Urbane Dörfer Wie digitales Arbeiten Städter aufs Land bringen kann - Neuland21

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Urbane Dörfer Wie digitales Arbeiten Städter aufs Land bringen kann - Neuland21
Urbane Dörfer
                  Wie digitales Arbeiten Städter aufs Land bringen kann

++ urbane Ideen für das Land +++ digitale Arbeitsmöglichkeiten als Umzugshelfer +++ Freiraum und Gestaltungsmöglichkeiten ziehen Bewohner an +++ alte Ge
 v gegen Versorgungslücken +++ Pioniere helfen Nachahmern +++ Breitband- und ÖPNV-Anschluss als Voraussetzung +++ Spagat zwischen Beruf, Familie und P
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Über das Berlin-Institut                                             Über neuland21

Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung ist ein          Neuland21 ist ein gemeinnütziger Think & Do Tank, der sich für
unabhängiger Thinktank, der sich mit Fragen regionaler und glo-      eine innovative Regionalentwicklung einsetzt, die den Heraus-
baler demografischer Veränderungen beschäftigt. Das Institut         forderungen und Chancen des 21. Jahrhunderts gerecht wird. Im
wurde 2000 als gemeinnützige Stiftung gegründet und hat die          Fokus unserer Arbeit stehen dabei die Potenziale der Digita-
Aufgabe, das Bewusstsein für den demografischen Wandel zu            lisierung, die im ländlichen Raum dazu beitragen kann, eine
schärfen, nachhaltige Entwicklung zu fördern, neue Ideen in die      moderne und hochwertige Daseinsvorsorge zu erhalten und die
Politik einzubringen und Konzepte zur Lösung demografischer          Lebensqualität der Menschen nachhaltig zu verbessern.
und entwicklungspolitischer Probleme zu erarbeiten. In seinen
Studien, Diskussions- und Hintergrundpapieren bereitet das Ber-      Dazu bündeln wir aktuelles Wissen zu digitalen und sozialen
lin-Institut wissenschaftliche Informationen für den politischen     Innovationen im ländlichen Raum, erforschen deren Wirksam-
Entscheidungsprozess auf. Weitere Informationen, wie auch die        keit, pilotieren vielversprechende Konzepte und helfen gute
Möglichkeit, den kostenlosen regelmäßigen Newsletter „Demos“         Praxisbeispiele zu verbreiten. Unsere Studien richten sich an die
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Unterstützen Sie die unabhängige Arbeit des Berlin-Instituts         staltungen informieren wir regelmäßig über neue Technologien
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Urbane Dörfer
Wie digitales Arbeiten Städter aufs Land bringen kann

                                                        Berlin-Institut   1
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Impressum                                                                      Die Autoren:
Originalausgabe
August 2019                                                                    Berlin-Institut:
                                                                               Susanne Dähner, 1976, Diplom in Geographie an der Humboldt-Universität zu
© Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung und Neuland21 e.V.           Berlin. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berlin-Institut für Bevölkerung und
                                                                               Entwicklung.
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Sämtliche, auch auszugsweise Verwertung bleibt vorbehalten.                    Lena Reibstein, 1992, Master of Science in Economic Growth, Population and
                                                                               Development an der Universität Lund. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berlin-
Herausgegeben vom                                                              Institut für Bevölkerung und Entwicklung.
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
Schillerstraße 59                                                              Manuel Slupina, 1979, Diplom in Volkswirtschaftslehre an der Universität zu
10627 Berlin                                                                   Köln. Ressortleiter Demografie Deutschland am Berlin-Institut für Bevölkerung
Telefon: (030) 22 32 48 45                                                     und Entwicklung.
Telefax: (030) 22 32 48 46
E-Mail: info@berlin-institut.org                                               Dr. Reiner Klingholz, 1953, Promotion im Fachbereich Chemie an der Universität
www.berlin-institut.org                                                        Hamburg, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung.

und
                                                                               Neuland21:
Neuland21 e.V.                                                                 Silvia Hennig, 1986, Master in Public Policy an der Harvard University.
c/o Gemeinnützige Hertie Stiftung                                              Gründerin und Geschäftsführerin des Think Tanks Neuland21.
Friedrichstraße 183
10117 Berlin                                                                   Gabriele Gruchmann, 1988, Master of Science in Regionalentwicklung und
Telefon: 0176-78770983                                                         Naturschutz an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde.
E-Mail: hallo@neuland21.de                                                     Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Think Tanks Neuland21.
www.neuland21.de

Das Berlin-Institut (@berlin_institut) und Neuland21 (@neuland21) finden Sie
auch bei Facebook und Twitter.

Lektorat: Sabine Sütterlin

Design: Jörg Scholz (www.traktorimnetz.de)
Layout und Grafiken: Christina Ohmann (www.christinaohmann.de)
Druck: Laserline Berlin

Der überwiegende Teil der thematischen Landkarten wurde auf Grundlage des
Programms EasyMap der Lutum+Tappert DV-Beratung GmbH, Bonn, erstellt.

ISBN: 978-3-946332-50-3

Die Studie wurde gefördert durch den Beauftragten der Bundesregierung für
die neuen Bundesländer beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie.

Das Berlin-Institut und Neuland21 danken allen Interviewpartnern und der
Stiftung trias für die Unterstützung bei der Erstellung dieser Studie.

2     Urbane Dörfer
Urbane Dörfer Wie digitales Arbeiten Städter aufs Land bringen kann - Neuland21
INHALT
Landlust 4.0..............................................................................................................................................4

Das Wichtigste in Kürze...........................................................................................................................6

1 | Neue Hoffnung für das Dorf?.............................................................................................................8

Die Projekte im Überblick.....................................................................................................................16

2 | Ländliches Wohnen & Arbeiten in Gemeinschaft.........................................................................18

         2.1 | Neue Wohnformen................................................................................................................18

         2.2 | Mit der Arbeit aufs Land......................................................................................................24

         2.3 | Schritt für Schritt zum Projekt...........................................................................................31

         2.4 | Ankommen im Dorf: die Projekte und ihr Umfeld...........................................................42

Fazit und Ausblick..................................................................................................................................52

Was tun?................................................................................................................................................. 54

Methodik..................................................................................................................................................57

Glossar.....................................................................................................................................................58

Quellen.....................................................................................................................................................59

