Transmitter - Freies Sender Kombinat

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/ / / / / / / / a b s e n d e r − a g r a d i o e . V. , V a l e n t i n s k a m p 3 4 a - 2 0 3 5 5 H a m b u r g , p o s t v e r t r i e b s s t ü c k c 4 5 4 3 6 , e n t g e l d b e z a h l t , d p a g / / / / / / / / /

                                                                   transmitter                                                                            freies Radio im März
  Freies Sender Kombinat
     93,0 mhz Antenne
      101,4 mhz kabel
www.fsk-hh.org/livestream

        0321
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       Margaret Goldsmith: Patience geht vorüber, AvivA-
 1     Während an der Front gekämpft wird, feiern die beiden Schulfreundinnen Patience und
       Grete im April 1918 in einer kleinen Konditorei in Berlin ihr bestandenes Abitur. Beide sind
       froh, dass ihnen bei der Prüfung kein Bekenntnis zur Nation abverlangt wurde, stimmen sie
       doch schon lange nicht mehr in den patriotischen Überschwang ihrer Umgebung mit ein:
       Grete ist Sozialistin und Patience, die eine englische Mutter hat, wurde von den Mitschülerin-
       nen ständig daran erinnert, dass sie »nicht dazugehört«. Buch 224 Seiten.

       Zora Neale Hurston: Barracoon, Penguin Verlag
 2     Ein einmaliger Zeitzeugenbericht: Die bisher unveröffentlichte Lebensgeschichte des
       letzten amerikanischen Sklaven„Barracoon“ erzählt die wahre Geschichte von Oluale Kos-
       sola, auch Cudjo Lewis genannt, der 1860 auf dem letzten Sklavenschiff nach Nordamerika
       verschleppt wurde. Die große afroamerikanische Autorin Zora Neale Hurston befragte
       1927 den damals 86-Jährigen über sein Leben. In berührenden Worten schildert er seine
       Jugend im heutigen Benin, die Gefangennahme und Unterbringung in den sogenannten
       „Barracoons“, den Baracken, in die zu verkaufende Sklaven eingesperrt wurden, seine Zeit
       als Sklave in Alabama, seine Freilassung und seine anschließende Suche nach den eigenen
       Wurzeln und einer Identität in den rassistisch geprägten USA.
       Buch 224 Seiten
       Hartmann | Wimmer: Die Kommunen vor der Kommune 1870/71, Assoziation A
 3     Bereits vor der Pariser Kommune 1871 entwickelten sich in Städten wie Lyon, Marseille oder
       Le Creusot aufständische Bewegungen. So entfesselten die Arbeiter*innen bei der metal-
       lurgischen Fabrik Schneider in Le Creusot einen gewaltigen Streik und riefen eine »indus-
       trielle Kommune« aus. Ein Sprecher der Bewegung war der junge Einrichter Adolphe Assi,
       der seine Erfahrungen später in die Pariser Kommune einbringen sollte. Auch in etlichen
       anderen Orten kam es zu Erhebungen und wurden »Kommunen« ausgerufen. Mit deren
       Beginn, so die Historikerin Jeanne Gaillard, hatte die Provinz schon eine oder sogar zwei
       revolutionäre Phasen erlebt. Dennoch sind sie lange Zeit fast völlig vernachlässigt worden.
       Das Interesse der linken wie bürgerlichen Geschichtsschreibung galt vorrangig der Pariser
       Kommune. 144 Seiten, Paperback
                             abschneiden und an FSK schicken / bei fragen anrufen unter 040 43 43 24

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Editorial              Dieses ist bei einem ersten Anflug von Frühling ge-
                           schrieben - es wird März
                                                                                                            Inhalt

                                                                                                  FSK unterstützen
                                                                                                           seite 2

     Das neue Jahr hat Tritt gefasst – es ist die Rede von Licht am Ende des Tun-                       Texte
                                                                                                  Seite 3-14
nels. Wäre dem so könnten tatsächliche Sichtbarkeiten, die im Dunkel desselben              Was läuft den da?
deutlich geworden waren, fassbarer gemacht werden. Unzählige Menschen auf                            Seite 15

der Welt sind von Impfungen ausgeschlossen und hier hat man um 108 Euro                      Radioprogramm
                                                                                                     Seite 16
für die Dosis Überleben eines Menschen Monate verstreichen lassen um den
                                                                                        Impressum & Termine
Preis zu drücken. Jemand twitterte: „Kapitalistische Biopolitik war immer diffe-                 letzte Seite
rentiell und rassistisch: Sie steigert das Leben der einen, indem sie die anderen ster-
ben lässt. Während Corona ist diese Differenz ins Zentrum der ges. Reproduktion
gerückt: Arbeiter*innen sind *zugleich* systemrelevant und entbehrlich.“ Die Corona Krise hat eine
Vielzahl von Gewaltverhältnissen aufgedeckt – die Betroffenen ein wenig mehr mit Stimme ausge-
stattet. Genauer: Die Betroffenen hatten sich die Stimmen zu nehmen und zu geben. Organisation
und Selbstorganisation sind mehr in den Fokus gekommen. Die Kündigung der Betriebsrätin im
Krankenhauskonzern wegen ihres öffentlichen Auftretens zu den Arbeitsbedingungen auf der In-
tensivstation mußte zurück genommen werden. Es ist allerdings auch der Grad der Zurichtung der
Individuen sichtbar geworden, welche keinen Begriff von ihrer Eingebundenheit besitzen und in
einer Welt der Projektionen leben.
     Mit allen transmittern während des einen Jahres Corona haben wir versucht, das Dickicht zu
öffnen – Land in Sicht zu bekommen und vor allem alles was an Erkenntnis zu machen war auch
allgemein zugänglich zu stellen. Hoffen wir mal, daß das im Rahmen des Möglichen einigerma-
ßen gelungen ist. Wenn es ein Licht am Ende des Tunnels gibt, dann ist das die Solidarität, die sich
ganz allmählich abzeichnet. Stadtteilinitiativen, gewerkschaftliche Basisgruppen, kleinere Streiks
mit empfindlichen Wirkungen, wie im Hafen Hamburg und die bundesweite Gedenkbewegung für
die Solidarität der Angehörigen der Ermordeten von Hanau. „Leave no one behind“ war am Beginn
der Pandemie als Losung allgegenwärtig – die Entwicklung seitdem unterstreicht die Losung als
notwendige Praxis auf Dauer.
     Der Prozeß gegen den Attentäter aus dem Oktober vor der Hamburger Synagoge hat begonnen
und soll Ende März abgeschlossen sein. Am ersten Prozeßtag wurde die Öffentlichkeit vom wei-
teren Verlauf ausgeschlossen. Dem FSK gegenüber äußert sich die Justizsenatorin dazu offenbar
nicht. Der Ausschluß der Öffentlichkeit sorgt dafür, dass es keinen Diskurs gibt. Der Betroffene des
Angriffs erhält im Gegensatz zum Täter keine Öffentlichkeit. Möglicherweise möchte er das auch
nicht; wenn doch dann erfährt das niemand so schnell. Bei den Darstellungen zu dem Täter bleibt
es bei Erwähnungen der psychatrischen Gutachten während die Zugehörigkeit zur Bundeswehr
kein Thema zu sein scheint. Die Argumentation der Staatsanwalt, es habe sich um eine Handlung
im Wahn gehandelt bleibt unhinterfragt. Gerade diese Argumentation hätte den Antisemitismus
als Wahn zu einem Gegenstand öffentlicher Debatte machen können. Wie auch in Halle bereits
zeigt sich, wo der Übergang zur Vernichtungsabsicht hervortritt und das dieses ein verbreitetes ge-
sellschaftliches Moment ist. Der Erkenntnis dieses Zusammenhangs hätte der juristische Prozeß
dienen können. Der Ausschluß der Öffentlichkeit läßt diese Möglichkeit wohl verstreichen.
     Im gesamten einjährigen Krisenverlauf hat es sich nachhaltig bewährt, wenn unterschiedliche
Anliegen auch auf ihre Verknüpfungen hinwirken. Das Freie Sender Kombinat ist ein Ort, der von
seinen* Grundanliegen her auch dafür gemacht ist. Die Praxis dagegen läuft den Notwendigkei-
ten hinterher und manchmal auch entgegen, weswegen wir zu einigen Vorgängen hier im Haus
Kenntnis geben müssen. Das geschieht mit einer Information weiter hinten im Heft.

