltklasse. Es bietet einen großen Absatzmarkt         Höhe erhalten haben. Grund für die Verlagerungen einiger
und eine solide Infrastruktur, die Unternehmen einen ein-      Produktionszweige von China in kostengünstigere Länder
fachen Marktzugang ermöglicht. Auch die gute inländi-          wie die USA sind die steigenden Kosten in der Volksrepu­
sche Energieversorgung und niedrige Energiepreise sind         blik. Hinzu kommt: Der jahrelange Abbau von Produktions-
ein wichtiger Aspekt.                                          arbeitsplätzen in den Südstaaten hat dazu geführt, dass          2
Deutsche Konzerne in den USA und US-amerikanische Gewerkschaften | Wilma B. Liebman                         01 | 2018

die dortigen Einwohner händeringend nach Arbeit suchen         verbreitet ist. So beharren sie darauf, im Umgang mit
und dafür auch bereit sind, niedrigere Löhne hinzunehmen:      ihren US-Arbeitnehmern niemanden »von außen« oder
                                                               keine »dritte Partei« zu benötigen, und verweisen auf an-
   »[D]er deutliche Anstieg der Lohn- und Energiekosten        geblich völlig anders gelagerte Beziehungen, die sie im
   in China untergräbt seine Wettbewerbsfähigkeit als Pro-     deutschen Kontext zu Gewerkschaften und Betriebsräten
   duktionsstandort. […] Die Löhne in der Fertigungsindus-     hätten, weshalb sie es vorzögen, an den US-Standorten
   trie im Verhältnis zur Produktivität haben sich in China    direkt mit jedem einzelnen Beschäftigten zu kommunizie-
   im letzten Jahrzehnt fast verdreifacht […]. In den Ver-     ren. Eine Haltung, die in erster Linie für die US-Gewerk-
   einigten Staaten sind die Fertigungslöhne im Verhältnis     schaften von entscheidender Bedeutung ist, aber auch für
   zur Produktivität seit 2004 um weniger als 30 Prozent,      die deutschen Gewerkschaften – etwa mit Blick auf die
   auf $ 22,32 pro Stunde, gestiegen […]. Zudem werden         transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft,
   die höheren Löhne der US-Beschäftigten durch niedrige       selbst wenn TTIP derzeit auf Eis liegt.
   Erdgaspreise sowie günstige Baumwollpreise, Steuer-
   vergünstigungen und Subventionen ausgeglichen. […]          Die Kritik am Verhalten deutscher Firmen in den USA ist
   Gemeinhin wurde angenommen, dass China immer bil-           ausführlich dokumentiert.11 Meine Beobachtungen stüt-
   liger sein würde, […]. Aber die Dinge ändern sich weit      zen sich eher auf eigene Eindrücke. Um mir einen ge-
   schneller als erwartet.« 9                                  nerellen Überblick zu verschaffen, habe ich informelle
                                                               Gespräche mit Vertretern mehrerer großer US-Gewerk-
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Chi-         schaften geführt. Mich interessierten ihre Erfahrungen
nesen den US-amerikanischen Süden als attraktiven              mit deutschen Unternehmen unterschiedlicher Branchen,
Low-Cost-Produktionsstandort betrachten:                       entweder im Zusammenhang mit Organisierungskampa-
                                                               gnen oder bei Tarifverhandlungen.12
   »Einst der Inbegriff der billigen Massenfertigung, fangen
   Textilwarenhersteller aus den früheren Billiglohnländern    Zunächst umreiße ich einige allgemeine Themen, die sich
   an, sich in Amerika anzusiedeln. Dies ist ein Aspekt der    aus der Diskussion ergaben. Anschließend folgt eine et-
   Aufweichung von bis dahin klar erscheinenden Grenzen        was detailliertere Bewertung zu zwei Aspekten: zur Ent-
   zwischen Ländern mit hohen und niedrigen Fertigungs-        wicklung deutscher Automobilzulieferer in den USA und
   kosten. Nur wenige hätten dies noch vor zehn Jahren         zur Erfahrung der United Automobile Workers (UAW) mit
   vorausgesagt.« 10                                           Volkswagen in Chattanooga, Tennessee.

Deutsche und US-amerikanische Arbeiter sollten diese
Entwicklungen sehr ernst nehmen.                               1. Allgemeine Themen
                                                               Bei meinen Befragungen ist einhellig zum Ausdruck ge-
                                                               kommen, dass Bündnisse mit deutschen Gewerkschaf-
                                                               ten als sehr vorteilhaft betrachtet werden und dass es
III. DIE VORGESCHICHTE:                                        bereits intensive Kooperationen gibt, beispielsweise
»ANDERE LÄNDER, ANDERE SITTEN«?                                zwischen der UAW und der IG Metall. Häufig sind US-Ge-
                                                               werkschaften bei Konflikten mit dem Management von
Arbeitswissenschaftler, Arbeitsrechtler und Gewerk-            Niederlassungen deutscher Firmen in den USA in ho-
schaften werfen den US-amerikanischen Tochterun-               hem Maße auf die stärkeren Rechte und den größeren
ternehmen deutscher (oder generell europäischer)               Einfluss der deutschen Gewerkschaften und Betriebs-
Unternehmen oft Heuchelei vor. Beklagt wird, dass die          räte angewiesen. Es kann zum Beispiel sehr hilfreich
meisten deutschen Unternehmen zwar in Deutschland              sein, wenn ein deutscher Gewerkschafter eine wich-
und weltweit Gewerkschaften anerkennen und mit ihnen           tige Funktion im Aufsichtsrat innehat, weil die US-Ge-
zusammenarbeiten, dies aber in den USA verweigern.             werkschaft so über ein »Sprachrohr ins Unternehmen«
Trotz öffentlichem Bekenntnis, so die Kritik, erfüllen sie     verfügt. Auch der Betriebsrat kann einen Beitrag dazu
eingegangene Verpflichtungen bezüglich des deutschen           leisten, dass es zu einem Dialog mit dem Unternehmen
Mitbestimmungsmodells, der Vereinigungsfreiheit, der           in Deutschland kommt – »obgleich die Möglichkeiten
Interessenvertretung der Arbeitnehmer und mit Blick auf        begrenzter sind«. Allerdings, das zeigen die Erfahrun-
Tarifverhandlungen nicht, obwohl diese Standards unter         gen, kann es beim Versuch, Partnerschaften zwischen
                                                                                                                           Hintergrund

anderem im UN Global Compact und in Globalen Rahmen-           US-amerikanischen und europäischen Gewerkschaften
vereinbarungen festgeschrieben wurden. Auch scheinen           aufzubauen, auch zu Frustrationen kommen. Ursache
sie in den USA sofort zu vergessen, dass die gute Zusam-       dafür sind divergierende Ansätze und Strategien, die
menarbeit mit Gewerkschaften ein wichtiger Faktor für          sich aus den Arbeitsbeziehungen im jeweiligen Land
ihren Erfolg im eigenen Land ist.                              ergeben. Im Kontext des europäischen Sozialdialogs
                                                               erscheinen US-Gewerkschaften so möglicherweise als
In den meisten Fällen wählen die Unternehmen im                »Cowboys« oder als zu konfrontativ.
US-Kontext stattdessen den einfachen Weg und neh-
men die antigewerkschaftliche Haltung und Praxis an,           Hier noch weitere Themen, die sich in meinen Gesprächen
die unter Vertretern der hiesigen Wirtschaft und Politik       herauskristallisiert haben:                                     3
Deutsche Konzerne in den USA und US-amerikanische Gewerkschaften | Wilma B. Liebman                        01 | 2018

