Verdrängungswettbewerb im Einzelhandel: Zwischen Preiskrieg, Tarifflucht und Altersarmut - www.handel.verdi.de - VERDI Handel
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Verdrängungswettbewerb im Einzelhandel: Zwischen Preiskrieg, Tarifflucht und Altersarmut www.handel.verdi.de Einzelhandel
Impressum ver.di Bundesvorstand, Fachbereich Handel W-3519-10-0517 Verfasser: Dr. Jürgen Glaubitz Düsseldorf im Mai 2017
Inhaltsverzeichnis Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Zur Situation der Beschäftigten im Einzelhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Anzahl und Struktur der Arbeitnehmer/-innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Tarifeinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Tarifbindung im Einzelhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Die Erosion der Tarifbindung im Einzelhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Ohne Tarifbindung bis zu 32 Prozent weniger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Altersarmut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 3 Daten und Fakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Armutsgefährdung der Einzelhandelsbeschäftigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Der Wettbewerb im deutschen Einzelhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Zunehmende Konzentration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Verkaufsflächenexpansion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Boomender Onlinehandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Preiskampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Staatliche Deregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Rabattgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Deregulierung des Arbeitsmarktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Öffnungszeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Für eine bessere Perspektive im deutschen Einzelhandel . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Forderungen an die Politik: Regulierung statt Deregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Erwartungen an die Arbeitgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Anhang/Daten und Fakten zur Rente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 So wird die Altersrente berechnet Von der Brutto-Rente werden abgezogen Drei fiktive Beispiele aus dem Einzelhandel Risiken der Armutsgefährdung im Einzelhandel Von brutto zu netto (zwei konkrete Beispiele) Literaturliste und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
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Vorbemerkungen Vorbemerkungen Wettlauf eine weitere negative Trendverstärkung erhalten. Damit wurde eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt, seither ist die Tarifbindung im Wohl kaum eine Branche hat sich in den letzten Einzelhandel erodiert. zwanzig Jahren so stark verändert wie der Einzelhandel. Riesige Konzerne mit enormer Nach „außen“ prägen niedrige Preise, hohe Marktmacht dominieren – Zehntausende Rabatte und wohlfeile Werbekampagnen das kleinerer Unternehmen sind ausgeschieden. Es Bild des deutschen Einzelhandels – „innen“ findet ein erbitterter Verdrängungswettbewerb dominieren in vielen Unternehmen prekäre statt, der überwiegend über Preiskämpfe, Beschäftigung, zunehmender Leistungsdruck Öffnungszeiten und Flächenerweiterungen und untertarifliche Bezahlung. Für die Mehrzahl geführt wird. Der boomende Onlinehandel und der Beschäftigten bietet sich eine ausgespro- eine zunehmende Konzentrationsentwicklung chen düstere Perspektive: Nach unseren erhöhen den Wettbewerbsdruck. Berechnungen werden mindestens 2,5 Millionen Menschen nach einem harten Arbeitsleben Die Handelslandschaft ist tief zerklüftet, grell anschließend in Altersarmut „entlassen“. glitzernde Flagship-Stores in Einkaufsmeilen, Shoppingparadiese und Konsumpaläste auf der 5 einen Seite – auf der anderen Seite viel Tristesse, Der Handel ist heute eine Branche in der Billigheimer, 1-Euro-Shops und Leerstände in die Mehrheit der Beschäftigten akut von strukturschwachen Regionen und vielen Mittel- Altersarmut bedroht ist. und Kleinstädten – und nicht selten auch in zentralen Lagen größerer Städte. Wir wollen im Folgenden zeigen wie sich derzeit die finanzielle Situation der Arbeitnehmer/-innen Der ruinöse Verdrängungskampf hat nicht nur im Einzelhandel darstellt. Dabei werden auch die Handelslandschaft verändert, sondern vor die konkreten Auswirkungen der Tarifflucht allem auch tiefe Spuren beim Personal hinter- analysiert. Dann wollen wir zeigen, welche lassen. Der Einzelhandel ist eine Branche, in der Konsequenzen sich für die Betroffenen bezüglich Vollzeitstellen massiv abgebaut wurden, in der ihrer Altersrente ergeben. Dabei wird untersucht, heute atypische Beschäftigungsverhältnisse wie sich die Armutsgefährdung für einzelne überwiegen. Die Arbeitsbedingungen haben sich Beschäftigtengruppen darstellt. Schließlich soll immer mehr verschlechtert (Arbeitsbelastung, gezeigt werden, welche Auswirkungen der Stress, Arbeitszeitlage, graue Überstunden). ruinöse Verdrängungskampf im deutschen Einzelhandel für Mittelstand, Hersteller, Der ruinöse Wettbewerb wird durch staatliche Verbraucher und Beschäftigte hat. Schlussend- Deregulierung noch zusätzlich angeheizt. Die lich werden verschiedene Lösungsansätze weitgehende Freigabe der Öffnungszeiten und vorgestellt. die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes im Zuge der Hartz-Gesetze haben Schleusen geöffnet für einen Minijob-Boom, für Dumpinglöhne und den missbräuchlichen Einsatz von Leiharbeit und Werkverträgen. Mit der arbeitgeberseitigen Aufkündigung der Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge im Einzelhandel im Jahre 2000 hat der ruinöse