    Damit verabschieden wir uns in einen Monat mit weiteren Herausforderungen
    tm redaktion + spartakusbriefe
                                                                                                              3
Plädoyer für eine
Biopolitik von unten.
Biopolitik von unten vs. Biopolitik von oben
     Wie kann eine Kritik des autoritären Liberalis-      keine Wohnung haben oder bekommen, um sich
mus aussehen? Wie können wir den Techniken der            isolieren und zurückziehen zu können; vor allem
Individualisierung, Entpolitisierung und Entsolida-       aber jenen in den Flüchtlingslagern an der Grenze,
risierung entkommen, die lange schon den Spätka-          die sowohl dem Virus als auch anderen Gefahren
pitalismus prägen und in der Corona-Krise manche          ausgesetzt sind, jene also die die Biopolitik von oben
Leben prekärer machen als andere? Was kann der            „sterben lässt“.
»Biopolitik von oben« entgegensetzt werden? Diese
Fragen haben wir uns in einem Radiobeitrag bei            Medikalisierung der Politik und Politisierung der
Radio Nordpol (radio.nrdpl.org) vom letzten Früh-         Medizin
jahr gestellt. Fast ein Jahr später scheinen sie noch
dringender geworden zu sein.                                   Politik und Medizin sind seit langem eng ver-
     Der politische Umgang mit der Coronakrise ist        woben. Auf der einen Seite hat dies zu einem Pro-
hierzulande bislang von einer radikal neoliberalen        zess der Medikalisierung der Politik geführt, die
Regierungsweise geprägt gewesen. Maßgeblich für           sich mehr und mehr dem dem Schutz vor Risiken
diese ist ein Ausgleich zwischen wirtschaftlichen         oder der „Heilung“ ihrer Bürger:innen verschreibt
Interessen und der Auslastung des Gesundheitssys-         – Risiken, für welche sie oft verantwortlich ist. Auf
tems. Die Folge ist bekanntlich, dass das soziale, kul-   der anderen Seite erleben wir eine Politisierung der
turelle und politische Leben fast vollkommen zum          Medizin von oben, deren Aufgabe soziale Kontrolle
Stillstand gezwungen wurde, während das wirt-             in Verschränkung mit neoliberalen Führungstech-
schaftliche Leben in den meisten Branchen erhalten        niken ist. Ein besonderer Aspekt der Biopolitik von
worden ist. Fragen nach ungleichen Risiken, Betrof-       oben ist dabei die Anrufung der Bevölkerung als
fenheiten und Schutzbedürfnissen in der Pandemie          „verantwortbarer Subjekte“: Werbekampagnen der
so gut wie keine Rolle.                                   Regierung vermitteln stets das Bild, die Gesamtsitu-
     Dass die extreme Rechte wieder auf sozialdar-        ation der Infektionsentwicklung liege maßgeblich in
winistische „Lösungen“ setzt, die die Corona-Toten        denen Händen jeder:s Einzelnen.
wie eine „natürliche Selektion“ versteht, mag nicht zu         Der französische Politikwissenschaftler Gré-
überraschen. Nur nimmt das neoliberale Pandemie-          goire Chamayou hat in s“Die unregierbare Gesell-
Management „Flatten the Curve“ das Sterben ebenso         schaft“ diese Form der neoliberalen Individualisie-
in Kauf, indem es offen zwischen dem Schutz des           rung im Kontext der Gegenstrategien der Kapital-
Lebens und dem Schutz der nationalen Wirtschafts-         verbände gegen die emanizipatorischen Bewegun-
leistung abwägt – und letzterer dabei Vorrang ein-        gen der 70er Jahre nachgezeichnet und zeigt, dass
räumt. Denn Zweck dieses Programms ist eine In-           sich lange vor der Coronakrise der Geist der indivi-
fektions- und Sterblichkeitsrate in einem systemisch      duellen Verantwortung für das Gemeinwohl in Poli-
tolerablen Rahmen. Gesundheit in diesem Sinn              tik und Gesellschaft durchgesetzt hat.
heißt: Leben machen und Sterben lassen, »Biopoli-
tik« (Michel Foucault). Im Umgang mit dem Coro-           Politiken der Sorge
navirus geht es eben nicht so sehr um die Behand-
lung des einzelnen Individuums, sondern die Regu-              Die Coronakrise hat die Fürsorge-, Vorsorge-
lierung der Bevölkerung, die Regulierung der Mo-          und Versorgungskrise der gegenwärtigen Verhält-
bilität der Begegnung oder eben Nicht-Begegnung           nisse offenbart und eine sozialpolitisch bislang kon-
einzelner. Aber – und dies ist besonders relevant         sequenzlosen Debatte um Reproduktions- und Pfle-
– auch die Regulierung der Teile der Bevölkerung,         gearbeit angestoßen. Während es danach aussieht,
die eben nicht isoliert und geschützt werden, die in      als würde sich praktisch die Arbeitsbedingungen im
den Fabrikhallen, Baustellen, Pflegeeinrichtungen         Pflegesektor gar nichts verbessern und keinerlei po-
weiterarbeiten müssen, die keinen Schlafplatz oder        litische Anstrengung unternommen, an den prekä-
4
ren Bedingungen und Unterversorgungen etwas zu              Helft uns im Kampf gegen diejenigen, die uns un-
ändern, ist eine breite Debatte um Reproduktionsar-       sere Jobs wegnehmen und uns aus unseren Woh-
beit eingetreten. Erzieherische Berufe, bislang eben-     nungen hinauswerfen wollen; gegen diejenigen die
falls schlecht entlohnt, gelten als systemrelevant. Die   sich weigern, uns zu berühren oder uns von unseren
gesamte Debatte um Schul- und KiTa-Schließungen           Geliebten, unseren Freunden und Gleichgesinnten
krankt an der scheinheiligen Adressierung von Kin-        trennen wollen. Es gibt nämlich keinerlei Hinweis
deswohl, das letztlich nie im Fokus der Maßnahmen         darauf, das AIDS durch alltägliche soziale Kontakte
steht. Die Coronakrise radikalisiert die alte linke       übertragen werden kann.
und feministische Debatte um Reproduktionsarbeit
bzw. Care Work noch einmal: Es wird deutlich, dass        Macht Menschen mit AIDS nicht zum Sündenbock.
das Versprechen des Post/Wohlfahrtsstaats, den            Gebt uns nicht die Schuld an der Epidemie. Zieht
Ausgleich zu schaffen zwischen Produktion und             keine verallgemeinernden Schlüsse über unsere
Reproduktion, ein Gesundheits- und Sozialsystem           Lebensstile.
einzusetzen – nie für alle galt. Nicht umsonst tritt          Diese Forderung der Entstigmatisierung er-
in der Krise das Leid gerade entlang der Achsen zu        scheint in der zeitgenössischen Pandemie, die eben
Tage, die das Versprechen von Fürsorge und Versor-        gerade durch „alltägliche soziale Kontakte übertra-
gung systemisch nicht zu halten in der Lage sind:         gen“ wird umso radikaler. Der Anspruch von Act
Gesundheitssektor, Pflegesektor, Bildung und Erzie-       Up stand unter dem Motto: Schweigen heißt Ster-
hung, Soziale Arbeit.                                     ben. Die Rechte von Menschen mit AIDS fordern
     Sorge bzw. Care sind zuletzt fast schon zu ver-      ein würdevolles Leben sowie Sterben ein, qualifi-
heißungsvollen Worten in linken Kontexten gewor-          zierte Versorgung, Aufklärung, ein voll befriedigen-
den, aber was kann eine anderen Form der Politisie-       des und selbstbestimmtes Dasein sowie das „Recht
rung von Gesundheit sein angesichts der herrschen-        auf menschlichen Respekt und auf die Wahl unserer
den Verhältnisse?                                         wichtigsten Kontaktpersonen“ – Forderungen, die
     Eine Politik der Sorge entlarvt die neoliberalen     in der Coronakrise geradezu abtrus, irreal wirken
Bedingungen und immanenten Prekarisierungen               mögen. Dass sie das tun, erscheint uns wiederum als
und stellt das Versprechen des Post/Wohlfahrts-           Symptom linker Sprachlosigkeit und der Erschöp-
staats radikal in Frage. Ihr Anspruch muss sein,          fung radikaler politischer Programme.
angesichts der fortgesetzten Prekarisierung eine an-
tirassistische, feministische, antisexistische und an-    Wie weiter?
tiheteronormative und be_hinderungssensible, also
»intersektionale« Politik zu fordern, die Sorge trägt          Auch nach einer „überstandenen Corona In-
für die ungleichen Verwundbarkeiten in der Krise.         fektion“ leiden viele noch über Wochen oder Mo-
Eine solche Politik versteht Sorge nicht allein als Ar-   nate an ihrer Infektion. Das Phänomen nennen
beit, sondern grundsätzlicher als ein Problem der         Forscher:innen „Long Covid“. Selbst wenn also ein
Sozialität, der Relationität und Verletzlichkeit. Sie     Punkt der Kontrolle des Virus durch globale Mas-
weist damit die systemische Individualisierung des        senimpfungen erreicht ist, bleibt Corona ein zentra-
autoritären Liberalismus zurück und fordert die Be-       les Gesundheitsthema , oder mit den Worten Ange-
rücksichtigung von Betroffenheiten ein.                   las Merkels, „eine medizinische, eine ökonomische,
     Historische Bezugspunkte hat diese beispiels-        eine soziale, eine psychische Bewährungsprobe.“
weise in der feministischen Tradition, insbesondere
in der feministischen Gesundheitsrecherche, in den            Eine Politisierung der Medizin findet bereits in
Emanzipationsbewegungen des Schwarzen Civil               den Kämpfen der Beschäftigten im Gesundheitswe-
Rights Movement und in der AIDS-Krise.                    sen, in den Organisierungen der Gesundheitsbünd-
     In der jetzigen Situation hilft die Erinnerung an    nisse statt und wird praktisch erprobt in exemplari-
die Denver-Prinzipien von 1983: Eine Gruppe von           schen Projekten wie der Poliklinik in Hamburg oder
AIDS-Aktivist*innen versammelte sich in einer Si-         Social Solidarity Medical Centre of Thessaloniki
tuation, in der über die Krankheit noch so gut wie        (Griechenland). Es braucht die Organisierung von
nichts bekannt war. Sie deklarierten die Rechte von       Patient:innen gemeinsam mit Beschäftigen für den
Menschen mit AIDS, sprachen Empfehlungen an               Aufbau eigener inklusiver Social Medical Center für
Menschen im Gesundheitswesen sowie Empfehlun-             eine Gegenperspektive von unten.
gen an alle aus. So heißt es dort:
                                                                          von Mr Pinguin & sippurim, Radio Nordpol