                                                                                                                                                                 Berlin-Institut   3
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LANDLUST 4.0
Es ist fünf bis sechs Jahre her, dass Philipp     Raus aus der Stadt                               Nachahmer gesucht
Hentschel sich erstmals mit dem Gedanken
beschäftigt hat, die Hauptstadt zu verlassen.     Die Neu-Prädikower wollen hier gemein-           Aber verbirgt sich hinter dem Umzug von
Raus aus dem angesagten Berlin-Friedrichs-        schaftlich leben und möglichst auch ihr Geld     ein paar urbanen Kreativen in den lange
hain mit seinem urbanen Flair, den vielen         verdienen. Einige werden vorerst zumindest       schrumpfenden ländlichen Raum schon die
Kneipen und Kulturangeboten. Dabei ist der        tageweise nach Berlin zur Arbeit pendeln,        Rettung für denselben? Immerhin verlieren
35-Jährige das typische Produkt einer neuen       aber das Ziel der meisten ist es, den Lebens-    – gerade im Osten Deutschlands – die Regi-
Arbeitswelt, die es bisher fast nur in Städten    mittelpunkt in das Brandenburger Dorf zu         onen fernab der größeren Städte massiv an
gibt. Er arbeitet als Projektmanager für Digi-    verlegen. Hier wollen sie mit Computer und       Einwohnern. Mancherorts sind die Verluste
talprojekte, also als eine Person, die Projekte   Internetanschluss gemeinsame Arbeitsräume        so groß und die Restbevölkerung ist so stark
organisiert und betreut und sich dabei im         beziehen (die in diesem Umfeld natürlich         gealtert, dass kaum noch Hoffnung für die
Wesentlichen auf das Internet als Arbeitsmit-     Coworking Spaces heißen) neue Geschäfts-         Dörfer besteht. Erste Wirtschaftswissen-
tel stützt. Aber Hentschel stammt ursprüng-       modelle entwickeln und Seminarräume              schaftler fordern gar, diese Gebiete von der
lich aus dem ländlichen Raum in Branden-          einrichten. Aber sie wollen auch klassischen     Förderung abzukoppeln, die Bewohner beim
burg, im erweiterten Speckgürtel Berlins,         Jobs nachgehen, etwa ein Café und eine           Wegzug zu unterstützen und das Geld lieber
gerade noch mit der S-Bahn erreichbar. Und        Kneipe aufmachen, eine Tischlerei eröffnen,      dort zu investieren, wo eine positive ökono-
dorthin will er nun zurück – genau gesagt auf     vielleicht sogar eine kleine Kita aufmachen.     mische Entwicklung zu erwarten ist – also im
den Gutshof Prädikow. Mit ihm werden nicht        Gute Internetverbindung ist verfügbar – eine     Wesentlichen in den Städten.
nur die Partnerin und die beiden kleinen          Grundvoraussetzung für Stadtflüchtige, die
Kinder gehen, sondern vermutlich 45 bis 60        den ländlichen Raum neu entdecken. Die           Sicher ist, dass die angeschlagenen länd-
Erwachsene mit Kind und Kegel.                    künftigen Prädikower haben eine Genossen-        lichen Regionen nicht nur neue Menschen
                                                  schaft gegründet und alle eine ordentliche       brauchen, sondern auch neue Ideen und
Platz genug werden sie finden, denn Prä-          Summe einbezahlt. Die ersten werden in den       moderne Infrastrukturen, gerade um für
dikow ist einer der größten Vierseithöfe in       kommenden Monaten in frisch renovierte           junge Leute etwas zu bieten. Auch wenn es
Brandenburg. Neun Hektar Land gehören             Wohnungen einziehen.                             absurd klingt: Diese Orte bräuchten etwas
dazu, auf denen sich nicht nur die Kinder                                                          von der vielgescholtenen Gentrifizierung, die
austoben können. Bis zur Wende war das            Am Anfang waren es zwölf Mitstreiter, die        in den Städten als Ungemach gilt. Denn nur,
Ganze ein Volkseigener Betrieb mit Bäckerei,      sich in Berlin getroffen haben, um das Projekt   wenn sie attraktiver werden, wenn Zuzügler
Brennerei, Sägewerk, Schmiede, Tierställen        zu planen. Durch Mund-zu-Mund-Propaganda         von außen für neues Leben sorgen, wenn die
und Wohnhäusern. Über hundert Menschen            und einen Newsletter wurden es immer mehr,       Orte eine Aufwertung erfahren, dann können
haben einst hier gearbeitet. Danach kamen         auf einem ersten Hoffest 2017 kamen weitere      sich auch die lange brachliegenden Bauten
Schließung, Leerstand und Verfall. Deshalb        Interessenten mit dem Projekt in Kontakt.        wieder füllen.
ist Prädikow bislang eine Baustelle im Wer-       Wenn es Schule macht, glaubt Hentschel,
den, ein Projekt von „Backsteinromantikern“,      könnte es sich zu einem weiteren Pionier für
die das Leben auf dem Land mit viel Engage-       Smart Villages entwickeln, für Orte jenseits
ment und Tatkraft neu erfinden wollen. „Das       der urbanen Zentren, in denen sich Digi-
ist ein Lebensprojekt für die nächsten 10 bis     talarbeiter ansiedeln, wo sie arbeiten und
15 Jahre“, sagt Hentschel, „mit allen Höhen       gründen und neue Arbeitsplätze schaffen.
und Tiefen, die es bei der Umsetzung gibt“.       „Der Hof birgt das Beste aus beiden Welten,
                                                  aus dem urbanen Leben und dem Leben auf
                                                  dem Dorf, mit Platz und Freiraum für die Kin-
                                                  der, wo sie früh ihre Selbständigkeit erlernen
                                                  können“, sagt Hentschel.

4   Urbane Dörfer
Dass sich etwas tut im ländlichen Raum, vor       den richtigen Rahmenbedingungen kann die        Die Politik, die ein neues Interesse an einem
allem im weiten Umfeld der Hauptstadt, zeigt      Politik dazu beitragen, dass den Vorreitern     Ausgleich zwischen Stadt und Land gefunden
schon ein Blick auf die Website „Kreativorte      möglichst viele Landlustige folgen. Einige      hat, wäre gut beraten, die Motive, Bedürfnisse
Brandenburg“. Sie listet auf, wo sich die         Dörfer könnten dann statt der befürchteten      und Fähigkeiten der neuen Landbewohner
kreative Szene mit innovativen Wohn- und          Abwärtsspirale das genaue Gegenteil erfah-      besser kennenzulernen – um dann gezielte
Arbeitsprojekten niedergelassen hat und wo        ren. Die Kreativen aus den Städten würden       Unterstützung für derartige Projekte zu
bald schon mehr entsteht. Das Gleiche tut die     dabei helfen, das Land neu zu erfinden. Denn    leisten. Denn der vom Bevölkerungsschwund
Website „zukunftsorte.org“, die alle Interes-     sie schaffen digitale Inseln, die für mehr      gezeichnete ländliche Raum lässt sich
sierten mit den Fragen lockt: „Wie baue ich       Menschen attraktiv werden und einen Weg         nicht planwirtschaftlich wiederbesiedeln.
einen zukunftsfähigen Ort zum Wohnen und          zum Dorf der Zukunft weisen.                    Funktionieren kann seine Wiedergeburt als
Arbeiten auf dem Land auf? Wie finde ich die                                                      Dorf 4.0 nur, wenn sich Menschen finden, die
richtigen Akteure und Mitstreiter? Wie binde      Die Dörfer werden kaum jemals mit ihren An-     dort etwas bewegen. Sie sind das wichtigste
ich Ort und Region ein?“                          geboten zu den Zentren und ihren vielfältigen   Kapital des neuen ländlichen Raums.
                                                  beruflichen und kulturellen Möglichkeiten
Noch sind es digitale Inseln                      aufschließen. Dörfer sollten nicht versuchen
                                                  die Städte zu kopieren, sondern auf Basis       Berlin, im August 2019
Die auf den Websites versammelten Projekte        ihrer Vorteile gegenüber der Stadt – mehr
zeigen: Hentschel ist kein Einzeltäter, son-      Platz und mehr Freiräume etwa – ein eigenes     Reiner Klingholz
dern es gibt längst Mitstreiter und Nach-         Profil entwickeln. Die neuen Stadt-Land-        Direktor Berlin-Institut für Bevölkerung und
ahmer. Noch sind es nicht genug, um dem           Wanderer mit Ideen und Projekten sowie          Entwicklung
ländlichen Raum flächendeckend aus der            der Möglichkeit mobil und digital zu arbeiten
Misere zu helfen. Dies sollte jedoch nicht ent-   sind die lebenden Beispiele dafür, dass dies    Silvia Hennig,
mutigen. Denn neue Bewegungen starten nun         funktionieren kann.                             Gründerin und Geschäftsführerin Neuland21
einmal klein in Nischen, um dann im Idealfall
zu etwas Größerem heranzuwachsen. Mit