• Generell spiegelt sich in der Geschichte des Verhält-         werkschaftsvermeidung«, indem es Teilzeitkräfte ein-
  nisses von US-Gewerkschaften und deutschen Unter-             stelle, Aufträge auslagere und die daraus resultierende
  nehmen das Spektrum der Beziehungen zu US-Arbeit-             hohe Personalfluktuation ausnutze. Obwohl mit der
  gebern wider, wie es Thomas Kochan beschrieben hat.           Gewerkschaft ein Tarifvertrag abgeschlossen worden
  Da sich die deutschen Unternehmen nach Ansicht der            sei, der das Card-Check-Verfahren, Neutralität und
  Befragten stärker um ihr öffentliches Image sorgen,           den Zugang der Gewerkschaft zum Betrieb beinhalte,
  fehlen aber wohl die extremen Ausprägungen.                   sei es für die Gewerkschaft aufgrund der strukturellen
                                                                Bedingungen, die als »Manipulation« bezeichnet wur-
• Es ist schwierig, zu einer allgemeingültigen Bewertung        den, schwierig, neue Beschäftigte zu organisieren.14
  der deutschen Unternehmen zu kommen, und auch die
  Gewerkschaften sind nicht alle gleich. Jede Beziehung      • Die Frage, ob die deutschen Firmenzentralen Einfluss
  ist etwas anders und kann sich mit der Zeit ändern – je      auf die US-Niederlassungen nehmen würden und wenn
  nach Gewerkschaft und Unternehmen. So beschrieb              ja, wie dieser konkret aussehe, wurde unterschiedlich
  eine Gewerkschaft ihr Verhältnis mit Siemens als gut,        beantwortet. Einige Gewerkschaftsvertreter waren der
  eine andere hingegen als problematisch. Manche Be-           Ansicht, dass die Zentralen ihre Tochterunternehmen
  ziehungen begannen sogar im Streit, entwickelten             mehr kontrollieren müssten, um die Einhaltung der aus
  sich dann aber gut. So war zum Beispiel die Beziehung        Sozialverträgen, Globalen Rahmenvereinbarungen
  zwischen Bosch und einer Gewerkschaft angespannt.            und aus dem deutschen Recht resultierenden stren-
  Das Unternehmen drohte sogar mit der Ersetzung               geren Verpflichtungen sicherzustellen. Ein anderer
  streikender Arbeiter. Doch dann nahm das Unterneh-           Gewerkschafter sagte, die Firmenzentrale sei stark in-
  men Abstand davon – und mittlerweile läuft es gut und        volviert, agiere aber entschieden gewerkschaftsfeind-
  man hat einen Tarifvertrag unterzeichnet. Ein Gewerk-        lich. US-amerikanische Union-Busting-Strategien sei-
  schafter sagte, in der Regel suchten die deutschen           en offenbar nach Deutschland exportiert worden.
  Unternehmen nicht die Zusammenarbeit. Ist ein Be-
  trieb aber gewerkschaftlich organisiert, entwickelten      • Mehrere Gesprächspartner betonten, dass die Ent-
  sich die Beziehungen gut. Er führte als Beispiel an, der     scheidung deutscher Unternehmen, sich im Süden
  Marktanteil von Freightliner (einer US-Tochtergesell-        der USA anzusiedeln, ebenfalls von Bedeutung sei. Bei
  schaft von Daimler) sei seit Beginn der Kooperation          den Südstaaten handele es sich um eine Region mit
  mit der UAW im Jahr 2003 jährlich gestiegen.                 einer schwierigen und komplizierten Geschichte, was
                                                               Bürgerrechte, Gewerkschaften, die Arbeitsgesetzge-
• Einige Gesprächspartner gaben an, dass sich die Be-          bung (»Right to Work«), offen antigewerkschaftliche
  ziehungen zu deutschen Unternehmen verschlechtern            Politiker, das außerordentlich wirtschaftsfreundliche
  könnten, sollten sie Ansätze zur Vermeidung gewerk-          Klima und die gewaltigen Subventionen betrifft, um
  schaftlicher Organisierung verfolgen, was im Einklang        deutsche Investitionen anzulocken.
  mit der generellen Einschätzung von Kochan über die
  Entwicklung in den USA stände. Ein Gewerkschaftsan-
  walt sagte, die deutschen Unternehmen »sind vielleicht     2. Deutsche Automobilzulieferer in den USA
  nicht gerade Walmart, aber trotzdem […].« Und er er-       Neben den grundsätzlichen Aspekten sind mir bei den
  gänzte, dass sich einige aktiv an Kampagnen gegen          über 60 in den USA tätigen deutschen Automobilzuliefe-
  Gewerkschaften beteiligten und häufig viel Geld für        rern weitere Besonderheiten bei den Arbeitsbeziehungen
  Berater ausgäben. Ein Organizer einer Gewerkschaft         aufgefallen.15 Mehrere davon, darunter Bosch, Continen-
  berichtete von einem Autohersteller, der »wild ent-        tal und ZF, gehören zu den größten der Welt. So zeigt eine
  schlossen war, die Gewerkschaft draußen zu halten«.        Analyse von 185 US-Standorten deutscher Unternehmen
  Viele deutsche Unternehmen engagierten US-Mana-            mit über 50.000 Arbeitnehmern: Der gewerkschaftliche
  ger, die von vornherein antigewerkschaftlich einge-        Organisationsgrad bei deutschen Zulieferern liegt bei
  stellt seien. Auch hätten einige Firmen gegen das Ar-      13 Prozent, während er in dieser Branche in den USA ins-
  beitsrecht verstoßen, indem sie Arbeitnehmer bei der       gesamt 20 Prozent beträgt. Viele dieser deutschen Zu-
  Wahrnehmung ihrer Rechte behindert hätten – zum            lieferer sind in den US-Südstaaten ansässig, ein Fünftel
  Beispiel durch Vorschriften, die die Kommunikation der     allein in South Carolina. Dazu kommt: Ist der Kunde eines
  Beschäftigten über Arbeitsbedingungen oder die Grün-       deutschen Zulieferers gewerkschaftlich organisiert, dann
                                                                                                                          Hintergrund

  dung einer Gewerkschaft unterbinden sollten.13             ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Werk des Zulieferers
                                                             gewerkschaftlich organisiert ist, fünfmal so groß wie bei
• Einige dieser Unternehmen – sogar solche, die gewerk-      einem Werk, das einen Kunden ohne Gewerkschaft belie-
  schaftlich organisiert sind – »machen sich die schwa-      fert.
  chen Arbeitsgesetze zunutze«. Als Beispiel nannte ein
  Gewerkschaftsanwalt ein deutsches Transportunter-          Die deutschen Autohersteller – BMW, Mercedes und
  nehmen, das in großen Städten der USA Tarifverträge        Volkswagen – sind in den US-Südstaaten Alabama, South
  abgeschlossen habe (»dort, wo sie es müssen«). Diese       Carolina und Tennessee ansässig. Viele ihrer Zulieferer
  Firma widersetze sich einer gewerkschaftlichen Orga-       sind ihnen dorthin gefolgt. Aber selbst innerhalb der Süd-
  nisierung nicht aktiv, betreibe aber »strukturelle Ge-     staaten siedeln sich die deutschen Zulieferer bevorzugt          4
Deutsche Konzerne in den USA und US-amerikanische Gewerkschaften | Wilma B. Liebman                         01 | 2018

