AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Jugend und Protest - Bundeszentrale für ...
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71. Jahrgang, 38–39/2021, 20. September 2021 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Jugend und Protest Simon Schnetzer · Klaus Hurrelmann Thorsten Faas · Anton Könneke JUGEND 2021. WÄHLEN AB 16? PANDEMIE, PROTEST, PRO UND CONTRA PARTIZIPATION Yağmur Mengilli Sabine Andresen CHILLEN ALS WIE SOLLTE POLITIK FÜR JUGENDKULTURELLE DIE JUGEND AUSSEHEN? (PROTEST-)PRAXIS?! Nina-Kathrin Wienkoop Jörg Gertel WER DAZU GEHÖRT ZEHN JAHRE UND GEHÖRT WIRD GENERATION „ARABISCHER FRÜHLING“ Christian Lüders PROTEST ALS RESSOURCE? ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Jugend und Protest APuZ 38–39/2021 SIMON SCHNETZER · KLAUS HURRELMANN THORSTEN FAAS · ANTON KÖNNEKE JUGEND 2021. WÄHLEN AB 16? PRO UND CONTRA PANDEMIE, PROTEST, PARTIZIPATION Seit zahlreiche Jugendliche öffentlichkeitswirk- In anderthalb Pandemie-Jahren haben sich sam für mehr Klimaschutz demonstrieren, wird die meisten Jugendlichen solidarisch mit den auch in Deutschland wieder verstärkt über das älteren Generationen gezeigt und Freiheitsein- Thema Absenkung des Wahlalters diskutiert. schränkungen hingenommen. Es ist an der Zeit, Was spricht für das Wahlrecht ab 16? Und wie den Jungen mehr Gehör zu schenken und ihr lauten die Argumente dagegen? Protestpotenzial konstruktiv zu nutzen. Seite 29–35 Seite 04–10 YAĞMUR MENGILLI SABINE ANDRESEN CHILLEN ALS JUGENDKULTURELLE WIE SOLLTE POLITIK FÜR DIE JUGEND (PROTEST-)PRAXIS?! AUSSEHEN? Einerseits wird Chillen als Nichtstun mit Eine Politik für Kinder und Jugendliche muss Passivität und Rückzug ins Zuhause verbunden, umfassende Beteiligungsmöglichkeiten schaffen andererseits mit Vergemeinschaftung im und einen Beitrag dazu leisten, dass ihre Interes- öffentlichen Raum. Beide Betrachtungsweisen sen vorrangig Berücksichtigung finden. Dazu ist deuten darauf hin, dass die Jugend chillt und es nötig, die hartnäckigen Vorbehalte gegenüber Erwachsenen unklar ist, was dabei passiert. dieser Altersgruppe zu überwinden. Seite 36–40 Seite 11–16 JÖRG GERTEL NINA-KATHRIN WIENKOOP ZEHN JAHRE GENERATION WER DAZU GEHÖRT UND GEHÖRT WIRD „ARABISCHER FRÜHLING“ Zwar gibt es in Deutschland viel jugendliches Die Situation für die Generation „Arabischer Engagement und eine große Vielfalt an Vereinen Frühling“ ist problematisch: Seit den Protesten und Bewegungen, aber es gibt auch Teilhabe 2011 haben Perspektivlosigkeit, Ungleichheit hürden und strukturelle Ausschlussmechanis- und Gewalt zugenommen. Die Covid-19-Pan- men. Anders als bei Parteien und Wahlen sind demie verstärkt die Prozesse der Enteignung von die Barrieren jedoch informeller. Lebenschancen zusätzlich. Seite 17–22 Seite 41–46 CHRISTIAN LÜDERS PROTEST ALS RESSOURCE? Der 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundes- regierung führt vor Augen, dass in jugendlichen Protestbewegungen einiges Potenzial für die politische Bildung liegt. Das Engagement allein gewährleistet indes nicht, dass damit auch Demokratiebildung angeregt wird. Seite 23–28
EDITORIAL Im Frühjahr 2021 konnten junge Klimaaktivist:innen einen bedeutenden Erfolg feiern: Nach ihren Verfassungsbeschwerden gegen das Klimaschutzgesetz musste die Bundesregierung die darin festgelegten Ziele zur Minderung von Treibhaus- gasemissionen schärfen, damit die Lasten nicht vor allem folgenden Generationen aufgebürdet werden. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen hatten damit – unterstützt von Umweltorganisationen – das Anliegen einer weltweiten Protest- bewegung von der Straße bis vor das Bundesverfassungsgericht getragen und ihm auf diese Weise ganz neue Geltung verschafft. Der Gerichtsbeschluss und die unmittelbaren politischen Reaktionen da- rauf zeigen zum einen, dass sich beharrlicher Protest lohnen kann – ist doch anzunehmen, dass es ohne den gesellschaftlichen und medialen Rückenwind durch die regelmäßigen „Klimastreiks“ kaum zu den Verfassungsbeschwerden gekommen wäre. Zum anderen verdeutlicht diese Episode, dass grundlegende Bedürfnisse und Interessen von Kindern und Jugendlichen bei politischen Entscheidungen oft übergangen und, wenn überhaupt, erst unter massivem Druck berücksichtigt werden. Nicht zuletzt deshalb erhalten Diskussionen um eine Verankerung von Kinder- und Jugendrechten im Grundgesetz oder um eine Absenkung des Wahlalters bei Bundestagswahlen auf 16 Jahre immer wieder neue Aktualität. Auch in der Corona-Pandemie fanden Jugendliche für ihre Belange bislang kaum Gehör. Obwohl sich die meisten von ihnen mit den älteren, gefährdeteren Altersgruppen solidarisch zeigten und sich lange Zeit stark einschränkten, steht vie- len ein weiterer Schulwinter bei geöffneten Fenstern bevor, ohne dass inzwischen für eine wesentlich bessere Ausstattung von Schulen oder Universitäten gesorgt worden wäre. Anlässe für jugendlichen Protest wird es weiterhin zur Genüge geben. So gut und richtig es ist, wenn Jugendliche sich für die Durchsetzung ihrer Rechte engagieren, so beschämend ist es, dass es offenbar so notwendig ist. Johannes Piepenbrink 03
APuZ 38–39/2021 JUGEND 2021 Pandemie, Protest, Partizipation Simon Schnetzer · Klaus Hurrelmann Jung sein in Zeiten der Corona-Pandemie fühlt der Schule, auf dem Uni-Campus, bei der Arbeit sich an, wie „Mensch ärgere Dich nicht“ zu spie- oder in der Freizeit ihre Freunde nicht einfach len: Kaum erlauben sich Jugendliche, wieder et- treffen oder sich unkompliziert verlieben konn- was für die Zukunft zu planen, kommt die nächs- ten, in denen es ihnen nicht möglich war, ihren te Welle, und es geht zurück auf Anfang. In Hobbys wie gewohnt nachzugehen oder sich zu Interviews berichten Jugendliche von Geburtsta- engagieren. gen und ihrem Schulabschluss, die sie gerne ge- Von vielen älteren Menschen ist bisweilen zu feiert hätten und nicht konnten, von Praktika, hören, dass die Jungen „sich nicht so anstellen“ Reisen und Auslandsaufenthalten, die ersatzlos sollen, es gehe ihnen doch trotz allem gut. Im ausgefallen sind, und von einer psychischen Be- Vergleich zur Kriegsgeneration mag das stim- lastung, der viele nicht mehr ohne professionel- men, doch die Jugendlichen vergleichen sich mit le Hilfe standhalten. Hier wächst eine „Generati- älteren Freunden oder Geschwistern, denen es on Reset“ heran: Einerseits leben Jugendliche mit in ihrer Lebensphase besser ging. Zudem zählt frustrierender Planungsunsicherheit und verbau- die Jugendzeit zu den wichtigsten Phasen, was ten Chancen, andererseits beweisen sie angesichts die Entwicklung der Persönlichkeit und die