Zur Situation der Beschäftigten im Einzelhandel Zur Situation der Anzahl und Struktur der Arbeitnehmer/-innen Beschäftigten im Einzelhandel Nach der letzten Erhebung (30.6.2016) wurden 3,1 Millionen Arbeitnehmer/-innen im deutschen Einzelhandel gezählt. Damit hat sich deren Zahl Der Einzelhandel ist eine der größten Branchen in den letzten sechs Jahren um knapp 200.000 der deutschen Wirtschaft. Mehr als drei Millionen erhöht. Die strukturelle Zusammensetzung hat Arbeitnehmer/-innen sind hier beschäftigt, die sich über die Jahre massiv zulasten der Vollzeit- meisten von ihnen sind Frauen. Der Einzelhandel beschäftigung verschoben. Im Jahre 2000 war sorgt immer wieder für Schlagzeilen – selten noch die Hälfte der abhängig Beschäftigten allerdings für positive. Wie in kaum einer vollzeitbeschäftigt – heute sind es nur noch anderen Branche wurde hier Vollzeitarbeit zu- 37,3 Prozent. gunsten prekärer Beschäftigung zurückgedrängt. Struktur der abhängig Beschäftigten im 2013 sorgte das Thema „Aufstocker“ für Schlag- deutschen Einzelhandel 2010/2016 (in Tsd.) zeilen. Jede/r Dritte bekam danach weniger als 10 Euro in der Stunde. Viele Beschäftigte 2010 2016 6 müssen ihr Einkommen durch staatliche Leistungen aufstocken um einigermaßen über Gesamt 2.924 3.113 die Runden zu kommen. Die FAZ kommentierte dies so: „Der deutsche Staat tut offenbar einiges VZ 1.239 1.160 dafür, die Lohnpolitik des Einzelhandels zu Sozverpfl. TZ 785 1.112 unterstützen“ (faz.net vom 4.6.2013). GFB 728 645 „Staat zahlt jährlich 1,5 Milliarden Euro Nebenjob 160 197 für Niedriglöhne im Handel“ (spiegel.de vom 4.6.2013). Knapp 2,3 Millionen Menschen arbeiten Nun sorgt der Einzelhandel erneut für Schlag- derzeit in einem sozialversicherungs- zeilen. Der hohe Anteil atypischer Beschäftigung pflichtigen Beschäftigungsverhältnis. wirkt sich dramatisch auf die zukünftigen Renten aus. Die Tarifflucht vieler Handelsunter- Knapp zwei Millionen arbeiten in Teilzeit nehmen erhöht und verschärft das Risiko der oder als geringfügig Beschäftigte (GFB) – mit Altersarmut der Beschäftigten zusätzlich. einschneidenden Konsequenzen für Lohn, Gehalt und Rente. „Beschäftigten im Handel droht Altersarmut“ (spiegel.de vom 6.4.2017). „Verkäufer sprechen mit den Kunden, Minijob- ber machen die Kasse, Leiharbeiter arbeiten im Lager, Werknehmer räumen offiziell eigenständig die Regale ein – die traditionell gemischte Arbeit von Verkäufern und Einzelhandelskauf- leuten wird zerlegt in immer kleinere Häppchen, erledigt von der dafür jeweils am billigsten verfügbaren Arbeitskraft“ (brandeins 04/2013).
Zur Situation der Beschäftigten im Einzelhandel Der Einzelhandel ist eine Frauenbranche, der Monat (Beispiel NRW; WSI-Tarifarchiv). Hinzu Frauenanteil beträgt 69 Prozent. Besonders hoch kommen Urlaubsgeld, Jahressonderzahlung und ist ihr Anteil unter den Teilzeitbeschäftigten Leistungen der tariflichen Altersversorgung. (rund 90 Prozent). Bei den Vollbeschäftigten beträgt ihr Anteil 54 Prozent (Angaben: IW Damit ergibt sich in der Endstufe dieser Köln). Demnach arbeiten derzeit rund 620.000 Gruppe für Vollzeitbeschäftigte ein Jahres- Frauen im deutschen Einzelhandel in einem einkommen von 32.431,88 Euro. sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeitsver- hältnis. Bei den vollzeitbeschäftigten Männern handelt es sich sowohl um Führungskräfte, Für sozialversicherungspflichte Teilzeitbeschäf- insbesondere aus dem filialisierten Einzelhandel tigte verringert sich der Betrag entsprechend als auch um gewerbliche Arbeitnehmer aus den dem jeweiligen Stundenfaktor. Für eine Teilzeit- Bereichen Versand, Lager und Logistik. beschäftigte mit einem Stundenanteil von 0,7 ergeben sich bei entsprechender Eingruppierung Normalarbeitsverhältnis und dann rund 22.700 Euro Jahresbruttoverdienst. atypische/prekäre Beschäftigung Normalarbeitsverhältnis: Die Tarifeinkommen im Einzelhandel konnten Vollzeittätigkeit oder Teilzeittätigkeit mit mehr in den letzten Jahren deutlich gesteigert werden 7 als 20 Wochenstunden, als unbefristetes – es gibt aber weiterhin einen erheblichen Beschäftigungsverhältnis, welches voll in die Nachholbedarf. Über den langen Zeitraum von sozialen Sicherungssysteme integriert ist. 2000 bis 2016 ergibt sich für die gesamte Atypische Beschäftigung: Wirtschaft eine Steigerung bei den Tarifeinkom- Befristet Beschäftigte, Teilzeitbeschäftigte men von 44,8 Prozent. Im Metallbereich beträgt (20 oder weniger Stunden) Zeitarbeitsneh- das Plus sogar 52 Prozent. Im Einzelhandel mer/-innen, Geringfügige Beschäftigung dagegen konnte über den