in den gewerkschaftsfeindlichsten Bundesstaaten an. So        eine maßgebliche Rolle bei der Corporate Governance,
kommt es, dass das BMW-Werk in South Carolina pro Jahr        bis auf höchster Ebene. Schon bald nach der Eröffnung
zwar rund eineinhalbmal mehr Fahrzeuge fertigt als das        des Werks begann die UAW mit einer Kampagne zur ge-
Mercedes-Werk in Alabama, die Zahl der Beschäftigten          werkschaftlichen Erschließung. Volkswagen wurde zudem
deutscher Zulieferfirmen in South Carolina aber zweiein-      von seinem Weltkonzernbetriebsrat unter Druck gesetzt,
halbmal so hoch ist – darunter viele Zulieferer, die Merce-   in Chattanooga einen Betriebsrat einzurichten.
des in Alabama beliefern. Sowohl Alabama als auch South
Carolina sind »Right-to-Work«-Staaten. Aber der gewerk-       Die überwiegende Zahl der US-Arbeitsrechtsexperten
schaftliche Organisationsgrad lag im Jahr 2015 in Alaba-      ging grundsätzlich davon aus, dass VW einen Betriebs-
ma mit 10,8 Prozent fünfmal höher als in South Carolina       rat in Chattanooga etablieren könne. Allerdings sei dies
mit 2,2 Prozent.                                              nicht im Alleingang möglich, sondern bedürfe vorab ei-
                                                              ner diesbezüglichen Vereinbarung mit einer unabhän-
Dazu kommt: Auch das Gros der deutschen Zulieferer            gigen Gewerkschaft. Denn: Das US-Arbeitsgesetz, der
und ihrer Beschäftigten, die für die sogenannten Big 3,       National Labor Relations Act (NLRA), verbietet Arbeitge-
die US-Autobauer General Motors, Ford und Chrysler            bern per se die Gründung, Kontrolle und Unterstützung
produzieren, ist im Süden ansässig. Bei Bosch sind es         einer »Arbeitnehmerorganisation«.17 Ein Betriebsrat, der
beispielsweise 88 Prozent der Produktionsarbeiter. Und        nach den Grundsätzen der deutschen Mitbestimmung
das, obwohl sich die Standorte der Big 3 fast ausschließ-     konstituiert und tätig würde, könnte im weitesten Sinne
lich im Mittleren Westen der USA und in der kanadischen       als eine solche »Arbeitnehmerorganisation« betrachtet
Provinz Ontario befinden. Dennoch: Fast jedes Bosch-          werden.18
Werk in South Carolina liefert an die Big 3. Allein in die-
sem Bundesstaat sind 70 Prozent der Bosch-Arbeiter            Die UAW war durchaus offen dafür, das deutsche duale
beschäftigt.                                                  Modell in Chattanooga zu erproben. Sie erwartete dafür
                                                              von Volkswagen die Anerkennung als Tarifpartei, um zu-
Die Arbeitskräfte deutscher Zulieferer im Norden der          nächst grundlegende wirtschaftliche Bedingungen tarif-
USA sind mit etwa dreimal größerer Wahrscheinlichkeit         lich zu regeln. Anschließend sollten Verhandlungen über
gewerkschaftlich organisiert als ihre Kollegen im Sü-         die Schaffung eines Betriebsrates aufgenommen werden,
den. Die UAW vertritt, vorwiegend im Norden, Arbeiter         an den die UAW viele ihrer traditionell eigentlich bei der
bei mehreren deutschen Zulieferern (Benteler, Freu-           Gewerkschaft liegenden Funktionen delegieren würde.
denberg, ThyssenKrupp, Kirchhoff und ZF). Ungefähr
4.000 Arbeiter werden durch andere Gewerkschaften             Die Verhandlungen von Volkswagen mit der UAW trafen
repräsentiert. Zwischen 1998 und 2009 schloss Bosch           bei republikanischen Politikern aus Tennessee auf wenig
gewerkschaftlich organisierte Werke, eröffnete neue,          Begeisterung. Über die Ablehnung des Vorhabens durch
gewerkschaftsfreie Betriebe und verlagerte die Produk-        US-Senator Bob Corker wurde ausführlich berichtet. Sein
tion an diese Standorte. Das einzige Werk in Michigan, in     Einwand: »Der Südosten verliert für ausländische Auto-
dem die UAW noch vertreten ist, hat radikal Arbeitsplät-      bauer an Attraktivität, wenn die UAW dort Fuß fasst.« 19
ze abgebaut: Von den einst 1.200 Arbeitsplätzen blieben       Und weiter sagte er:
lediglich 97 übrig.
                                                                 »Es ist schier unglaublich, dass das Management die
                                                                 UAW eingeladen hat […]. Sie werden bestimmt zum Ge-
3. Die Volkswagen-Saga                                           genstand vieler Studien betriebswirtschaftlicher Hoch-
Die Geschichte von Volkswagen und der UAW, mit der ich           schulen – und es bereitet mir eine gewisse Sorge, dass
persönlich vertraut bin, ist einzigartig. Sie begann viel-       sie in vielerlei Hinsicht zu einer Lachnummer werden
versprechend – und endete frustrierend. Das Werk in              könnten – wenn sie diesen Schaden anrichten […]. Wir
Chattanooga nahm 2011 mit einigen tausend Arbeitern              haben mit dem Management gesprochen, und ich kann
die Produktion auf. Der Bundesstaat Tennessee und die            es kaum fassen, dass sie es so weit haben kommen las-
Kommune stellten hohe Startsubventionen bereit. Später           sen. Diese Naivität im Umgang mit der UAW gab es vor
wurde ein weiteres Subventionspaket in Höhe von $ 263            einigen Jahren noch nicht.« 20
Millionen (einschließlich Ausbildungskosten in Höhe von
bis zu $ 12 Millionen) für den Ausbau des Werks gewährt.      Im Februar 2014 unterzeichneten die UAW und Volks-
                                                                                                                           Hintergrund

2000 zusätzliche Stellen wurden in Aussicht gestellt.16       wagen eine Vereinbarung, die regelte, wie die Gewerk-
Die Ansiedlung in Tennessee war ein Eckpfeiler der            schaftswahl für die Arbeiter im Werk vonstattengehen
VW-Strategie, die Präsenz auf dem US-Automobilmarkt           sollte. VW erklärte, man werde sich einer gewerkschaft-
auszubauen.                                                   lichen Organisierung nicht entgegenstellen, und gewähr-
                                                              te der UAW Zugang zu den Beschäftigten. Beide Seiten
Volkswagen stand zu seinen Mitbestimmungsprinzipien.          ­sicherten zu, dass, sofern die Wahl zugunsten der UAW
Mit Ausnahme von Chattanooga und der Fabriken in China         ausgehen würde, ein Betriebsrat eingerichtet würde, der
hat jedes VW-Werk weltweit einen Betriebsrat oder eine         mit dem US-Arbeitsrecht, den Grundsätzen der deut-
andere Form der Arbeitnehmervertretung. Weltweit spie-         schen Mitbestimmung sowie der Satzung des VW-Welt-
len Gewerkschaften und Arbeitnehmervertreter bei VW            konzernbetriebsrats im Einklang stehen sollte.                  5
Deutsche Konzerne in den USA und US-amerikanische Gewerkschaften | Wilma B. Liebman                         01 | 2018