be- der epochalen Herausforderung Anpassungsfä- rufliche Orientierung angeht. Während die Älte- higkeit und Kreativität, um sich Freiheiten und ren bereits „angekommen“ sind, sind die Jungen Perspektiven zurückzuerobern. noch auf der Suche – nach ihrer Identität, ihrer Im Folgenden gehen wir der Frage nach, wie sexuellen Orientierung, einem Partner oder ei- sich diese Situation auf das Verhältnis der jungen ner Partnerin, nach Freundinnen und Freunden Generation zur Politik auswirkt. Fühlen sich die fürs Leben, nach einem Ort, an dem sie leben Jugendlichen von der Politik ungerecht behan- und einer Aufgabe, der sie sich widmen wollen. delt? Wie groß ist ihr Protestpotenzial? Wurde Diese Suche findet für die Angehörigen der so- es durch die Corona-Pandemie verändert, abge- genannten Generation Z (ungefähr zwischen schwächt oder verstärkt? Anschließend geht es 1995 und 2010 geboren) durch die Corona-Pan- um die Frage, welche Wünsche und Forderungen demie unter erschwerten Bedingungen statt, die Angehörigen der jungen Generation artiku- weil Räume des sozialen Miteinanders und Ken- lieren, wenn es um ihren Part bei der Mitgestal- nenlernens wie Feste, Ausbildungsmessen oder tung des gesellschaftlichen Lebens geht – welche Praktika häufig nicht oder ersatzweise nur digi- Erwartungen sie also mit eigener politischer Be- tal stattfinden. teiligung verknüpfen. Die Kommunikation der Politik in Rich- tung der Jugend beschränkte sich in den zurück- LEBENSGEFÜHL liegenden anderthalb Jahren im Wesentlichen KONTROLLVERLUST auf die zentralen Forderungen: Nehmt Rück- sicht, haltet euch an die Regeln und wartet ab. Die Corona-Pandemie dauert nun schon andert- Die Botschaft ist angekommen. Das zeigt un- halb Jahre. Im Leben eines Teenagers oder jun- sere Studie „Jugend und Corona in Deutsch- gen Erwachsenen ist dies eine sehr lange Zeit. Es land“ mit Erhebungen im Herbst 2020 und im geht um anderthalb Jahre in einer Lebensphase, Sommer 2021:01 Etwa zwei Drittel der 14- bis von der viele Ältere sagen, es sei die beste Zeit ih- 29-Jährigen verhalten sich demnach rücksichts- res Lebens gewesen. Für die heutigen Jugendli- voll und den älteren Generationen gegenüber chen geht es um anderthalb Jahre, in denen sie in bewusst solidarisch, und sie verzichten weitge- 04
Jugend und Protest APuZ hend auf Feiern und Partys. Dieser Umstand PANDEMIEBEDINGTE ist bemerkenswert, weil über 50 Prozent die- FREIHEITSBERAUBUNG ser jungen Menschen davon berichten, dass sich ihre psychische Gesundheit aufgrund der Aus- Doch sie hatten nur scheinbar alles, denn ei- wirkungen der Corona-Pandemie verschlech- nes hatten sie nicht: die Freiheit, zu tun, was sie tert hat: Sie fühlen sich einsam, demotiviert und wollten. Diese Freiheit aber, das wurde in der antriebslos. Wenn sie ihre Situation beschreiben, öffentlichen Diskussion oft übersehen, ist für erzählen viele davon, dass ihnen die Kontrolle die Lebensphase Jugend eine Lebensnotwen- über ihr Leben entgleitet. digkeit. Ohne diese Freiheit ist der Aufbau ei- Hier liegen die Hauptgründe für die erschwer- ner selbstständigen Persönlichkeit nicht mög- te Situation: in der Ungewissheit darüber, wie es lich. Und das ist unserer Auffassung nach der weitergeht, in dem Gefühl, keine Kontrolle über entscheidende Punkt, der zum Auslöser für den wichtige Entscheidungen der Lebensgestaltung politischen Protest der jungen Generation wer- zu haben. Jugendliche wissen in der Pandemie-Si- den könnte. tuation nicht, wie sie sich motivieren sollen, weil Im Sommer 2021 schreiben Medien in al- gefühlt alles, was Spaß macht – wie Ausgehen, len Teilen Deutschlands über Jugendliche, die Feste feiern, Festivals besuchen oder Verreisen –, in Parks feiern, Alkohol trinken und sich nicht nicht oder nur eingeschränkt erlaubt ist; weil sie an Hygienevorschriften halten. Es sind junge vergeblich darauf gewartet haben, vonseiten der Menschen, die sehen, wie ältere, bereits geimpf- Politik Verständnis und Unterstützung für ihre te Menschen wieder Freiheiten genießen, die schwierige Lage zu bekommen; und weil nur die ihnen weiterhin verwehrt sind. 60 Prozent der Eltern und die Freunde noch zu ihnen halten, die 14- bis 29-Jährigen wollen unbedingt geimpft aber jetzt selbst völlig erschöpft und mit ihren werden, weitere 20 Prozent unter bestimmten Unterstützungsmöglichkeiten am Ende sind.1 Voraussetzungen (bestimmter Impfstoff, zu er- Die jungen Deutschen haben seit Beginn der wartende Vorteile, mehr Kenntnis über mögli- Pandemie erstaunlich viel Geduld mit der Poli- che Nebenwirkungen).02 Die junge Generation tik bewiesen. Sie haben Verständnis dafür gezeigt, findet es ungerecht, dass Geimpfte mehr Frei- wie langsam und schlecht die Bildungssysteme heiten genießen als Ungeimpfte, solange nicht der verschiedenen Bundesländer die Digitalisie- alle ein Impfangebot erhalten haben. Im Ab- rung von Unterricht und Prüfungen für Schüle- wägen, ob sie sich weiteren psychischen Scha- rinnen und Schüler, Auszubildende und Studie- den zufügen wollen oder nicht, gehen sie wie- rende umgesetzt haben. Sie haben achselzuckend der in die Parks, treffen sich mit Freunden und zur Kenntnis genommen, dass alle politischen feiern. Sie brechen bewusst die Regeln, weil sie Weichen zur Abfederung der negativen Folgen sich die Freiheiten nicht länger nehmen lassen der Pandemie vor allem zugunsten der mittleren wollen. Und sie werden von der Polizei nach und der älteren Generation gestellt wurden. Sie Hause geschickt. Viele gehen heim, einige wol- haben sich in ihren vier Wänden eingerichtet und len sich das Feiern und den anhaltenden Frei- Struktur in den durch Online-Termine getak- heitsentzug nicht länger bieten lassen. In meh- teten Tag gebracht, obwohl sie Kopfschmerzen reren Städten kommt es zu „Krawallnächten“ von Online-Unterricht und Online-Lerngruppen und verwüsteten Parks. Die Politik reagiert mit hatten. Sie haben die Einsamkeit akzeptiert, weil Versammlungsverboten in Parkanlagen, Ab- es ihnen ja grundsätzlich gut ging, es zumindest sperrungen oder Einlasskontrollen an beliebten nicht an einem Dach überm Kopf und etwas zu Treffpunkten, die Polizei mit härterem Durch- Essen mangelte – weil sie offenbar alles Lebens- greifen. notwendige hatten. Jugendliche haben in Zeiten der Corona-Pan- demie kaum alternative Rückzugsräume. Alle Locations des sozialen Miteinanders junger Men- 01 Vgl. Klaus Hurrelmann/Simon Schnetzer (Hrsg.), Jugend schen, von Schulen und Vereinen bis zu Clubs und Corona in Deutschland (Herbst 2020), Kempten 2020; dies. und Bars, sind nur mit Einschränkungen oder gar (Hrsg.), Jugend und Corona in Deutschland: Die junge Gene- ration am Ende ihrer Geduld (Sommer 2021), Kempten 2021. nicht zugänglich. In dieser Situation der fehlenden Für die Studien wurden 1602 bzw. 1011 Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 14 bis 29 Jahren befragt. 02 Vgl. Hurrelmann/Schnetzer 2021 (Anm. 1). 05