gesamten Zeitraum (lt. Definition des Statistischen Bundesamtes). betrachtet nur ein Plus von 37 Prozent erreicht Einige Autoren zählen hierzu auch Teilzeitbe- werden (WSI-Tarifarchiv 2017). schäftigte mit mehr als 20 Stunden, sofern es sich um erzwungene Teilzeitarbeit handelt. Das Durchschnittsentgelt aller Arbeitnehmer/- innen beträgt aktuell 36.267 Euro (Deutsche Die Abgrenzung zwischen atypischer und Rentenversicherung). Im Verhältnis dazu erreicht prekärer Beschäftigung ist in der Wissenschaft das Jahreseinkommen der Verkäufer/-innen umstritten. Oft werden beide Begriffe synonym (Beispiel NRW) derzeit 89 Prozent, und liegt verwendet. Richtig ist: „Nicht jede Form damit deutlich unter dem Durchschnittsentgelt. atypischer Beschäftigung ist prekär, aber sie birgt große Risiken für die Beschäftigten“ (DGB). Zu den Prekaritätsrisiken und gewerkschaft- Tarifbindung im Einzelhandel lichen Strategien siehe IAQ, FES, Bispinck/ Schulten. Aber längst nicht alle Beschäftigten bekommen das Tarifentgelt. Die Tarifbindung in Deutschland ist während der letzten Jahre merklich zurück- Tarifeinkommen gegangen. Unterschieden wird dabei in Tarifbindung der Betriebe und der Beschäftigten. Die tarifliche Vergütung im Gehaltsbereich in der mittleren Gruppe („Verkäufer/-innen“) beträgt Zur Bestimmung der Tarifbindung gibt es zwei derzeit zwischen 1.940 und 2.471 Euro im unterschiedliche Quellen: Das Institut für
Zur Situation der Beschäftigten im Einzelhandel Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der kosten angestrebt werden. Eine dieser Einspa- Bundesagentur für Arbeit und das Statistische rungsmöglichkeiten ist auch die Nichtachtung Bundesamt (Destatis). Wir konzentrieren uns geltender Tarifverträge“ (Antrag auf AVE – hier auf das IAB-Betriebspanel, eine repräsen- Schreiben des Einzelhandelsverband NRW vom tative Arbeitgeberbefragung zu betrieblichen 17.9.1999 an das zuständige Ministerium). Bestimmungsgrößen der Beschäftigung. Das Bis zu diesem Zeitpunkt waren nahezu alle letzte IAB-Betriebspanel stammt aus 2015. Tarifverträge des Einzelhandels allgemeinver- bindlich. Einige Ergebnisse für die Gesamtwirtschaft im Überblick: Schon ein Jahr später vollzogen dieselben Arbeitgeber eine radikale ideologische Wende • Zwischen 2000 und 2015 ist die Flächen- und zerstörten diesen Konsens. Im Jahre 2000 bzw. Branchentarifbindung der Beschäftigten wurde die Allgemeinverbindlichkeit der Tarif- von 63 auf 51 Prozent in Westdeutschland verträge von ihnen aufgekündigt und per gesunken. Für Ostdeutschland sogar von Satzungsänderung die OT-Mitgliedschaft 44 auf 37 Prozent. ermöglicht. Damit wurde eine Abwärtsspirale in • Große Unterschiede gibt es zwischen den Gang gesetzt. Aktuell stellt sich die Situation 8 Wirtschaftsbereichen. Der Einzelhandel gehört nach den IAB-Daten folgendermaßen dar: in Bezug auf die Tarifbindung der Beschäftig- ten mit 38 Prozent zu den absoluten Beschäftigte: Schlusslichtern. Lediglich in den Bereichen 2015 arbeiteten 38 Prozent der westdeutschen Verkehr und Lagerei (37 %), Großhandel, und 26 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten Kfz-Handel und Reparatur (35 %) sowie in einem Betrieb der einem Branchen-Tarifver- Information & Kommunikation (15 %) ist die trag unterliegt. Haus-/Firmentarifverträge gelten Tarifbindung noch niedriger. jeweils für 4 Prozent. • Die Tarifbindung variiert mit der Größe der Betriebe – je größer die Betriebe, desto höher 57 Prozent der Beschäftigten in Westdeutsch- tendenziell die Tarifbindung. land sind in einem nicht-tarifgebundenen • Es gibt starke Unterschiede zwischen West Betrieb angestellt, deren Arbeitgeber sich zu und Ost und gleichzeitig auch innerhalb der 54 Prozent am Branchentarifvertrag „orientie- Bundesländer. ren“. Für Ostdeutschland sind es 70 Prozent (45). Die Erosion der Tarifbindung Zum Vergleich die Daten zur Gesamtwirtschaft: im Einzelhandel 2015 arbeiteten 51 Prozent der westdeutschen und 37 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten Über lange Zeit galt zwischen den Tarifparteien in einem Betrieb der einem Branchen-Tarifver- ein Konsens, wonach die Personalkosten nicht trag unterliegt. Haus-/Firmentarifverträge gelten Gegenstand des ruinösen Wettbewerbs sein für 8 (West), bzw. 12 (Ost) Prozent. sollten. Die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge sei geboten, so argumentierten die Betriebe: NRW-Arbeitgeber noch im Jahre 1999 „um die Nach den aktuellen Daten sind 72 Prozent der soziale Komponente der Marktwirtschaft im Betriebe im westdeutschen Einzelhandel nicht Einzelhandel zu erhalten“. Denn es bestehe „die tarifgebunden, 43 Prozent davon orientieren Gefahr, dass zur Erhaltung oder Eroberung von sich am Branchentarifvertrag. Für Ostdeutsch- Marktanteilen Einsparungen bei den Personal- land sind die Zahlen noch ungünstiger, dort