Mitte Februar fand unter der Leitung der US-Bundesbe-        sichert ihnen umfassende Rechte auf freie Meinungs­
hörde für Arbeitsbeziehungen (National Labor Relations       äußerung zu. Trotzdem, so argumentierte die UAW ge-
Board – NLRB) eine Abstimmung statt: Die Beschäftigten       genüber dem NLRB, könnten bestimmte Bemerkungen
votierten mit 712 zu 626 Stimmen gegen die UAW.              von Amtsträgern unter Umständen rechtfertigen, eine
                                                             Wahl für ungültig zu erklären und die Wahl wiederholen
Anders als in Deutschland ist im US-amerikanischen           zu lassen.23
System der industriellen Beziehungen eine geheime
Wahl der Beschäftigten die gängigste Methode, über           Die UAW zog ihren Einspruch allerdings wenig später
eine gewerkschaftliche Interessenvertretung zu ent-          zurück. Sie tat dies, um sich darauf konzentrieren zu
scheiden. Das NLRB, das das Votum durchführt, be-            können, eine Mehrheit unter den Beschäftigten zurück-
scheinigt der Gewerkschaft anschließend das Alleinver-       zugewinnen. Auch sollte dem Unternehmen Zeit für die
tretungsrecht für die Arbeitnehmer der entsprechenden        Erweiterung des Werks eingeräumt werden. Zudem war
Mitarbeitergruppe – sofern sich die Mehrheit für eine        klar: Selbst bei einer neuen Abstimmung würde es keine
Vertretung ausspricht. Ist das nicht der Fall, wird auch     Möglichkeit geben, die Politiker davon abzuhalten, erneut
das aktenkundig gemacht.21 Die strengen Maßstäbe ei-         ihre Meinungen zu äußern.
ner NLRB-Wahl stellen sicher, dass die Beschäftigten
frei darüber entscheiden können, ob sie gewerkschaft-        Im Juli 2014 eröffnete die UAW eine Geschäftsstelle in
lich vertreten werden wollen oder nicht. Ferner prüft        Chattanooga, die »UAW Local 42«. Das Ziel lautete: Ver-
das NLRB Einwände gegen die Abstimmung – sofern der          tretung ihrer Mitglieder und Verankerung in der Gemein-
Verdacht besteht, dass die Entscheidungsfreiheit der         de. Ein knappes halbes Jahr später, im November 2014,
Beschäftigten eingeschränkt wurde. Gewerkschafts-            etablierte Volkswagen seine »Community Organization
wahlen sind in aller Regel umstritten und werden von         Engagement Policy« (COE). Sie gewährt Gruppen von Be-
Kampagnen für und gegen eine gewerkschaftliche Or-           schäftigten, je nach Ausmaß ihrer Unterstützung in der
ganisierung begleitet.                                       Belegschaft (bis zu 45 Prozent), gestaffelte Zugangsmög-
                                                             lichkeiten zum Management. Das Recht, Tarifverhandlun-
Während sich Volkswagen neutral verhielt, intervenierten     gen zu führen, war damit jedoch nicht verbunden. Im Rah-
vor und während der Wahltage Politiker aus Tennessee –       men der COE führte VW Gespräche mit der UAW Local 42
darunter der Gouverneur, Senator Bob Corker und ande-        und dem »American Council of Employees« (ACE), einer
re – und überschwemmten die Medien mit Kommentaren,          Beschäftigtengruppe, die aus der Anti-UAW-Kampagne
die nur ein Ziel hatten: der UAW die Unterstützung zu ent-   während der Wahl 2014 hervorgegangen war. Die UAW,
ziehen. So kündigte zum Beispiel Bo Watson, Mitglied im      die auf eine Unterstützung von mindestens 45 Prozent
Senat von Tennessee, an:                                     verweisen konnte, genoss entsprechend größeren Zu-
                                                             gang zum Management als ACE mit lediglich 15 Prozent
   »Sollten die Arbeitnehmer bei Volkswagen für die Ver-     nachweisbarer Unterstützung in der Belegschaft. Im Sep-
   tretung durch die United Auto Workers stimmen, wird       tember 2016 schließlich bestätigte VW, dass die UAW wei-
   es meiner Ansicht nach sehr schwer sein, im Senat von     terhin mindestens 45 Prozent der Mitarbeiter vertrete,
   Tennessee die Zustimmung für zusätzliche Subventio-       ACE hingegen den Mindeststandard von 15 Prozent nicht
   nen durch die Bürger des Bundesstaates Tennessee zur      mehr erfülle.24
   Expansion oder zu anderen Zwecken zu bekommen. […]
   Die abstimmenden Arbeitnehmer müssen sich im Kla-         Schon ein Jahr zuvor, im Sommer 2015, hatte die UAW
   ren sein, welche beabsichtigten oder unbeabsichtigten     gegenüber Volkswagen erklärt, mittlerweile eine Mehr-
   Folgen eine Entscheidung für eine Vertretung durch die    heit der Beschäftigten als Mitglieder gewonnen zu haben.
   United Auto Workers haben könnte.« 22                     Folglich bitte man um die formelle Anerkennung durch
                                                             das Unternehmen und die Einleitung von Tarifverhand-
Senator Bob Corker, ein ehemaliger Bürgermeister von         lungen. Doch dann wurde im September 2015 der VW-Ab-
Chattanooga, hatte maßgeblichen Anteil an der Bewilli-       gasskandal aufgedeckt. Seitdem liegen diese Bemühun-
gung der Subventionen, die VW zur Entscheidung für die       gen auf Eis.
Ansiedlung in Tennessee bewogen hatten. Nun behaup-
tete er öffentlich, VW habe ihm »zugesichert«, dass das      Im politischen Lärm, der die Gewerkschaftswahl beglei-
Werk im Fall einer Abstimmung gegen die UAW eine neue        tete – ebenso wie im Zuge der Diesel-Krise –, ging der
                                                                                                                           Hintergrund

Produktlinie bekommen werde. Als ein VW-Unterneh-            Versuch von VW und UAW, am Standort einen Betriebsrat
mensvertreter daraufhin eine Verbindung zwischen dem         nach deutschem Vorbild zu etablieren, nahezu unter. Über
Wahlausgang und einem neuen Produkt für das Werk de-         Jahre haben US-Arbeitsrechtler und Experten für Ar-
mentierte, bekräftigte Corker seine Aussage. Sie sei zu      beitsbeziehungen darauf gedrängt, das Betriebsratsmo-
»Tausend Prozent« richtig. Der VW-Sprecher habe sich         dell in den USA auszuprobieren, während genauso viele
auf einen veralteten Diskussionsstand gestützt.              das US-Arbeitsrecht bereits für tot erklärten. Sie verfolg-
                                                             ten das Experiment in Chattanooga mit großem Interesse.
Öffentliche Amtsträger in den USA müssen, was Fra-           Es galt als mögliche Wasserscheide oder Game Changer,
gen einer gewerkschaftlichen Vertretung betrifft, nicht      sowohl ganz generell für die amerikanischen Arbeitsbe-
neutral sein. Der erste Zusatzartikel der US-Verfassung      ziehungen als auch für die Präsenz der Gewerkschaften             6
Deutsche Konzerne in den USA und US-amerikanische Gewerkschaften | Wilma B. Liebman                           01 | 2018