                                                                                                                               Berlin-Institut   5
DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE
Trendwende am Horizont?                           Beengte Städte sorgen                            Space, in dem sich Freiberufler und Selbstän-
                                                  für neue Landlust                                dige temporär Schreibtische mieten können.
Bislang zeigt sich in vielen entlegenen
Landstrichen Ostdeutschlands das gleiche          Ein großer Teil der neuen Wohn- und
Bild: Dörfer und Kleinstädte erleben einen        Arbeitsprojekte hat sich im näheren und          Digitale Arbeit als Umzugshelfer
schleichenden Bevölkerungsschwund und die         weiteren brandenburgischen Umland von
Bevölkerung altert stark. Dem Sog in die Groß-    Berlin angesiedelt. Das rasante Wachstum der     Viele der neuen Landbewohner arbeiten in
städte, dem vor allem die jungen Menschen         Hauptstadt hat dafür gesorgt, dass derartige     Wissens- und Kreativberufen – von den klas-
folgen, scheinen sie bislang kaum etwas           Wohnprojekte gerade jetzt auf dem Land           sischen Digitalarbeitern wie Programmierern
entgegensetzen zu können. Mit dem wachsen-        entstehen. Berlin ist in den letzten Jahren      und Grafikdesignern über Architekten und
den Bildungsstand könnte sich dieser Trend        voller, beengter und deutlich teurer gewor-      Journalisten, bis hin zu Sozialwissenschaft-
künftig noch verschärfen, denn Universitäten      den. Vor allem der Platz und die Freiräume       lern oder Kulturmanagern. Sie bringen eine
gibt es auf dem Land kaum und Akademiker          auf dem Land locken die Berliner ins ländliche   wichtige Voraussetzung für das Landleben
finden bislang vor allem in den Städten Arbeit.   Brandenburg. In ostdeutschen Regionen, in        mit: Sie können einen Großteil ihrer Arbeit
Einige Landkreise im südlichen Brandenburg,       denen die Städte selbst noch ausreichend         von überall her erledigen – also auch am
in Sachsen-Anhalt oder in Thüringen, die          Platz bieten, sind gemeinschaftliche Wohn-       heimischen Computer auf dem Land. Neben
schon in der Vergangenheit starke demogra-        projekte von kreativen und digital affinen       jenen, die örtlich flexibel arbeiten können,
fische Verluste verbuchen mussten, dürften        Menschen auf dem Land hingegen noch              sind unter den Projektteilnehmern aber
bis 2035 noch einmal rund ein Viertel ihrer       selten. In Sachsen-Anhalt und Sachsen finden     auch solche mit ortsgebundenen Berufen,
heutigen Bewohner einbüßen.                       sich bislang nur wenige, in Mecklenburg-         wie Lehrer und Sozialpädagogen, Ärzte oder
                                                  Vorpommern und Thüringen so gut wie keine        Handwerker. Die Möglichkeiten, den neuen
Doch es tut sich etwas: Das Landleben rückt       der neuartigen Initiativen.                      Wohnsitz auf dem Land mit dem eigenen
neuerdings in den Fokus eines urban gepräg-                                                        Arbeitsleben zu vereinbaren, lassen sich in
ten Milieus. Man trifft sich auf der Digital-                                                      vier Kategorien aufteilen:
Konferenz re:publica in Berlin und diskutiert,    Frisches Leben in alten Gemäuern
wie sich neue, flexible Formen digitalen Ar-                                                         Personen, die digital arbeiten können,
beitens mit dem Landleben verbinden lassen.       Die Wohn- und Arbeitsprojekte zieht es           nutzen diese Chance und arbeiten ganz
Auf sogenannten Meetups planen Stadtmüde,         meist nicht in Neubauten am Stadt- oder          oder teilweise von zuhause aus. Dies sind
wie sie ihren Traum vom gemeinschaftlichen        Dorfrand. Die Umzugswilligen interessieren       einerseits Angestellte, die mit ihren Arbeitge-
Wohnen und Arbeiten auf dem Land in die Tat       sich eher für alte und baufällige Gebäude in     bern Homeoffice- und Teilzeitvereinbarungen
umsetzen können.                                  den Ortskernen. Sie verwirklichen ihre Ideen     treffen und andererseits Freiberufler und
                                                  in alten Fabriken und Mühlen, Krankenhäu-        Selbständige wie Mediengestalter, Architek-
                                                  sern und Berufsschulen, Klosteranlagen und       ten oder Journalisten, die ihre Arbeit einfach
Digitale Pioniere                                 Landgütern bis hin zum ehemaligen Dorfkon-       mit raus aufs Land nehmen.
                                                  sum und Plattenbauten der LPG. Sie bringen
Einige von ihnen sind schon mittendrin: Sie       damit frisches Leben in sonst kaum vermit-         Wer in einem Beruf arbeitet, der auch im
entwickeln und erproben in Dörfern und            telbare Immobilien und in den Ort. Auch für      ländlichen Raum gefragt ist, kann sich vor Ort
Kleinstädten gemeinschaftliche Wohnformen         Gemeinden kann das ein Gewinn sein. Denn         eine neue Stelle suchen. Gelungen ist dies
und innovative Arbeitsmodelle. Sie könnten        sie müssen alte, baufällige Gebäude oft auf      vor allem Lehrern und Sozialpädagogen, aber
Pioniere einer neuen Bewegung sein, die mit       eigene Rechnung abreißen lassen. Für die         auch Erziehern und Pflegekräften.
digitalen Ideen das Leben auf dem Land neu        Landlustigen sind diese Immobilien hingegen
erfindet. Diese Studie hat 18 solcher Projekte    ideal, denn sie bieten viel Platz, nicht nur       Wem diese Möglichkeit nicht offen steht,
untersucht. Darunter waren einige, die noch       zum Wohnen, sondern auch um weitere Ideen        pendelt regelmäßig zur Arbeit in die Stadt.
am Anfang stehen, aber auch solche, die be-       umzusetzen – vom Café über eine eigene           Doch im Unterschied zu vielen klassischen
reits im dörflichen Alltag angekommen sind.       Kita, von Werkstätten bis hin zum Coworking      Umlandwanderern, bei denen Pendeln als