Zur Situation der Beschäftigten im Einzelhandel waren zuletzt 84 Prozent nicht-tarifgebunden, Die Tariflandschaft im deutschen Einzelhandel 41 Prozent orientierten sich am Branchentarif ist tief zerklüftet. Sie gleicht einem riesigen (Ellguth). Flickenteppich: Anmerkung zum Thema „Orientierung“ am • Es gibt eine (kleiner werdende) Anzahl Branchentarifvertrag: In den Tabellen des IAB von Unternehmen mit Tarifbindung. spielt die Rubrik „Orientierung am Branchen- • Es gibt Unternehmen, die sich an dem TV“ jeweils quantitativ eine wichtige Rolle. Die Tarifvertrag „orientieren“. Arbeitgeber interpretieren dies gerne so, als • Es gibt eine Vielzahl von Haus-, Firmen- würden diese Unternehmen die Branchentarif- und Sanierungstarifverträgen. verträge 1:1 anwenden. Nach dieser „Logik“ • Es gibt Unternehmen, die nach Tarif zahlen ergibt sich dann rein rechnerisch eine höhere aber über eine Ausdehnung der Arbeitszeit Tarifbindung. Aktuelles Beispiel: Nachdem ver.di den Stundenlohn drücken. öffentlichkeitswirksam für eine stärkere • Es gibt nicht-tarifgebundene Online-Riesen Tarifbindung eingetreten ist entgegnete der wie Amazon und Zalando. BDA, es gäbe ja „auch eine große Anzahl • Es gibt Konzerne, die Tochterunternehmen von Unternehmen, die sich an Tarifverträgen mit und solche ohne Tarifbindung haben, orientieren, ohne sie zu unterschreiben“ wie z.B. Edeka und Rewe (sogenannter 9 (HB vom 14.4.2017). privatisierter Einzelhandel). • Es gibt immer wieder neue Beispiele der Wissenschaftler stellen dazu kritisch fest: Flucht aus dem Flächentarifvertrag und „Allerdings lehnt sich nur ein Teil dieser Betriebe auch Beispiele dafür, dass Unternehmen in tatsächlich allen relevanten Punkten an den (meist nach langen Auseinandersetzungen) jeweiligen Branchentarif an“ (Ellguth). den Weg zurück (oder neu) in die Tarif- bindung gegangen sind (zuletzt u. a. Esprit Das bedeutet im Klartext für den Einzelhandel: und Karstadt). In der Praxis werden hier eben nicht Tariflöhne gezahlt, oft Arbeitszeiten weit über den 37,5 Edeka und Rewe überlassen Tausende von Stunden für das gleiche Monatsentgelt geleistet Filialen selbstständigen Einzelhändlern. oder Zuschläge oft nicht bezahlt. „Orientierung Zehntausende von Beschäftigten arbeiten am Tarifvertrag“ bedeutet demnach in den dort meist ohne Tarifvertrag. Gleichzeitig meisten Fällen faktisch eine gravierende verlautbart Edeka auf seiner Homepage: Unterschreitung der tariflichen Leistungen. „Unser Herz gehört nicht nur Lebensmitteln, sondern auch unseren Mitarbeiter/innen“. „Seit Jahren wird die Tarifbindung der Arbeitgeber geringer – statt über Produkte und Dienstleistungen zu konkurrieren, ziehen Ohne Tarifbindung bis zu es viele vor, Arbeitnehmerrechte abzubauen 32 Prozent weniger und Lohnkosten nach unten zu treiben“ (Reiner Hoffmann, DGB-Vorsitzender, in: zeit. Forscher des ifo-Instituts haben die Daten des de vom 25.10.2014). IAB über den Zeitraum von 2000 bis 2010 ausgewertet und dabei herausgefunden, dass tarifgebundene Betriebe durchschnittlich zwischen 25 und 32 Prozent höhere Löhne und Gehälter zahlen (Felbermayr). Dabei fällt auf,
Zur Situation der Beschäftigten im Einzelhandel dass die Lohndifferenz mit zunehmender Altersarmut Betriebsgröße kleiner wird. Im Einzelnen ergibt sich in Bezug auf vollbeschäftigte Arbeitneh- mer/-innen eine Lohndifferenz von: Das Armutsrisiko in Deutschland steigt, zuletzt lag die Quote der von monetärer Armut Für alle Arbeitnehmer/-innen – 25 % bedrohten Menschen bei 16,7 Prozent, das sind Ostdeutschland – 44 % 13,4 Millionen (Destatis, PM vom 3.11.2016). Westdeutschland – 18 % Besonders stark betroffen sind Arbeitslose und Alleinerziehende. Aber auch eine dritte Gruppe Nach Berufsgruppen ist immer öfter betroffen, die Rentnerinnen und Kassierer/-in – 30 % Rentner. Die Quote der von Armut bedrohten Lager- und Transportarbeiter – 10 % Gruppe „65-Jährige und Ältere“ betrug danach Verkäufer/-in – 25 % 18,3 Prozent (Frauen) und 14,5 Prozent bei Männern (Destatis). • Im Einzelhandel arbeitet nur noch gut ein Drittel der Beschäftigten in Vollzeit. • Das Tarifgehalt der Beschäftigten im Daten und Fakten 10 Einzelhandel liegt durchschnittlich rund 11 Prozent unter dem der Gesamtwirtschaft. Als wesentliche Ursachen der Altersarmut sehen • Die Tarifbindung im Einzelhandel erodiert. Experten den „Paradigmenwechsel in der Der Handel gehört zu den Branchen mit der Renten- und Arbeitsmarktpolitik“, also die niedrigsten Tarifbindung überhaupt. Riester-Reform, die Hartz-Gesetze und die • Viele nicht tarifgebundene Arbeitgeber Agenda 2010 (SoVD). Insbesondere der massive drücken die Löhne um ein Drittel. Abbau der Normalarbeitsverhältnisse, also der • Tarifflucht führt zu Mini-Renten! sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeit, hat die Probleme enorm verschärft. Aufhebung der AVE >> Tarifflucht Im deutschen Rentensystem bestimmt die >> Dumpinglöhne >> Altersarmut Erwerbsbiografie maßgeblich die Höhe der gesetzlichen Rente. Wichtige Faktoren, die die Rentenansprüche mindern, sind unterdurch- schnittliche Tarifeinkommen, atypische Be- schäftigungsformen, Unterbrechungen in der Erwerbsbiografie sowie untertarifliche Entloh- nung (Tarifflucht). Es gibt zwei verschiedene Messverfahren um die Altersarmut zu quantifizieren. Das eine basiert auf der Grundsicherung im Alter. Diese umfasst (Stand 2016) 404 Euro für Alleinstehende, bzw. 2 mal 364 Euro bei (Ehe-)Partnern. Hinzu kommen noch die jeweiligen („angemessenen“) Wohnkosten.