im Süden. Seitens der Arbeitswissenschaften hieß es zum       rechts sowie der wirtschaftliche und politische Hinter-
Beispiel:                                                     grund unter besonderer Berücksichtigung der Situation
                                                              im Süden der USA.
   »Die Einführung eines Betriebsrats im Volkswagenwerk
   in Tennessee könnte eine Partnerschaft der nächsten
   Generation zwischen Arbeitnehmern und Management           1. Der Stand des US-Arbeitsrechts
   bedeuten und belegen, dass die Vereinigten Staaten von     Das aktuelle US-Arbeitsrecht ist im Wesentlichen ein Pro-
   bewährten Innovationen anderer Länder lernen und dar-      dukt der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre und des
   aus Nutzen ziehen können. Dieser Weiterentwicklung von     New Deal, d. h. der Sozialreformen, mit denen Präsident
   Produktivität und Arbeitsbeziehungen in Amerika stehen     Franklin Roosevelt die Krise bekämpfte. Im Jahr 1935
   keine rechtlichen Hürden im Wege. Wir hoffen, die ameri-   verabschiedete der US-Kongress den National Labor Re-
   kanischen Manager und Gewerkschaften stehen ihr auf-       lations Act, der Lohnabhängigen das Recht zugestand,
   geschlossen gegenüber.« 25                                 Gewerkschaften zu bilden und kollektiv mit ihren Unter-
                                                              nehmern zu verhandeln. Ausdrückliches Ziel des Gesetzes
Angesichts dieser Ereignisse stellte sich folgende Frage:     war die Bekämpfung der »Ungleichheit der Verhandlungs-
Ist Volkswagen mit seinem Versuch, gemeinsam mit der          macht« zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern.
UAW einen Betriebsrat in Chattanooga einzurichten, eine       Laut Kongress habe diese Ungleichheit »wiederholt die
Ausnahme? Einige deutsche Experten warnten: Ohne              wirtschaftliche Depressionen verschärft, indem sie das
rechtliche Rahmensetzung würde kein anderes deut-             Lohnniveau und somit die Kaufkraft der Lohnempfänger
sches Unternehmen die Mitbestimmung einführen. Und            drückte«.29
von keinem anderen Unternehmen könne man erwarten,
dem Beispiel von VW in den USA zu folgen.                     Nach erbitterten Kämpfen wurden kollektive Tarifver-
                                                              handlungen zu einem festen Bestandteil des US-ame-
Es muss nicht erwähnt werden, dass dieses Experiment,         rikanischen Wirtschaftslebens. Die Durchsetzung des
das so vielversprechend begonnen hatte, bis heute nicht       Arbeitsrechts trug zu breitem Wohlstand bei, der nach
realisiert wurde. Die Sache weiter verkompliziert hat, dass   dem Zweiten Weltkrieg mehrere Jahrzehnte anhielt. Der
die Frankfurter Allgemeine Zeitung von einem Brief berich-    Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman schrieb:
tete, der im Jahr 2013 von zwei Senatoren aus Tennessee       »Damals, als Amerika noch eine starke Mittelklasse hatte,
an den damaligen VW-Chef Martin Winterkorn geschrie-          gab es auch eine starke Gewerkschaftsbewegung. Diese
ben wurde. In diesem Schreiben erinnerten sie ihn daran,      beiden Umstände waren miteinander verbunden.«30
dass das Unternehmen bei den Verhandlungen über die
Ansiedlung von VW in Tennessee die »eindeutige Zusage«        Heute, 81 Jahre nach der Verabschiedung des Arbeitsge-
gemacht habe, »kein Interesse« an einer Zusammenar-           setzes, hat die Anzahl der gewerkschaftlich organisierten
beit mit der UAW zu haben und sich den Bemühungen, das        Arbeiter im Privatsektor einen historischen Tiefstand er-
Werk gewerkschaftlich zu organisieren, zu widersetzen.26      reicht; seit den 1950er Jahren nimmt ihre Zahl beständig
                                                              ab. Die Verhandlungskraft der Beschäftigten ist infolge-
Die Fronten haben sich seither weiter verhärtet. Im Ok-       dessen deutlich schwächer geworden, die Ungleichheit
tober 2015 beantragte die UAW Local 42 beim NLRB              ist höher als in den vergangenen hundert Jahren.31 Eine
eine Gewerkschaftswahl für die etwa 165 Facharbeiter          übergroße Mehrheit der US-Beschäftigten ist nicht ge-
in der Instandhaltung des Werkes in Chattanooga. Diese        werkschaftlich organisiert.
votierten beim Urnengang am 3. und 4. Dezember 2015
mit großer Mehrheit für eine Vertretung durch die UAW.27      Das Vertrauen in das Arbeitsrecht ließ allmählich nach. Seit
Volkswagen weigert sich seither jedoch, mit der UAW in        dem New Deal wandelten sich Gesellschaft und Wirtschaft
Tarifverhandlungen einzutreten. Man wolle nicht mit ei-       schnell und grundlegend, die Arbeitsbedingungen wurden
ner Gruppe der Beschäftigten Verhandlungen führen,            immer komplizierter. Angesichts des Wettbewerbsdrucks
sondern nur für die Arbeiter insgesamt. Das NLRB wider-       vonseiten gewerkschaftsfreier oder Billiglohn-Konkur-
sprach und urteilte, VW agiere gegen das Gesetz, indem        renten – weltweit und im eigenen Land – nahmen Unter-
es Tarifverhandlungen verweigere. Daraufhin beantragte        nehmen aus ideologischen und wirtschaftlichen Gründen
VW bei einem US-Berufungsgericht die Überprüfung die-         eine feindliche Haltung gegenüber Gewerkschaften ein.
ser Entscheidung. Inzwischen liegt der Fall wieder beim       Ihr Ziel lautete mehr Flexibilität, und das Mittel dazu wa-
                                                                                                                             Hintergrund

NLRB.28                                                       ren Änderungen ihrer Geschäftsmodelle und Beschäfti-
                                                              gungsverhältnisse. In der Wirtschaftspolitik setzten sich
                                                              Deregulierung und Laissez-faire-Ansätze durch.32 Die
                                                              Bedeutung der Finanzsphäre stieg, während die der Ge-
IV. DER HINTERGRUND                                           werkschaften sank.

Um diese Diskussion ins rechte Licht zu rücken, empfiehlt     In der Folge verschärfte sich der Konflikt zwischen dem
es sich, die Rahmenbedingungen für Investitionen und die      Arbeitsrecht aus der New-Deal-Ära und den wirtschaft-
Geschäftstätigkeit deutscher Unternehmen in den USA           lichen, gesellschaftlichen und betrieblichen Realitäten.33
zu betrachten. Dazu gehören der Stand des US-Arbeits-         Dazu muss gesagt werden: Die letzte Reform des Arbeits-            7
Deutsche Konzerne in den USA und US-amerikanische Gewerkschaften | Wilma B. Liebman                          01 | 2018