6   Urbane Dörfer
notwendiges Übel zum Alltag gehört, möch-       Mit kreativen Ideen aufs Land                    Periphere Speckwürfel als Chance
ten viele der neuen Landbewohner lieber
früher als später auf die tägliche Fahrerei     Die ländlichen Gemeinschaftsprojekte wer-        Ob das gewachsene Interesse von urban
verzichten.                                     den selten als reine Wohnprojekte geplant,       geprägten, digital arbeitenden Menschen ein
                                                denn die neuen Landbewohner bringen aus          Zeichen für eine neue Bewegung „raus aufs
  Einige der neuen Landbewohner gehen           den Städten bestimmte Ansprüche an ihr           Land“ ist, lässt sich mit der vorliegenden
mit ihrem Umzug raus aus der Stadt auch         neues Wohnumfeld mit. Zwar erwartet nie-         Studie nicht abschließend beantworten. Zu
beruflich neue Wege. Handwerker oder            mand auf dem Land die gleichen vielfältigen      frisch ist das Phänomen und viele Projekte
Heilpraktiker beispielsweise erfüllen sich im   Angebote wie in dicht besiedelten Ballungs-      stehen noch am Anfang. Ob sie in einigen Jah-
Gemeinschaftsprojekt den Traum von der          räumen. Mit einer lückenhaften Versorgung        ren noch bestehen, weiteren Zuzug erfahren
eigenen Werkstatt oder Praxis. Kreativ- und     wollen sich viele aber auch nicht abfinden.      oder Nachahmer an anderen Orten finden,
Wissensarbeiter wie Projektmanager oder         Sie suchen nach Möglichkeiten, wie man           muss sich erst noch zeigen.
Kommunikationsberater wechseln in eine          auch ohne Auto auf dem Dorf mobil bleiben
freiberufliche Tätigkeit. Einige machen sich    kann, vom Carsharing bis zur Mitfahr-App. Sie    Auch wenn die neue Landbewegung den
mit einer neuen Geschäftsidee selbständig       denken über Hofläden zur Verbesserung der        entlegenen Regionen gewiss nicht flächen-
und gründen, oft im Kontext des Projekts, ein   Nahversorgung mit regionalen Lebensmit-          deckend aus der Misere helfen wird, kann sie
eigenes Unternehmen.                            teln nach oder betreiben ein Café, eröffnen      für einzelne Dörfer eine große Chance sein.
                                                Galerien und organisieren Kulturfestivals.       Schon jetzt zeigt sich, dass auch Orte, die in
                                                Andere planen, zusammen mit der Dorfbevöl-       einer generell schrumpfenden Region liegen,
Schreibtisch und Büro                           kerung, die alte Scheune als gemeinschaft-       demografisch stabil bleiben oder sogar wach-
mit anderen teilen                              lichen Treffpunkt und Veranstaltungsort          sen können, wenn sie es schaffen die neue
                                                wiederzubeleben. Die neuen Landbewohner          Klientel für sich zu begeistern. Bei der Suche
Um ihre Arbeit nicht allein am heimischen       verbessern mit ihrem Einsatz die Lebens-         nach einem Grund für die Stabilität stößt
Schreibtisch erledigen zu müssen, bringen       bedingungen vor Ort – im Idealfall für alle      man vor Ort immer wieder auf Menschen,
die ländlichen Digitalarbeiter ein Raumkon-     Dorfbewohner.                                    die mit ihrem Tatendrang und Ideenreichtum
zept aus den Städten mit: Coworking Spaces.                                                      ein Wir-Gefühl erzeugen und anderen zeigen,
In Städten sind diese offen gestalteten Ar-                                                      dass es sich auf dem Land zwar anders als in
beitsorte weit verbreitet, auf dem Land sucht   Fehlender Anschluss an die Zukunft               der Stadt, auf alle Fälle aber gut oder sogar
man sie bislang meist vergebens. Dies ändert                                                     besser leben lässt.
sich nun, denn in den meisten Wohnprojek-       Ohne eine schnelle Internetverbindung wer-
ten gehört ein gemeinsamer Arbeitsraum          den sich allerdings kaum neue Bewohner aufs      Deshalb können Orte, in denen die Menschen
zum Konzept. Er erleichtert den Austausch,      Land wagen. Denn ein leistungsfähiges Netz       den Chancen der Digitalisierung offen gegen-
eröffnet den Kontakt mit anderen Kreativar-     ist für sie eine Grundvoraussetzung, damit sie   überstehen, von den neuen Formen ländli-
beitern und spart Geld.                         auf dem Land leben, arbeiten oder ein Gewer-     chen Wohnens und Arbeitens profitieren und
                                                be eröffnen können. Auch Coworking Spaces,       sich im besten Fall eine günstigere demogra-
Einige dieser Coworking Spaces stehen nicht     Seminar- und Gästehäuser lassen sich nur         fische Zukunft erschließen. Sie können sich
nur den Projektbewohnern zur Verfügung,         mit einem breitbandigen Internetzugang           damit von der allgemeinen demografischen
sondern auch Selbständigen aus der Region       betreiben. Trotz aller Absichtserklärungen       Entwicklung vieler entlegener, ländlicher
oder Gästen von weiter her. Angeschlosse-       der Politik, dass spätestens 2018 selbst im      Region abheben und zu Speckwürfeln in
ne Unterkünfte ermöglichen es in einigen        letzten Winkel Deutschlands die Menschen         der Peripherie werden. Die Politik, die ein
Projekten gestressten Stadtbewohnern,           mit Geschwindigkeiten von 50 Megabit pro         wachsendes Interesse an einem Ausgleich
sich während längerer Aufenthalte in einer      Sekunde im Internet unterwegs sein können,       zwischen Stadt und Land gefunden hat, sollte
ruhigen Umgebung auf die Arbeit zu kon-         offenbart ein Blick in den Breitbandatlas wei-   sich mit den Bedürfnissen, Motiven und
zentrieren. Dies lockt nicht nur Besucher in    terhin große Lücken – vor allem in entlegenen    Fähigkeiten der neuen Landbewohner ausei-
den Ort, sondern ist auch eine zusätzliche      und dünn besiedelten Regionen. Wo ein            nandersetzen und den richtigen Rahmen für
Einnahmenquelle der Projekte, um weitere        leistungsfähiges Kabel unter der Erde weiter-    ihre Vorhaben schaffen, damit den heutigen
Renovierungs- und Ausbauarbeiten zu finan-      hin nicht verfügbar ist, werden die Dörfer im    Pionieren möglichst viele Nachahmer folgen.
zieren und zu beschleunigen.                    Wettbewerb um Einwohner mit den Städten
                                                chancenlos bleiben.

                                                                                                                              Berlin-Institut   7
1                   NEUE HOFFNUNG
                    FÜR DAS DORF?
Viele ländliche Regionen sind demografisch       Formen gemeinschaftlichen Wohnens und           wird, wie einst der berühmte Autobahnan-
angeschlagen. Dem Sog in die Großstädte          Arbeitens entwickelt – samt Coworking           schluss, allein nicht reichen, um eine Region
scheinen vor allem abgelegene Gemeinden          Spaces, Workation- oder Retreat-Angeboten       zu wirtschaftlicher Blüte zu führen. Entschei-
kaum etwas entgegensetzen zu können.             ( Glossar S. 58). Sie könnten Pioniere einer    dend ist, wie die neuen technologischen
Besonders junge Menschen verlassen ihre          neuen Bewegung sein, die mit digitalen und      Möglichkeiten vor Ort genutzt werden.3
Heimatdörfer in Scharen und drängen in           urbanen Ideen das Leben auf dem Land neu
die Zentren. Dort finden sie Hochschulen,        erfindet.                                       Bislang entstehen die sozialversicherungs-
Arbeitsplätze und Kulturangebote. Mit dem                                                        pflichten Jobs von morgen vor allem in den
steigenden Bildungsstand dürfte sich dieser      Die fortschreitende Digitalisierung ist dabei   Großstädten. Unternehmen wie Banken,
Trend weiter verschärfen. Besonders deutlich     ein gewichtiges Argument: Sie soll einen        IT-Dienstleister oder Unternehmensberater,
zeigt sich im Osten der Republik, dass Bal-      wesentlichen Wettbewerbsnachteil entle-         aber auch die Entwicklungsabteilungen,
lungszentren und Peripherie auf unterschied-     gener Landstriche gegenüber den Städten         Forschungszentren und Zentralen großer
lichen demografischen Pfaden unterwegs           wettmachen. Der Mangel an Jobs ist ein          Konzerne haben ihren Sitz meist in den urba-
sind. Hier ragen die wenigen Großstädte samt     häufig genannter Grund dafür, dass sich bis-    nen Zentren. Hinzu kommt, dass sich kreative
Umland wie Wachstumsinseln aus einem             lang nur wenige für ein Leben auf dem Land      Gründer und Selbständige in den städtischen
Meer des Schrumpfens heraus.                     entscheiden. Im digitalen Zeitalter könnte      Regionen sammeln. Fast 16 Prozent aller
                                                 dieses Argument jedoch an Bedeutung             neuen Startups in Deutschland entfielen
Doch es tut sich etwas: „Raus aufs Land!“        verlieren. Denn künftig müssen die Menschen     2018 auf Berlin, weitere 11 Prozent auf die
titelte schon 2017 frech das Magazin             nicht mehr unbedingt dort wohnen, wo sie        Metropolregion Rhein-Ruhr. Auch Hamburg,
„Quarterly“, mit dem sich die altehrwürdige      arbeiten. Sie können auch in entlegenen         München und die Region Stuttgart/Karlsruhe
Frankfurter Allgemeine Zeitung an kreative       Regionen für einen Arbeitgeber in der Ferne     schnitten mit einem Anteil von jeweils 6
Vordenker richtet: „Die Städte werden immer      tätig sein oder auf dem Land neue digitale      bis 7 Prozent gut ab. In den ostdeutschen
öder. Freiheit, Fortschritt und Lebenslust       Geschäftsmodelle entwickeln. Immer mehr         Flächenbundesländern Thüringen, Sachsen-
finden wir nur noch auf den Dörfern.“1           Tätigkeiten lassen sich ortsunabhängig und      Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und
Auf der alljährlich stattfindenden Digital-      flexibel ausüben, auf dem heimischen Sofa       Brandenburg gab es dagegen nur wenige
Konferenz re:publica in Berlin drehten sich im   oder in gemeinschaftlich genutzten Büros.       Neugründungen. Lediglich Sachsen schneidet
Mai 2019 mehrere gut besuchte Workshops          Ein stabiler und schneller Internetanschluss    im Osten vergleichsweise gut ab, aber auch
darum, dass sich neue, flexible Formen           ist dafür eine Voraussetzung. Doch es braucht   dort konzentrieren sich die neuen Unterneh-
digitaler Arbeit bestens mit dem Leben auf       mehr, damit die Digitalisierung die erhofften   men im Wesentlichen in den erfolgreichen
dem Land verbinden lassen.2 Offensichtlich       Impulse fürs Land bringt.                       Großstädten Dresden und Leipzig.4
rückt der ländliche Raum auf einmal in den
Fokus eines bislang sehr urban geprägten                                                         Es sind vor allem kreative und gut ausgebil-
Milieus. Stadtbewohner treffen sich bei          Kabel allein genügt nicht                       dete Köpfe, die neue Produkte und Geschäfts-
sogenannten Meetups ( Glossar S. 58) und                                                         modelle entwickeln. Zusammen mit Unter-
diskutieren darüber, wie sie ihren Traum vom     Dass künftig auch Bewohner entlegener Re-       nehmen und Forschungseinrichtungen bilden
Leben auf dem Land in neuartigen Projekten       gionen einen schnellen Zugang zum Internet      sie ein innovatives Ökosystem und treiben die
verwirklichen können. Und einige ehemalige       erhalten, ist längst überfällig ( S. 25). Der   digitale Entwicklung voran. Dass gerade die
Großstädter sind schon einen Schritt weiter:     Anschluss an die digitale Autobahn sollte       Großstädte hier gut aufgestellt sind, liegt da-
In einst leerstehenden Resthöfen, aufgege-       heute so selbstverständlich sein wie der        ran, dass sie viele Menschen anziehen – vor
benen Berufsschulen oder unbewohnten             Anschluss ans Wasser- oder Stromnetz. Doch      allem die jungen, welche die dafür notwendi-
Plattenbauten früherer LPGs haben sie neue       ein leistungsstarkes Kabel unter der Erde       gen Qualifikationen mitbringen.5