Altersarmut Das andere Verfahren bezieht sich auf die Dazu werden drei verschiedene Beispiele sogenannte Armutsgefährdungsgrenze: durchgerechnet (die konkrete Berechnung findet Wer als Alleinlebender weniger als 60 Prozent sich im Anhang. Alle drei Beispiele basieren auf des mittleren Nettoeinkommens (exakt: des einer tarifgemäßen Entlohnung): mittleren „Äquivalenzeinkommens“) monatlich zur Verfügung hat lebt danach an der Grenze • Eine vollzeitbeschäftigte Verkäuferin käme zur Armut. nach 45 Berufsjahren in der Endstufe der G I auf eine Bruttorente von maximal ca. Dieser Wert wird jährlich neu ermittelt und 1.220 Euro. vom Statistischen Bundesamt veröffentlicht. • Wenn die gleiche Verkäuferin allerdings Die letzten aktuellen Daten dazu: 10 Jahre teilzeitbeschäftigt war sinkt die zu erwartende Rente auf maximal ca. 1.000 Euro Schwellenwert für Armutsgefärdung brutto. in Euro pro Jahr (2015) • Wenn jemand in dem gleichen Job 45 Jahre teilzeitbeschäftigt war (0,7) reduziert sich die Alleinlebende/r 12.041 Rente auf maximal ca. 850 Euro. Zwei Erwachsene mit 26.041 Im Falle untertariflicher Entlohnung (Tarifflucht), 11 zwei Kindern unter 14 Jahren z. B. einem 30-prozentigen Abschlag, ergeben Quelle: Destatis 2017 sich dadurch drastische Abzüge für die jeweilige Rente. In diesem Fall entspräche das Jahres- einkommen nicht mehr 89 Prozent des Durch- schnittseinkommens, sondern nur noch 63 Wer als Single weniger als 1.003 Euro im Prozent. Daraus folgt: Monat zur Verfügung hat gilt demnach als „armutsgefährdet“. • Eine Verkäuferin käme dann nach 45 Jahren ununterbrochener Vollzeitarbeit auf eine Bruttorente von maximal ca. 863 Euro. Das Armutsgefährdung der sind 356 Euro weniger Rente gegenüber einer Einzelhandelsbeschäftigten tarifgerechten Entlohnung. Die Rente ist ein Spiegelbild des Erwerbslebens. Wohlgemerkt: Bei diesen Beispielen handelt es Insofern mindern geringe Einkommen, Teilzeit- sich jeweils um Bruttorenten. Davon müssen beschäftigung, Phasen der Unterbrechung und dann durchschnittlich noch mindestens zehn geringe Anzahl der Beschäftigungsjahre die Prozent abgezogen werden. Rente. Wenn mehrere dieser Punkte gleichzeitig zutreffen ist die Negativwirkung besonders groß. Zwischenresümee: Frauen sind in besonderem Maße betroffen. Wegen der extrem ungünstigen Beschäftigungs- struktur im Einzelhandel ist das Rentenrisiko Um das quantitative Ausmaß der Armutsgefähr- sehr groß. Fast zwei Drittel der Arbeitnehmer/- dung für die Handelsbeschäftigten in etwa innen mit niedrigen Jahreseinkommen (GFB, bestimmen zu können wollen wir einmal auf sozialversicherungspflichtige Teilzeit) sind später der Grundlage der bereits entwickelten Eckdaten von Altersarmut bedroht. Auch sozialversiche- die ungefähre Rentenhöhe einzelner Arbeit- rungspflichtige Beschäftigung ist kein Garant für nehmerinnen berechnen. einen abgesicherten Lebensabend (siehe Teilzeitarbeit).