                                                                                                               5
150 Jahre Pariser Commune
Erinnerung an eine halbvergessene Geschichte
     Am 18. März 1871, vor 150 Jahren, kam es in       zu einem gesellschaftlichen Umgestaltungsprozess
Paris zu Ereignissen, die bis vor nicht allzulanger    an, der bei Zeitgenossen Begeisterung oder tiefen
Zeit fester Bestandteil des historischen Gedächtnis    Hass hervorrief. Die Trennung von Staat und Re-
der internationalen Linken waren. Im September         ligion, der Erlass fälliger Mieten, die Überführung
1870 hatten deutsche Truppen die französische          von Fabriken in Kollektiveigentum der Beschäftig-
Armee besiegt und den französischen Kaiser Na-         ten gehörten dazu. Einher ging dieser Prozess mit
poleon III. gefangen genommen. Das war der, über       einer zunehmenden Beteiligung vor allem klein-
dessen Staatsstreich und Selbsternennung eben          bürgerlicher und proletarischer Frauen am poli-
zum französischen Kaiser Karl Marx den „acht-          tischen und militärischen Geschehen. Denn die
zehnten Brumaire des Louis Bonaparte“ schrieb          bürgerliche Regierung, die gegenüber den Deut-
und damit zum Stichwortgeber die Bonapartis-           schen kapituliert hatte, nahm den Kampf gegen die
mustheorie wurde, einen der marxistischen Ansät-       CommunardInnen mit aller Entschiedenheit auf.
ze im 20. Jahrhundert, autoritäre bzw. faschistische   Nachdem von der Pariser Commune inspirierte
Herrschaft zu erklären. Mit der militärischen Nie-     Rebellionen in anderen französischen Städten nie-
derlage gegen die Deutschen war der französische       dergeschlagen waren, marschierten Ende Mai re-
Staat weitgehend handlungsunfähig. Während die         guläre Truppen in Paris ein und massakrierten die
Sieger im Januar 1871 Paris belagerten und zeit-       Revolutionäre. Die letzten wurden an der Mauer
gleich in einer Geste maximaler Demütigung im          des Friedhofs Père Lachaise erschossen, die Mur
Schloss von Versailles das zweite deutsche Kaiser-     des Fédérés, Mauer der Föderierten (der Angehö-
reich gründeten indem sie den den preußischen          rigen der Nationalgarde) ist bis heute ein wichtiger
König zum deutschen Kaiser machten, erhielt in         Gedenkort der französischen Linken, ähnlich dem
Paris die Nationalgarde Zulauf. Diese Truppe, wäh-     Friedhof der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde.
rend der französischen Revolution aufgestellt und      Die Pariser Commune wurde international zur
militärisch mittlerweile bedeutungslos, war vor        Kenntnis genommen und war ein Vorschein auf
allem aufgrund des gezahlten Soldes interessant        die politischen Kämpfe des 20. Jahrhunderts. In
für das Pariser Proletariat und verarmte Kleinbür-     kurzer Zeit erblühten Hoffnungen auf Emanzipa-
ger. Zunehmend den Charakter einer bewaffneten         tionsprozesse, gingen Menschen daran ihr Schick-
Organisation dieser Schichten annehmend, stellte       sal in die Hände zu nehmen. In dem wie dieser
sie eine Gefahr für die mittlerweile gebildete bür-    lokale Aufbruch in eine menschlichere Welt mit
gerliche Regierung, die einen Friedensvertrag mit      massiver Gewalt der Verwalter des Bestehenden
den Deutschen unterzeichnet hatte, dar. Am 18.         niedergeschlagen wurde, kündigt sich der Unter-
März nun sollte die Nationalgarde durch Einhei-        gang der Räterepubliken und befreiten Territorien
ten der regulären Armee entwaffnet werden. Das         zwischen 1918 und 1936 an. Frappierend, dass we-
Unternehmen misslang gründlich, vor allem auf-         nige Wochen vor dieser Revolution, die darauf be-
grund der Weigerung der Soldaten, auf die Prole-       ruhte, dass sich die ProletarierInnen in der Stunde
tarierInnen und KleinbürgerInnen, die sich ihnen       der militärischen Niederlage Frankreichs nicht in
dabei entgegenstellten zu schießen. Dran glauben       den Klassenkompromiss flüchteten, sondern den
mussten stattdessen die beiden kommandierenden         Hauptfeind im eigenen Land suchten, sich in un-
Generäle.                                              mittelbarer Nähe das deutsche Kaiserreich grün-
                                                       dete, der deutsche Nationalismus einen weiteren
    Damit begann der Versuch einer Revolution,         Schritt auf dem Weg nahm, der ein Menschenleben
wie es ihn vorher noch nicht gegeben hatte. Das        später in die Barbarei führte.
Zentralkomitee der Nationalgarde übernahm die
Macht, veranstaltete Wahlen zum Gemeinderat,                 Kurze Zeit nach der Niederschlagung der
zur Commune, aus der ein regierendes Gremium           Commune brachte der Transportarbeiter Eugène
hervorging, indem proletarische und kleinbürger-       Pottier deren revolutionären Kern in einem Ge-
liche Anhänger verschiedener linker Strömungen         dicht auf den Punkt, dass vertont zu Hymne der
den Ton angaben. Und sie setzten, wenn auch auf        kommunistischen Linken werden sollte: „Debout!
erratische und zum Teil wenig konsequente Weise,       l’âme du prolétaire! Travailleur groupons nous
6
enfin. Debout! les damnés de la terre!...“ Dass die   Andenken. Heute sind diese Strömungen der Lin-
Verdammten dieser Erde die Macht hätten, die          ken weithin Geschichte, die Internationale den
„Sonn‘ ohn‘ Unterlass“ scheinen zu lassen, die Welt   meisten die totgedudelte Hymne des verblichenen
endlich menschenwürdig einzurichten, wenn sie         Realsozialismus. Das liegt nicht nur an den mitt-
nur gemeinsam aufstünden, war ein Versprechen,        lerweile vergangenen 150 Jahren. Eine Linke, die
dass trotz des Scheiterns der Commune seine           nicht mehr davon ausgeht, die Organisation der
Glaubwürdigkeit fast ein Jahrhundert lang auch        menschlichen Gesellschaft grundlegend umgestal-
aus den Pariser Ereignissen des Frühjahres 1871       ten zu können, die das Versprechen wie die Forde-
zog. Die blutige Niederschlagung der Commune          rungen der Commune für nicht mehr erfüllbar hält
interpretierten dabei jene KommunistInnen, die        braucht auch Erinnerungsorte wie die Commune
nach 1917 erneut versuchten, eine neue Form po-       nicht mehr. Das wird gerade auch da deutlich, wo
litischer Organisation der Gesellschaft zu schaffen   heute doch mal Bezüge zur Commune hergestellt
als Hinweis darauf, dass der Bürgerkrieg inhären-     werden, z.B. in der „Internationalist Commune
ter Bestandteil der Revolution sei und man sich       of Rojava“. Vielleicht bewusst, wahrscheinlicher
in die Lage versetzen müsse, diesen militärisch zu    aber unbewusst, verweist diese Bezugnahme auch
gewinnen. Als einem der ersten in einer langen        auf die Prekarität und Bedrohung, der jeder lokal
Reihe blutig gescheiterter heroischer Versuche die    begrenzte Versuch kollektiver Emanzipation aus-
Welt besser einzurichten bewahrten auch Linke,        gesetzt ist und die drohende Barbarei im Falle des
die nach 1917 nicht auf den Aufbau des proleta-       Scheiterns.
rischen Staates setzten, der Commune lange ein                                                           Sten

