AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Jugend und Protest - Bundeszentrale für ...

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Jugend und Protest - Bundeszentrale für ...
71. Jahrgang, 38–39/2021, 20. September 2021

     AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
  Jugend und Protest
 Simon Schnetzer · Klaus Hurrelmann          Thorsten Faas · Anton Könneke
        JUGEND 2021.                             WÄHLEN AB 16?
      PANDEMIE, PROTEST,                        PRO UND CONTRA
        PARTIZIPATION
                                                    Yağmur Mengilli
          Sabine Andresen                          CHILLEN ALS
   WIE SOLLTE POLITIK FÜR                      JUGENDKULTURELLE
   DIE JUGEND AUSSEHEN?                         (PROTEST-)PRAXIS?!
      Nina-Kathrin Wienkoop                           Jörg Gertel
      WER DAZU GEHÖRT                             ZEHN JAHRE
      UND GEHÖRT WIRD                             GENERATION
                                             „ARABISCHER FRÜHLING“
          Christian Lüders
  PROTEST ALS RESSOURCE?

                     ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                          FÜR POLITISCHE BILDUNG
                 Beilage zur Wochenzeitung
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Jugend und Protest
                                  APuZ 38–39/2021
SIMON SCHNETZER · KLAUS HURRELMANN                   THORSTEN FAAS · ANTON KÖNNEKE
JUGEND 2021.                                         WÄHLEN AB 16? PRO UND CONTRA
PANDEMIE, PROTEST, PARTIZIPATION                     Seit zahlreiche Jugendliche öffentlichkeitswirk-
In anderthalb Pandemie-Jahren haben sich             sam für mehr Klimaschutz demonstrieren, wird
die meisten Jugendlichen solidarisch mit den         auch in Deutschland wieder verstärkt über das
älteren Generationen gezeigt und Freiheitsein-       Thema Absenkung des Wahlalters diskutiert.
schränkungen hingenommen. Es ist an der Zeit,        Was spricht für das Wahlrecht ab 16? Und wie
den Jungen mehr Gehör zu schenken und ihr            lauten die Argumente dagegen?
Protestpotenzial konstruktiv zu nutzen.              Seite 29–35
Seite 04–10
                                                     YAĞMUR MENGILLI
SABINE ANDRESEN                                      CHILLEN ALS JUGENDKULTURELLE
WIE SOLLTE POLITIK FÜR DIE JUGEND                    (PROTEST-)PRAXIS?!
AUSSEHEN?                                            Einerseits wird Chillen als Nichtstun mit
Eine Politik für Kinder und Jugendliche muss         Passivität und Rückzug ins Zuhause verbunden,
umfassende Beteiligungsmöglichkeiten schaffen        andererseits mit Vergemeinschaftung im
und einen Beitrag dazu leisten, dass ihre Interes-   öffentlichen Raum. Beide Betrachtungsweisen
sen vorrangig Berücksichtigung finden. Dazu ist      deuten darauf hin, dass die Jugend chillt und
es nötig, die hartnäckigen Vorbehalte gegenüber      Erwachsenen unklar ist, was dabei passiert.
dieser Altersgruppe zu überwinden.                   Seite 36–40
Seite 11–16
                                                     JÖRG GERTEL
NINA-KATHRIN WIENKOOP                                ZEHN JAHRE GENERATION
WER DAZU GEHÖRT UND GEHÖRT WIRD                      „ARABISCHER FRÜHLING“
Zwar gibt es in Deutschland viel jugendliches        Die Situation für die Generation „Arabischer
Engagement und eine große Vielfalt an Vereinen       Frühling“ ist problematisch: Seit den Protesten
und Bewegungen, aber es gibt auch Teilhabe­          2011 haben Perspektivlosigkeit, Ungleichheit
hürden und strukturelle Ausschlussmechanis-          und Gewalt zugenommen. Die Covid-19-Pan-
men. Anders als bei Parteien und Wahlen sind         demie verstärkt die Prozesse der Enteignung von
die Barrieren jedoch informeller.                    Lebenschancen zusätzlich.
Seite 17–22                                          Seite 41–46

CHRISTIAN LÜDERS
PROTEST ALS RESSOURCE?
Der 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundes-
regierung führt vor Augen, dass in jugendlichen
Protestbewegungen einiges Potenzial für die
politische Bildung liegt. Das Engagement allein
gewährleistet indes nicht, dass damit auch
Demokratiebildung angeregt wird.
Seite 23–28
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EDITORIAL
Im Frühjahr 2021 konnten junge Klimaaktivist:­innen einen bedeutenden Erfolg
feiern: Nach ihren Verfassungsbeschwerden gegen das Klimaschutzgesetz musste
die Bundesregierung die darin festgelegten Ziele zur Minderung von Treibhaus-
gasemissionen schärfen, damit die Lasten nicht vor allem folgenden Generationen
aufgebürdet werden. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen hatten damit –
unterstützt von Umweltorganisationen – das Anliegen einer weltweiten Protest-
bewegung von der Straße bis vor das Bundesverfassungsgericht getragen und ihm
auf diese Weise ganz neue Geltung verschafft.
   Der Gerichtsbeschluss und die unmittelbaren politischen Reaktionen da-
rauf zeigen zum einen, dass sich beharrlicher Protest lohnen kann – ist doch
anzunehmen, dass es ohne den gesellschaftlichen und medialen Rückenwind
durch die regelmäßigen „Klimastreiks“ kaum zu den Verfassungsbeschwerden
gekommen wäre. Zum anderen verdeutlicht diese Episode, dass grundlegende
Bedürfnisse und Interessen von Kindern und Jugendlichen bei politischen
Entscheidungen oft übergangen und, wenn überhaupt, erst unter massivem
Druck berücksichtigt werden. Nicht zuletzt deshalb erhalten Diskussionen um
eine Verankerung von Kinder- und Jugendrechten im Grundgesetz oder um eine
Absenkung des Wahlalters bei Bundestagswahlen auf 16 Jahre immer wieder
neue Aktualität.
   Auch in der Corona-Pandemie fanden Jugendliche für ihre Belange bislang
kaum Gehör. Obwohl sich die meisten von ihnen mit den älteren, gefährdeteren
Altersgruppen solidarisch zeigten und sich lange Zeit stark einschränkten, steht vie-
len ein weiterer Schulwinter bei geöffneten Fenstern bevor, ohne dass inzwischen
für eine wesentlich bessere Ausstattung von Schulen oder Universitäten gesorgt
worden wäre. Anlässe für jugendlichen Protest wird es weiterhin zur Genüge
geben. So gut und richtig es ist, wenn Jugendliche sich für die Durchsetzung ihrer
Rechte engagieren, so beschämend ist es, dass es offenbar so notwendig ist.

                                                     Johannes Piepenbrink

                                                                                   03
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APuZ 38–39/2021

                                    JUGEND 2021
                          Pandemie, Protest, Partizipation
                             Simon Schnetzer · Klaus Hurrelmann