APuZ 38–39/2021 Alternativen riskiert die Politik durch eine harte reichend berücksichtigt. Beispielhaft dafür sind Antwort auf die Feiernden in Parks, Jugendliche die erfolgreichen Verfassungsbeschwerden von zu radikalisieren und zu kriminalisieren. neun Jugendlichen und jungen Erwachsenen ge- Während etwa in Stuttgart bei Demonstrati- gen das 2019 verabschiedete Klimaschutzgesetz: onen von Corona-Leugnern mit 5000 Teilneh- Das Bundesverfassungsgericht stufte das Gesetz menden ohne Maske von der Polizei aus „takti- im Frühjahr 2021 als verfassungswidrig ein, weil schen Gründen“ nicht eingeschritten wird, erhält es die Lasten der erforderlichen Minderung der zeitgleich ein 17-Jähriger, der mit sechs Freunden Treibhausgasemissionen zu sehr auf die Zeit nach beim Feierabendbierchen am Neckar sitzt, einen 2030 verschiebe und damit die Freiheitsrechte der Ordnungswidrigkeitsbescheid über 185 Euro, jüngeren Generation verletze.03 Erst die vom Ge- weil er sich vorschriftsgemäß ja nur mit Personen richt angemahnten Nachbesserungen führten zu aus zwei Haushalten treffen dürfte. Und das, ob- einer Novelle des Gesetzes, durch die die Lasten wohl die Jugendlichen bewusst ins Freie gegan- fairer zwischen den Generationen verteilt werden gen sind und sich vorher getestet haben, nachdem sollen. Das Urteil zeigt der Jugend somit auch, sie den Schultag zu zwanzigst in geschlossenen dass sie durch Engagement Dinge bewegen kann. Räumen ohne Luftfilter verbracht haben. Diese Im Vorfeld der Europawahlen im Mai 2019 Jugendlichen ziehen nicht los, um Krawall zu ma- hatten viele junge Menschen zudem ein kommu- chen, sondern weil sie sich wieder mit Freunden nikatives Schlüsselerlebnis, das die heutige Be- treffen wollen. Kommt es zu Krawallen, dann deutung der Social-Media-Kanäle für die junge gibt es spezifische Auslöser dafür. Der Mix aus Generation unterstreicht. Der Youtuber Rezo Einsamkeit, Enttäuschung, gefühlter Ungerech- veröffentlichte mit dem Video „Die Zerstörung tigkeit und Kontrollverlust führt gepaart mit der der CDU“ einen umfassend recherchierten Ver- realen Freiheitsberaubung zur Reaktion: „Jetzt riss der CDU, mit der klaren Handlungsempfeh- reicht’s!“ Diese Reaktion ist als ein Hilferuf an lung, diese Partei nicht zu wählen. Sein Video ver- die Politik zu verstehen, da Jugendliche seit nun- breitete sich viral im Netz, wurde von sämtlichen mehr anderthalb Jahren vergeblich auf eine Per- Leitmedien aufgegriffen und innerhalb weniger spektive für ihre sozialen Bedürfnisse warten. Wochen über zehn Millionen Mal aufgerufen. Die zum Teil unbeholfen wirkenden Versuche AM ENDE DER GEDULD der CDU, auf Youtube dagegenzuhalten, führten vor Augen, welche Macht Social-Media-Influen- Wann immer junge Menschen sich über den gro- cer mittlerweile haben, um die öffentliche Mei- ßen Schuldenberg, zu hohe Mieten in den Städ- nung politisch zu beeinflussen. Ein Grund für ten oder umwelt- und klimaschädliche Politik be- diesen Erfolg liegt sicherlich auch darin, dass die schweren, wird als Gegenargument das erreichte „klassischen“ Wege der Politikvermittlung nicht und zu wahrende hohe Wohlstandsniveau heran- mehr wie früher funktionieren und Parteien und gezogen, um die Diskussion zu beenden. Seit dem Medien es bislang offenbar verpasst haben, das Aufkommen der weltweiten Fridays-for-Future- große Interesse junger Menschen an politischen Bewegung ist dieses Argument ins Wanken gera- Themen zielgruppengerecht zu bedienen. Immer ten, weil immer klarer wird, in welchem Ausmaß mehr Jugendliche füllen diese Lücke mit ihren ei- der Wohlstand von morgen von einer intakten genen Wegen der digitalen Kommunikation. Umwelt und der Eindämmung des Klimawan- Lange waren Influencer vor allem mit Fitness- dels heute abhängt. Zu den zentralen politischen und Beauty-Themen, Comedy oder Tipps für ei- Erfahrungen von Jugendlichen, die vor Beginn nen erfolgreichen Lifestyle erfolgreich. Doch der Pandemie während der Unterrichtszeit für Plattformen wie Youtube oder Tiktok fördern Klimaschutz demonstrierten, zählt: (Nur) wenn die Sichtbarkeit von Accounts, die sich mit The- wir uns engagieren und gegen Regeln verstoßen men wie Bildung, Demokratie oder Berufsorien- (Schule schwänzen), bekommen wir Aufmerk- samkeit vonseiten der Politik und Medien. 03 Vgl. Bundesverfassungsgericht, Verfassungsbeschwerden Eine weitere wichtige Erfahrung dieser jun- gegen das Klimaschutzgesetz teilweise erfolgreich, Pressemittei- gen Menschen ist, dass sie erleben, wie die Po- lung, 29. 4. 2021 (zum BVerfG-Beschluss vom 24. 3. 2021), www. litik die Interessen der jungen und künftigen bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/ Generationen aus eigenem Antrieb nicht aus- DE/2021/bvg21-031.html. 06
Jugend und Protest APuZ tierung beschäftigen. In den Pandemie-Monaten Es ist deswegen durchaus ein konstruktives hatten junge Menschen zudem viel Zeit und ha- Szenario denkbar, in dem Jugendliche ihre po- ben diese scharenweise in ihren Social-Media-Er- litischen Forderungen zur Aufhebung der Ein- folg investiert. Innerhalb weniger Monate haben schränkungen ihrer Freiheitsrechte im Dialog Creators wie Tobias Jost („Der Karriereguru“) mit der Politik äußern und nicht in Form eines oder Nina Poppel („Nini_erklärt_Politik“) auf offenen Konflikts. Eine Voraussetzung dafür Tiktok ein junges Publikum von weit über Hun- wäre, dass Politikerinnen und Politiker in sämtli- derttausend Followerinnen und Followern auf- chen Landesteilen junge Menschen auf verschie- gebaut. Das sind nur zwei von vielen jungen denen Ebenen beteiligen, ihnen Perspektiven für Akteuren, die innerhalb kürzester Zeit enorm ihre Bedürfnisse aufzeigen und sie dadurch von an Reichweite und Meinungsmacht gewonnen einem Aufbegehren oder einer Radikalisierung haben. ihrer Forderungen abhalten. Hierfür ist es not- Bei Rezo war es das Gefühl von „Jetzt reicht’s“, wendig, dass sie aktiv auf junge Menschen zu- das ihn zu seinem „Zerstörungs-Video“ motivier- gehen und sich für deren Interessen einsetzen. te. Dasselbe Gefühl beobachten wir im Sommer Das heißt allerdings auch, dass bestehende Rei- 2021 bei vielen Jugendlichen, die in Parks feiern. bungspunkte auf den Tisch kommen und gewisse Größere organisierte Proteste oder politisch mo- Fronten geklärt werden müssten. Für eine solche tivierte Krawalle von