Diesmal geht es ums Ganze.
Stadtteilentwicklung von unten - Das Münzviertel plant selber!
     Aktuell befindet sich das Münzviertel wiede-     wie „hoffnungsorte hamburg“ mit ihren vielfälti-
rum im sozialen und städtebaulichen Umbruch.          gen Angeboten für wohnungslose Menschen, das
Im Visier der Stadt steht der Verkauf ihres letzten   „Drob Inn“ für drogenabhängige Menschen und
Grundstücks (ehemaliges Hillgruber Gelände) im        die „alsterdorf assistenz ost“ für Menschen mit
Viertel. Die Stadt erklärt das Grundstück kurzer-     Assistenzbedarf.
hand zum Wirtschaftsförderungsfall (s.: St. Pauli-
haus) und verweigert uns, somit jegliche partizipa-       Es ist unser fortwährender Widerstand gegen
tive Mitsprache. Deshalb:                             eine tradierte von „oben nach unten“ diktierte
                                                      Stadtgestaltung, wo die Politikmächtigen intrans-
    „Kein Verkauf der letzten städtischen Brach-      parent als „Gott-Vater“ (wir wissen was für Euch
fläche im Münzviertel an externe Investoren! Statt-   gut ist) auftreten und somit die betroffenen Men-
dessen Verkauf der Grundstücksfläche: Ecke Nor-       schen vor Ort mit ihrem Wissen und Alltagspraxis
derstraße/Schultzweg in Erbpacht an eine nachbar-     von nachbarschaftlichem Miteinander zum bloßen
schaftliche Wohn-Genossenschaft, die der sozialen     Befehlsempfänger degradieren.
Infrastruktur im Viertel Rechnung trägt wie z. B:
Wohnungen nach dem „Housing First“ Prinzip für             Es ist nicht das erste Mal, dass uns die Politike-
jungerwachsene obdachlose Menschen.“: https://        liten der Stadt eine aktive Mitsprache und Mitge-
vimeo.com/498912390                                   staltung bei der sozialen und städtebaulichen Um-
                                                      gestaltung unserer unmittelbaren Nachbarschaft
    Seit fast 20 Jahren sind wir im Münzviertel       verweigern. Schon der Gründungsanlass unserer
gesellschaftspolitisch aktiv. Im Mittelpunkt un-      Aktivitäten war 2002 die urplötzlich wie aus blau-
serer gemeinwesenorientierten Stadtteilarbeit         em Himmel veranlasste Neubebauung des ehema-
steht die partizipatorische Quartiersentwicklung.     ligen Geländes der Hamburgischen Münzpräge-
Ziel dabei ist die nachhaltige Verbesserung der       anstalt mitten im Herzen des Viertels. Weder die
Wohn-, Lebens- und Arbeitsbedingungen der             damaligen Bauherren (Wichern Baugesellschaft
Quartiersbewohner*innen einschl. der großen           mBH) noch die kommunalen Politiker*innen in-
Anzahl von zentralen Sozialeinrichtungen vor Ort      formierten uns im Vorwege.
                                                                                                          7
Dagegen liefen wir Sturm und die                    Herr Mathe hatte es versäumt uns mitzuteilen,
Politiker*innen versprachen Besserungen. 2008 er-   dass es bereits einen Projektentwickler (HBK Han-
klärten sie das Münzviertel im Rahmen von RISE      seatische Baukonzept GmbH & Co. KG) für die
zum Fördergebiet. Wir spürten Morgenluft und        Bebauung gab und dieser hatte kein Interesse an
einen Hauch von partizipatorischer Mitgestaltung    Wohnprojekte, Ateliers, Wohnraum für obdach-
bei der Neubebauung des Grundstücks: ehemalige      lose Jugendliche usw. Was übrig bleibt ist „koZe“
Schule für Hörgeschädigte am Schultzweg.            im Herzen und kein Schritt zurück. Wir wollen das
                                                    Ganze!
    Forciert durch Michael Mathe, den damaligen
neuernannten Amtsleiter für Stadt- und Land-             Ein steiniger Weg. Michel Mathe, der Vorkos-
schaftsplanung HH-Mitte erarbeiteten wir 20011      ter des Senats bringt sich bereits in Stellung: „Es
gemeinsam mit Student*innen der HCU über viele      ist dem Münzviertel nicht mehr zuzumuten, hier
Monate hinweg die inhaltliche und architektoni-     noch weitere Sozialprojekte anzusiedeln.“ Quar-
sche Neubebauung des ehemaligen Schulgelän-         tiersbeiratssitzung Münzviertel Juli 2020.: http://
des. Dabei träumten wir von genossenschaftlichen    www.muenzviertel.de/es-ist-dem-muenzviertel-
Wohnprojekten, öffentlich geförderte Atelierwoh-    nicht-mehr-zuzumuten-hier-noch-weitere-sozi-
nungen für Kunst- und Kulturschaffende, Wohn-       alprojekte-anzusiedeln-michael-mathe-leiter-des-
raum für obdachlose Jugendliche sowie Menschen      fachamts-stadt-und-landschaftsplanung-bezirk-
im Asylverfahren. Alles für die Katz!               samt-hh-mitte-beric/