Jung sein in Zeiten der Corona-Pandemie fühlt           der Schule, auf dem Uni-Campus, bei der Arbeit
sich an, wie „Mensch ärgere Dich nicht“ zu spie-        oder in der Freizeit ihre Freunde nicht einfach
len: Kaum erlauben sich Jugendliche, wieder et-         treffen oder sich unkompliziert verlieben konn-
was für die Zukunft zu planen, kommt die nächs-         ten, in denen es ihnen nicht möglich war, ihren
te Welle, und es geht zurück auf Anfang. In             Hobbys wie gewohnt nachzugehen oder sich zu
Interviews berichten Jugendliche von Geburtsta-         engagieren.
gen und ihrem Schulabschluss, die sie gerne ge-             Von vielen älteren Menschen ist bisweilen zu
feiert hätten und nicht konnten, von Praktika,          hören, dass die Jungen „sich nicht so anstellen“
Reisen und Auslandsaufenthalten, die ersatzlos          sollen, es gehe ihnen doch trotz allem gut. Im
ausgefallen sind, und von einer psychischen Be-         Vergleich zur Kriegsgeneration mag das stim-
lastung, der viele nicht mehr ohne professionel-        men, doch die Jugendlichen vergleichen sich mit
le Hilfe standhalten. Hier wächst eine „Generati-       älteren Freunden oder Geschwistern, denen es
on Reset“ heran: Einerseits leben Jugendliche mit       in ihrer Lebensphase besser ging. Zudem zählt
frustrierender Planungsunsicherheit und verbau-         die Jugendzeit zu den wichtigsten Phasen, was
ten Chancen, andererseits beweisen sie angesichts       die Entwicklung der Persönlichkeit und die be-
der epochalen Herausforderung Anpassungsfä-             rufliche Orientierung angeht. Während die Älte-
higkeit und Kreativität, um sich Freiheiten und         ren bereits „angekommen“ sind, sind die Jungen
Perspektiven zurückzuerobern.                           noch auf der Suche – nach ihrer Identität, ihrer
     Im Folgenden gehen wir der Frage nach, wie         sexuellen Orientierung, einem Partner oder ei-
sich diese Situation auf das Verhältnis der jungen      ner Partnerin, nach Freundinnen und Freunden
Generation zur Politik auswirkt. Fühlen sich die        fürs Leben, nach einem Ort, an dem sie leben
Jugendlichen von der Politik ungerecht behan-           und einer Aufgabe, der sie sich widmen wollen.
delt? Wie groß ist ihr Protestpotenzial? Wurde          Diese Suche findet für die Angehörigen der so-
es durch die Corona-Pandemie verändert, abge-           genannten Generation Z (ungefähr zwischen
schwächt oder verstärkt? Anschließend geht es           1995 und 2010 geboren) durch die Corona-Pan-
um die Frage, welche Wünsche und Forderungen            demie unter erschwerten Bedingungen statt,
die Angehörigen der jungen Generation artiku-           weil Räume des sozialen Miteinanders und Ken-
lieren, wenn es um ihren Part bei der Mitgestal-        nenlernens wie Feste, Ausbildungsmessen oder
tung des gesellschaftlichen Lebens geht – welche        Praktika häufig nicht oder ersatzweise nur digi-
Erwartungen sie also mit eigener politischer Be-        tal stattfinden.
teiligung verknüpfen.                                       Die Kommunikation der Politik in Rich-
                                                        tung der Jugend beschränkte sich in den zurück-
               LEBENSGEFÜHL                             liegenden anderthalb Jahren im Wesentlichen
              KONTROLLVERLUST                           auf die zentralen Forderungen: Nehmt Rück-
                                                        sicht, haltet euch an die Regeln und wartet ab.
Die Corona-Pandemie dauert nun schon andert-            Die Botschaft ist angekommen. Das zeigt un-
halb Jahre. Im Leben eines Teenagers oder jun-          sere Studie „Jugend und Corona in Deutsch-
gen Erwachsenen ist dies eine sehr lange Zeit. Es       land“ mit Erhebungen im Herbst 2020 und im
geht um anderthalb Jahre in einer Lebensphase,          Sommer 2021:01 Etwa zwei Drittel der 14- bis
von der viele Ältere sagen, es sei die beste Zeit ih-   29-Jährigen verhalten sich demnach rücksichts-
res Lebens gewesen. Für die heutigen Jugendli-          voll und den älteren Generationen gegenüber
chen geht es um anderthalb Jahre, in denen sie in       bewusst solidarisch, und sie verzichten weitge-

04
Jugend und Protest APuZ

hend auf Feiern und Partys. Dieser Umstand                                    PANDEMIEBEDINGTE
ist bemerkenswert, weil über 50 Prozent die-                                 FREIHEITSBERAUBUNG
ser jungen Menschen davon berichten, dass sich
ihre psychische Gesundheit aufgrund der Aus-                   Doch sie hatten nur scheinbar alles, denn ei-
wirkungen der Corona-Pandemie verschlech-                      nes hatten sie nicht: die Freiheit, zu tun, was sie
tert hat: Sie fühlen sich einsam, demotiviert und              wollten. Diese Freiheit aber, das wurde in der
antriebslos. Wenn sie ihre Situation beschreiben,              öffentlichen Diskussion oft übersehen, ist für
erzählen viele davon, dass ihnen die Kontrolle                 die Lebensphase Jugend eine Lebensnotwen-
über ihr Leben entgleitet.                                     digkeit. Ohne diese Freiheit ist der Aufbau ei-
    Hier liegen die Hauptgründe für die erschwer-              ner selbstständigen Persönlichkeit nicht mög-
te Situation: in der Ungewissheit darüber, wie es              lich. Und das ist unserer Auffassung nach der
weitergeht, in dem Gefühl, keine Kontrolle über                entscheidende Punkt, der zum Auslöser für den
wichtige Entscheidungen der Lebensgestaltung                   politischen Protest der jungen Generation wer-
zu haben. Jugendliche wissen in der Pandemie-Si-               den könnte.
tuation nicht, wie sie sich motivieren sollen, weil                Im Sommer 2021 schreiben Medien in al-
gefühlt alles, was Spaß macht – wie Ausgehen,                  len Teilen Deutschlands über Jugendliche, die
Feste feiern, Festivals besuchen oder Verreisen –,             in Parks feiern, Alkohol trinken und sich nicht
nicht oder nur eingeschränkt erlaubt ist; weil sie             an Hygienevorschriften halten. Es sind junge
vergeblich darauf gewartet haben, vonseiten der                Menschen, die sehen, wie ältere, bereits geimpf-
Politik Verständnis und Unterstützung für ihre                 te Menschen wieder Freiheiten genießen, die
schwierige Lage zu bekommen; und weil nur die                  ihnen weiterhin verwehrt sind. 60 Prozent der
Eltern und die Freunde noch zu ihnen halten, die               14- bis 29-Jährigen wollen unbedingt geimpft
aber jetzt selbst völlig erschöpft und mit ihren               werden, weitere 20 Prozent unter bestimmten
Unterstützungsmöglichkeiten am Ende sind.1                     Voraussetzungen (bestimmter Impfstoff, zu er-
    Die jungen Deutschen haben seit Beginn der                 wartende Vorteile, mehr Kenntnis über mögli-
Pandemie erstaunlich viel Geduld mit der Poli-                 che Nebenwirkungen).02 Die junge Generation
tik bewiesen. Sie haben Verständnis dafür gezeigt,             findet es ungerecht, dass Geimpfte mehr Frei-
wie langsam und schlecht die Bildungssysteme                   heiten genießen als Ungeimpfte, solange nicht
der verschiedenen Bundesländer die Digitalisie-                alle ein Impfangebot erhalten haben. Im Ab-
rung von Unterricht und Prüfungen für Schüle-                  wägen, ob sie sich weiteren psychischen Scha-
rinnen und Schüler, Auszubildende und Studie-                  den zufügen wollen oder nicht, gehen sie wie-
rende umgesetzt haben. Sie haben achselzuckend                 der in die Parks, treffen sich mit Freunden und
zur Kenntnis genommen, dass alle politischen                   feiern. Sie brechen bewusst die Regeln, weil sie
Weichen zur Abfederung der negativen Folgen                    sich die Freiheiten nicht länger nehmen lassen
der Pandemie vor allem zugunsten der mittleren                 wollen. Und sie werden von der Polizei nach
und der älteren Generation gestellt wurden. Sie                Hause geschickt. Viele gehen heim, einige wol-
haben sich in ihren vier Wänden eingerichtet und               len sich das Feiern und den anhaltenden Frei-
Struktur in den durch Online-Termine getak-                    heitsentzug nicht länger bieten lassen. In meh-
teten Tag gebracht, obwohl sie Kopfschmerzen                   reren Städten kommt es zu „Krawallnächten“
von Online-Unterricht und Online-Lerngruppen                   und verwüsteten Parks. Die Politik reagiert mit
hatten. Sie haben die Einsamkeit akzeptiert, weil              Versammlungsverboten in Parkanlagen, Ab-
es ihnen ja grundsätzlich gut ging, es zumindest               sperrungen oder Einlasskontrollen an beliebten
nicht an einem Dach überm Kopf und etwas zu                    Treffpunkten, die Polizei mit härterem Durch-
Essen mangelte – weil sie offenbar alles Lebens-               greifen.
notwendige hatten.                                                 Jugendliche haben in Zeiten der Corona-Pan-
                                                               demie kaum alternative Rückzugsräume. Alle
                                                               Locations des sozialen Miteinanders junger Men-
01 Vgl. Klaus Hurrelmann/Simon Schnetzer (Hrsg.), Jugend       schen, von Schulen und Vereinen bis zu Clubs
und Corona in Deutschland (Herbst 2020), Kempten 2020; dies.
                                                               und Bars, sind nur mit Einschränkungen oder gar
(Hrsg.), Jugend und Corona in Deutschland: Die junge Gene-
ration am Ende ihrer Geduld (Sommer 2021), Kempten 2021.
                                                               nicht zugänglich. In dieser Situation der fehlenden
Für die Studien wurden 1602 bzw. 1011 Jugendliche und junge
Erwachsene im Alter von 14 bis 29 Jahren befragt.              02 Vgl. Hurrelmann/Schnetzer 2021 (Anm. 1).