Jugendlichen gegen ihre konstruktive Variante der Konfliktaustragung Benachteiligung in der Corona-Pandemie gab es spricht, dass bislang noch nicht. Doch der Druck im Kessel steigt. Die Demonstrationen der Fridays-for-Fu- –– Jugendliche eine institutionalisierte Form ture-Bewegung konzentrieren sich auf klimapoli- der Beteiligung vermissen, sich also ein tische Ziele. Aber das könnte sich schnell ändern, Sprachrohr wünschen, durch das ihre For- wenn das drängendste Problem der Jugend nicht derungen in der Pandemie klar formuliert mehr allein das Klima ist, sondern ihre anhaltend an die Politik getragen werden; eingeschränkten Freiheitsrechte. –– der Jugend junge Führungspersönlichkei- PROTESTSZENARIEN ten fehlen, die bereit wären, den Protest als „Kampf gegen das System“ anzuführen; Es stellt sich nunmehr die Frage, ob die junge Generation neben kreativen neuen und digitalen –– junge Menschen häufig nachgeben, wenn sie Protestformen auch auf traditionelle Formen wie sich im Kreis ihrer Familie gegen das Argu- klassische Straßendemonstrationen zurückgrei- ment behaupten müssen, dass es ihnen doch fen wird, so wie es die Fridays-for-Future-Bewe- „eigentlich gut“ geht und sie nur noch ein gung getan hat. Denn nur, wenn sie das tut, kann wenig Geduld haben müssen; sie in das etablierte, von den politischen Partei- en getragene Machtgefüge des politischen Pro- –– die junge Generation überwiegend im zesses wirkungsvoll eingreifen. Wegen der Ein- Geist der Kooperation mit ihren El- schränkungen infolge der Corona-Pandemie hat tern aufgewachsen ist und Konflikte eher es solche Protestformen in den vergangenen an- scheut.04 derthalb Jahren kaum gegeben. Die Mehrheit der Jugendlichen hat sich diszipliniert an die Alternativ wäre ein destruktives Szenario Kontaktbeschränkungen und andere Restriktio- denkbar, wenn im Zuge von Bundestagswahl und nen gehalten. Was der Jugend nun fehlt, ist eine gegebenenfalls Koalitionsverhandlungen die In- „Zielscheibe“ oder ein politisches „Feindbild“. teressen der jungen Generation bewusst hint- So groß die Frustration mit der Politik ist, so un- angestellt werden, weil den Kandidatinnen und geklärt ist die Frage nach den verantwortlichen Kandidaten ihr Anteil an der wahlberechtigten „Schuldigen“. Auf die Frage, wer sich konkret Bevölkerung zu unwichtig erscheint. Wenn sich hinter „der Politik“ verbirgt, wissen in unseren die Zukunftsperspektiven der Jungen daraufhin Interviews viele spontan keine Antwort und su- soweit verschlechtern, dass bei ihnen ein Gefühl chen sie irgendwo zwischen Rathaus, Kultusmi- nisterium und Bundestag. 04 Vgl. Hurrelmann/Schnetzer 2021 (Anm. 1). 07
APuZ 38–39/2021 von „wir haben eh nichts mehr zu verlieren“ ein- ration Greta“,06 die mit Fridays for Future und tritt, könnte es zu einer Verhärtung der Fronten Social Media ihre politische Schlagkraft entdeckt kommen. Verschärfend könnte wirken, wenn der hat und durch ihren Protest mehr gewinnen als Jugend weiterhin sämtliche Rückzugsräume ge- verlieren kann. Diese Jugendlichen und jungen nommen werden. Aus einer solchen Lage, wenn Erwachsenen haben sich von dem Gefühl eman- Jugendliche keinen anderen Weg mehr sehen, um zipiert, das Problem im System bei sich selbst zu ihren Interessen Gehör zu verschaffen, könnte suchen. Die destruktive Variante des gewaltberei- sich politischer Protest entwickeln, der auch ge- ten Kampfes für Zukunftsperspektiven und Frei- waltsam ausgetragen wird. Für ein solches dest- heitsrechte würde vermutlich eher von Jugend- ruktives Szenario spricht, lichen gewählt werden, die durch die Pandemie besonders getroffen wurden und das Gefühl ha- –– dass die bisherigen Antworten der Kommu- ben, weder Gehör zu finden, noch etwas zu ver- nen auf die feiernden Jugendlichen in Parks lieren zu haben. konsequent hart waren und die Jugend selbst in keiner Weise einbezogen wurde; BETEILIGUNG AKTIVIEREN –– dass sich trotz intensiver Berichterstattung Ein oft genannter Grund, warum junge Men- über die alarmierenden Auswirkungen der schen nicht häufiger beteiligt werden, ist die Ver- Corona-Pandemie auf die junge Generation mutung der Überforderung oder dass junge Men- bislang wenig bis nichts getan hat, um ihre schen nicht bereit wären, sich zu beteiligen. Dass Situation grundlegend zu verbessern. dieses Vorurteil nicht zutrifft und die Partizipati- on eher an der mangelnden Kompetenz der Or- Es ist aber durchaus auch möglich, dass die ganisatoren als am Willen der Jugend scheitert, Szenarien 1 und 2 parallel eintreten, weil ver- haben zahlreiche erfolgreiche Beteiligungspro- schiedene Gruppierungen unabhängig vonei- jekte eindrucksvoll bewiesen.07 Auch die aktuel- nander ihren Protest auf unterschiedliche Weise le IG Metall Jugendstudie zeigt, dass etwa zwei austragen. Je nachdem, wie verzweifelt jemand Drittel der 16- bis 27-jährigen Auszubildenden, ist, wird auch die Wahl der Protestform ausfal- Studierenden und Beschäftigten in Deutschland len. In unseren Studien zur Lage der Jugend in motiviert sind, sich für eine lebenswerte Zukunft der Pandemie haben wir untersucht, bei wel- zu engagieren.08 chen Gruppen innerhalb der jungen Generati- Junge Menschen stört in der Corona-Pande- on der Frust besonders hoch ist.05 Die höchste mie, dass sie bei politischen Entscheidungen, die Unzufriedenheit über ihre aktuelle schulisch- sie betreffen, häufig nicht befragt werden. Da sie berufliche Situation und die psychische Ver- das Ergebnis dieser Entscheidungen überwiegend schlechterung ihrer Gesundheit beklagen Stu- als mangelhaft und unbefriedigend wahrnehmen, dierende sowie Schülerinnen und Schüler. bringen viele Jugendliche in den Interviews für Besonders hart sind sozial Benachteiligte ge- unsere „Jugend und Corona“-Studie zunehmen- troffen, die sich komplett abgehängt fühlen, de Verärgerung sowie den Wunsch nach mehr weil sie es sich nicht leisten können, auf digitale Beteiligung zum Ausdruck.09 Es ist verwunder- Angebote zurückzugreifen. Die Krise trifft auch lich, wie wenig Raum die deutsche Pandemie-Be- Auszubildende, dual Studierende und Berufstä- tige, doch im Gegensatz zu den vorgenannten Gruppen haben sie durch ein eigenes Einkom- 06 Vgl. Klaus Hurrelmann/Erik Albrecht, Generation Greta. Was sie denkt, wie sie fühlt und warum das Klima erst der men und den Übergang ins Berufsleben bereits Anfang ist, Weinheim 2020. mehr Sicherheit und sorgen sich mehr, durch 07 Ein Beispiel ist etwa die gemeinnützige Bildungsinitiative Protest ihre berufliche Situation und Perspekti- „Rock Your Life“, in deren Rahmen Studierende sich organisieren, ven zu g efährden. qualifizieren und engagieren, um benachteiligten Jugendlichen Die wahrscheinlichsten Hauptakteure in ei- durch persönliches Coaching Perspektiven aufzuzeigen. Siehe www.rockyourlife.de. nem konstruktiven Konflikt sind Studierende so- 08 Vgl. IG Metall (Hrsg.), IG Metall Jugendstudie Plan B – wie Schülerinnen und Schüler. Es ist die „Gene- Datenreport (Autor: Simon Schnetzer), Frankfurt/M. 2021, www.igmetall.de/jugend/studie-p lan-b. 05 Vgl. Hurrelmann/Schnetzer 2021 (Anm. 1). 09 Vgl. Hurrelmann/Schnetzer 2021 (Anm. 1). 08