recht fand 1947, am Ende des Zweiten Weltkrieges und auf      nehmerischen Erfolg. Die UAW hat solche »gemeinsamen«
dem Höhepunkt der Macht der Gewerkschaften statt. Und         Projekte immer verfochten. Insbesondere ihr Verhältnis
bereits diese Reform war ein Rückschlag für die Gewerk-       zu Ford Motors war entscheidend für den Erfolg des Un-
schaften. Seither führten alle Bemühungen, das Gesetz         ternehmens.39 Die Unternehmen und Gewerkschaften im
grundlegend zu novellieren, in eine legislative Sackgasse.    Baugewerbe bieten seit Jahrzehnten Lehrlings- und Aus-
Die Bemühungen der letzten vierzig Jahre, das Gesetz          bildungsprogramme an, haben gemeinsame Sozialsyste-
grundlegend zu novellieren, führten allesamt in eine legis-   me etabliert und werben zusammen für ihre Branche und
lative Sackgasse. Jüngstes Beispiel ist der Employee Free     Betriebe. Andere US-Gewerkschaften und Arbeitgeber ha-
Choice Act, ein nach Präsident Obamas Amtsantritt 2009        ben Tarifstrukturen entwickelt, mit denen sie effektiv auf
im Kongress eingebrachtes Gesetz zur Erleichterung der        Veränderungen im Unternehmen reagieren können. Oder
gewerkschaftlichen Organisierung. Zwar herrscht allge-        man ist gleich zu einer tagtäglichen Zusammenarbeit
meine Einigkeit, dass das Arbeitsgesetz veraltet ist und      übergegangen, wenn dies für beide Seiten von Vorteil ist.
reformiert werden sollte. Weiter reicht der politische Kon-   Häufig genannt wird in diesem Zusammenhang die Koope-
sens jedoch nicht. Gegner betrachten es als Überbleibsel      ration zwischen Kaiser Permanente, einem großen, priva-
der New-Deal-Ära, mit einer globalisierten Wirtschaft sei     ten Gesundheitsunternehmen mit Hauptsitz in Kalifornien,
es unvereinbar.34 Und selbst die Fürsprecher haben ihr        und zwölf verschiedenen Gewerkschaften, die Tausende
Vertrauen in das Gesetz verloren. Einige glauben, es trage    Beschäftigte vertreten.40 Darüber hinaus: Viele Gewerk-
zum »Rückgang der Gewerkschaften, zu deren Schutz es          schaften und Unternehmen haben Neutralitätsabkommen
ursprünglich verabschiedet worden war«, bei.35                geschlossen. Das bedeutet, dass sich das Management
                                                              während der Organisierungskampagnen neutral verhält.
Im Vergleich zur europäischen Tradition des Sozialdialogs
wird das US-Arbeitsrecht kritisiert, weil manche Teile zum    Partnerschaften zwischen Gewerkschaften und Unterneh-
Klassenkampf ermutigen würden. Tatsächlich beruht un-         men haben sich oft als fragil herausgestellt. Das Konzept
ser System der Arbeitsbeziehungen zum Teil auf einem          des Sozialdialogs – geschweige denn der Mitbestimmung –
konfrontativen Modell: Im Mittelpunkt des Gesetzes von        ist auf unserer Seite des Atlantiks größtenteils unbekannt.
1935 steht die Vorstellung von Kollektivverhandlungen         Trotzdem sind die genannten Beispiele Teil des Mosaiks
mit einer unabhängigen Gewerkschaft.36 Gleichwohl: Was        der US-Arbeitsbeziehungen. Mit anderen Worten: Auch
in diesem Kontext am häufigsten zu einer unnötigen Po-        diese Beispiele sind Teil der Einstellung »Andere Länder,
larisierung beiträgt, ist die äußerst konfliktgeladene At-    andere Sitten«. Sie stellen Ansätze einer moralischen Ver-
mosphäre, in der das NLRB die Abstimmungen über eine          haltensweise dar, die zu oft ignoriert werden.
gewerkschaftliche Vertretung abhält.

Das Arbeitsrecht gestattet es dem Arbeitgeber, »An-           2. Lohnstagnation und -ungleichheit
sichten, Argumente oder Meinungen« zum Ausdruck zu            Die Statistikbehörde U.S. Census Bureau verkündete un-
bringen, solange dabei »keine Repressalien oder Gewalt        längst gute Nachrichten über die Konjunktur: Das Me-
angedroht oder Vorteile versprochen werden«.37 Und so         dian-Einkommen der US-Haushalte ist gegenüber 2014
äußern die Arbeitgeber ihren Beschäftigten gegenüber          inflationsbereinigt um 5,2 Prozent gestiegen. Den höchs-
unverhohlen ihre gewerkschaftsfeindlichen Ansichten und       ten Anstieg verzeichneten Geringverdiener. »Für Mittel-
senden Botschaften aus, die Furcht vor den Konsequen-         klasseamerikaner und die Armen war 2015 seit Jahrzehn-
zen einer gewerkschaftlichen Organisierung säen sollen –      ten das beste Jahr, um sich wirtschaftlich zu verbessern,
stets auf dem dünnen Grad zwischen rechtlich zulässiger       […] ein Anstieg, der den jahrelangen Enttäuschungen
Meinung und widerrechtlicher Drohung. Tatsächlich glau-       für amerikanische Arbeiter ein Ende bereitete, aber den
ben einige Unternehmer, dass sie zum Widerstand gegen         Schaden der großen Rezession noch nicht ganz behoben
Gewerkschaften verpflichtet sind, damit die Beschäftig-       hat.«41 Auch den langfristigen Trend zur Lohnungleich-
ten »beide Seiten hören«. Viele Arbeitgeber starten Angst     heit konnte er nicht umkehren.
einflößende, ausgeklügelte Anti-Gewerkschaftskampa-
gnen, wofür sie bezahlte Berater anheuern und Taktiken        Die Löhne der US-amerikanischen Arbeiter stagnieren
wie die verpflichtende Teilnahme an Versammlungen und         seit über 30 Jahren und haben nicht mit den Produkti-
Einzelgespräche mit Beschäftigten einsetzen. Die Feind-       vitätssteigerungen Schritt gehalten. Darin besteht die
seligkeit, die durch solche Kampagnen entsteht, lässt sich    »zentrale wirtschaftliche Herausforderung des Lan-
                                                                                                                            Hintergrund

nur schwer wieder beilegen. Daher kann es – selbst wenn       des«.42 In diesem Zeitraum ging die Zahl der Arbeits-
eine Gewerkschaft die Wahl schließlich gewonnen hat –         plätze in der Produktion zurück, die Löhne sanken. Laut
schwierig sein, Verhandlungen aufzunehmen und einen           Erhebungen des Bureau of Labor Statistics von 2011 lag
ersten Tarifvertrag abzuschließen.                            die durchschnittliche Vergütung in deutschen Fertigungs-
                                                              betrieben bei umgerechnet $ 47,40 pro Stunde und damit
Doch trotz der langen konfrontativen Tradition ist das        um ein Drittel höher als die Vergütung von $ 35,50 pro
nicht die ganze Geschichte: Das Gesetz war eindeutig auf      Stunde in den USA.
Kooperation ausgerichtet,38 und es gibt bemerkenswerte
Beispiele für die Zusammenarbeit von Management und           Diese anhaltende Diskrepanz zwischen Produktivität und
Belegschaft und für das Engagement beider für den unter-      Löhnen ist eine Hauptursache für die ungleiche Einkom-            8
Deutsche Konzerne in den USA und US-amerikanische Gewerkschaften | Wilma B. Liebman                                                                                               01 | 2018