                                                                              Stadtteilinitiative Münzviertel

8
Für eine neue Strategie-Debatte
4. Teil
     Organisation (und damit wechselseitig auch             alternen – einmal der Lohnabhängigen, einmal der
Strategie) beschreibt Georg Lukács 1923 als Form            Frauen* – begriffen werden. Die dazugehörige Ideo-
der Vermittlung zwischen Theorie und Praxis:                logiebildung ist bei beiden Phänomenen allerdings
     „Und wie in jedem dialektischen Verhältnis erlan-      diametral entgegengesetzt:
gen auch hier die Glieder der dialektischen Beziehung            Bei Bullshit Jobs werden gesellschaftlich sinn-
erst in und durch ihre Vermittlung Konkretion und           lose bis schädliche Tätigkeiten zur Seinserfüllung
Wirklichkeit.“1                                             und sozialem Prestige überhöht, während durch
     Heute scheinen wir genau die dieser dialekti-          Hausfrauisierung die faktisch vor allem von Frauen
schen Beziehung innenwohnende Frage der Strate-             geleistete, gesellschaftlich höchst notwendige Care-
gie und Organisation theoretisch zu vernachlässi-           Arbeit ideologisch entwertet wird.
gen. Es folgt zugespitzt formuliert eine unwirkliche
Theorie und eine theorielose Praxis. Konkrete prak-             Diese scheinbar entgegengesetzten Logiken
tische Konsequenzen für die Linke heute sind unse-          verhalten sich in Wahrheit komplementär zuein-
rer Meinung nach der reaktive Charakter der Praxis          ander und spiegeln die im Übergang zum Kapita-
und Organisationsformen, die sich an verschiede-            lismus begründete, im Fordismus bzw. „staatlich
nen historischen Formen orientieren, statt in Wech-         verwalteten Kapitalismus“4 auf die bessergestellten
selwirkung mit der Strategie aus einer umfassenden          Arbeiter*innen ausgeweitete Sphärentrennung in
Gegenwartsanalyse zu resultieren.                           männlich/weiblich, öffentlich/privat, produktiv/re-
     Wir beschäftigen uns seit drei Transmittern            produktiv, rational/emotional, Arbeit/Leben5 wider.
mit dieser Feststellung und den resultierenden              Die Aufwertung der Lohnarbeit bei gleichzeitiger
Konsequenzen.                                               Abwertung sorgender Tätigkeiten ist dem kapitalis-
                                                            tischen Patriarchat damit bereits in seinen Anfän-
     Zuletzt haben wir verschiedene revolutionäre           gen eingeschrieben.
Qualitäten2 andiskutiert, auf die Anpassungsfähig-
keit des Kapitalismus und die Gefahr der Kommo-                  Notwendig für unsere Strategiedebatte ist aber
difizierung dieser Qualitäten hingewiesen. In Bezug         nicht diese bloße Feststellung grundsätzlicher ka-
auf die Qualität politische Zeit haben wir im letzten       pitalistisch-patriarchaler Dynamiken, sondern die
Text mit David Grabers Konzeption der Bullshit Jobs         Analyse von deren Spezifika unter heute vorgefun-
aufzuzeigen versucht, dass das Kapital Jobs schafft,        denen historischen Bedingungen. Hierbei muss
die keine sinnvollen Inhalte aus Perspektive der            zunächst festgestellt werden, dass die in der Sphä-
Lohnabhängigen haben, sondern aufgrund kapita-              rentrennung angelegten Spaltungen weniger trenn-
listischer Zweckrationalitäten entstehen und funkti-        scharf geworden sind. Nur wenige Reaktionäre ver-
onal für die Bourgeoisie zur Ideologiebildung und           treten noch offensiv, dass Frauen an den Herd gehö-
zur In-Arbeit-Haltung der Subalternen sind.                 ren. Auch die Grenzen zwischen Lohnarbeit im Öf-
                                                            fentlichen und Sorgearbeit im Privaten verschwim-
     In diesem Text wollen wir diese Analyse um             men zusehends.
eine feministische Perspektive erweitern. Bereits
Ende der 70er Jahre gab es mit dem Konzept der                   Dieses Verschwimmen der Abgrenzung ist Er-
Hausfrauisierung von Maria Mies eine hieran an-             gebnis dessen, was Fraser als „progressiven Neolibe-
schließende Theorie:                                        ralismus“6 bezeichnet: Die in einer Phase relativer
     „Hausfrauisierung der Arbeit war und ist der           Stärke der Arbeiter*innenklasse begonnene zweite
     Trick, durch den das Kapital Frauenarbeit gene-        Welle der Frauenbewegung wurde in der danach
     rell entwertet, unorganisiert/atomisiert erhält, sie   einsetzenden kapitalistischen Restauration gespal-
     dauernd zur Verfügung hat und jederzeit – ohne         ten, der liberale bis zentristische Flügel in die neo-
     Kosten – wieder aufnehmen kann.“3                      liberale Herrschaft kooptiert, während der linke
      Parallel zu den Bullshit Jobs kann die Hausfrau-      Flügel in die gesellschaftliche Irrelevanz gedrängt
isierung also als Zugriff des kapitalistischen Patri-       wurde. Die Veränderungen in dieser Periode sind
archats auf die Zeit und Zeitsouveränität der Sub-          damit auch neoliberal angeeignete Forderungen der
                                                                                                               9
Frauenbewegung: Die Hierarchisierung zwischen           Selbstoptimierung integriert werden, welches das
Lohnarbeits- und Care-Sphäre wurde nicht prin-          Private nach ökonomischen Maßstäben ausrichtet.
zipiell aufgehoben, sondern nur erstere für Frauen           Dass heute ein riesiger Sektor von warenför-
geöffnet. Die notwendigen Haus- und Sorgetätig-         mig organisierter Care-Arbeit zu großen Teilen erst
keiten wurden nicht radikal umverteilt bzw. kollek-     durch deren Kommodifizierung im progressiven
tiv neuorganisiert, sondern nur in Teilen staatlich     Neoliberalismus entstanden ist, hat grundlegende
bzw. privatwirtschaftlich kommodifiziert (v.a. Pflege   Bedeutung für potenzielle Arbeitskämpfe in diesem
und Erziehung, die wiederum hauptsächlich durch         Bereich. Die Schwäche der Linken im Neoliberalis-
schlecht bezahlte Frauen* geleistet werden). Die        mus spiegelt sich in „gerade erst“ aufgekommenen
Politisierung bzw. Sichtbarmachung des Privaten         bzw. stark gewachsenen Sektoren besonders stark
schließlich konnte teilweise in das Ideologem der       wider.