Altersarmut Viele der weiblichen Beschäftigten die in der Dies betrifft nicht nur Geringverdiener und Statistik als Vollzeitbeschäftigte registriert sind, Teilzeitbeschäftigte. Die Armutsgefährdung haben in ihrer Erwerbsbiografie Phasen der breitet sich stetig aus und bedroht immer mehr Unterbrechung (Baby- und Erziehungspausen) auch den Kreis der Vollzeitbeschäftigten. und/oder der Teilzeitbeschäftigung. Dies wirkt Hier vor allem die Frauen. sich entsprechend rentenmindernd aus. Bei einer „normalen“ Erwerbsbiografie können selbst Nach derzeitigem Stand muss davon ausge- vollzeitbeschäftigte Verkäuferinnen und gangen werden, dass weniger als die Hälfte Kassiererinnen lediglich mit einer Rente in der der weiblichen Vollbeschäftigten eine Rente Nähe der Armutsgefährdungsgrenze rechnen. oberhalb der Armutsgrenze erzielen wird. Einmal unterstellt, dass die Mehrzahl der Im Falle drastischer Lohnabschläge durch vollbeschäftigten Männer überwiegend eine Tarifflucht kommt es zu ebenso drastischen Rente oberhalb dieser Grenze erzielen kann, Einbußen bei der Rente. Tarifflucht der Arbeit- bedeutet das: Rund 2,5 Millionen Beschäftigte geber führt im konkreten Fall dazu, dass selbst im deutschen Einzelhandel sind massiv von nach einer 45-jährigen Vollzeitbeschäftigung Altersarmut bedroht. Die meisten davon sind die Altersarmut folgt. Frauen. 12 Im Einzelhandel arbeiten zwei Millionen Menschen in Teilzeit oder als geringfügig Beschäftigte. Der Wettbewerb im deutschen Einzelhandel ehr als zwei Drittel aller Beschäftigten sind M Frauen. Aufgrund ihrer spezifischen Erwerbs- Das wirtschaftliche Umfeld für den Einzelhandel biografie (Unterbrechung, „Teilzeitfalle“) ist derzeit recht günstig, der relativ stabile müssen sie mit erheblichen Einbußen bei ihrer Arbeitsmarkt und steigende Realeinkommen gesetzlichen Rente rechnen. sorgen für gute Umsätze in der Branche. Das Tarifeinkommen konnte in den letzten Der HDE erwartet für 2017 ein Plus von zwei Jahren deutlich gesteigert werden, liegt aber Prozent, wobei die Online-Umsätze wieder immer noch unter dem Durchschnitt. überdurchschnittlich um elf Prozent zulegen können. Die Bevölkerung wird in den nächsten Die Tarifbindung im Einzelhandel erodiert. Die Jahren erst einmal wachsen, wegen der hohen Mehrheit der Beschäftigten ist heute nicht mehr Zuwanderung und der gestiegenen Geburten- tarifgebunden. In vielen nichttarifgebundenen rate. Danach dürfte sich die Bevölkerungszahl Betrieben liegt der Lohn um 30 Prozent niedriger. wieder rückläufig entwickeln. Die Altersstruktur verändert sich gravierend, es gibt tendenziell Prekäre Beschäftigungsstrukturen, Nachhol- immer mehr „Alte“ (über 67) und immer bedarf, erwerbsbiografische Unterbrechungen weniger „Junge“ (unter 25). Gleichzeitig steigt und Tarifflucht sind wesentliche Gründe dafür, die Zahl der Single-Haushalte. Die Ungleichge- dass viele Handelsbeschäftigte von Alters- wichte zwischen Stadt und Land werden in den armut bedroht werden. nächsten Jahren noch größer. Zu den Verlierern gehört der Osten der Republik, ebenso wie auch große Teile Nordrhein-Westfalens, Nordbayerns und des Saarlands. Hier wird die Bevölkerungs- zahl weiter schrumpfen. Die demografische Entwicklung hat erhebliche Bedeutung für die
Altersarmut weitere Entwicklung des Einzelhandels. Stich- Die marktführenden Konzerne mit ihren worte sind Ladengestaltung, altersspezifische jeweiligen Tochterunternehmen decken mit Konsumgewohnheiten, Nahversorgung, deren Verkaufsstätten praktisch das gesamte seniorenfreundlicher Service u. a. m. Der Wett- Bundesgebiet ab: bewerb im deutschen Einzelhandel wird wesentlich geprägt durch Konzentration Konzerne im Lebensmittelhandel (Top 5) (Marktmacht), Expansion der Verkaufsfläche, und deren Verkaufsstätten (Stand: 2016) boomenden Onlinehandel und einen aggressiven Preiswettbewerb. Dabei werden die Wettbe- Edeka 13.308 werbsprozesse maßgeblich auch durch politische Schwarz-Gruppe 3.850 Entscheidungen beeinflusst. Rewe-Group 6.940 Zunehmende Konzentration Aldi 4.195 Metro-Group 815 Seit 2002 ist die Anzahl der Unternehmen um 130.000 zurückgegangen. Zuletzt wurden noch insgesamt 350.000 Unternehmen im deutschen (Umsatz-)Größe bedeutet vor allem enorme 13 Einzelhandel gezählt (Statista). Der Konzen- Nachfragemacht gegenüber Lieferanten und trationsgrad in der Branche ist sehr hoch. Produzenten (u. a. günstige Einkaufspreise und So bringen es die fünf Größten des Lebens- Konditionen). Diese monetären Vorteile auf der mitteleinzelhandels Edeka, Schwarz-Gruppe, Nachfrageseite geben den Handelskonzernen Rewe-Group, Aldi und Metro-Group 2016 auf enorme Möglichkeiten, im Verkauf aggressive einen Marktanteil von 68 Prozent (LZ vom Preis-, und Rabattaktionen zu fahren, ggfs. auch 31.3.2017). über längere Zeiträume hinweg. Schaut man sich den Konzentrationsgrad in den Die Nachfragemacht kann dazu führen, dass die verschiedenen Teilbranchen des Einzelhandels Verhandlungsposition kleinerer Handelsunter- an, so zeigt sich zum einen eine hohe Verdich- nehmen massiv geschwächt wird: Ein Hersteller tung in fast allen Bereichen, gleichzeitig werden holt sich das, was er bei einem Großen verloren aber auch signifikante Unterschiede deutlich: hat, bei Kleineren wieder zurück (sog. Wasser- Am höchsten ist der Konzentrationsgrad betteffekt). Eine mögliche Gegenmaßnahme ist (TOP-3-Player) bei Drogerien (97 %) und die Schaffung von Verbundgruppen, wie zuletzt Supermärkten (90 %) – relativ gering dagegen die RTG Retail Trade Group. Ziel sei es, gegen- (noch) bei „Bekleidung“ (18 %) und „Möbel“ über Edeka und Rewe „nicht ins Hintertreffen zu (26 %) (Wabe-Institut). geraten“ (LZ vom 7.4.2017). Konzentration erwächst aus organischem Wachs- Aus Größe resultiert Marktmacht, Größe ist der tum, Flächenwachstum und/oder der Übernahme wesentliche Treiber des Konzentrationsprozesses von Konkurrenzunternehmen. In dem dynami- im Handel. Es gibt tendenziell immer weniger schen Prozess des Strukturwandels ist Konzen- Unternehmen – mit immer mehr Umsatz. tration zum einen das Ergebnis des scharfen Viele kleine und mittlere Firmen werden nicht Wettbewerbs (Marktanteilszuwächse, Verdrän- überleben. Betroffen sind oft traditionsreiche gung), und gleichzeitig die Grundlage für noch und inhabergeführte Unternehmen. Sie sterben mehr Konzentration, denn Größe fördert weitere still und leise, allenfalls berichtet die Lokalpresse Größe. darüber.