                                                                                                                      05
APuZ 38–39/2021

Alternativen riskiert die Politik durch eine harte   reichend berücksichtigt. Beispielhaft dafür sind
Antwort auf die Feiernden in Parks, Jugendliche      die erfolgreichen Verfassungsbeschwerden von
zu radikalisieren und zu ­kriminalisieren.           neun Jugendlichen und jungen Erwachsenen ge-
    Während etwa in Stuttgart bei Demonstrati-       gen das 2019 verabschiedete Klimaschutzgesetz:
onen von Corona-Leugnern mit 5000 Teilneh-           Das Bundesverfassungsgericht stufte das Gesetz
menden ohne Maske von der Polizei aus „takti-        im Frühjahr 2021 als verfassungswidrig ein, weil
schen Gründen“ nicht eingeschritten wird, erhält     es die Lasten der erforderlichen Minderung der
zeitgleich ein 17-Jähriger, der mit sechs Freunden   Treibhausgasemissionen zu sehr auf die Zeit nach
beim Feierabendbierchen am Neckar sitzt, einen       2030 verschiebe und damit die Freiheitsrechte der
Ordnungswidrigkeitsbescheid über 185 Euro,           jüngeren Generation verletze.03 Erst die vom Ge-
weil er sich vorschriftsgemäß ja nur mit Personen    richt angemahnten Nachbesserungen führten zu
aus zwei Haushalten treffen dürfte. Und das, ob-     einer Novelle des Gesetzes, durch die die Lasten
wohl die Jugendlichen bewusst ins Freie gegan-       fairer zwischen den Generationen verteilt werden
gen sind und sich vorher getestet haben, nachdem     sollen. Das Urteil zeigt der Jugend somit auch,
sie den Schultag zu zwanzigst in geschlossenen       dass sie durch Engagement Dinge bewegen kann.
Räumen ohne Luftfilter verbracht haben. Diese            Im Vorfeld der Europawahlen im Mai 2019
Jugendlichen ziehen nicht los, um Krawall zu ma-     hatten viele junge Menschen zudem ein kommu-
chen, sondern weil sie sich wieder mit Freunden      nikatives Schlüsselerlebnis, das die heutige Be-
treffen wollen. Kommt es zu Krawallen, dann          deutung der Social-Media-Kanäle für die junge
gibt es spezifische Auslöser dafür. Der Mix aus      Generation unterstreicht. Der Youtuber Rezo
Einsamkeit, Enttäuschung, gefühlter Ungerech-        veröffentlichte mit dem Video „Die Zerstörung
tigkeit und Kontrollverlust führt gepaart mit der    der CDU“ einen umfassend recherchierten Ver-
realen Freiheitsberaubung zur Reaktion: „Jetzt       riss der CDU, mit der klaren Handlungsempfeh-
reicht’s!“ Diese Reaktion ist als ein Hilferuf an    lung, diese Partei nicht zu wählen. Sein Video ver-
die Politik zu verstehen, da Jugendliche seit nun-   breitete sich viral im Netz, wurde von sämtlichen
mehr anderthalb Jahren vergeblich auf eine Per-      Leitmedien aufgegriffen und innerhalb weniger
spektive für ihre sozialen Bedürfnisse warten.       Wochen über zehn Millionen Mal aufgerufen.
                                                     Die zum Teil unbeholfen wirkenden Versuche
            AM ENDE DER GEDULD                       der CDU, auf Youtube dagegenzuhalten, führten
                                                     vor Augen, welche Macht Social-Media-Influen-
Wann immer junge Menschen sich über den gro-         cer mittlerweile haben, um die öffentliche Mei-
ßen Schuldenberg, zu hohe Mieten in den Städ-        nung politisch zu beeinflussen. Ein Grund für
ten oder umwelt- und klimaschädliche Politik be-     diesen Erfolg liegt sicherlich auch darin, dass die
schweren, wird als Gegenargument das erreichte       „klassischen“ Wege der Politikvermittlung nicht
und zu wahrende hohe Wohlstandsniveau heran-         mehr wie früher funktionieren und Parteien und
gezogen, um die Diskussion zu beenden. Seit dem      Medien es bislang offenbar verpasst haben, das
Aufkommen der weltweiten Fridays-for-Future-         große Interesse junger Menschen an politischen
Bewegung ist dieses Argument ins Wanken gera-        Themen zielgruppengerecht zu bedienen. Immer
ten, weil immer klarer wird, in welchem Ausmaß       mehr Jugendliche füllen diese Lücke mit ihren ei-
der Wohlstand von morgen von einer intakten          genen Wegen der digitalen Kommunikation.
Umwelt und der Eindämmung des Klimawan-                  Lange waren Influencer vor allem mit Fitness-
dels heute abhängt. Zu den zentralen politischen     und Beauty-Themen, Comedy oder Tipps für ei-
Erfahrungen von Jugendlichen, die vor Beginn         nen erfolgreichen Lifestyle erfolgreich. Doch
der Pandemie während der Unterrichtszeit für         Plattformen wie Youtube oder Tiktok fördern
Klimaschutz demonstrierten, zählt: (Nur) wenn        die Sichtbarkeit von Accounts, die sich mit The-
wir uns engagieren und gegen Regeln verstoßen        men wie Bildung, Demokratie oder Berufsorien-
(Schule schwänzen), bekommen wir Aufmerk-
samkeit vonseiten der Politik und Medien.
                                                     03 Vgl. Bundesverfassungsgericht, Verfassungsbeschwerden
     Eine weitere wichtige Erfahrung dieser jun-
                                                     gegen das Klimaschutzgesetz teilweise erfolgreich, Pressemittei-
gen Menschen ist, dass sie erleben, wie die Po-      lung, 29. 4. 2021 (zum BVerfG-Beschluss vom 24. 3. 2021), www.
litik die Interessen der jungen und künftigen        bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/
Generationen aus eigenem Antrieb nicht aus-          DE/​2021/bvg21-​031.html.