10
Auch der Übergang von kollektiver zu indi-
vidueller Verantwortung findet sich in den Care-               Individualisierung, Atomisierung und Unsicht-
Tätigkeiten wieder, in denen Arbeiter*innen ihre          barmachung der zeitlich immer weiter prekarisier-
Klient*innen, Patient*innen u.a. nicht zum Strei-         ten Hausarbeit verschleiern ihre Notwendigkeit als
ken alleine lassen wollen. Dabei ist dies nicht nur       Hintergrundbedingung der Produktion und verhin-
ideologisches Produkt ihres Entstehungs-/Expansi-         dern dabei ihre Politisierung.
onszeitraums, sondern bringt auch die prinzipielle             Ausgerechnet durch die Pandemie scheint es
Widersprüchlichkeit kommodifizierter Care-Ar-             jedoch einen neuen Fokus auf beide Bereiche zu
beit zum Ausdruck. Nicht zuletzt schränkt sie die         geben: Sowohl die Relevanz und Wertschätzung
Anwendbarkeit der historischen Erfahrungen der            von Care-Arbeit, als auch die Frage danach, welche
Arbeiter*innenbewegung ein:                               Jobs wirklich notwendig sind, werden zur Zeit wie-
                                                          der stärker verhandelt. Zwar spiegelt der bisherige
     „Es geht also um zwei Produktionen mit zwei          Umgang mit der Krise in erster Linie die kapitalis-
    Zeitlogiken: schneller, rationeller die eine, Ar-     tische Hegemonielage wider und läuft auf eine Ver-
    beit einsparend – sorgsam, pflegend, erhaltend,       schärfung der beschriebenen Problematiken hinaus;
    zeitlich ausgedehnt, ja langsam die andere. Die       gleichzeitig wächst aber auch die Zuversicht, dass
    allmähliche Unterwerfung der langsamen Pro-           die Erfahrungen der Pandemie neue Möglichkeiten
    duktion unter die Kapitalgesetze bringt Zerreiß-      für die Auseinandersetzungen um die revolutionäre
    proben ganz anderer Art ins Leben der davon           Qualität Zeit eröffnen könnten. Einer ausführlichen
    Betroffenen.“7                                        Auseinandersetzung mit diesem Themenfeld wid-
                                                          men wir uns in einem der kommenden Texte.
    Diese widersprüchliche Zeitlogik findet sich               Die Erkenntnis, dass Hausfrauisierung und
auch im scheinbar nicht-kommodifizierten Pri-             Bullshitjobs zwei Seiten derselben Medaille sind,
vatem wieder. Der im Zuge der herrschaftlichen            dass die systematische Auf- und Entwertung der
Kooptation zum Verschwinden gebrachte Protest             vergeschlechtlichten Sphären jeweils dem Zugriff
gegen die Hierarchisierung zwischen Lohnarbeits-          auf die Zeit der Subalternen und damit potenziell
und Care-Sphäre hat im Zusammenhang mit der               der politischen Zeit für linke Kämpfe dient, ermög-
Erwerbsintegration von Frauen* nicht nur zu dessen        licht verbindende Politiken für eine klassenbewuss-
Zementierung, sondern zur Zuspitzung der Hierar-          te, feministische Bewegung zur erweiterten Verfü-
chisierung geführt. Das Familienlohn-Modell muss-         gung über unsere Lebenszeit.
te vor allem in der Periode seiner Infragestellung
zur eigenen Verteidigung zumindest symbolisch                Es ist unsere Zeit!
eingestehen, dass Hausarbeit existent und für die
Hälfte der Gesellschaft eine vollwertige Tätigkeit ist.                                               Maulwurf der Vernunft
Demgegenüber ist Hausarbeit in der Doppelverdie-
ner-Familie tendenziell reiner Ballast, besitzt keine                                                                 Literatur:
Wertigkeit, wird unsichtbar gemacht und wird, weil                    1
                                                                        Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein,
faktisch nach wie vor hauptsächlich durch Frauen*                                                       Neuwied 1968[1923].
geleistet, von Männern eher als unerschöpflich vor-               2
                                                                   Maulwurf der Vernunft, Für eine neue Strategie-Debatte
handene Ressource denn als Ergebnis der Arbeit an-                                                zweiter Teil: TM 1220/0121.
derer interpretiert.                                                    3
                                                                         Maria Mies in Knapp/Wetterer (Hrsg.): Soziale Ver-
                                                                                      ortung der Geschlechter, Münster 2001.
    Äquivalent zu Bullshit-Jobs präsentiert sich der
                                                                           4
                                                                            Nancy Fraser/Rahel Jaeggi, Kapitalismus. Ein Ge-
Zugriff auf die Zeitressourcen der Subalternen als                                  spräch über kritische Theorie, Berlin 2020.
Behauptung des Gegenteils: Die kapitalistisch or-
                                                                 5
                                                                  Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharak-
ganisierten Beschäftigungstherapien der Bullshit-               tere“ – eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und
jobs sind nur vor dem Hintergrund der existenzbe-               Familienleben. In: Werner Conze (Hrsg.): Sozialgeschichte
drohenden Beschäftigungslosigkeit nicht komplett                        der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976.
unsinnig. Gleichzeitig ist die Unsichtbarmachung
                                                                          6
                                                                            Nancy Fraser, Vom progressiven Neoliberalismus
weiblich geleisteter Sorgearbeiten nur vor dem Hin-                           zu Trump. In: American Affairs 4, Denville 2017.
tergrund möglich, dass einigen Frauen* Karrieren
                                                                           7
                                                                             Frigga Haug, Marxistische Refundierung des Fe-
in der Lohnarbeit als scheinbares Privileg zugestan-                              minismus, feministische des Marxismus. In:
den werden.                                                                               Das Argument 314, Hamburg 2015.

                                                                                                                            11
Alle Männer sind Täter?
Ein Nachwort zu: „Täter – das Männermagazin“

Die Tradition der vergangenen zwei Jahre, einen voll-        zu Männlichkeit zu entkommen, aber welche Er-
ständigen ausschließlich dem internationalen feministi-      fahrung ich eigentlich genau mit Männlichkeit ge-
schen Kampftag gewidmeten Märztransmitter durch die          macht habe, weiß ich jetzt auch nicht mehr.
M8 Gruppe gestaltet, konnten wir in diesem Jahr nicht
fortsetzen. Vielleicht nächstes Jahr dann wieder. Für die-   Männliche Sozialisation für alle?
ses Heft haben wir aus der Gruppe den hier folgenden
Text gewinnen können:                                             Im Ankündigungstext für die Sendung hatte
                                                             ich geschrieben „Joscha X Ende, eine trans Frau,
     Im Oktober 2020 habe ich im Rahmen des                  also männlich sozialisiert“. Ich postete das in eine
„M8 Feminist Strike Radio Tag“ einen Beitrag für             kritische Männlichkeitsgruppe und wurde darauf
das FSK gemacht 1. Unter dem Titel „Täter – das              hingewiesen, dass „männliche Sozialisation“ für
Männermagazin“ wollte ich einen Zugang finden,               Menschen mit trans Erfahrung zu behaupten eine
über männliche Täterschaft zu reden und redete               transphobe Erzählfigur sei. ,Männliche Sozialisati-
dabei zumeist über mich selbst. Über den Tag, an             on‘, dies schien passend für mich, aber weil ich die
dem ich die Sendung machen wollte, sprach ich                Kritik verstand und insbesondere verstand, dass es
viel mit meinen Mitstreiter:innen in der M8-Gang.            erstmal um mich gehen müsste, änderte ich den
Es wurde mir klarer und klarer, dass eine allgemei-          Ankündigungstext und nahm das „also“ weg. „Jo-
ne Thematisierung des Gegenstands „männliche                 scha X Ende, eine trans Frau, männlich sozialisiert.“
Täterschaft“ aus meiner Perspektive nicht gutgehen           Denn Männlichkeit ist ja nicht nur für cis-Perso-
würde. Denn von Anfang an standen deutliche und              nen, sondern eine queeres Feld und ein weites Feld
nachvollziehbare Einwände gegen das im Raum,                 von trans Erfahrungen, trans Männlichkeiten und
was der Titel implizierte:                                   Männlichkeiten in nicht-binären Zusammenhän-
                                                             gen. Zurück zu mir: bin ich denn nun männlich so-
Alle Männer sind Täter!                                      zialisiert? Ich kann heute nur sagen, weiß ich nicht.