Jugend und Protest APuZ wältigung der Bevölkerung für Kreativität und ausgebildete Lehrpersonal angeht; eine ambiti- Gründergeist zugesteht. Aus sogenannten Zu- oniertere Klimaschutzpolitik, auch im Sinne der kunftsgestalter-Workshops wissen wir, wie kre- internationalen Gerechtigkeit; ein Umbau zu ativ, konstruktiv und motiviert Jugendliche sein ökosozialem Wirtschaften, um die natürlichen können, um für Probleme, die sie betreffen, Lö- Lebensgrundlagen zu erhalten; sowie eine besse- sungen zu entwickeln und diese exemplarisch re Förderung des gesellschaftlichen Miteinanders, umzusetzen. Es überrascht teilweise selbst die Ju- was mehr Offenheit für unterschiedliche Lebens- gendlichen, wie wertvoll die Lösungen sind, die modelle und einen stärkeren Einsatz gegen jeg- sie hervorbringen, wenn sie professionell angelei- liche Diskriminierung aufgrund äußerer Merk- tet werden. So ist der von der Bundesregierung male, Herkunft oder Religion umfasst. Zudem angestoßene Hackaton #WirVsVirus ein ausge- werden in der Studie Anregungen von Jugendli- zeichnetes Beispiel dafür, was durch Beteiligung chen und jungen Erwachsenen zusammengefasst, innerhalb kürzester Zeit an kreativem Potenzi- wie Politikerinnen und Politiker das Vertrauen al freigesetzt und auf die Lösung von Problemen der jungen Generation gewinnen können: Emp- verwendet werden kann. Der Abschlussbericht fohlen werden unter anderem Ehrlichkeit und des Projekts zeigt aber leider auch die Grenzen Authentizität, die aktive Einbindung der Bevöl- dieser Art von politischer Innovationsschmiede kerung in den politischen Diskurs und eine stär- auf: Das Momentum von vielen Projekten ver- kere Berücksichtigung der Bedürfnisse der jun- läuft sich rasch, weil die erarbeiteten Lösungen gen Generation, um bei Zukunftsentscheidungen nicht in die Prozesse und Strukturen von Verwal- eine möglichst lange Haltbarkeit sicherzustellen. tungen überführt werden.10 In unserem Ermessen ist das erstrebenswerte Doch es braucht gar nicht immer professio- Szenario die Form des konstruktiven Konflikts, nelle Workshops oder aufwändige Entwicklungs- in dessen Rahmen in kooperativer Weise die wich- veranstaltungen: Der einfachste und wichtigste tigen Zukunftsbaustellen definiert und auch aus Schritt, um junge Menschen zu Zukunftsgestalte- Sicht der jungen Generation beleuchtet werden. rinnen und -gestaltern zu machen, besteht darin, Um Politik nachhaltig zu gestalten und die Ak- ihnen zuzuhören und ihre Bedürfnisse ernst zu zeptanz durch künftige Generationen zu sichern, nehmen – zwei einfache Dinge, die viele Jugendli- ist es in dieser Krisensituation und gesellschaftli- che in der Pandemie vermisst haben. Und deshalb chen Umbruchphase wichtig, dass die Interessen ist die Forderung genau danach die wichtigste, die junger Menschen in der Politik Berücksichtigung sich an „die Politik“ beziehungsweise an die Poli- finden. Am Ende geht es nicht darum, dass eine tikerinnen und Politiker von der kommunalen bis jüngere Generation gegen eine ältere ausgespielt zur Bundesebene richtet. wird, sondern dass die legitimen Interessen aller Im Rahmen unserer Studie „Junge Deutsche Generationen berücksichtigt werden. Gerade die 2021“ haben wir über 1600 14- bis 39-Jährige in Jungen sehen hier aktuell ein großes Defizit und Deutschland befragt, welche Wünsche sie an Po- erwarten nach der langen Phase der Rücksicht- litik in Deutschland haben beziehungsweise was nahme auf die Älteren, dass es nun an der Gesell- ihre Vertreterinnern und Vertreter unbedingt tun schaft wäre, ihnen etwas zurückzugeben. sollten. Die Antworten geben eine klare inhalt- liche Orientierung.11 Gewünscht werden mehr- FAZIT heitlich allgemein mehr politische Beteiligung und eine Absenkung des Wahlalters auf 16 Jah- Unsere Studien zeigen, dass die größten Belas- re; eine Modernisierung von Schulen und Schul- tungen infolge der Corona-Pandemie für die jun- system, sowohl was die digitale Infrastruktur als ge Generation in Deutschland in der Ungewiss- auch was die Lehrpläne und das entsprechend heit der künftigen Lebensplanung und im Gefühl eines umfassenden und allgemeinen Kontroll- verlustes liegen. Diese psychischen und sozialen 10 Vgl. DigitalService4Germany, Abschlussbericht #WirVs- Belastungen wiegen weit schwerer als die finan- Virus Hackathon und Umsetzungsprogramm, Berlin 2021, ziellen Einschränkungen und Wohlstandseinbu- https://wirvsvirus.org. 11 Vgl. Simon Schnetzer, Junge Deutsche 2021. Zukunft neu ßen, die Jugendliche ebenfalls hinzunehmen ha- denken und gestalten: Lebens- und Arbeitswelten der Generati- ben. Die Mehrheit der Jugendlichen hat sich trotz on Z & Y in Deutschland, Kempten 2021, S. 36 f. dieser schwierigen Lage solidarisch mit den Be- 09
APuZ 38–39/2021 lastungen der mittleren und der älteren Generati- Diskurs einbezogen zu werden. Unter ihnen sind onen durch die Pandemie gezeigt, sich in andert- viele, die sich bereits bei Fridays for Future en- halb Pandemie-Jahren sehr diszipliniert an die gagiert haben und über auffällig gute Fähigkeiten Abstands- und Hygieneregeln gehalten und Ein- verfügen, sich inhaltlich zu artikulieren und auch schränkungen ihrer Freiheiten hingenommen. politisch-gestalterisch durchzusetzen. Das Ziel Angesichts dessen haben wir die Frage auf- aller Bemühungen seitens „der Politik“ und ih- geworfen, ob mit einem politischen Protest der rer Vertreterinnen und Vertreter sollte es deshalb jungen Generation zu rechnen ist, der darauf ab- sein, das latente Protestpotenzial in der jungen zielt, sich größere Freiheitsspielräume für ein le- Generation konstruktiv aufzunehmen und durch benswertes Leben und die persönliche Entfal- ernstgemeinte Angebote in konstruktive politi- tung (wieder) zu erobern. Wir kommen zu dem sche Partizipation umzuwandeln. Schluss, dass der Eintritt des destruktiven Kon- fliktszenarios eher unwahrscheinlich ist. Auf- lehnungen gegen Polizeieinsätze, die in einigen Städten mit krawallartigen Aktionen verbun- SIMON SCHNETZER den waren, sind von ihrem Charakter her nicht ist Diplom-Volkswirt und arbeitet als selbstständiger als politische Demonstrationen