06
Jugend und Protest APuZ

tierung beschäftigen. In den Pandemie-Monaten                Es ist deswegen durchaus ein konstruktives
hatten junge Menschen zudem viel Zeit und ha-           Szenario denkbar, in dem Jugendliche ihre po-
ben diese scharenweise in ihren Social-Media-Er-        litischen Forderungen zur Aufhebung der Ein-
folg investiert. Innerhalb weniger Monate haben         schränkungen ihrer Freiheitsrechte im Dialog
Creators wie Tobias Jost („Der Karriereguru“)           mit der Politik äußern und nicht in Form eines
oder Nina Poppel („Nini_erklärt_Politik“) auf           offenen Konflikts. Eine Voraussetzung dafür
Tiktok ein junges Publikum von weit über Hun-           wäre, dass Politikerinnen und Politiker in sämtli-
derttausend Followerinnen und Followern auf-            chen Landesteilen junge Menschen auf verschie-
gebaut. Das sind nur zwei von vielen jungen             denen Ebenen beteiligen, ihnen Perspektiven für
Akteuren, die innerhalb kürzester Zeit enorm            ihre Bedürfnisse aufzeigen und sie dadurch von
an Reichweite und Meinungsmacht gewonnen                einem Aufbegehren oder einer Radikalisierung
­haben.                                                 ihrer Forderungen abhalten. Hierfür ist es not-
     Bei Rezo war es das Gefühl von „Jetzt reicht’s“,   wendig, dass sie aktiv auf junge Menschen zu-
 das ihn zu seinem „Zerstörungs-Video“ motivier-        gehen und sich für deren Interessen einsetzen.
 te. Dasselbe Gefühl beobachten wir im Sommer           Das heißt allerdings auch, dass bestehende Rei-
 2021 bei vielen Jugendlichen, die in Parks feiern.     bungspunkte auf den Tisch kommen und gewisse
 Größere organisierte Proteste oder politisch mo-       Fronten geklärt werden müssten. Für eine solche
 tivierte Krawalle von Jugendlichen gegen ihre          konstruktive Variante der Konfliktaustragung
 Benachteiligung in der Corona-Pandemie gab es          spricht, dass
 bislang noch nicht. Doch der Druck im Kessel
 steigt. Die Demonstrationen der Fridays-for-Fu-          –– Jugendliche eine institutionalisierte Form
 ture-Bewegung konzentrieren sich auf klimapoli-             der Beteiligung vermissen, sich also ein
 tische Ziele. Aber das könnte sich schnell ändern,          Sprachrohr wünschen, durch das ihre For-
 wenn das drängendste Problem der Jugend nicht               derungen in der Pandemie klar formuliert
 mehr allein das Klima ist, sondern ihre anhaltend           an die Politik getragen werden;
 eingeschränkten Freiheitsrechte.
                                                          –– der Jugend junge Führungspersönlichkei-
              PROTESTSZENARIEN                               ten fehlen, die bereit wären, den Protest als
                                                             „Kampf gegen das System“ anzuführen;
Es stellt sich nunmehr die Frage, ob die junge
Generation neben kreativen neuen und digitalen            –– junge Menschen häufig nachgeben, wenn sie
Protestformen auch auf traditionelle Formen wie              sich im Kreis ihrer Familie gegen das Argu-
klassische Straßendemonstrationen zurückgrei-                ment behaupten müssen, dass es ihnen doch
fen wird, so wie es die Fridays-for-Future-Bewe-             „eigentlich gut“ geht und sie nur noch ein
gung getan hat. Denn nur, wenn sie das tut, kann             wenig Geduld haben müssen;
sie in das etablierte, von den politischen Partei-
en getragene Machtgefüge des politischen Pro-             –– die junge Generation überwiegend im
zesses wirkungsvoll eingreifen. Wegen der Ein-               Geist der Kooperation mit ihren El-
schränkungen infolge der Corona-Pandemie hat                 tern aufgewachsen ist und Konflikte eher
es solche Protestformen in den vergangenen an-               scheut.04
derthalb Jahren kaum gegeben. Die Mehrheit
der Jugendlichen hat sich diszipliniert an die              Alternativ wäre ein destruktives Szenario
Kontaktbeschränkungen und andere Restriktio-            denkbar, wenn im Zuge von Bundestagswahl und
nen gehalten. Was der Jugend nun fehlt, ist eine        gegebenenfalls Koalitionsverhandlungen die In-
„Zielscheibe“ oder ein politisches „Feindbild“.         teressen der jungen Generation bewusst hint-
So groß die Frustration mit der Politik ist, so un-     angestellt werden, weil den Kandidatinnen und
geklärt ist die Frage nach den verantwortlichen         Kandidaten ihr Anteil an der wahlberechtigten
„Schuldigen“. Auf die Frage, wer sich konkret           Bevölkerung zu unwichtig erscheint. Wenn sich
hinter „der Politik“ verbirgt, wissen in unseren        die Zukunftsperspektiven der Jungen daraufhin
Interviews viele spontan keine Antwort und su-          soweit verschlechtern, dass bei ihnen ein Gefühl
chen sie irgendwo zwischen Rathaus, Kultusmi-
nisterium und Bundestag.                                04 Vgl. Hurrelmann/Schnetzer 2021 (Anm. 1).

                                                                                                               07
APuZ 38–39/2021

von „wir haben eh nichts mehr zu verlieren“ ein-       ration Greta“,06 die mit Fridays for Future und
tritt, könnte es zu einer Verhärtung der Fronten       Social Media ihre politische Schlagkraft entdeckt
kommen. Verschärfend könnte wirken, wenn der           hat und durch ihren Protest mehr gewinnen als
Jugend weiterhin sämtliche Rückzugsräume ge-           verlieren kann. Diese Jugendlichen und jungen
nommen werden. Aus einer solchen Lage, wenn            Erwachsenen haben sich von dem Gefühl eman-
Jugendliche keinen anderen Weg mehr sehen, um          zipiert, das Problem im System bei sich selbst zu
ihren Interessen Gehör zu verschaffen, könnte          suchen. Die destruktive Variante des gewaltberei-
sich politischer Protest entwickeln, der auch ge-      ten Kampfes für Zukunftsperspektiven und Frei-
waltsam ausgetragen wird. Für ein solches dest-        heitsrechte würde vermutlich eher von Jugend-
ruktives Szenario spricht,                             lichen gewählt werden, die durch die Pandemie
                                                       besonders getroffen wurden und das Gefühl ha-
     –– dass die bisherigen Antworten der Kommu-       ben, weder Gehör zu finden, noch etwas zu ver-
        nen auf die feiernden Jugendlichen in Parks    lieren zu haben.
        konsequent hart waren und die Jugend
        selbst in keiner Weise einbezogen wurde;                   BETEILIGUNG AKTIVIEREN

     –– dass sich trotz intensiver Berichterstattung   Ein oft genannter Grund, warum junge Men-
        über die alarmierenden Auswirkungen der        schen nicht häufiger beteiligt werden, ist die Ver-
        Corona-Pandemie auf die junge Generation       mutung der Überforderung oder dass junge Men-
        bislang wenig bis nichts getan hat, um ihre    schen nicht bereit wären, sich zu beteiligen. Dass
        Situation grundlegend zu verbessern.           dieses Vorurteil nicht zutrifft und die Partizipati-
                                                       on eher an der mangelnden Kompetenz der Or-
     Es ist aber durchaus auch möglich, dass die       ganisatoren als am Willen der Jugend scheitert,
Szenarien 1 und 2 parallel eintreten, weil ver-        haben zahlreiche erfolgreiche Beteiligungspro-
schiedene Gruppierungen unabhängig vonei-              jekte eindrucksvoll bewiesen.07 Auch die aktuel-
nander ihren Protest auf unterschiedliche Weise        le IG Metall Jugendstudie zeigt, dass etwa zwei
austragen. Je nachdem, wie verzweifelt jemand          Drittel der 16- bis 27-jährigen Auszubildenden,
ist, wird auch die Wahl der Protestform ausfal-        Studierenden und Beschäftigten in Deutschland
len. In unseren Studien zur Lage der Jugend in         motiviert sind, sich für eine lebenswerte Zukunft
der Pandemie haben wir untersucht, bei wel-            zu engagieren.08
chen Gruppen innerhalb der jungen Generati-                Junge Menschen stört in der Corona-Pande-
on der Frust besonders hoch ist.05 Die höchste         mie, dass sie bei politischen Entscheidungen, die
Unzufriedenheit über ihre aktuelle schulisch-          sie betreffen, häufig nicht befragt werden. Da sie
berufliche Situation und die psychische Ver-           das Ergebnis dieser Entscheidungen überwiegend
schlechterung ihrer Gesundheit beklagen Stu-           als mangelhaft und unbefriedigend wahrnehmen,
dierende sowie Schülerinnen und Schüler.               bringen viele Jugendliche in den Interviews für
Besonders hart sind sozial Benachteiligte ge-          unsere „Jugend und Corona“-Studie zunehmen-
troffen, die sich komplett abgehängt fühlen,           de Verärgerung sowie den Wunsch nach mehr
weil sie es sich nicht leisten können, auf digitale    Beteiligung zum Ausdruck.09 Es ist verwunder-
Angebote zurückzugreifen. Die Krise trifft auch        lich, wie wenig Raum die deutsche Pandemie-Be-
Auszubildende, dual Studierende und Berufstä-
tige, doch im Gegensatz zu den vorgenannten
Gruppen haben sie durch ein eigenes Einkom-            06 Vgl. Klaus Hurrelmann/Erik Albrecht, Generation Greta.
                                                       Was sie denkt, wie sie fühlt und warum das Klima erst der
men und den Übergang ins Berufsleben bereits
                                                       Anfang ist, Weinheim 2020.
mehr Sicherheit und sorgen sich mehr, durch            07 Ein Beispiel ist etwa die gemeinnützige Bildungsinitiative
Protest ihre berufliche Situation und Perspekti-       „Rock Your Life“, in deren Rahmen Studierende sich organisieren,
ven zu g ­ efährden.                                   qualifizieren und engagieren, um benachteiligten Jugendlichen
     Die wahrscheinlichsten Hauptakteure in ei-        durch persönliches Coaching Perspektiven aufzuzeigen. Siehe
                                                       www.rockyourlife.de.
nem konstruktiven Konflikt sind Studierende so-
                                                       08 Vgl. IG Metall (Hrsg.), IG Metall Jugendstudie Plan B –
wie Schülerinnen und Schüler. Es ist die „Gene-        Datenreport (Autor: Simon Schnetzer), Frank­furt/M. 2021,
                                                       www.igmetall.de/jugend/studie-​p lan-​b.
05 Vgl. Hurrelmann/Schnetzer 2021 (Anm. 1).            09 Vgl. Hurrelmann/Schnetzer 2021 (Anm. 1).