     Ich hatte mich recht intensiv mit Männlich-             Männliche Privilegien für mich?
keitskritik befasst und irgendwie dachte ich, durch
meine zusätzliche Auseinandersetzung mit Männ-                    Was ich heute denke ist, dass ich Privilegien
lichkeit im Rahmen meiner trans Erfahrung, hätte             mitnahm, die sich als „Mann“ ergaben. Zugege-
ich ein spezifisches Wissen um den Gegenstand,               ben etwas, gegen das ich nichts hätte unternehmen
das ich teilen könnte. Der Eindruck entstand, weil           können – das einzige, was mir einfiele, wäre mich
ich im meinem politischen Umfeld mit Cis-Män-                schon damals als trans zu outen, und das Privileg
nern bzw. patriarchal geprägten Männern zu tun               abzuwerfen. Es waren allerdings keine Vorbilder
habe und auch im Rahmen von Täterarbeit und der              da, die meine spezifische Erfahrung mit der Zu-
Auseinandersetzung darüber über Umgänge und                  richtung durch eine binär formierte Gesellschaft
Auswege aus patriarchalen Mustern nachgedacht                hätten spiegeln können. Ich sah das Leben, grob
hatte. Ich erinnerte mich – und darüber sprach               gesagt, allemal als elendig an und die kapitalisti-
ich, auch in der Sendung – an die eigenen patriar-           sche Zurichtung machte mir und macht mir rich-
chalen Dividenden, die ich eingefahren hatte. Klar           tig zu schaffen. Ich habe aber von der allgemeinen
war ich stets depressiv ab und an psychotisch und            Sprechposition profitiert, die Männern zugespro-
hatte auch gute Erinnerungen an meine Versuche               chen wird. Mir wurde anders zugehört, selbst wenn
mich bereits in der Kindheit Mädchen und Frau-               ich typisch feminine Inhalte transportierte, wur-
en anzuschließen und aus der sinnlosen Referenz              den sie ernster genommen, weil ein Mann sie aus-

12
spricht. Auch meine psychosexuelle Disposition          Bleibe ich ein Mann und singe euch den Anti-Grö-
formierte sich entlang von Männlichkeitserwar-          nemeyer oder bin ich eine Frau und rekonstruie-
tungen. Ich kann immer nur zurück gucken und            re mich als solche? Sozialisiere ich mich grade als
mich als sehr von der Welt abgeschnittene und in        Frau? Ja, ich habe viele Fragen, aber keine weiteren
permanenter Identitätslosigkeit schleifende Person      Fragen. Ich sitze hier und denke ernsthaft darüber
imaginieren. Suchend nach Orientierung nahm             nach ob sich ,trans‘ all allgemeine politische Kate-
ich das gesellschaftliche Großkonzept „Männlich-        gorie eignet. Dann denke ich über die Verwüstun-
keit“ für mich in Anspruch.                             gen nach, die die Verwissenschaftlichung sozialer
                                                        Prozesse mit sich bringen kann. Was passiert wenn
Wann ist ein Mann kein Mann?                            wir versuchen uns auf Begriffe zu einigen, die nie-
                                                        manden ausschließen oder verletzen, oder uns auf
    Vielmehr als dass ich ein Gefühl von Männ-          politische Kampfbegriffe einigen? Für mich muss
lichkeit oder eine identitätsbezogene Gewissheit        es mehr darum gehen mit Leuten zu reden und so-
über mein Geschlecht gehabt hätte, hatte ich ei-        ziale Prozesse zuzulassen – das ist revolutionärer
gentlich nur innere Leere und die Augen drehten         ist als jeder Regenschirmbegriff! Leben statt wissen
im Kreis auf der Suche nach Orientierung. Wenn          lassen.
ich damals hätte sagen können: „Mami, ich bin ein
Mädchen!“ Wer weiß was dann? Es ist nicht ge-           Weiß, bürgerlich, trans...
schehen. Außer ein paar Mal zu sagen: „Ich mag
keine Jungsklamotten, die sind alle zu hässlich,“            Ich bin nicht unterprivilegiert, nur als trans
hatte ich nicht viel beizutragen. Ich hatte nicht den   Frau. Denn ich bin eine weiße trans Frau, die zweit-
Eindruck mich maßgeblich von meiner Mutter              weise als hipster Dude gelesen wird. Zudem hab
oder anderen Frauen oder Mädchen zu unterschei-         ich immer fast alle Spielzeuge gehabt, die ich wollte
den, aber die Sache war klar: Ich bin ein Mann.         und bin ein Ideologiewarenkorb bürgerlicher Her-
What‘s a girl supposed to do? Und mit all meiner        kunft. Will ich Bürgerlichkeit mit Vergeschlechtli-
allemal mangelnden Gewissheit über mich selbst,         chung vergleichen? Von der bürgerlichen Ideologie
setzte ich den Weg unter dieser Prämisse fort. Die      habe ich irgendwann Abschied genommen, ohne
Bereiche wo ich Sozialisation am meisten wirksam        mich im Anschluss für nicht-bürgerlich zu halten.
sehe, ist da wo Geschlecht am Wichtigsten war: in       Ich bin auch halb-proletarisch. Identität im bür-
Romanzen und Intimbeziehungen, Annäherun-               gerlichen Sinne ist nach meinem Verständnis stets
gen und Sexualitäten und in Kontexten in denen          identitär, weil es von oben nach unten ausrichtet,
es um die Durchsetzung von Interessen ging: Auf         bestehende Privilegien instrumentalisiert, um mit
der Arbeit, aber auch in linken Gruppen. In der         mehr Abstand zu gewinnen. Es gibt die Normal-
Art, wie ich Sexualisierung und Objektivierung als      Ideologie-Identität und ein paar Wohlfahrtsange-
mysogyne Strategie erlernt hatte, kam ich mir sehr      bote für die Ausgeschlossenen. Es gibt aber keine
männlich vor und macht es einen Unterschied,            Gleichheit, weil sich das Gemeinwesen, zur Zeit
ob ich mich als Frau oder Mann oder nicht-binär         verwaltet durch den Staat, nicht auf formale Krite-
oder genderqueer lese, dies aber nicht thematisiere     rien sondern auf Passkontrollen ausrichtet. Binäre
und mich dem zuschreibenden Blick entsprechend          Geschlechtlichkeit ist Ideologie, und die Abkehr
benehme? Ja, es macht einen, aber ich kann ihn          von Ideologie bedeutet Schmerzen, wenn sie dein
noch nicht beschreiben.                                 Privileg aufrecht erhielt. Insofern war Männlich-
                                                        keit kein Privileg für mich.
Männer – Ein Begriff für alle?
                                                        Zuhören statt Zuschreiben
    Ich bin sehr froh, dass unter dem Titel „Täter –
Das Männermagazin“ nun ein Zine2 erscheint und              Daria Majewski schreibt in ,Töchter der Räu-
verschiedene Stimmen zum dem Thema zu Wort              berin‘: „Derzeit scheint es Aufgabe zu sein, aus den
kommen – ist das Feld doch weder theoretisch            Erfahrungsberichten von Individuen zu abstrahie-
noch praktisch auf einen Blick zu bringen. Zudem        ren, gemeinsame Erfahrungen in Theoremen zu
schmeckt der Versuch einen allgemeinen Hoheits-         formulieren, die in historische, gesellschaftliche und
anspruch über das Themenfeld zu entwickeln,             ökonomische Kontexte gesetzt werden können, und
nach männlicher Objektivierungssucht – eklige           sich so einer feministischen Theoriebildung anzunä-
Soße. Aber warum abgrenzen von Männlichkeit?            hern.“ 3