8   Urbane Dörfer
Wunsch und Wirklichkeit                           lange bei den gleichen Supermarktketten ein       Denn es fehlt heute an potenziellen Familien-
                                                  wie die Großstädter.12 Und auch das Hand-         gründern, weil erstens die Geburtenziffern
Gegen diese Anziehungskraft kommen peri-          werk ist aus den meisten Orten verschwun-         Ost in den 1990er Jahren auf ein historisches
phere Regionen selbst dann nur schwer an,         den – vom Schmied über den Müller bis zum         Tief gefallen waren und zweitens seit der
wenn sie an die Datenautobahn angeschlos-         Schlachter.                                       Wende rund 1,8 Millionen Menschen aus
sen sind. Allerdings: Ginge es allein nach Um-                                                      dem Osten dem Ruf „Go West“ gefolgt sind.15
fragen, wären Abwanderung und rückläufige         Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb          Diese demografische Lücke lässt sich im
Bevölkerungszahlen in ländlichen Regionen         – haben Magazine die Sehnsucht nach dem           Nachhinein nicht mehr schließen.
weitgehend unbekannt: Demnach möchten             „unverfälschten“ Land aufgegriffen. Deren
44 Prozent der Deutschen auf dem Land             Auflagen sind in den letzten Jahren stark         Dennoch finden sich auch im Osten immer
leben, nur 16 Prozent in einer Großstadt.6        gestiegen.13 Ein weiterer Trend spiegelt die      wieder kleinere Gemeinden und Dörfer, die
Die Sehnsucht nach der ländlichen Idylle ist      Lust auf Naturnähe und Ursprünglichkeit           unbeeindruckt von der allgemeinen Entwick-
ungebrochen. Vor allem Städter träumen vom        wider: Städter holen sich einen Teil des          lung einen anderen demografischen Pfad ein-
Landleben und hoffen dort das vorzufinden,        ländlichen Idylls in ihr urbanes Umfeld:          schlagen. Ihre Bevölkerungszahlen bleiben
was sie in ihrem urbanen Umfeld vermissen.        Urban Gardening, Bienen- und Hühnerzucht          stabil oder wachsen sogar. Meist sind es Orte,
Dazu zählen etwa Naturnähe, Ruhe und              in Hinterhöfen oder auf den Dächern großer        in denen tatkräftige Bürger, Unternehmer
eine funktionierende Gemeinschaft.7 Aber          Häuserblocks. Sie bringen damit ein Stück         oder Bürgermeister mit neuen Ideen für ein
auch Abgeschiedenheit, Ursprünglichkeit,          Land in die Stadt.14                              attraktives Umfeld sorgen und so Zuzügler
Authentizität und handwerkliche Produktion                                                          anziehen.16
gehören in der Vorstellung vieler Städter         Ein Blick in die Wanderungsstatistik der letz-
dazu.8 Das Land wird so zu einem Ort des          ten Jahre belegt, dass von der neuen „Land-       Künftig könnte es den aktiven Dörfern leich-
„besseren“ Lebens verklärt, wo die Bewohner       lust“ noch nicht viel zu sehen ist. Zwar drängt   ter fallen, Stadtbewohner für sich zu gewin-
Traditionen bewahren und mit der Natur im         es die Menschen auf der Suche nach einem          nen. Denn anders als in den 1990er Jahren, in
Einklang leben.9 Wieviel dieser Sehnsuchts-       Haus im Grünen und angesichts steigender          denen viele junge Menschen aus dem Osten
ort mit dem echten Dorfleben gemein hat,          Mieten in den Zentren in die Speckgürtel          noch in die westlichen Bundesländer zogen
bleibt hingegen offen.                            der Großstädte. Doch damit künftig von der        um dort ihr Glück zu suchen und damit meist
                                                  Sehnsucht nach dem Landleben nicht nur die        für ihre alte Heimat verloren waren, sind seit
Städter neigen seit jeher dazu, das Landleben     Umlandgemeinden profitieren, sondern mög-         2011 eher die großen ostdeutschen Städte
zu idealisieren. Schon in der Antike schrieben    lichst auch viele, kleine „Speckwürfel“ in der    das Ziel der jungen Bildungswanderer. Mit
urbane Gesellschaften dem Land Eigenschaf-        Peripherie entstehen, müssen sich die Dörfer      Anfang 30, wenn mit der Familiengründung
ten zu, die sie an der Stadt vermissten. Und      neu erfinden und modernisieren. Sie müssen        das Land als Wohnort wieder attraktiver
schon damals waren es vor allem Städter, die      auch für Menschen jenseits der klassischen        wird, könnten sich einige von ihnen wieder
das Land als Projektionsfläche nutzten und        Familienwanderer mit Eigenheimwunsch im           an den Ort ihrer eigenen Kindheit erinnern.
als Gegenentwurf zum städtischen Leben            Neubaugebiet attraktiv werden.                    Für ländliche Gemeinden ergibt sich damit
mit seiner Anonymität, Enge und Hektik                                                              die Chance, die einst abgewanderten jungen
stilisierten.10 Geblieben ist, dass heute wie                                                       Menschen wieder zurück in die vertraute
früher die ländliche Idylle eher in den Köpfen    Mögliche Trendwende                               Heimat zu locken.17
gestresster Städter zu finden ist als im dörf-
lichen Alltag. Zumal viele dieser idealisierten   Es sind vor allem die Familienwanderer            Im Vergleich zu früheren Generationen sind
Vorstellungen längst überholt sind. Denn die      zwischen 30 und 49 Jahren, die sich am            viele Personen im klassischen Familien-
Dörfer haben sich der Globalisierung mit den      stärksten für ein Leben auf dem Land begeis-      gründungsalter zudem akademisch ausge-
weltweiten Warenströmen angepasst. Viele          tern können. Ihr Zuzug in ländliche Regionen      bildet und arbeiten häufig in Branchen des
ländliche Regionen sind heute geprägt von         kann jedoch bei weitem nicht den Wegzug           Dienstleistungssektors wie Banken, Recht,
riesigen landwirtschaftlichen Betrieben, die      der Jüngeren kompensieren oder gar die            Kommunikation, Medien oder Wissenschaft.18
mit Hilfe von Lohnunternehmen und wenigen         Lücke zwischen Geburten und Sterbefällen          Damit sind sie Teil einer Arbeitswelt, in der
eigenen Arbeitskräften sowie einer Vielzahl       schließen. Die demografischen Prognosen für       die Digitalisierung bereits weit fortgeschrit-
von Maschinen Felder und Ställe bewirtschaf-      den ländlichen Raum im Osten sehen daher          ten ist. Neue Formen des Arbeitens verschaf-
ten. Kleine Bauernhöfe wie auch Dorfläden         bis 2035 einen weiteren Einwohnerrückgang         fen ihnen mehr Freiheit und Flexibilität in der
mit lokalen Erzeugnissen gibt es nur noch         voraus ( S.14). Und dieser demografische          Entscheidung darüber, wie und wo sie mit
vereinzelt.11 Die Dorfbewohner kaufen schon       Ausblick lässt sich nur schwer aufhellen.         ihren Familien leben wollen.