08
Jugend und Protest APuZ

wältigung der Bevölkerung für Kreativität und                   ausgebildete Lehrpersonal angeht; eine ambiti-
Gründergeist zugesteht. Aus sogenannten Zu-                     oniertere Klimaschutzpolitik, auch im Sinne der
kunftsgestalter-Workshops wissen wir, wie kre-                  internationalen Gerechtigkeit; ein Umbau zu
ativ, konstruktiv und motiviert Jugendliche sein                ökosozialem Wirtschaften, um die natürlichen
können, um für Probleme, die sie betreffen, Lö-                 Lebensgrundlagen zu erhalten; sowie eine besse-
sungen zu entwickeln und diese exemplarisch                     re Förderung des gesellschaftlichen Miteinanders,
umzusetzen. Es überrascht teilweise selbst die Ju-              was mehr Offenheit für unterschiedliche Lebens-
gendlichen, wie wertvoll die Lösungen sind, die                 modelle und einen stärkeren Einsatz gegen jeg-
sie hervorbringen, wenn sie professionell angelei-              liche Diskriminierung aufgrund äußerer Merk-
tet werden. So ist der von der Bundesregierung                  male, Herkunft oder Religion umfasst. Zudem
angestoßene Hackaton #WirVsVirus ein ausge-                     werden in der Studie Anregungen von Jugendli-
zeichnetes Beispiel dafür, was durch Beteiligung                chen und jungen Erwachsenen zusammengefasst,
innerhalb kürzester Zeit an kreativem Potenzi-                  wie Politikerinnen und Politiker das Vertrauen
al freigesetzt und auf die Lösung von Problemen                 der jungen Generation gewinnen können: Emp-
verwendet werden kann. Der Abschlussbericht                     fohlen werden unter anderem Ehrlichkeit und
des Projekts zeigt aber leider auch die Grenzen                 Authentizität, die aktive Einbindung der Bevöl-
dieser Art von politischer Innovationsschmiede                  kerung in den politischen Diskurs und eine stär-
auf: Das Momentum von vielen Projekten ver-                     kere Berücksichtigung der Bedürfnisse der jun-
läuft sich rasch, weil die erarbeiteten Lösungen                gen Generation, um bei Zukunftsentscheidungen
nicht in die Prozesse und Strukturen von Verwal-                eine möglichst lange Haltbarkeit ­sicherzustellen.
tungen überführt werden.10                                          In unserem Ermessen ist das erstrebenswerte
     Doch es braucht gar nicht immer professio-                 Szenario die Form des konstruktiven Konflikts,
nelle Workshops oder aufwändige Entwicklungs-                   in dessen Rahmen in kooperativer Weise die wich-
veranstaltungen: Der einfachste und wichtigste                  tigen Zukunftsbaustellen definiert und auch aus
Schritt, um junge Menschen zu Zukunftsgestalte-                 Sicht der jungen Generation beleuchtet werden.
rinnen und -gestaltern zu machen, besteht darin,                Um Politik nachhaltig zu gestalten und die Ak-
ihnen zuzuhören und ihre Bedürfnisse ernst zu                   zeptanz durch künftige Generationen zu sichern,
nehmen – zwei einfache Dinge, die viele Jugendli-               ist es in dieser Krisensituation und gesellschaftli-
che in der Pandemie vermisst haben. Und deshalb                 chen Umbruchphase wichtig, dass die Interessen
ist die Forderung genau danach die wichtigste, die              junger Menschen in der Politik Berücksichtigung
sich an „die Politik“ beziehungsweise an die Poli-              finden. Am Ende geht es nicht darum, dass eine
tikerinnen und Politiker von der kommunalen bis                 jüngere Generation gegen eine ältere ausgespielt
zur Bundesebene richtet.                                        wird, sondern dass die legitimen Interessen aller
     Im Rahmen unserer Studie „Junge Deutsche                   Generationen berücksichtigt werden. Gerade die
2021“ haben wir über 1600 14- bis 39-Jährige in                 Jungen sehen hier aktuell ein großes Defizit und
Deutschland befragt, welche Wünsche sie an Po-                  erwarten nach der langen Phase der Rücksicht-
litik in Deutschland haben beziehungsweise was                  nahme auf die Älteren, dass es nun an der Gesell-
ihre Vertreterinnern und Vertreter unbedingt tun                schaft wäre, ihnen etwas zurückzug­eben.
sollten. Die Antworten geben eine klare inhalt-
liche Orientierung.11 Gewünscht werden mehr-                                          FAZIT
heitlich allgemein mehr politische Beteiligung
und eine Absenkung des Wahlalters auf 16 Jah-                   Unsere Studien zeigen, dass die größten Belas-
re; eine Modernisierung von Schulen und Schul-                  tungen infolge der Corona-Pandemie für die jun-
system, sowohl was die digitale Infrastruktur als               ge Generation in Deutschland in der Ungewiss-
auch was die Lehrpläne und das entsprechend                     heit der künftigen Lebensplanung und im Gefühl
                                                                eines umfassenden und allgemeinen Kontroll-
                                                                verlustes liegen. Diese psychischen und sozialen
10 Vgl. DigitalService4Germany, Abschlussbericht #WirVs-        Belastungen wiegen weit schwerer als die finan-
Virus Hackathon und Umsetzungsprogramm, Berlin 2021,
                                                                ziellen Einschränkungen und Wohlstandseinbu-
https://wirvsvirus.org.
11 Vgl. Simon Schnetzer, Junge Deutsche 2021. Zukunft neu
                                                                ßen, die Jugendliche ebenfalls hinzunehmen ha-
denken und gestalten: Lebens- und Arbeitswelten der Generati-   ben. Die Mehrheit der Jugendlichen hat sich trotz
on Z & Y in Deutschland, Kempten 2021, S. 36 f.                 dieser schwierigen Lage solidarisch mit den Be-

                                                                                                                  09
APuZ 38–39/2021

lastungen der mittleren und der älteren Generati-     Diskurs einbezogen zu werden. Unter ihnen sind
onen durch die Pandemie gezeigt, sich in andert-      viele, die sich bereits bei Fridays for Future en-
halb Pandemie-Jahren sehr diszipliniert an die        gagiert haben und über auffällig gute Fähigkeiten
Abstands- und Hygieneregeln gehalten und Ein-         verfügen, sich inhaltlich zu artikulieren und auch
schränkungen ihrer Freiheiten hingenommen.            politisch-gestalterisch durchzusetzen. Das Ziel
    Angesichts dessen haben wir die Frage auf-        aller Bemühungen seitens „der Politik“ und ih-
geworfen, ob mit einem politischen Protest der        rer Vertreterinnen und Vertreter sollte es deshalb
jungen Generation zu rechnen ist, der darauf ab-      sein, das latente Protestpotenzial in der jungen
zielt, sich größere Freiheitsspielräume für ein le-   Generation konstruktiv aufzunehmen und durch
benswertes Leben und die persönliche Entfal-          ernstgemeinte Angebote in konstruktive politi-
tung (wieder) zu erobern. Wir kommen zu dem           sche Partizipation ­umzuwandeln.
Schluss, dass der Eintritt des destruktiven Kon-
fliktszenarios eher unwahrscheinlich ist. Auf-
lehnungen gegen Polizeieinsätze, die in einigen
Städten mit krawallartigen Aktionen verbun-           SIMON SCHNETZER
den waren, sind von ihrem Charakter her nicht         ist Diplom-Volkswirt und arbeitet als selbstständiger
als politische Demonstrationen aufzufassen, son-      Jugendforscher und Speaker.
dern eher als ohnmächtiger Protest sozial be-         mail@simon-​schnetzer.com
nachteiligter junger Leute. Diese Gruppe der jun-
gen Generation hat es ebenso wie die Mehrheit         KLAUS HURRELMANN
der gut gebildeten, sozial integrierten und ange-     ist Professor of Public Health and Education an der
passten jungen Leute verdient, mit ihren Bedürf-      Hertie School in Berlin.
nissen und Interessen endlich in den politischen      hurrelmann@hertie-​school.org

     Protest
     Deutschland 1949–2020

     Protest ist ein öffentlicher Widerspruch –
     auf der Straße und im Internet, mit Plakaten
     und Petitionen, schweigend und mit Sprech-
     chören. Protest trägt dazu bei, die Gesell-
     schaft zu verändern. Ohne ihn gäbe es keine
     Demokratie.