Altersarmut 61 Prozent. Dabei wuchs in Ostdeutschland die Die Anzahl der Verkaufsstellen im Lebens- Verkaufsfläche allein zwischen 1990 und 2000 mittelhandel ist zwischen 2003 und 2016 um von 6 auf 18 Millionen Quadratmeter, verdrei- 22.000 zurückgegangen (Statista). fachte sich also! Von besonderer Bedeutung ist, dass der Großteil dieser zusätzlichen Verkaufs- Aktuell bewerten viele kleinere und mittlere flächen im sogenannten sekundären Netz – also Händler ihre Geschäftslage negativ, so der HDE. auf der grünen Wiese entstand (Glaubitz, 2001). Besonders die Gruppe der Händler mit weniger als fünf Beschäftigten sind betroffen. Auf sie Da der reale Einzelhandelsumsatz dem auch entfallen insgesamt zwar nur zehn Prozent des nicht einmal annähernd folgen konnte (Scheren- Gesamtumsatzes – aber 54 Prozent der Stand- entwicklung) ist eine Flächenüberkapazität orte (HDE PM vom 6.4.2017). Ein weiteres entstanden. Dies führt tendenziell zu sinkender Ladensterben wird also dazu führen, dass Flächenproduktivität (Umsatz pro Quadrat- die flächendeckende Versorgung noch weit- meter). maschiger wird. Jahr Verkaufsfläche in Mio. qm Aber nicht nur die „Kleinen“ sind bedroht – in 14 den letzten zehn Jahren hat es auch eine Reihe 1990 77,0 prominenter Unternehmen getroffen. Die Liste ist lang, sie umfasst Arcandor, Neckermann, 2000 109,0 Hertie, Schlecker, Praktiker/Max Bahr, Weltbild 2016 123,7 u. v. a. m. Quelle: HDE (Stand 09/2016) Die zunehmende Konzentration bietet Anlass zur Sorge. Je mächtiger die Großen werden desto Der Flächenboom der 90er-Jahre ist zwar größer auch die Gefahr der Verdrängung – zu- vorüber, doch auch in den letzten anderthalb lasten des Wettbewerbs. In einigen Teilbereichen Jahrzehnten wurde die Verkaufsfläche weiter des Handels ist dies bereits schon seit längerem ausgebaut. Und ein Ende ist immer noch nicht in Realität. Konzerne bestimmen aufgrund ihrer Sicht! Dabei geht es im Übrigen nicht nur um strukturellen Vorteile (Finanzkraft, Nachfrage- die absolute Zahl (wie viel Millionen Quadrat- macht u. ä.) weitgehend die Wettbewerbsbedin- meter), denn gleichzeitig findet eine Umschich- gungen im Handel. Die Nachfragemacht gehe tung von Verkaufsflächen von kleinen und zulasten der Arbeitsbedingungen der Beschäftig- mittelständischen Unternehmen hin zu den ten, der Qualität der Produkte, der Umwelt und Konzernen statt. Beispiel Drogeriemarktbereich: des Tierschutzes sowie kleiner und mittlerer Kaum wird ein Ladengeschäft in guter Innen- Betriebe, so die Initiative Supermarktmacht stadtlage frei, ist dm „unter den ersten (Supermarktmacht.de). Interessenten für den Standort, selbst wenn sie wenige hundert Meter weiter bereits einen Markt hat“ (HB vom 20.10.2016). Verkaufsflächenexpansion Weiteres Flächenwachstum resultiert vor allem In den letzten Jahrzehnten haben die Handels- aus der Großflächenexpansion im Bereich Möbel unternehmen hierzulande eine riesige Verkaufs- und Baumärkte, Neueröffnungen im Drogerie- fläche aufgebaut. Seit 1990 wurde diese Fläche bereich und der Ansiedlung ausländischer von 77 auf knapp 124 Millionen Quadratmeter Einzelhändler (z. B. im Modebereich). Zudem ausgedehnt, das entspricht einem Zuwachs von entstehen weitere Flächen durch neue Shop-
Altersarmut pingcenter, in den nächsten fünf Jahren sind Kernproblematik der gesamten Branche. 30 Projekte geplant. Dabei haben die Einkaufs- Flächenexpansion wirkt in einigen Bereichen zentren schon zwischen 2000 und 2016 für wie ein Brandbeschleuniger für ruinösen einen Zuwachs von 6,1 Millionen Quadratmeter Wettbewerb. Dort hat der Konkurrenzkampf gesorgt (Statista). Formen eines Vernichtungswettbewerbs angenommen (u. a. Möbel, Textil, Drogerie). Mit 146 Quadratmeter Verkaufsfläche pro 100 Einwohner (Statista) ist die Einkaufs- Boomender Onlinehandel dichte in Deutschland heute so hoch wie in kaum einem anderen Land in Europa. Der Onlineumsatz hat sich in den letzten zehn Jahren verdreifacht. Die Zuwachsraten liegen Dies darf aber nicht darüber hinweg- deutlich über dem Branchenschnitt. Zuletzt täuschen, dass sich die Verkaufsfläche sehr wurde ein E-Commerce-Umsatz von 52,7 Mrd. ungleich im Raum verteilt. Riesigen Über- realisiert (BVEH). Bis zum Jahre 2020 dürften kapazitäten, z. B. in Ballungsgebieten stehen die Onlineumsätze weiter überproportional Leerstände und verödete Passagen in vielen wachsen – auf einen Marktanteil von dann Klein- und Mittelstädten gegenüber. 