       mensverteilung in den USA. Gleichzeitig gab es bei den                                                                             3. Politik
       Arbeitnehmerentgelten aus Unternehmenserlösen zwi-                                                                                 Unbestritten ist: Wachsende Ungleichheit und Lohnstag-
       schen 2000 und 2015 einen Rückgang von 6,8 Prozent.                                                                                nation spielen mittlerweile eine wichtige Rolle im natio-
       Das heißt: Ein größerer Anteil floss z. B. in Form von Ge-                                                                         nalen Diskurs. Diese Probleme beschäftigen US-Bürger,
       winnen an die Kapitalseite.43                                                                                                      egal welcher ideologischen Prägung, zunehmend. Doch
                                                                                                                                          gibt es eine tiefe Kluft zwischen den Lagern, was die Ur-
       Der Rückgang der Tarifbindung ist zweifelsohne ein wei-                                                                            sachen und Lösungen anbetrifft – und selbst darüber, wie
       terer Schlüsselfaktor für die zunehmende Einkommens-                                                                               schwerwiegend das Problem ist.50 Das Forschungsinstitut
       ungleichheit. Dies wurde in einem Bericht des Internati-                                                                           Pew Research Center stellte kürzlich fest: »Die Kampag-
       onalen Währungsfonds von 2015 über die Entwicklung in                                                                              ne [zur Präsidentschaftswahl] von 2016 entfaltet sich vor
       den fortgeschrittenen Volkswirtschaften im Zeitraum von                                                                            dem Hintergrund heftiger parteipolitischer Spaltung und
       1980 bis 2010 belegt. Demnach habe sich das Absinken                                                                               Feindseligkeit. Anhänger einer Partei haben heute eine
       des gewerkschaftlichen Organisationsgrades nicht nur                                                                               weit negativere Meinung über die Gegenpartei als je zu-
       auf die Löhne im niedrigen und mittleren Bereich aus-                                                                              vor in den letzten 25 Jahren.«51
       gewirkt, sondern gleichzeitig den Anstieg des Anteils der
       Top-Einkommen am Gesamteinkommen befördert.44                                                                                      Zwar sind die US-Amerikaner seit jeher gespalten, aber
                                                                                                                                          die Trennlinien treten zu bestimmten Zeiten stärker
       Das schwerwiegende Problem der USA mit der Einkom-                                                                                 hervor. So etwa infolge der Wirtschaftskrise von 2008.
       mensungleichheit wurde grafisch als »Geschichte zweier                                                                             Diese Konflikte ziehen Differenzen nach sich, die aus
       Volkswirtschaften« dargestellt.45 Diese Grafik »erläutert                                                                          asymmetrischen moralischen Weltanschauungen oder
       alles, was Sie über Ungleichheit wissen müssen«. 46                                                                                divergierenden Ansichten über die sozialen Verhältnis-
                                                                                                                                          se hervorgehen. Dazu gehören sehr unterschiedliche
                                                                                                                                          Vorstellungen über die Geschichte und Gegenwart, die
       Die Geschichte zweier Volkswirtschaften                                                                                            eine Kompromissfindung – zu welchem Thema auch im-
                                                                                                                                          mer – erschweren. Die Politik zur Amtszeit von Präsident
Durchschnittliches Einkommen der unteren 90 %

                                                $ 40.000

                                                                             1973
                                                                                                                2000
                                                                                                                           2007
                                                                                                                                          Obama wurde von zwei Sozialwissenschaftlern wie folgt
                                                $ 35.000                                      1988
                                                                       1966
                                                                                                                                          beschrieben:
                                                $ 30.000                        1983                                2013

                                                $ 25.000
                                                                             1955
                                                                                                                                             »Ohne Zweifel stellen Bitterkeit und Stillstand feste
                                                $ 20.000                                                                                     Bestandteile unseres politischen Systems dar. Und es
                                                $ 15.000                     1942
                                                                                                                                             stimmt, dass wir mehrere Epochen intensiver Spannung
                                                                              1917
                                                                                                                                             und Polarisierung hatten […]. Dennoch […] lässt die nä-
                                                $ 10.000
                                                                                                                                             here Betrachtung der Präsidentschaft Obamas darauf
                                                                1933
                                                 $ 5.000                                                                                     schließen, dass wir es weder mit Routinepolitik noch ei-
                                                     $0                                                                                      ner ungewöhnlichen Zeiterscheinung zu tun haben. Wir
                                                           $0    $ 200.000    $ 400.000   $ 600.000   $ 800.000 $ 1.000.000 $ 1.200.000
                                                                                                                                             erleben eine beispiellose Polarisierung zwischen den
                                                                Durchschnittliches Einkommen der oberen 1 %
                                                                                                                                             Parteien […] sowie die rücksichtslose Delegitimierung
                                                                                                                                             des Präsidenten und der erlassenen Gesetze.« 52
       Zwischen 1930 und 1980 (auf der linken Seite der Gra-
       fik) verzeichneten ausschließlich die unteren 90 Prozent                                                                           Ein Ausdruck dieser scharfen Trennlinien sind tief ver-
       der Beschäftigten einen spürbaren Einkommensanstieg.                                                                               ankerte, konträre Ansichten über die Legitimität des
       Nach 1980 (im oberen Teil der Grafik) stiegen dann nur die                                                                         Arbeitsrechts und der Gewerkschaften als gesellschaft-
       Einkommen der oberen 1 Prozent der Lohnabhängigen.                                                                                 liche Institutionen. Von Anfang an kontrovers, sind die
                                                                                                                                          Meinungsverschiedenheiten zum Arbeitsrecht seit den
       Der Nobelpreisträger und frühere Chefökonom der Welt-                                                                              frühen Jahren der Obama-Administration außerordent-
       bank, Joseph Stiglitz, bilanzierte: »Ungleichheit geht auf                                                                         lich erbittert geführt worden.53 Nach dem fehlgeschla-
       eine bewusste Entscheidung zurück. Es liegt in unserer                                                                             genen Versuch zur Verabschiedung des Employee Free
       Macht, sie umzukehren.«47                                                                                                          Choice Act – ein Gesetz, mit dem die Schutzfunktion des
                                                                                                                                          Arbeitsrechts gestärkt werden sollte – brachen an vielen
                                                »[…] In den 70er Jahren kam es aufgrund von gezielten                                     Fronten heftige politische Kämpfe aus. So gab es während
                                                                                                                                                                                                        Hintergrund

                                                ideologischen, institutionellen und rechtlichen Verände-                                  der Wahlkampagne zur Präsidentschaftswahl 2012 direk-
                                                rungen zu einer Neuordnung des Marktes. An deren Spit-                                    te Angriffe gegen Gewerkschaften und Tarifverhandlun-
                                                ze stand die Deregulierung, die ihren Anhängern zufolge                                   gen – besonders im öffentlichen Sektor. Aber auch staatli-
                                                die Wirtschaft von ihren Fesseln befreien und zum Erblü-                                  che Einrichtungen wie das National Labor Relations Board
                                                hen bringen sollte. […] Wenn sich der Staat heraushalten                                  waren betroffen. Die Auseinandersetzungen in Wisconsin
                                                würde, so lautete das Argument, würden die Kreativität                                    und Ohio, im Kongress und andernorts waren Bestandteil
                                                des Marktes – und der Einfallsreichtum des Finanzsek-                                     einer koordinierten Strategie zur Schwächung der Ge-
                                                tors – die Gesellschaft neu beleben.« 48                                                  werkschaften, weil sie Kandidaten und Wahlthemen der
                                                                                                                                          Demokratischen Partei unterstützten und weil sie Wähler
       Aber, folgert Stiglitz: »So ist es nicht gekommen«.49                                                                              mobilisieren konnten.                                             9
Deutsche Konzerne in den USA und US-amerikanische Gewerkschaften | Wilma B. Liebman                            01 | 2018