                                                                                                                                  Berlin-Institut   9
Städte und Speckgürtel bleiben attraktiv

    Zwischen 2012 und 2017 wanderten in          nen zwischen 18 und 24 Jahren je 1.000         Die Menschen wandern in die Städte
    Ostdeutschland jährlich im Schnitt rund      Einwohner dieser Altersklasse zu.
    6 Menschen je 1.000 Einwohner zu. Die                                                       Zwischen 2012 und 2017 konnten in Ostdeutsch-
                                                                                                land vor allem die Städte und ihre Speckgürtel
    Mehrheit der ostdeutschen Gemeinden          Während vor allem die größeren Städte          neue Bewohner anziehen. Besonders Leipzig,
    verbuchte dabei unterm Strich einen          von der steigenden Bereitschaft der            Potsdam, Berlin und Dresden und ihr Umland
    Verlust. In rund 60 Prozent von ihnen sind   jungen Menschen profitieren, sich nach         waren attraktiv. Ländliche Regionen fernab der
    in diesen sechs Jahren mehr Menschen         der Schullaufbahn ein neues Zuhause zu         urbanen Zentren haben dagegen Einwohner durch
                                                                                                Wegzug verloren.
    weg- als zugezogen. Gewinnen konnten vor     suchen, bringt diese Entwicklung für viele
    allem die großen Städte und ihr Umland.      kleinere Städte und Gemeinden herbe Ver-
    Doch das Wachstum stößt in einigen Städ-     luste mit sich. Nur jede zehnte Gemeinde
    ten bereits an seine Grenzen. Der Woh-       in Ostdeutschland kann im Saldo Bildungs-
    nungsbau hinkt hinterher und die Mieten      wanderer anziehen. Die mobilste Wande-
    steigen. Davon profitieren die stadtnahen    rungsgruppe hat klare Vorstellungen, wo
    Gemeinden, in die es jene zieht, denen       das neue Zuhause sein soll. Der ländliche
    die Stadt zu teuer geworden ist. Regionen    Raum gehört bislang eher nicht dazu.
    außerhalb der Strahlkraft der Städte und
    ohne gute Verkehrsanbindung verspüren
    dagegen kaum etwas vom steigenden            Zum Berufseinstieg in die Städte
    Wachstumsdruck in den Ballungsräumen.        und ihr Umland

                                                 Nach der abgeschlossenen Ausbildung be-
    Mit dem Alter ändert sich das Ziel           ginnt für die meisten jungen Menschen ein
                                                 neuer Lebensabschnitt, der oft wieder mit
    Im Laufe eines Lebens verändert sich         einem Umzug verbunden ist. Auf der Suche
    nicht nur die Bereitschaft für einen         nach einem Job verlassen viele den Ort
    Umzug, sondern auch die Vorstellung des      ihrer Ausbildungsstätte. Die Berufswande-
    Wunsch-Wohnorts. Für unsere Studie sind      rer sind nach den Bildungswanderern die
    vor allem drei Altersgruppen interessant:    zweitmobilste Wanderungsgruppe. Wäh-
    die Bildungswanderer zwischen 18 und 24      rend Ausbildungsstätten manchmal auch
    Jahren, die Berufswanderer zwischen 25       noch in kleinen Städten und ländlichen
    und 29 Jahren und die Familienwanderer       Gemeinden zu finden sind, entstehen in der
    zwischen 30 und 49 Jahren mit ihren unter    Wissensgesellschaft die meisten Arbeits-
    18-jährigen Kindern.                         plätze in Großstädten.33 Das zieht beson-
                                                 ders viele gut qualifizierte junge Menschen
    Vor allem die sogenannten Bildungswan-       an. Leipzig, Berlin und Potsdam zählen zu
    derer zieht es in die großen Städte. Denn    den beliebtesten ostdeutschen Städten für
    immer mehr junge Menschen schaffen           junge Berufseinsteiger. Kleinere Städte, die   Durchschnittlicher jährlicher         unter -15
                                                                                                Wanderungssaldo je 1.000 Ein-         -15 bis unter -2
    das Abitur und haben den Wunsch ein          durch eine Hochschule noch Bildungswan-
                                                                                                wohner, zwischen 2012 und 2017
    Studium zu beginnen. Sie bescheren den       derer anzuziehen vermögen, können diesen                                             -2 bis unter 0
                                                                                                (Datengrundlage: Statistische
    Hochschulstandorten deutliche Wande-         aber meist keine langfristige Perspektive      Ämter des Bundes und der Länder 31,   0 bis unter 2
    rungsgewinne. Leipzig, Jena und Dresden      bieten und verzeichnen große Wande-            eigene Berechnung)                    2 bis unter 15
    stehen in der Gunst der Bildungswanderer     rungsverluste bei jungen Berufseinsteigern.                                          15 und mehr
    ganz oben und verzeichnen einen hohen        In der Universitätsstadt Greifswald macht
    Zuzug. Hier wanderten zwischen 2012 und      die Abwanderung der Berufswanderer fast
    2017 im Saldo jährlich mehr als 112 Perso-   ein Drittel aller Wegzüge aus.

10 Urbane Dörfer
Im Gegensatz zu den Bildungswanderern            Die Magneten für junge Erwachsene                        Nähe zu urbanen Zentren bleibt wichtig
scheinen für die etwas älteren Berufswan-
derer auch kleinere Gemeinden im Umland          Bei den Bildungswanderern lässt sich ein klares          Ostdeutsche Großstädte, die schon viele Bildungs-
                                                 Wanderungsmuster erkennen. Die Großstädte können         wanderer anziehen können, sind auch für Berufs-
der großen Zentren attraktiv zu sein. So         im Saldo viele von ihnen anziehen, während ländliche     einsteiger attraktiv. Berlin, Potsdam und Leipzig
können etwa Gemeinden im Speckgürtel             Regionen fast flächendeckend junge Erwachsene            verzeichnen einen starken Zuzug aus dieser Alters-
Berlins, im Landkreis Leipzig oder im Um-        verlieren. Allerdings können auch kleinere und mit-      gruppe. Anders als bei den jüngeren Bildungswan-
land Dresdens 25- bis 29-Jährige anziehen.       telgroße Städte bei den jungen Menschen punkten,         derern kommen für die Berufswanderer aber auch
                                                 sofern sie eine Hochschule oder Universität haben.       ländliche Regionen in Frage, sofern sie in der Nähe
Verluste in dieser Altersgruppe müssen           Doch meist bieten sie den jungen Erwachsenen             einer Großstadt liegen.
vor allem Regionen fernab der großen             keine langfristige Perspektive und bleiben eher eine
Ballungsräume verkraften.                        Heimat auf Zeit.

Familien zieht es auch
in abgelegene Regionen

Ganz anders verhalten sich die Familien-
wanderer. Die Idylle des Lebens auf dem
Dorf macht in der Vorstellung vieler Paare
das junge Familienglück perfekt. Dies ist
kein neues Phänomen. Doch steigende Mie-
ten und Platzmangel in der Stadt erhöhen
den Druck auf junge Familien. Den Wunsch
nach einem Haus und Garten können sie
sich häufig nur noch außerhalb der Städte
und ihrer Speckgürtel erfüllen. Für sie sind
zunehmend selbst abgelegenere Dörfer
attraktiv.