     Das neue Zeitbild stellt grundlegende
     Fragen: Wer protestiert wie und zu welchen
     Themen? Wie ist das Verhältnis von Protest
     zur Öffentlichkeit und wie seine Wirkung?
     Über 110 Beiträge und hunderte Bilder
     rufen wichtige Protestereignisse, die damit
     verbundenen Konflikte, engagierte Menschen
     und ihre Motivationen in Erinnerung. Der
     Band ermöglicht so einen umfassenden

                                                bpb.de/
     Blick auf Protest und seine Geschichte
     in Deutschland.
                                                 shop
                                                                               Bestell-Nr. 3934

10
Jugend und Protest APuZ

  „WAS VIELE JUGENDLICHE ABFUCKT …“
                Wie sollte Politik für die Jugend aussehen?
                                          Sabine Andresen

In der Covid-19-Pandemie mussten Kinder und            litik relevantes Ergebnis in beiden Jugendstudi-
Jugendliche in Deutschland einmal mehr eine er-        en ist der Eindruck der jungen Generation, dass
nüchternde Erfahrung machen: nämlich, dass             sie bei politischen Entscheidungen während der
ihre altersspezifischen Interessen und Bedürf-         Pandemie übergangen wird.
nisse in den politischen Entscheidungsprozes-               Der Zitatausschnitt im Titel dieses Beitrags
sen nachrangig behandelt werden. Mediale Auf-          stammt aus einem der knapp 2000 Kommentare
merksamkeit erhielten vor allem diejenigen von         am Ende des Fragebogens. Der vollständige Kom-
ihnen, die sich trotz Kontaktbeschränkungen und        mentar lautet: „Was viele Jugendliche abfuckt ist
Lockdown gruppenweise im öffentlichen Raum             das man überhaupt nicht gehört wird, die Tages-
aufhielten und als Re­gel­brech­er*­innen markiert     schau spricht über Schüler jedoch werden nur die
wurden. Jüngere Kinder hingegen blieben in der         Meinungen von erwachsenen gezeigt aber nicht
Öffentlichkeit weitestgehend unsichtbar, und           von denjenigen die es überhaupt betrifft (die Schü-
über sie wurde in den ersten Wochen der Pande-         ler).“02 Dieser Eindruck, ignoriert zu werden und
mie auch kaum gesprochen.                              primär Einschätzungen der älteren Menschen zu
    Als Kindheits- und Ju­gend­for­scher*­innen ist    hören, ist allerdings nicht neu, insofern trifft in die-
uns daran gelegen, die Erfahrungen, Sichtweisen        sem Punkt die Metapher von Corona als „Brenn-
und Deutungen von Kindern und Jugendlichen in          glas“ durchaus zu. Schon lange vor dem Ausbruch
unseren Studien widerzuspiegeln. Durch die Kom-        der Pandemie bewerteten Kinder und Jugendliche
munikation der Erkenntnisse wollen wir zudem           ihre Beteiligungsmöglichkeiten eher kritisch. In
einen Beitrag dazu leisten, dass junge Menschen        der Studie „Children’s World+“ von 2019 zum Bei-
gehört und gesehen, dass sie selbst und ihre Inte-     spiel problematisierten Jugendliche die abwertende
ressen in Entscheidungen einbezogen werden. Die-       Haltung von Erwachsenen, wobei sie ihren Eltern
ses Anliegen ist im Zuge der Pandemie besonders        eher eine positive Einstellung zu Beteiligung bei
relevant geworden. Das Angebot des Forschungs-         Entscheidungen attestieren.03 Es geht ihnen primär
verbunds „Kindheit – Jugend – Familie in der Co-       um die Haltung im öffentlichen Kontext und ins-
rona-Zeit“ der Universitäten Frankfurt am Main         besondere seitens der politisch Verantwortlichen.
und Hildesheim an Jugendliche und ihre Eltern,              Woran sich eine „Politik für die Jugend“ – und
sich zwischen April und November 2020 an drei          dieser Begriff integriert in der folgenden Argu-
Online-Befragungen zu beteiligen, haben knapp          mentation Kinder und Jugendliche unter 18 Jah-
13 000 Jugendliche ab 15 Jahren und 25 000 Mütter      ren – messen lassen muss, ist die Kernfrage dieses
und Väter mit Kindern unter 15 Jahren angenom-         Beitrags. Ein erster Ausgangspunkt, auch in der
men. Im Forschungsverbund haben wir diese hohe         internationalen Kindheits- und Jugendforschung,
Beteiligung als Zeichen für einen gesellschaftlichen   ist dabei die normativ geführte Diskussion über
Mangel an Gehör und Anerkennung gewertet.              die Stärkung der Rechte von Kindern und Ju-
    Die erste Erhebung richtete sich im April 2020     gendlichen. Ohne eine Stärkung, so meine These,
während des ersten „Lockdowns“ an Jugendliche          bleibt eine Politik für die Jugend Makulatur. Ich
ab 15 Jahren (JuCo I), die zweite von Ende April       werde deshalb zunächst der Frage nach der seit
bis Anfang Mai 2020 an Eltern und deren Kinder         vielen Jahren zu beobachtenden Abwehr gegen-
(KiCo), die dritte im November 2020 zu Beginn          über einer starken Verankerung von Kinder- und
des „Lockdowns light“ wiederum an Jugendliche          Jugendrechten ins Grundgesetz nachgehen. Da-
und junge Erwachsene (JuCo II).01 Ein für die          ran anschließend geht es um ausgewählte Befun-
Frage nach dem Verhältnis von Jugend und Po-           de aus der Kindheits- und Jugendforschung, die