                                                                                                           13
Dies empfiehlt sich nicht nur aus Gründen in-     tegorien als Ideologie, Geschlecht als Traumbild,
tellektueller Redlichkeit oder gar fröhlicher Neu-     Geschlecht als erotischer Sinn – als Körpergrenze?
gier, sondern auch im Wissen um die Falschheit         Solange ihr die Abschaffung des Patriarchats im
der Verhältnisse. Der Versuch eine Ideologie mit       Auge behaltet, bin ich interessiert.
der anderen zu versöhnen – und innerhalb dieser
Verhältnisse sind alle Kategorien, die zu ihrer Ver-   Der patriarchale Anspruch auf das Objekt und
wirklichung keine revolutionäre Transformation         der radikale Anspruch auf dessen Ende
voraussetzen, Ideologie – ist kein ernstgemeinter
Prozess. Deswegen hab ich mich ja von der bürger-          Wenn ich nachschlage wie männliches Begeh-
lichen Diskurs-Demokratie entfernt, weil die ge-       ren funktioniert, steht da stets als Erstes: Männer
dankliche Auseinandersetzung damit gesundheits-        reagieren mehr auf optische Reize. In dieser Logik
schädlich und auch Zeitverschwendung ist. Die          wird dem Mann alles aus ,natürlichen‘ Gründen
Zwänge ernst zu nehmen und als solche ernsthaft        zum Gegenstand. Der entscheidende, patriarchale
zu analysieren unterschlägt die willkürliche, inter-   Moment ist aber nicht die Objektivierung, sondern
essensgeleitete Beliebigkeit unter der ideologische    das Anrecht auf Objektvierung und das Anrecht
Kategorien konstruiert werden. Aus Absurdem            auf das Objekt. Es geht also nicht nur um Unter-
folgt Absurdes – der staatlichen Bürokratie begeg-     werfung unter das Männerstarren, sondern um
ne ich mit Närrinnenkappe – ist das schon wieder       Entmenschlichung. So spielte sich sich für mich
ein Privileg? Es wäre halt irgendwie schön eine        männliches Begehren ab. Deswegen „Täter- das
Kampfformation zu haben ist die Welt doch schon        Männermagazin“. Das ist patriarchale Ideologie
so voller Ohnmacht. Aber alle Menschen mit trans       und nichts ,Natürliches‘. Aber wer macht denn
Erfahrungen zu revolutionären Subjekten zu er-         überhaupt Ideologiekritik? Wer hat denn die Auf-
klären, die die Geschlechterordnung zerschlagen        hebung der Verhältnisse im Blick? Ich rede doch
passt nicht auf die Erfahrungsberichte von trans       sonst auch nur im Rahmen von ,Verhandlungen‘
Personen.                                              mit Liberalen. Die reden ja auch über Kunst, über
                                                       Erfolg, über Arbeit, über Geschlecht. Diese Begrif-
Patriarchat zerschlagen!                               fe haben mit meinen aber nix zu tun. Ich bin wohl
                                                       zuvorderst einfach raus aus diesem Scheißhau-
     Geht es bei Männlichkeitskritik um Scheiß-        fen. Anti-alles, gegen Deutschland, gegen Bullen,
Verhalten, um toxische Maskulinität, um die per-       gegen Binarität, gegen Staat, Kapital und Nation,
manente Kritik oder Abschaffung von Männlich-          gegen „wie es mir erging, soll es auch dir ergehen“
keit oder ist das Problem im Begriff des ,autöritä-    - traditionalistische Rachefantasien, den autoritä-
ren Charakters‘ besser erfasst? Ist Cis-Männlich-      ren Charakter. Am Beispiel ,trans‘: Die rechtliche
keit eine Trauma-Reaktion, die intergenerational       Gleichstellung aller trans Personen ist das Ziel
weitergegeben wird? Reproduziert sich binäre           und dennoch werden sie dann gleichgestellt in
Männlichkeit im Befehle empfangen und Unter-           der bürgerlichen Gesellschaft. Aber das stört uns
ordnen – also auf der Arbeit? Ist Vermännlichung       Linksradikale ja auch sonst nicht, außer wir sind
patriarchale Identitätswerkstatt gegen die eigene      Verelendungstheoretiker:innen.
Sozialität? Wer kassiert Täterschaftsdividenden in
der Bruderhorde? Statt Antworten hier ein kleiner      Weiß, deutsch, queer...
anekdotischer Realitätsausschnitt: eine Freundin
sagte gestern über Hetero-Sex: „die Möglichkeiten          Ich bin wie gesagt neben meiner Existenz auch
sind sehr begrenzt“. Mich erinnerte das an Hiphop:     eine bürgerliche Identitätsplattform. Hier in D-
die Möglichkeiten sind sehr begrenzt. Erinnert das     Land wo Ausbeutungsbeziehungen aus der gan-
nicht an Cis-Männlichkeit?                             zen Welt zusammen laufen ist mein politischer
     Alle können männlich sein, aber es wird halt      Kampf ein Doppelter. Um die Befreiung von mir
von den Reaktionären an von außen Beobachtba-          selbst und die Befreiung aller aus den Verhältnis-
ren festgemacht, als welches Geschlecht sie sich       sen: Ein dialektischer Kampf, dialektische Arbeit,
und dich beschämen. Und wie beim Kapitalismus          dialektischer Prozess. Und die in Frage Stellung
auch, gibt es nur eine aristokratische Mikro-Elite     und Aufweichung der binären Geschlechterord-
von Geschlechtsgewinner:innen. Alles vergiftet,        nung unterbricht die Zurichtung deshalb, weil das
alles ein fauler Deal. Weiblichkeit als Alles, Männ-   System noch keine Antwort darauf hat. Worauf
lichkeit als Trauma, bürgerliche Geschlechtska-        denn? Dass es an manchen Stellen starrer Binari-

14
tät nicht mehr Bedarf, aber noch nicht genügend       gerecht werden. Erst jetzt lerne ich, dass ich auch
Ideologie zur Hand ist, um die ratlosen Subjekten     mir verpflichtet bin.
sicher davon abzuhalten aus allgemeiner Desillusi-
onierung und Ekel an der Einrichtung dieser Welt           Natürliche Männlichkeit bekämpfen, als kons-
Queer-Kommunist*innen zu werden.                      titutives Element patriarchaler Strukturen und als
     Es wird nicht ewig dauern. Wenn die reaktio-     faule Ausrede für allerlei Scheißverhalten
nären Kräfte diese Welt nicht wegtreten, dann wird
die liberale Front auch diese Lücken fachkundig            Solange ich mich als Mann zu verstehen hatte,
zuteeren und wir werden in der selben unfreien        konnte ich mein Scheiß-Verhalten ja erklären
Welt mit mehr Kategorien leben. Geschlechtskritik     weil ich ein Mann war. Jetzt hab ich keine Ausre-
ist ja auch deshalb so populär, weil sie für weiße    de mehr, wenn ich scheiße bin, bin ich Scheiße.
Personen als Emanzipationsperspektive in An-          Als Mann werde ich ab und an gelesen und auch
spruch genommen werden kann, nicht wie Aus-           jetzt könnte ich Täterin werden, eine ideologische
schlüsse über Klasse oder „Rasse“. Geschlecht lässt   Ausrede dafür hätte ich aber keine mehr parat, so
sich zwar nicht wegkonstruieren aber in bestimm-      denke ich, jetzt gerade.
ten Beziehungsformationen ist nicht-binäres leben
möglich. Aber vermischt dieser Gedanke nicht                                                 von Joscha Xenia Ende
queere Themen mit trans Themen?                                                    2021, jxen.de, xende@riseup.net

Ich bin nicht, auch nicht männlich                                         1
                                                                            https://www.freie-radios.net/105455

    Mein Innenleben strukturiere ich in gedankli-                              2
                                                                                Ihr könnt das Zine ab 4/2021 hier
chen Architekturen. Ich sortiere und verallgemei-                                    lesen: www.täter-magazin.de
nere mein Innenleben entlang der Zuschreibungen
um im Alltag durchzukommen. Ich kann also gar                         3
                                                                        Daria Majewski, Töchter der Räuberin – zur
nicht nicht-Mann sein, wenn andere dies von mir                       Gemeinsamkeit von cis und trans Weiblich-
erwarten und solange ich denke ich müsste dem                                  keit, in Feministisch Streiten, 2018

                                                                                                                15
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