aufzufassen, son- Jugendforscher und Speaker. dern eher als ohnmächtiger Protest sozial be- mail@simon-schnetzer.com nachteiligter junger Leute. Diese Gruppe der jun- gen Generation hat es ebenso wie die Mehrheit KLAUS HURRELMANN der gut gebildeten, sozial integrierten und ange- ist Professor of Public Health and Education an der passten jungen Leute verdient, mit ihren Bedürf- Hertie School in Berlin. nissen und Interessen endlich in den politischen hurrelmann@hertie-school.org Protest Deutschland 1949–2020 Protest ist ein öffentlicher Widerspruch – auf der Straße und im Internet, mit Plakaten und Petitionen, schweigend und mit Sprech- chören. Protest trägt dazu bei, die Gesell- schaft zu verändern. Ohne ihn gäbe es keine Demokratie. Das neue Zeitbild stellt grundlegende Fragen: Wer protestiert wie und zu welchen Themen? Wie ist das Verhältnis von Protest zur Öffentlichkeit und wie seine Wirkung? Über 110 Beiträge und hunderte Bilder rufen wichtige Protestereignisse, die damit verbundenen Konflikte, engagierte Menschen und ihre Motivationen in Erinnerung. Der Band ermöglicht so einen umfassenden bpb.de/ Blick auf Protest und seine Geschichte in Deutschland. shop Bestell-Nr. 3934 10
Jugend und Protest APuZ „WAS VIELE JUGENDLICHE ABFUCKT …“ Wie sollte Politik für die Jugend aussehen? Sabine Andresen In der Covid-19-Pandemie mussten Kinder und litik relevantes Ergebnis in beiden Jugendstudi- Jugendliche in Deutschland einmal mehr eine er- en ist der Eindruck der jungen Generation, dass nüchternde Erfahrung machen: nämlich, dass sie bei politischen Entscheidungen während der ihre altersspezifischen Interessen und Bedürf- Pandemie übergangen wird. nisse in den politischen Entscheidungsprozes- Der Zitatausschnitt im Titel dieses Beitrags sen nachrangig behandelt werden. Mediale Auf- stammt aus einem der knapp 2000 Kommentare merksamkeit erhielten vor allem diejenigen von am Ende des Fragebogens. Der vollständige Kom- ihnen, die sich trotz Kontaktbeschränkungen und mentar lautet: „Was viele Jugendliche abfuckt ist Lockdown gruppenweise im öffentlichen Raum das man überhaupt nicht gehört wird, die Tages- aufhielten und als Regelbrecher*innen markiert schau spricht über Schüler jedoch werden nur die wurden. Jüngere Kinder hingegen blieben in der Meinungen von erwachsenen gezeigt aber nicht Öffentlichkeit weitestgehend unsichtbar, und von denjenigen die es überhaupt betrifft (die Schü- über sie wurde in den ersten Wochen der Pande- ler).“02 Dieser Eindruck, ignoriert zu werden und mie auch kaum gesprochen. primär Einschätzungen der älteren Menschen zu Als Kindheits- und Jugendforscher*innen ist hören, ist allerdings nicht neu, insofern trifft in die- uns daran gelegen, die Erfahrungen, Sichtweisen sem Punkt die Metapher von Corona als „Brenn- und Deutungen von Kindern und Jugendlichen in glas“ durchaus zu. Schon lange vor dem Ausbruch unseren Studien widerzuspiegeln. Durch die Kom- der Pandemie bewerteten Kinder und Jugendliche munikation der Erkenntnisse wollen wir zudem ihre Beteiligungsmöglichkeiten eher kritisch. In einen Beitrag dazu leisten, dass junge Menschen der Studie „Children’s World+“ von 2019 zum Bei- gehört und gesehen, dass sie selbst und ihre Inte- spiel problematisierten Jugendliche die abwertende ressen in Entscheidungen einbezogen werden. Die- Haltung von Erwachsenen, wobei sie ihren Eltern ses Anliegen ist im Zuge der Pandemie besonders eher eine positive Einstellung zu Beteiligung bei relevant geworden. Das Angebot des Forschungs- Entscheidungen attestieren.03 Es geht ihnen primär verbunds „Kindheit – Jugend – Familie in der Co- um die Haltung im öffentlichen Kontext und ins- rona-Zeit“ der Universitäten Frankfurt am Main besondere seitens der politisch Verantwortlichen. und Hildesheim an Jugendliche und ihre Eltern, Woran sich eine „Politik für die Jugend“ – und sich zwischen April und November 2020 an drei dieser Begriff integriert in der folgenden Argu- Online-Befragungen zu beteiligen, haben knapp mentation Kinder und Jugendliche unter 18 Jah- 13 000 Jugendliche ab 15 Jahren und 25 000 Mütter ren – messen lassen muss, ist die Kernfrage dieses und Väter mit Kindern unter 15 Jahren angenom- Beitrags. Ein erster Ausgangspunkt, auch in der men. Im Forschungsverbund haben wir diese hohe internationalen Kindheits- und Jugendforschung, Beteiligung als Zeichen für einen gesellschaftlichen ist dabei die normativ geführte Diskussion über Mangel an Gehör und Anerkennung gewertet. die Stärkung der Rechte von Kindern und Ju- Die erste Erhebung richtete sich im April 2020 gendlichen. Ohne eine Stärkung, so meine These, während des ersten „Lockdowns“ an Jugendliche bleibt eine Politik für die Jugend Makulatur. Ich ab 15 Jahren (JuCo I), die zweite von Ende April werde deshalb zunächst der Frage nach der seit bis Anfang Mai 2020 an Eltern und deren Kinder vielen Jahren zu beobachtenden Abwehr gegen- (KiCo), die dritte im November 2020 zu Beginn über einer starken Verankerung von Kinder- und des „Lockdowns light“ wiederum an Jugendliche Jugendrechten ins Grundgesetz nachgehen. Da- und junge Erwachsene (JuCo II).01 Ein für die ran anschließend geht es um ausgewählte Befun- Frage nach dem Verhältnis von Jugend und Po- de aus der Kindheits- und Jugendforschung, die 11
APuZ 38–39/2021 Gestaltungshinweise für eine an den Rechten, In- nicht erst im Hier und Heute auf Zurückweisung. teressen und Bedarfen von Kindern und Jugendli- Vielmehr ist die Diskussion darüber von hartnä- chen orientierten Politik geben können. ckigen Abwehrargumentationen durchzogen. Vier Narrative scheinen dabei besonders wirk- STÄRKUNG DER RECHTE VON mächtig zu sein: Erstens das einer unangemesse- KINDERN UND JUGENDLICHEN nen Verantwortungsverlagerung von Erwachse- nen auf Kinder; zweitens das einer Schwächung Die Aufnahme von Kinder- und Jugendrechten von Elternrechten; drittens das einer Abkehr von ins Grundgesetz ist zuletzt im Juni 2021 geschei- Erziehung; und viertens das der prinzipiellen Ir- tert. Zwar gab es einen Kabinettbeschluss, der im- rationalität von Entscheidungen und Handlun- merhin vorsah, „das Wohl des Kindes angemes- gen in der Kindheits- und Jugendphase. Sie alle sen zu berücksichtigen“, aber letztlich konnten werden standardmäßig ins Feld geführt, wenn es sich die im Bundestag vertretenen Parteien nicht darum geht, zivilgesellschaftliche Bestrebungen darauf123 einigen.04 Doch ohnehin wäre es wün- abzuwehren, die darauf zielen, eine an starken schenswert, wenn das Kindeswohl bei politischen Kinder- und Jugendrechten orientierte Form der Entscheidungen nicht nur „angemessen“, son- Generationengerechtigkeit