                                                                                                            11
APuZ 38–39/2021

Gestaltungshinweise für eine an den Rechten, In-                 nicht erst im Hier und Heute auf Zurückweisung.
teressen und Bedarfen von Kindern und Jugendli-                  Vielmehr ist die Diskussion darüber von hartnä-
chen orientierten Politik geben können.                          ckigen Abwehrargumentationen durchzogen.
                                                                 Vier Narrative scheinen dabei besonders wirk-
         STÄRKUNG DER RECHTE VON                                 mächtig zu sein: Erstens das einer unangemesse-
        KINDERN UND JUGENDLICHEN                                 nen Verantwortungsverlagerung von Erwachse-
                                                                 nen auf Kinder; zweitens das einer Schwächung
Die Aufnahme von Kinder- und Jugendrechten                       von Elternrechten; drittens das einer Abkehr von
ins Grundgesetz ist zuletzt im Juni 2021 geschei-                Erziehung; und viertens das der prinzipiellen Ir-
tert. Zwar gab es einen Kabinettbeschluss, der im-               rationalität von Entscheidungen und Handlun-
merhin vorsah, „das Wohl des Kindes angemes-                     gen in der Kindheits- und Jugendphase. Sie alle
sen zu berücksichtigen“, aber letztlich konnten                  werden standardmäßig ins Feld geführt, wenn es
sich die im Bundestag vertretenen Parteien nicht                 darum geht, zivilgesellschaftliche Bestrebungen
darauf123 einigen.04 Doch ohnehin wäre es wün-                   abzuwehren, die darauf zielen, eine an starken
schenswert, wenn das Kindeswohl bei politischen                  Kinder- und Jugendrechten orientierte Form der
Entscheidungen nicht nur „angemessen“, son-                      Generationengerechtigkeit zu etablieren.
dern „vorrangig“ berücksichtigt werden müsste.                        Tatsächlich ließe sich jedes der vier Narrati-
Auch sollte das Recht auf Beteiligung explizit ins               ve argumentativ entkräften. Das Argument der
Grundgesetz aufgenommen werden.                                  Verantwortungsverschiebung auf die Jüngs-
     Denn letztlich sollte sich eine zeitgemäße Po-              ten, denen es an Überblick und Kontrolle fehle,
litik „für“ die Jugend an zwei Maßstäben messen                  basiert auf einem angenommenen Gegeneinander
lassen: erstens an der regelhaften und über Verfah-              und nicht einem Miteinander der Generationen.
ren abgesicherten Beachtung der Bedarfe, Interes-                Beteiligungsformen auf allen Ebenen und bezo-
sen und Pläne von Kindern und Jugendlichen so-                   gen auf alle Altersgruppen auf den Weg zu brin-
wie deren vorrangiger Berücksichtigung. Dies setzt               gen, würde indes nicht weniger, sondern größere
ein echtes und langfristiges Interesse an der jungen             Verantwortung für die ältere Generation bedeu-
Generation ebenso voraus wie die Bereitschaft, ihr               ten, weil sich auch für sie Komplexität zunächst
zuzuhören und sie zu beachten. Zweitens sollte                   erhöht und Entscheidungs- und Handlungspro-
sich die Qualität einer Politik für die Jugend daran             zesse anders moderiert werden müssen.
bemessen, wie die Beteiligung von Kindern und                         Die Vorstellung, dass Kinder und Jugendliche
Jugendlichen ermöglicht und auf allen Ebenen eta-                mehr sind als nur ein Teil von „etwas“, nämlich
bliert wird. Dies erfordert Zeit und materielle Res-             der Familie, hat sich offenbar ebenfalls noch nicht
sourcen für Beteiligungsprozesse und die Bereit-                 durchgesetzt. Sie als Rechtssubjekte anzuerken-
schaft, Macht und Kontrolle zu teilen.                           nen und anzusprechen, zielt aber keineswegs auf
     Die Forderung, die Rechte von Kindern und                   die Abschaffung von Elternrechten. Die Sorge,
Jugendlichen auf diese Weise zu stärken, stößt                   dass der Staat unbotmäßig in die Familie, in El-
                                                                 tern-Kind-Beziehungen und Erziehungsstile ein-
                                                                 greifen könnte, erklärt sich vor dem Hintergrund
01 Vgl. Sabine Andresen et al., Erfahrungen und Perspektiven
                                                                 der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert.
von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen. Erste
Ergebnisse der bundesweiten Studie JuCo, Hildesheim 2020;
                                                                 Gleichwohl ist eine polarisierende Gegenüber-
dies., Kinder, Eltern und ihre Erfahrungen während der Corona-   stellung von Elternrechten hier und Kinderrech-
Pandemie, Hildesheim 2020; dies., „Die Corona-Pandemie hat       ten dort höchst problematisch. Vielmehr wäre
mir wertvolle Zeit genommen“. Jugendalltag 2020, Hildesheim      zu klären, ob und wie eine Stärkung der Kin-
2020; dies., Das Leben von jungen Menschen in der Corona-Pan-
                                                                 derrechte in vielen Sachfragen – etwa in der Bil-
demie. Erfahrungen, Sorgen, Bedarfe, Gütersloh 2021. Sämtliche
Studien sind abrufbar unter https://t1p.de/studien-​corona.
                                                                 dungspolitik, bei der Daseinsvorsorge oder in der
02 Andresen et al., Erfahrungen und Perspektiven (Anm. 1),       Gesundheitspolitik – die Stellung von Kindern,
S. 12. Schreibweise im Original.                                 Jugendlichen und ihren Eltern gegenüber dem
03 Vgl. Sabine Andresen/Renate Möller, Children’s Worlds+.       Staat verbessern könnte. Hinzu kommt, dass na-
Eine Studie zu Bedarfen von Kindern und Jugendlichen in
                                                                 hezu alle aktuellen Studien, in denen Kinder und
Deutschland, Gütersloh 2019.
04 Vgl. Kinderrechte vorerst nicht im Grundgesetz, 7. 6. 2021,
                                                                 Jugendliche befragt werden, zu dem Ergebnis
www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/kinderrechte-​grundge-     kommen, dass die Familie eine wesentliche Ba-
setz-​113.html.                                                  sis für das allgemeine Wohlbefinden von Kindern

12
Jugend und Protest APuZ

und Jugendlichen ist, die Mehrheit durchaus das                   Wohl der Gemeinschaft und insbesondere zum
Zusammenleben mit den engsten Angehörigen                         Schutz besonders gefährdeter Menschen nur sel-
wertschätzt und sich häufig sogar mehr gemein-                    ten öffentlich durch politisch Verantwortliche an-
same Zeit etwa mit den Vätern wünscht.05                          erkannt wurde. Darüber hinaus thematisierten die
     Kinder und Jugendliche wünschen sich Er-                     Teil­neh­mer*­innen in der Befragung im November
wachsene, die sich um sie und ihre Belange wirk-                  2020 (JuCo II), dass ihnen wenig angeboten wur-
lich kümmern. Deshalb ist ein Plädoyer für die                    de, um eigene Ängste, Verunsicherung oder Zu-
Stärkung ihrer Rechte nicht mit einer Abkehr von                  kunftssorgen sichtbar zu machen. Einerseits be-
Erziehung gleichzusetzen. Erziehung ist wie Bil-                  herrschte die Pandemie den öffentlichen Diskurs,
dung als ein Recht zu verstehen. Denn der Mensch                  andererseits fanden relevante Themen für Jugend-
ist als soziales Wesen in einer komplexen Umwelt                  liche in der Pandemie kaum Aufmerksamkeit. In
darauf angewiesen, dass ihm Dinge gezeigt und                     einem Kommentar am Ende der Befragung wird
erklärt werden, dass Erfahrungen ermöglicht wer-                  die daraus resultierende Zerrissenheit wie folgt
den, ohne sich unnötigen Gefahren auszusetzen,                    beschrieben: „Vielen geht es psychisch nicht gut
dass über Richtiges und Falsches gesprochen, ja,                  und manchmal weiß ich nach einer Nachricht oder
dass überhaupt miteinander kommuniziert wird.                     einem Anruf nicht, ob sie die nächste Nacht über-
Folglich führen Kinder- und Jugendrechte nicht                    stehen werden. Dann sitze ich da und hoffe. Hoffe,
zu einer antipädagogischen Abkehr von Erzie-                      dass ich nicht hätte eigentlich zu diesen Personen
hung. Allerdings schärft die kinderrechtstheore-                  fahren müssen, dass ich mich richtig entscheide,
tische Orientierung den Blick für Situationen, in                 indem ich zu Hause sitzen bleibe, niemanden ‚ge-
denen Erziehung zu einem Herrschaftsinstrument                    fährde‘. Ich fühle mich überfordert und schutzlos
wird und Machtmissbrauch legitimiert. Vor die-                    und irgendwie ein bisschen, als könnte ich nichts
sem Hintergrund ist das in Deutschland erst im                    richtig machen. Wir jungen Menschen versuchen
Jahr 2000 realisierte Recht des Kindes auf gewalt-                glaube ich ganz verzweifelt alles richtig zu ma-
freie Erziehung ein wichtiger Schritt hin zu mehr                 chen, verantwortungsvoll zu handeln.“07
Gerechtigkeit zwischen den Generationen, weil
darüber auch Unrecht in Kindheit und Jugend                                      MANGEL AN EINFLUSS
thematisierbar wird.06                                                              AUF POLITIK
     Besonders hartnäckig und kränkend ist das
Narrativ der Irrationalität von Kindern und                       Kinder und Jugendliche haben keinen direkten
Jugendlichen in Entscheidungsprozessen be-                        Einfluss auf die Politik, und es gibt zahlreiche Be-
ziehungsweise das Argument, man könne nicht                       lege dafür, dass auch ihre altersspezifischen Inte-
darauf vertrauen, dass sie gut abwägen und ver-                   ressen und Bedürfnisse bislang nicht mal „ange-
nünftig handeln. Jungen Menschen wird unter-                      messen“ berücksichtigt werden. Es stellt sich die
stellt, dass sie mit frei verfügbarer Zeit und eige-              Frage, ob es neben den beschriebenen Narrati-
nen finanziellen Mitteln ausschließlich nach Lust                 ven dafür weitere, auch strukturelle oder genera-
und Laune agieren würden. Abgesehen von der                       tionenspezifische Ursachen gibt. So könnte eine
Frage, in welchem Maße diese Formen situativen                    These lauten, dass die Demografie ein maßgebli-
oder lustvollen Vorgehens auch auf andere Al-                     cher Faktor ist, dass also die Interessen von Kin-
tersgruppen zutrifft, hat doch gerade die Covid-                  dern und Jugendlichen vor allem in jenen Ländern
19-Pandemie vor Augen geführt, in welch hohem                     kaum berücksichtigt werden, in denen die entspre-
Maße Kinder und Jugendliche in der Lage sind,                     chenden Altersgruppen in der Minderheit sind.
ihr Verhalten zu ­regulieren.                                         Die ersten deskriptiven Ergebnisse eines Ver-
     Die Kommentare von Jugendlichen in bei-                      gleichs zwischen 34 Ländern im Rahmen der Stu-
den JuCo-Studien verdeutlichen allerdings, dass                   die „Children’s Worlds“ lassen allerdings Zweifel
ihre Bereitschaft zum Verzicht, ihr Einsatz zum                   aufkommen, ob im Hinblick auf die Generatio-
                                                                  nen Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse aus-
                                                                  sagekräftig genug sind, um Unterschiede subjekti-
05 Vgl. World Vision Deutschland e. V., Kinder in Deutschland,
                                                                  ver Zufriedenheit von Kindern und Jugendlichen
Weinheim 2018.
06 Vgl. Sabine Andresen, Gewalt in der Erziehung als Unrecht
thematisieren. Perspektiven aus der Aufarbeitung sexuellen Kin-   07 Vgl. dies., Sprachlos im Stimmengewirr, 26. 1. 2021, www.taz.
desmissbrauchs, in: Zeitschrift für Pädagogik 1/2018, S. 6–14.    de/!​5745901.