Allerdings kann die Zuwanderung von Men-
schen im Familienalter die Verluste vieler
peripherer Regionen bei den Bildungs- und
Berufswanderern nicht ausgleichen. Da
diese nach Ausbildung und Studium nicht
in gleicher Zahl wieder in ihre dörfliche Hei-
mat zurückkehren, fehlen vielerorts junge
Menschen im potentiellen Familiengrün-
dungsalter zwischen 30 und 49 Jahren.            Durchschnittlicher jährlicher         unter -15          Durchschnittlicher jährlicher             unter -15
                                                 Wanderungssaldo je 1.000              -15 bis unter -2   Wanderungssaldo je 1.000                  -15 bis unter -2
                                                 Einwohner zwischen 18 und 24                             Einwohner zwischen 25 und 29
Familien sind bei Gemeinden besonders                                                  -2 bis unter 0                                               -2 bis unter 0
                                                 Jahren, zwischen 2012 und 2017                           Jahren, zwischen 2012 und 2017
begehrt. Sie können dabei helfen die             (Datengrundlage: Statistische         0 bis unter 2      (Datengrundlage: Statistische             0 bis unter 2
Bevölkerungszahl konstant zu halten und          Ämter des Bundes und der Länder 32,   2 bis unter 15     Ämter des Bundes und der Länder 34,       2 bis unter 15
                                                 eigene Berechnung)                                       eigene Berechnung)
wichtige Infrastrukturen wie Schulen,                                                  15 und mehr                                                  15 und mehr
Kindergärten und öffentlichen Nahverkehr
zu sichern. Außerdem entscheiden sich
Familien seltener für einen Umzug und

                                                                                                                                                Berlin-Institut 11
sorgen so lange für stabile Steuer- und Ge-      Flächendeckende Wanderungsgewinne
bühreneinnahmen in der Gemeinde.35 Daher
lohnt es sich für eine Gemeinde attraktiv für    Bei den Familienwanderern gibt es deutlich mehr Gewinner-Regionen als bei anderen Altersgruppen. Dies
                                                 liegt auch an der hohen Zahl ausländischer Zuwanderer, unter denen im Untersuchungszeitraum viele im
Familienwanderer zu sein.                        Alter zwischen 30 und 49 Jahren sowie Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren waren.37 Doch auch hier
                                                 wird die Attraktivität der Speckgürtel-Gemeinden deutlich. Besonders Gemeinden entlang der Bahnlinien
Dass rund 80 Prozent der ostdeutschen            rund um Berlin können höhere Wanderungsgewinne als die Städte verzeichnen. Jedoch erfreuen sich auch
Gemeinden zwischen 2012 und 2017 einen           abgelegene Regionen der Gunst von Familienwanderern.
positiven Wanderungssaldo in dieser Alters-
gruppe verzeichnen, liegt allerdings auch an
der hohen Zuwanderung aus dem Ausland
in diesen Jahren. Im jährlichen Durchschnitt     30 bis 49 Jahre                                                unter 18 Jahre
waren 36 Prozent der nach Deutschland
gekommenen Menschen in diesem Zeitraum
zwischen 30 und 49 Jahre alt, weitere knapp
16 Prozent waren Kinder und Jugendliche.36

Familienwanderer sind die einzige Alters-
gruppe, die sich auch abgeschiedene
Gemeinden als Wohnort aussuchen. Dennoch
bevorzugen auch sie die Speckgürtel der
Großstädte. Rund um Berlin und Potsdam
verzeichnen alle Gemeinden bei den 30- bis
49-Jährigen ein Wanderungsplus von mehr
als 15 Personen je 1.000 Einwohner. Ähnlich
sieht es im Leipziger Umland aus.

Aber nicht jede Familie sehnt sich nach
einem Leben außerhalb der Ballungszentren.
Die Großstädte können mit kurzen Wegen
zu Kita, Schule oder Sportverein punkten.
Der Alltag lässt sich zudem weitgehend ohne
eigenes Auto organisieren. Gerade in Zeiten,
in denen häufig beide Partner erwerbstätig
sind, erleichtert dies Beruf und Familie
stressfreier miteinander zu verbinden. Bis auf
Rostock, Dresden, Jena und Halle können die      Durchschnittlicher jährlicher Wanderungssaldo je 1.000 Einwohner                unter -15
Großstädte im Osten unterm Strich Famili-        der jeweiligen Altersgruppe, zwischen 2012 und 2017                             -15 bis unter -2
enwanderer anziehen. Und das, obwohl sie         (Datengrundlage: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 38, eigene
                                                                                                                                 -2 bis unter 0
                                                 Berechnung)
schon bei den beiden jüngeren Wanderungs-                                                                                        0 bis unter 2
gruppen der Bildungs- und Berufswanderer                                                                                         2 bis unter 15
erfolgreich sind.                                                                                                                15 und mehr

12 Urbane Dörfer
Die Arbeitswelt im digitalen Wandel               Umfragen zu diesem Thema kommen                  im Hinblick auf Arbeitszeiten und -menge
                                                  zu unterschiedlichen Ergebnissen. 2019           eher noch die Nachteile wahr, während nur
Deutschland entwickelt sich zunehmend zu          ergab eine Befragung des Instituts für           eine Minderheit der Beschäftigten angibt,
einer Wissensgesellschaft. Wohlstand wird         Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in rund        durch die Digitalisierung am Arbeitsplatz
immer weniger aus Rohstoffen und Massen-          16.000 Betrieben aller Betriebsgrößen und        zusätzliche Entscheidungsspielräume oder
produktion erwirtschaftet, sondern vermehrt       Wirtschaftszweigen, dass rund 22 Prozent         eine bessere Work-Life-Balance gewonnen
aus Knowhow und intellektuellen Fähigkei-         der Arbeitnehmer in privatwirtschaftlichen       zu haben.25 Erklären lassen sich solche
ten. Bildung und Gebildete stellen heute das      Betrieben in Deutschland tatsächlich Telear-     Befragungsergebnisse auch dadurch, dass
wichtigste Kapital der hoch entwickelten          beit oder Homeoffice mit ihrem Arbeitgeber       die veränderte Arbeitswelt auf einen Werte-
Wissensgesellschaft. In Regionen, in denen        vereinbart hatten.22 Das Deutsche Institut für   wandel trifft, der den Stellenwert von Arbeit
viele kreative und gut qualifizierte Menschen     Wirtschaftsforschung (DIW) stellte 2016 fest,    im Leben vieler Menschen verschiebt. Dies
leben, erblühen Innovationen und Hochtech-        das Potenzial für Heimarbeit in Deutschland      zeigt etwa die Studie „Wertewelten Arbeit
nologien.19                                       sei noch lange nicht ausgeschöpft: Lediglich     4.0“ im Auftrag des Bundesministeriums
                                                  12 Prozent der Beschäftigten nähmen diese        für Arbeit und Soziales (BMAS) von 2016.
Die Entwicklung zur Wissensgesellschaft           Möglichkeit regelmäßig in Anspruch, obwohl       Rund 30 Prozent der befragten Arbeitneh-
zeigt sich auch auf dem Arbeitsmarkt: Es          sie bei 40 Prozent der Arbeitsplätze theore-     merinnen und Arbeitnehmer wünschen sich
entstehen vor allem Jobs für Kopfarbeiter. Das    tisch gegeben sei. Der Wunsch Angestellter,      demnach weniger beruflichen Leistungs-
heißt aber nicht, dass damit die Zahl schlecht    von zuhause aus zu arbeiten, scheitere in den    druck und möchten lieber sorgenfrei von
bezahlter Selbständiger wächst, die ausge-        meisten Fällen noch immer an den Arbeit-         ihrer Arbeit leben können. Dazu passt, dass
lagerte Aufträge übernehmen, wie zeitweilig       gebern, so das DIW.23 Doch auch hier findet      sich rund 14 Prozent der Beschäftigten ein
befürchtet.20 Im Gegenteil: Die seit fast einem   allmählich ein Bewusstseinswandel statt.         ausgewogeneres Verhältnis von Arbeit und
Jahrzehnt florierende Konjunktur hat zusam-       Die regelmäßig vom IT-Branchenverband            Privatleben erhoffen, um Beruf, Familie und
men mit den sich dynamisch entwickelnden          Bitkom in Auftrag gegebenen repräsenta-          Selbstverwirklichung besser unter einen Hut
wissensbasierten Wirtschaftszweigen für           tiven Unternehmensbefragungen zeigen             zu bringen.26
mehr Festanstellungen gesorgt.21                  eine steigende Akzeptanz bei Arbeitgebern:
                                                  Hatten 2014 nur 22 Prozent der befragten         Gerade in Zeiten, in denen Fachkräfte knapp
Doch nicht nur die Wirtschaft wandelt sich,       Unternehmen Homeoffice ermöglicht, waren         werden, muss die digitale Arbeitswelt
sondern auch die Art, wie wir arbeiten. Arbeit    es 2016 bereits 31 Prozent und 2018 rund 39      Antworten auf diese Bedürfnisse finden.
findet immer öfter mobil beim Kunden, von         Prozent. Dabei gaben allerdings sechs von        Denn die Studie des BMAS zeigt auch: Arbeit
unterwegs in der Bahn oder im Homeoffice          zehn Arbeitgebern an, Homeoffice lediglich       ist heute längst nicht mehr alles. Und die
statt – und das häufig auch außerhalb der         auf Anfrage und eher in Ausnahmefällen zu        von vielen erlebte erhöhte Arbeitsbelastung
üblichen Bürozeiten. Den Extremfall bilden        gewähren.24                                      durch die fortschreitende Digitalisierung der
Digitalnomaden, die mit Laptop und Wifi ihrer                                                      Arbeitswelt steht im Widerspruch zu dem,
Arbeit theoretisch jederzeit und überall auf                                                       was sich viele von ihrer Erwerbstätigkeit
der Welt nachgehen können. Sie sind damit         Auf der Suche nach der                           erhoffen. Selbst bei jenen, die ihre Arbeit
die typische Klientel für eine wachsende Zahl     Work-Life-Balance                                als sehr erfüllend empfinden, wächst das
städtischer – und inzwischen auch ländlicher                                                       Bewusstsein für die Work-Life-Balance.
– Coworking Spaces. Hier treffen sie sich         Das digitale, örtlich und zeitlich flexible      Dabei rücken die Bedürfnisse jenseits des
mit Freiberuflern und Telearbeitern, jungen       Arbeiten kann die Vereinbarkeit von Beruf,       Berufsalltags stärker in den Vordergrund: Die
Startup-Gründern und Mitarbeitern temporä-        Familie und Privatleben verbessern, wenn         meisten wünschen sich mehr Zeit für Familie
rer Projekte, die sich für eine bestimmte Zeit    Beschäftigte Präsenzzeiten im Büro mit           und Freunde, Gemeinschaft oder soziales
einen Arbeitsplatz mieten. Dieses Miteinander     Homeoffice-Tagen kombinieren können.             Engagement. Einige suchen zusätzlich einen
von Menschen unterschiedlicher Professionen       Allerdings kann die ständige Verfügbarkeit       Ausgleich zur täglichen Kopfarbeit am Com-
ist ein Quell für neue Ideen.                     auch zu zusätzlichem Stress führen. Unter        puter, etwa in handwerklichen Tätigkeiten
                                                  anderem, weil Arbeitgeber nicht immer            oder Gartenarbeit. Dabei stellt sich die Frage,
                                                  wahrnehmen, dass Arbeitnehmer zuhause            wo sich diese Balance am besten verwirk-
Noch viel Luft nach oben                          Überstunden geleistet haben, und diese nicht     lichen lässt.27 In Städten fehlt es häufig an
                                                  abgelten. Nach dem „Index Gute Arbeit“ des       Orten für das entspannte Zusammensein
Wie viele Angestellte in Deutschland schon        Deutschen Gewerkschaftsbundes nimmt die          mit Familie und Freunden, an Raum für eine
mobil arbeiten, ist bislang nicht ganz klar.      Mehrheit der Beschäftigten insbesondere          Werkstatt oder einen Garten, an Natur als