zu etablieren. dern „vorrangig“ berücksichtigt werden müsste. Tatsächlich ließe sich jedes der vier Narrati- Auch sollte das Recht auf Beteiligung explizit ins ve argumentativ entkräften. Das Argument der Grundgesetz aufgenommen werden. Verantwortungsverschiebung auf die Jüngs- Denn letztlich sollte sich eine zeitgemäße Po- ten, denen es an Überblick und Kontrolle fehle, litik „für“ die Jugend an zwei Maßstäben messen basiert auf einem angenommenen Gegeneinander lassen: erstens an der regelhaften und über Verfah- und nicht einem Miteinander der Generationen. ren abgesicherten Beachtung der Bedarfe, Interes- Beteiligungsformen auf allen Ebenen und bezo- sen und Pläne von Kindern und Jugendlichen so- gen auf alle Altersgruppen auf den Weg zu brin- wie deren vorrangiger Berücksichtigung. Dies setzt gen, würde indes nicht weniger, sondern größere ein echtes und langfristiges Interesse an der jungen Verantwortung für die ältere Generation bedeu- Generation ebenso voraus wie die Bereitschaft, ihr ten, weil sich auch für sie Komplexität zunächst zuzuhören und sie zu beachten. Zweitens sollte erhöht und Entscheidungs- und Handlungspro- sich die Qualität einer Politik für die Jugend daran zesse anders moderiert werden müssen. bemessen, wie die Beteiligung von Kindern und Die Vorstellung, dass Kinder und Jugendliche Jugendlichen ermöglicht und auf allen Ebenen eta- mehr sind als nur ein Teil von „etwas“, nämlich bliert wird. Dies erfordert Zeit und materielle Res- der Familie, hat sich offenbar ebenfalls noch nicht sourcen für Beteiligungsprozesse und die Bereit- durchgesetzt. Sie als Rechtssubjekte anzuerken- schaft, Macht und Kontrolle zu teilen. nen und anzusprechen, zielt aber keineswegs auf Die Forderung, die Rechte von Kindern und die Abschaffung von Elternrechten. Die Sorge, Jugendlichen auf diese Weise zu stärken, stößt dass der Staat unbotmäßig in die Familie, in El- tern-Kind-Beziehungen und Erziehungsstile ein- greifen könnte, erklärt sich vor dem Hintergrund 01 Vgl. Sabine Andresen et al., Erfahrungen und Perspektiven der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen. Erste Ergebnisse der bundesweiten Studie JuCo, Hildesheim 2020; Gleichwohl ist eine polarisierende Gegenüber- dies., Kinder, Eltern und ihre Erfahrungen während der Corona- stellung von Elternrechten hier und Kinderrech- Pandemie, Hildesheim 2020; dies., „Die Corona-Pandemie hat ten dort höchst problematisch. Vielmehr wäre mir wertvolle Zeit genommen“. Jugendalltag 2020, Hildesheim zu klären, ob und wie eine Stärkung der Kin- 2020; dies., Das Leben von jungen Menschen in der Corona-Pan- derrechte in vielen Sachfragen – etwa in der Bil- demie. Erfahrungen, Sorgen, Bedarfe, Gütersloh 2021. Sämtliche Studien sind abrufbar unter https://t1p.de/studien-corona. dungspolitik, bei der Daseinsvorsorge oder in der 02 Andresen et al., Erfahrungen und Perspektiven (Anm. 1), Gesundheitspolitik – die Stellung von Kindern, S. 12. Schreibweise im Original. Jugendlichen und ihren Eltern gegenüber dem 03 Vgl. Sabine Andresen/Renate Möller, Children’s Worlds+. Staat verbessern könnte. Hinzu kommt, dass na- Eine Studie zu Bedarfen von Kindern und Jugendlichen in hezu alle aktuellen Studien, in denen Kinder und Deutschland, Gütersloh 2019. 04 Vgl. Kinderrechte vorerst nicht im Grundgesetz, 7. 6. 2021, Jugendliche befragt werden, zu dem Ergebnis www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/kinderrechte-grundge- kommen, dass die Familie eine wesentliche Ba- setz-113.html. sis für das allgemeine Wohlbefinden von Kindern 12
Jugend und Protest APuZ und Jugendlichen ist, die Mehrheit durchaus das Wohl der Gemeinschaft und insbesondere zum Zusammenleben mit den engsten Angehörigen Schutz besonders gefährdeter Menschen nur sel- wertschätzt und sich häufig sogar mehr gemein- ten öffentlich durch politisch Verantwortliche an- same Zeit etwa mit den Vätern wünscht.05 erkannt wurde. Darüber hinaus thematisierten die Kinder und Jugendliche wünschen sich Er- Teilnehmer*innen in der Befragung im November wachsene, die sich um sie und ihre Belange wirk- 2020 (JuCo II), dass ihnen wenig angeboten wur- lich kümmern. Deshalb ist ein Plädoyer für die de, um eigene Ängste, Verunsicherung oder Zu- Stärkung ihrer Rechte nicht mit einer Abkehr von kunftssorgen sichtbar zu machen. Einerseits be- Erziehung gleichzusetzen. Erziehung ist wie Bil- herrschte die Pandemie den öffentlichen Diskurs, dung als ein Recht zu verstehen. Denn der Mensch andererseits fanden relevante Themen für Jugend- ist als soziales Wesen in einer komplexen Umwelt liche in der Pandemie kaum Aufmerksamkeit. In darauf angewiesen, dass ihm Dinge gezeigt und einem Kommentar am Ende der Befragung wird erklärt werden, dass Erfahrungen ermöglicht wer- die daraus resultierende Zerrissenheit wie folgt den, ohne sich unnötigen Gefahren auszusetzen, beschrieben: „Vielen geht es psychisch nicht gut dass über Richtiges und Falsches gesprochen, ja, und manchmal weiß ich nach einer Nachricht oder dass überhaupt miteinander kommuniziert wird. einem Anruf nicht, ob sie die nächste Nacht über- Folglich führen Kinder- und Jugendrechte nicht stehen werden. Dann sitze ich da und hoffe. Hoffe, zu einer antipädagogischen Abkehr von Erzie- dass ich nicht hätte eigentlich zu diesen Personen hung. Allerdings schärft die kinderrechtstheore- fahren müssen, dass ich mich richtig entscheide, tische Orientierung den Blick für Situationen, in indem ich zu Hause sitzen bleibe, niemanden ‚ge- denen Erziehung zu einem Herrschaftsinstrument fährde‘. Ich fühle mich überfordert und schutzlos wird und Machtmissbrauch legitimiert. Vor die- und irgendwie ein bisschen, als könnte ich nichts sem Hintergrund ist das in Deutschland erst im richtig machen. Wir jungen Menschen versuchen Jahr 2000 realisierte Recht des Kindes auf gewalt- glaube ich ganz verzweifelt alles richtig zu ma- freie Erziehung ein wichtiger Schritt hin zu mehr chen, verantwortungsvoll zu handeln.