Die Wirtschaftskrise und die Präsidentschaft Obamas ha-         Belegschaft nach sich zieht«, so Nikki Haley, die damalige
ben den alten Streit in den USA über die Rolle des Staa-        Gouverneurin von South Carolina und jetzige US-Bot-
tes, insbesondere bei der Regulierung der Wirtschaft            schafterin bei den Vereinten Nationen.
und des Marktes, neu entfacht. Die US-Gesellschaft ist
in dieser Frage tief gespalten. Einige sehen den Staat als         »Gewerkschaften versuchen, sich überall Zugang zu
ein soziales Gut. So glauben sie, dass der wirtschaftliche         verschaffen. Sie werden langsam verzweifelt. Deshalb
Wohlstand des Landes nur mit einer Politik wiederherge-            versuchen sie sich, wo immer es geht, einzuschleichen.
stellt werden kann, die die Kaufkraft der Lohnabhängigen           Es ist meine Aufgabe sicherzustellen, dass ich sie immer
stärkt. Andere akzeptierten von vornherein weder die               wieder hinauswerfe.« 55
im Zuge des New Deal der 30er Jahre verabschiedeten
Gesetze noch die damit transportierte Vision nationaler         Die Unternehmensstrategie vieler deutscher Hersteller
Macht. Für sie ist der Staat ein Feind, der mit seinen Regu-    beinhaltet mittlerweile die Ansiedlung großer Fabriken in
lierungen Jobs vernichtet. Donald Trump hat die Wut ge-         den US-Südstaaten. Fabrice Bregier, Chef des Airbus-Kon-
gen die staatliche Regulierung in seiner Präsidentschafts-      zerns, hat angekündigt, das neue Airbus-Werk in Alaba-
kandidatur ausgenutzt.                                          ma werde billiger sein als Fabriken in Deutschland oder
                                                                Frankreich. »Europa muss effektiv etwas unternehmen,
Der Wahlkampf von 2016 hat diese Konflikte verschärft,          um wettbewerbsfähig zu bleiben«,56 sagte er. Und was
weil er die beispiellose Ernüchterung über die Regierung,       er damit meinte, sind niedrigere Kosten, einschließlich
die politische und wirtschaftliche Ordnung sowie über die       der Lohnkosten. Das Southern Business and Development
etablierten Parteien ins Zentrum rückte. Bei den Vorwahlen      Magazine stellte dazu fest: »In den letzten zehn Jahren
stimmten die Arbeiter für Trump und Bernie Sanders, die         sind 39 Prozent aller ausländischen Direktinvestitionen
sich in Stil und Politik zwar stark voneinander unterschie-     in den USA an den Süden geflossen.« Eine zunehmende
den, aber beide Außenseiter waren. Obwohl die Unzufrie-         Anzahl ausländischer Hersteller, hieß es weiter, »will ein
denheit viele Ursachen hat, steht Folgendes im Mittelpunkt:     gutes Geschäft machen. Sie sind äußerst kostenbewusst
die Erosion der Mittelschicht und ihrer Lebensart sowie die     […], und die Kosten für viele Dinge – einschließlich Land,
enttäuschte Erwartung, es werde der nächsten besserge-          Infrastruktur, Strom und Löhne – sind üblicherweise im
hen als der Elterngeneration. Es existiert ein tief sitzender   Süden am geringsten.«57 Die Entscheidung für den Süden
Groll angesichts von Langzeitarbeitslosigkeit, des Verlus-      ist auch eine gegen Gewerkschaften. Der Handelsminis-
tes von Arbeitsplätzen an ausländische Mitbewerber, der         ter von Alabama sagte über Airbus: »Die Tatsache, dass
Verlagerung von US-Unternehmen ins Ausland sowie an-            Alabama ein Right-to-Work-Staat ist, war, meiner Ansicht
gesichts des Outsourcings ganzer Beschäftigungsberei-           nach, auch sehr wichtig.«58
che durch digitale Technologien. Unmut nährt sich auch
aus der zunehmenden Einkommensungleichheit, aus der             Geringe Lohnkosten und die Abwesenheit von Gewerk-
Habgier von Unternehmen, der staatlichen Sanierung ver-         schaften lockten schon die Textilfabriken aus den Neu-
antwortungsloser Banken sowie aus internationalen Han-          englandstaaten und anschließend weitere Industrie-
delsvereinbarungen, die großen Unternehmen zulasten             sparten aus dem Norden in die Südstaaten. Obwohl sich
der US-Arbeiter Vorteile bringen. Bei der Wahl zwischen         vereinzelt Gewerkschaften bildeten (z. B. in der Kohle-
Trump und Hillary Clinton war vorher nicht klar zu erken-       und Stahlindustrie in Alabama, in der Öl- und Papierin-
nen, wem die US-Arbeiter bei der Präsidentschaftswahl im        dustrie in Texas und in mehreren Automobilwerken), ist
November 2016 ihre Stimme geben würden.                         es der Wirtschaft im Süden gelungen, die Gewerkschaften
                                                                draußen und die Löhne niedrig zu halten. Zwar zieht der
Eines war jedoch sicher: Der unerwartete und anhalten-          Süden namhafte Unternehmen an, und die Löhne in der
de Zuspruch für Trump und Sanders sowie die Anzeichen           Produktion sind generell höher als die in anderen Sek-
eines sich andeutenden Aktivismus der Lohnabhängigen            toren der Region.59 Dennoch bleibt der Süden ärmer als
(z. B. der Kampf der Geringverdiener für einen Mindest-         andere Gegenden der USA.60 Was negative Konsequen-
lohn von $ 15)54 unterstreichen deutlich, wie schlecht es       zen für das öffentliche Schulsystem hat: Es »bildet Arbeit-
um die Lage der US-Arbeitnehmer bestellt ist.                   nehmer aus, denen selbst grundlegende Qualifikationen
                                                                fehlen«.61 Das Lohnniveau im Süden übt indes landesweit
                                                                einen Abwärtsdruck aus – besonders auf die Produktion
4. Der amerikanische Süden:                                     und den Einzelhandel im Mittleren Westen (ein Beispiel
                                                                                                                              Hintergrund

Eine komplizierte politische Realität                           hierfür ist das in Arkansas ansässige Unternehmen Wal-
Die Verhältnisse zwischen dem Süden und dem Rest des            mart). Die Right-to-Work-Gesetze haben sich nun auch
Landes sind schon seit Langem kompliziert. Auch die Ar-         auf die Bundesstaaten im sogenannten Rostgürtel, Mi-
beitsbeziehungen in den USA können nicht isoliert da-           chigan, Indiana und Wisconsin, ausgebreitet. 2016 wurde
von betrachtet werden. Zu berücksichtigen ist auch die          West Virginia zum 26., 2017 folgte Kentucky als 27. Right-
Einstellung in den Südstaaten gegenüber der Arbeiter-           to-Work-Staat.
bewegung. Der Süden wirbt intensiv und großzügig um
ausländische Investitionen, besonders des produzieren-          Mehrere Historiker und Politikkommentatoren haben
den Gewerbes. Aber: Diese Unternehmen sind »nicht will-         kürzlich die Gründe für das »Durchhaltevermögen des Sü-
kommen, wenn dies eine gewerkschaftlich organisierte            dens«62 und seine politische Macht im Land untersucht:           10
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