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mit der Gesellschaft, in der sie leben, erklären zu                  deutlich höher als in Deutschland, und auch in
können. Die von der Jacobs-Foundation in Zü-                         diesen Ländern liegt eine vergleichsweise niedrige
rich geförderte Studie basiert auf repräsentati-                     Geburtenrate vor (2018: 1,67 in Estland und 1,46
ven Ländererhebungen bei Kindern und Jugend-                         in Polen). In Estland und Polen ist aber der Anteil
lichen zwischen acht und zwölf Jahren und fragt                      an Kindern und Jugendlichen besonders hoch, von
nach deren Wohlbefinden, nach Zufriedenheit                          denen ein oder beide Elternteile im Ausland ar-
und dem Alltag in Familie, Schule, Nachbarschaft                     beiten und über längere Zeiträume nicht mit ihren
und Freizeit. Einbezogen sind außerdem Fragen                        Kindern zusammenleben. Das geringere Wohlbe-
zur Beziehungsqualität mit Gleichaltrigen, zu                        finden könnte also auch mit der Abwesenheit der
Zukunftsfragen und Kinderrechten. Zudem wer-                         Eltern zu tun haben und nicht mit der Demografie.
den anhand erprobter psychometrischer Skalen                             Diese ausgewählten und hier nur knapp skiz-
Vergleiche zum subjektiven allgemeinen Wohlbe-                       zierten Befunde mögen dafür sensibilisieren, dass
finden zwischen den beteiligten Ländern und in-                      die Gestaltung einer Politik für die Jugend nicht
nerhalb der einzelnen Länder möglich.08                              nur von den Stimmen junger Menschen im eigenen
    Vergleicht man die Antworten von Zwölfjäh-                       Land profitieren würde, sondern gerade auch der
rigen in Deutschland, einem Land mit vergleichs-                     internationale Vergleich weiterführende Perspek-
weise niedriger Geburtenrate (2018: 1,57 Geburten                    tiven ermöglicht. Die Analyse des Datensatzes ei-
pro Frau), mit den Antworten ihrer Alters­      ge­                  ner früheren Erhebung von „Children’s Worlds“
noss*­innen in Israel, einem Land mit vergleichs-                    in 15 Ländern durch ein Team aus Südkorea hat
weise hoher Geburtenrate (2018: 3,09), ergeben                       beispielsweise ergeben, dass ein positives Wohlbe-
sich auf den ersten Blick durchaus Hinweise auf                      finden insbesondere mit den Wahlmöglichkeiten
demografische Einflüsse. Während in Deutsch-                         von Kindern und Jugendlichen zusammenhängt.09
land der Anteil derjenigen, die gar nicht zufrieden                  Wenn Kinder und Jugendliche über realistische
sind mit dem Zusammenleben in ihrer unmittelba-                      Optionen verfügen, zwischen diesen entscheiden
ren Umgebung, bei 5,9 Prozent liegt, beträgt der                     und selbstbestimmt handeln können, werden so-
Anteil in Israel 2,3 Prozent. In Deutschland sind                    wohl die objektive Lebenslage besser als auch das
11,4 Prozent mit dem, was sie in der Schule lernen,                  subjektive Empfinden höher bewertet als bei den-
sehr unzufrieden, in Israel sind es 8,9 Prozent. In                  jenigen, denen nur wenige Optionen angeboten
Deutschland liegt der Anteil Zwölfjähriger, die                      werden. Dies ist an sich aber keine neue Erkennt-
ein niedriges allgemeines Wohlbefinden angeben,                      nis, weshalb sich vielmehr die Frage stellt, warum
bei 3,7 Prozent, in Israel beträgt er 2,8 Prozent.                   die positive Wirkung von Wahlmöglichkeiten und
Die Unterschiede mögen nicht groß erscheinen,                        Handlungsspielräumen in Kindheit und Jugend
gleichwohl könnte hieran anschließend geprüft                        in Politik und Gesellschaft und vor allem auch in
werden, welche Maßnahmen in einem Land wie                           Bildungs- und Freizeiteinrichtungen bislang so
Deutschland mit seiner demografischen Entwick-                       wenig Berücksichtigung gefunden hat.
lung nötig wären, um eine überzeugende Politik
für die Jugend zu r­ ealisieren.                                                EINE FRAGE DER HALTUNG
    Doch Demografie ist nur ein Faktor, und es
müssen weitere Kriterien und Indikatoren hinzu-                      Der zentrale Ausgangspunkt der Argumentation,
gezogen werden. Auch dafür geben internationale                      dass junge Menschen sich kaum gehört, gesehen
Vergleiche aufschlussreiche Hinweise. Der Anteil                     und beteiligt fühlen, lässt sich also einerseits durch
der Zwölfjährigen mit einem geringen allgemei-                       Kindheits- und Jugendstudien empirisch belegen
nen Wohlbefinden liegt beispielsweise in Estland                     und andererseits normativ kritisieren. Kinder, Ju-
bei 7,1 Prozent und in Polen bei 7,2 Prozent, also                   gendliche und junge Erwachsene deuten diesen
                                                                     Sachverhalt als Mangel an Respekt und fordern
08 Vgl. Gwyther Rees et al. (Hrsg.), Children’s Views on Their       eine andere Haltung von Erwachsenen – so etwa
Lives and Well-Being in 35 Countries: A Report on the Children’s     ein Ex­pert*­in­nen­team aus Jugendlichen der Ber-
Worlds Project, 2016–19, Jerusalem 2020, https://isciweb.org/
wp-​content/uploads/​2020/​07/Childrens-​Worlds-​Comparative-​
Report-​2020.pdf. Das allgemeine Wohlbefinden (well-being)           09 Vgl. Bong Joo Lee/Min Sang Yoo, What Accounts for the
bemisst sich dabei an sechs Items, darunter Zufriedenheit mit        Variations in Children’s Subjective Well-Being Across Nations?
sich selbst, mit selbstbestimmter Zeit, mit positiven Zukunftsplä-   A Decomposition Method Study, in: Children and Youth Services
nen und damit, wie freundlich Menschen mit einem umgehen.            Review 80 C/2017, S. 15–21.

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