                                                                                                                                 Berlin-Institut 13
Die demografische Zukunft Ostdeutschlands

    Obwohl die ostdeutschen Gemeinden aktuell                  dürften zwischen der Altmark im Norden               zu 2017 Einwohnerverluste von knapp 14
    fast flächendeckend einen Zuzug von Familien               des Bundeslandes und den Weinbergen der              Prozent respektive 11 Prozent zu erwarten
    verspüren, müssen sich die fünf Bundesländer               südlichen Saale-Unstrut-Region nur noch              sind. In Brandenburg und Sachsen dürfte
    in den nächsten Jahren auf einen Bevölke-                  knapp 1,9 Millionen Menschen leben – zur             der prozentuale Bevölkerungsrückgang
    rungsrückgang einstellen.39 In allen ostdeut-              Wiedervereinigung 1990 waren es noch                 knapp einstellig bleiben. Einzig in Berlin
    schen Flächenländern dürfte die Bevölke-                   rund 2,9 Millionen.40 Nicht viel besser sieht        stehen die Zeichen weiter auf Wachstum.
    rungszahl bis 2035 abnehmen – am stärksten                 die Entwicklung in Thüringen und Meck-               Fast 11 Prozent mehr Hauptstädter dürfte es
    mit fast 16 Prozent in Sachsen-Anhalt. 2035                lenburg-Vorpommern aus, wo im Vergleich              bis 2035 geben.

                                                                                                                    Dabei sind es vor allem die entlegenen und
    Die demografische Kluft wird größer                                                                             strukturschwachen Regionen, die weiter an
                                                                                                                    Bevölkerung verlieren. Manche Landkreise
    Auch wenn sich bis zum Jahr 2035 die Gesamtbevölkerungszahl Deutschlands kaum verändern dürfte, weiten          im südlichen Brandenburg, in Sachsen-An-
    sich die regionalen Unterschiede aus. Rund 60 Prozent der Kreise und kreisfreien Städte werden der Prognose
    zufolge bis 2035 an Bevölkerung verlieren. Besonders hart trifft es Ostdeutschland, wo neben Berlin lediglich
                                                                                                                    halt oder in Thüringen dürften bis 2035 bis
    acht weitere Großstädte mit Wachstum zu rechnen haben, ländliche Kreise aber durchgängig verlieren.             zu einem Viertel ihrer Bewohner einbüßen.
                                                                                                                    Die ländlichen und entlegenen Regionen
    1990-2017                                                 2017-2035                                             verlieren weiterhin zu Gunsten der großen
                                                                                                                    Städte. Leipzig kann bis 2035 sogar bundes-
                                                                                                                    weit mit dem größten Bevölkerungszuwachs
                                                                                                                    rechnen. Die mittlerweile größte sächsi-
                                                                                                                    sche Stadt gehört damit neben Potsdam,
                                                                                                                    Dresden, Erfurt, Jena, Rostock, Halle und
                                                                                                                    Magdeburg zu den wenigen demografischen
                                                                                                                    Leuchttürmen in den fünf ostdeutschen
                                                                                                                    Flächenländern.

                                                                                                                    Attraktive Speckgürtel

                                                                                                                    Das starke Wachstum der Städte strahlt
                                                                                                                    zunehmend auch in das ländliche Umland
                                                                                                                    aus. Das zeigt sich vor allem rund um die
                                                                                                                    Hauptstadt: Wie Tortenstücke reihen sich
                                                                                                                    acht brandenburgische Kreise um die Spree-
                                                                                                                    metropole und können zumindest in den
                                                                                                                    berlinnahen Gemeinden von der Strahlkraft
                                                                                                                    der Hauptstadt profitieren, beziehungs-
                                                                                                                    weise davon, dass dort der Wohnraum
                                                                                                                    knapp und teuer wird. Vor allem unter den
    Zensusbereinigte Bevölkerungsentwicklung zwischen 1995 und              unter -20             0 bis unter 5     30- bis 49-jährigen Familienwanderern
    2017, in Prozent, und prognostizierte Bevölkerungsentwicklung           -20 bis unter -15     5 bis unter 10    sind diese Umlandgemeinden beliebt. Hier
    zwischen 2017 und 2035, in Prozent
    (Datengrundlage: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 41,       -15 bis unter -10     10 und mehr       lässt sich der Wunsch nach einem Haus im
    Berlin-Institut 42, eigene Berechnung)                                  -10 bis unter -5                        Grünen, nach mehr Platz und Natur erfüllen,
                                                                            -5 bis unter 0                          während die Arbeitsplätze oder Kulturange-
                                                                                                                    bote der Hauptstadt gut erreichbar bleiben.

14 Urbane Dörfer
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