“07 Gerechtigkeit zwischen den Generationen, weil darüber auch Unrecht in Kindheit und Jugend MANGEL AN EINFLUSS thematisierbar wird.06 AUF POLITIK Besonders hartnäckig und kränkend ist das Narrativ der Irrationalität von Kindern und Kinder und Jugendliche haben keinen direkten Jugendlichen in Entscheidungsprozessen be- Einfluss auf die Politik, und es gibt zahlreiche Be- ziehungsweise das Argument, man könne nicht lege dafür, dass auch ihre altersspezifischen Inte- darauf vertrauen, dass sie gut abwägen und ver- ressen und Bedürfnisse bislang nicht mal „ange- nünftig handeln. Jungen Menschen wird unter- messen“ berücksichtigt werden. Es stellt sich die stellt, dass sie mit frei verfügbarer Zeit und eige- Frage, ob es neben den beschriebenen Narrati- nen finanziellen Mitteln ausschließlich nach Lust ven dafür weitere, auch strukturelle oder genera- und Laune agieren würden. Abgesehen von der tionenspezifische Ursachen gibt. So könnte eine Frage, in welchem Maße diese Formen situativen These lauten, dass die Demografie ein maßgebli- oder lustvollen Vorgehens auch auf andere Al- cher Faktor ist, dass also die Interessen von Kin- tersgruppen zutrifft, hat doch gerade die Covid- dern und Jugendlichen vor allem in jenen Ländern 19-Pandemie vor Augen geführt, in welch hohem kaum berücksichtigt werden, in denen die entspre- Maße Kinder und Jugendliche in der Lage sind, chenden Altersgruppen in der Minderheit sind. ihr Verhalten zu regulieren. Die ersten deskriptiven Ergebnisse eines Ver- Die Kommentare von Jugendlichen in bei- gleichs zwischen 34 Ländern im Rahmen der Stu- den JuCo-Studien verdeutlichen allerdings, dass die „Children’s Worlds“ lassen allerdings Zweifel ihre Bereitschaft zum Verzicht, ihr Einsatz zum aufkommen, ob im Hinblick auf die Generatio- nen Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse aus- sagekräftig genug sind, um Unterschiede subjekti- 05 Vgl. World Vision Deutschland e. V., Kinder in Deutschland, ver Zufriedenheit von Kindern und Jugendlichen Weinheim 2018. 06 Vgl. Sabine Andresen, Gewalt in der Erziehung als Unrecht thematisieren. Perspektiven aus der Aufarbeitung sexuellen Kin- 07 Vgl. dies., Sprachlos im Stimmengewirr, 26. 1. 2021, www.taz. desmissbrauchs, in: Zeitschrift für Pädagogik 1/2018, S. 6–14. de/!5745901. 13
APuZ 38–39/2021 mit der Gesellschaft, in der sie leben, erklären zu deutlich höher als in Deutschland, und auch in können. Die von der Jacobs-Foundation in Zü- diesen Ländern liegt eine vergleichsweise niedrige rich geförderte Studie basiert auf repräsentati- Geburtenrate vor (2018: 1,67 in Estland und 1,46 ven Ländererhebungen bei Kindern und Jugend- in Polen). In Estland und Polen ist aber der Anteil lichen zwischen acht und zwölf Jahren und fragt an Kindern und Jugendlichen besonders hoch, von nach deren Wohlbefinden, nach Zufriedenheit denen ein oder beide Elternteile im Ausland ar- und dem Alltag in Familie, Schule, Nachbarschaft beiten und über längere Zeiträume nicht mit ihren und Freizeit. Einbezogen sind außerdem Fragen Kindern zusammenleben. Das geringere Wohlbe- zur Beziehungsqualität mit Gleichaltrigen, zu finden könnte also auch mit der Abwesenheit der Zukunftsfragen und Kinderrechten. Zudem wer- Eltern zu tun haben und nicht mit der Demografie. den anhand erprobter psychometrischer Skalen Diese ausgewählten und hier nur knapp skiz- Vergleiche zum subjektiven allgemeinen Wohlbe- zierten Befunde mögen dafür sensibilisieren, dass finden zwischen den beteiligten Ländern und in- die Gestaltung einer Politik für die Jugend nicht nerhalb der einzelnen Länder möglich.08 nur von den Stimmen junger Menschen im eigenen Vergleicht man die Antworten von Zwölfjäh- Land profitieren würde, sondern gerade auch der rigen in Deutschland, einem Land mit vergleichs- internationale Vergleich weiterführende Perspek- weise niedriger Geburtenrate (2018: 1,57 Geburten tiven ermöglicht. Die Analyse des Datensatzes ei- pro Frau), mit den Antworten ihrer Alters ge ner früheren Erhebung von „Children’s Worlds“ noss*innen in Israel, einem Land mit vergleichs- in 15 Ländern durch ein Team aus Südkorea hat weise hoher Geburtenrate (2018: 3,09), ergeben beispielsweise ergeben, dass ein positives Wohlbe- sich auf den ersten Blick durchaus Hinweise auf finden insbesondere mit den Wahlmöglichkeiten demografische Einflüsse. Während in Deutsch- von Kindern und Jugendlichen zusammenhängt.09 land der Anteil derjenigen, die gar nicht zufrieden Wenn Kinder und Jugendliche über realistische sind mit dem Zusammenleben in ihrer unmittelba- Optionen verfügen, zwischen diesen entscheiden ren Umgebung, bei 5,9 Prozent liegt, beträgt der und selbstbestimmt handeln können, werden so- Anteil in Israel 2,3 Prozent. In Deutschland sind wohl die objektive Lebenslage besser als auch das 11,4 Prozent mit dem, was sie in der Schule lernen, subjektive Empfinden höher bewertet als bei den- sehr unzufrieden, in Israel sind es 8,9 Prozent. In jenigen, denen nur wenige Optionen angeboten Deutschland liegt der Anteil Zwölfjähriger, die werden. Dies ist an sich aber keine neue Erkennt- ein niedriges allgemeines Wohlbefinden angeben, nis, weshalb sich vielmehr die Frage stellt, warum bei 3,7 Prozent, in Israel beträgt er 2,8 Prozent. die positive Wirkung von Wahlmöglichkeiten und Die Unterschiede mögen nicht groß erscheinen, Handlungsspielräumen in Kindheit und Jugend gleichwohl könnte hieran anschließend geprüft in Politik und Gesellschaft und vor allem auch in werden, welche Maßnahmen in einem Land wie Bildungs- und Freizeiteinrichtungen bislang so Deutschland mit seiner demografischen Entwick- wenig Berücksichtigung gefunden hat. lung nötig wären, um eine überzeugende Politik für die Jugend zu r ealisieren. EINE FRAGE DER HALTUNG Doch Demografie ist nur ein Faktor, und es müssen weitere Kriterien und Indikatoren hinzu- Der zentrale Ausgangspunkt der Argumentation, gezogen werden. Auch dafür geben internationale dass junge Menschen sich kaum gehört, gesehen Vergleiche aufschlussreiche Hinweise. Der Anteil und beteiligt fühlen, lässt sich also einerseits durch der Zwölfjährigen mit einem geringen allgemei- Kindheits- und Jugendstudien empirisch belegen nen Wohlbefinden liegt beispielsweise in Estland und andererseits normativ kritisieren. Kinder, Ju- bei 7,1 Prozent und in Polen bei 7,2 Prozent, also gendliche und junge Erwachsene deuten diesen Sachverhalt als Mangel an Respekt und fordern 08 Vgl. Gwyther Rees et al. (Hrsg.), Children’s Views on Their eine andere Haltung von Erwachsenen – so etwa Lives and Well-Being in 35 Countries: A Report on the Children’s ein Expert*innenteam aus Jugendlichen der Ber- Worlds Project, 2016–19, Jerusalem 2020, https://isciweb.org/ wp-content/uploads/2020/07/Childrens-Worlds-Comparative- Report-2020.pdf. Das allgemeine Wohlbefinden (well-being) 09 Vgl. Bong Joo Lee/Min Sang Yoo, What Accounts for the bemisst sich dabei an sechs Items, darunter Zufriedenheit mit Variations in Children’s Subjective Well-Being Across Nations? sich selbst, mit selbstbestimmter Zeit, mit positiven Zukunftsplä- A Decomposition Method Study, in: Children and Youth Services nen und damit, wie freundlich Menschen mit einem umgehen. Review 80 C/2017, S. 15–21. 14
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