15 bis 20 Prozent. Der Kauf via Smartphones 15 und Tablets wächst stark. Die Online-Umsätze Das hat auch massive strukturpolitische konzentrieren sich hierzulande auf die drei Konsequenzen: Die in den 1990er Jahren aus großen Händler Amazon, Otto und Zalando. dem Boden gestampften Einkaufszentren Das Trio erzielt rund die Hälfte des Umsatzes auf der grünen Wiese erschweren heute noch der 100 größten Online-Shops. dem Einzelhandel in vielen ostdeutschen Mittel- und Großstädten die Existenz. Je nach Branche und Sortiment gibt es große „Bis heute wirken die in den ersten Jahren Unterschiede. Während bei den „Online- nach der Wiedervereinigung geschaffenen Sortimenten der 1. Stunde“ (Bücher, Medien, Einzelhandelsstrukturen nach“ (uni-leipzig. Technik) eine gewisse Sättigung festzustellen ist, de, PM vom 3.3.2014). werden gleichzeitig immer mehr Artikel im Netz angeboten – nicht zuletzt auch Lebensmittel. Problematisch ist der zusätzliche Flächenanbau Bei den Warengruppen liegt Bekleidung mit vor allem auch deshalb, weil ein großer und deutlichem Abstand vorn, es folgen Elektro/ weiter wachsender Anteil der Einzelhandelsum- Telekommunikation, Computer/Zubehör, Schuhe sätze online getätigt wird. Entsprechend steigt und Bücher/E-Books (BVEH). der ökonomische Druck auf bestimmte Teile des stationären Handels wegen der weiter E-Commerce verändert die gesamte Handels- sinkenden Flächenproduktivität. landschaft in einem rasanten Tempo. Die verschiedenen Verkaufs-Kanäle werden immer In einigen Teilbranchen nutzen die großen stärker verzahnt und verbunden, Multi-Channel Akteure Flächenexpansion gezielt als Instrument wird zum Standard. Der traditionelle Einzel- zur Verdrängung der Konkurrenten. Eine teure handel gerät dabei zunehmend unter Druck. und auch riskante Strategie, insbesondere dort, wo wachsende Anteile des Sortiments online umgesetzt werden. Das „Flächenwettrüsten“ sorgt für erhebliche strukturelle Probleme – einige Handelsexperten sehen darin die
Altersarmut Vorteil, da sie Margenverluste durch ihre Markt- „Neben den Standortkategorien Innenstadt macht und die daraus resultierenden günstige- und ‚Grüne Wiese’ wirkt der Online-Handel ren Einkaufskonditionen kompensieren können. wie eine zusätzliche Standortkategorie, ein ‚virtueller Standort’“ (Bundesinstitut). Die Verbraucher in Deutschland möchten am liebsten alles auf einmal: Top-Service, beste Das Internet erhöht die Markttransparenz Qualität und niedrige Preise. Am besten „fair“ (Produktinformationen, Preis), dadurch steigt und „billig“ zugleich. der Wettbewerbs- und Preisdruck. Einige sehen im Internet offenbar den Totengräber des In der letzten Zeit sind viele Kunden kritischer stationären Einzelhandels. Bis zu 50.000 geworden und sehen Qualität als ein wichtiges Geschäften drohe in den nächsten fünf Jahren Einkaufskriterium, so etwa bei Lebensmitteln. wegen des Onlinebooms das Aus, so der HDE. Betroffen seien vor allem Städte in struktur- Gleichzeitig spielt auch die regionale Verfügbar- schwachen Gebieten (Wirtschaftswoche vom keit, also die Flächenpräsenz der verschiedenen 18.8.2015). Betriebsformate, eine gewichtige Rolle für die Kaufentscheidung. 16 Allein den Onlineboom für die Probleme des stationären Handels und die Schwierigkeiten Fakt ist aber, dass sich die Masse der Verbraucher vieler Innenstädte verantwortlich zu machen nach wie vor vor allem am Preis orientiert ... greift allerdings zu kurz. Schon allein deshalb, weil die Grenzen zwischen Online- und In weiten Bereichen des Handels herrscht ein Stationär-Handel immer mehr verschwimmen. aggressiver Preiswettbewerb. In den letzten In einer vom Bundesamt für Bauwesen und Jahren sorgen preisaggressive Onlinehändler Raumordnung in Auftrag gegebenen Studie und Discounter für immer neue Preisrunden. Der über die räumliche Wirkung des Online-Handels Textilhandel wird von Billigware überschwemmt. wird zwar kritisch auf die tendenzielle Gefahr Im Möbeleinzelhandel gibt es einen explosiven weiterer massiver Leerstände in Mittel- und Preiskampf – regelrechte Rabattschlachten. Kleinstädten hingewiesen. Die Forscher warnen Viele Händler, vor allem kleinere, werden diese aber gleichzeitig vor einfachen, mono-kausalen „Schlachten“ nicht überleben. Erklärungsmustern: „Die Ursachen sind jedoch bei Weitem nicht ausschließlich auf den Es fehlt nicht an Kritik an diesen anhaltenden Online-Handel zurückzuführen“ (Bundes- Preiskämpfen. Schon vor einem Jahr titelte das institut). Handelsblatt „Die meisten Rabattaktionen verbrennen bloß Geld“ (HB vom 9.8.2016). Dass manch eine der aggressiven Preis- oder Preiskampf Rabattaktionen selbstzerstörerisches Potenzial hat, konnte man zuletzt am Beispiel Kaufhof Das wichtigste Instrument, die „schärfste studieren. Das Unternehmen musste für das Waffe“ im Wettbewerb bleibt der Preis – also vergangene Geschäftsjahr einen operativen der Versuch, mittels niedriger Verkaufspreise der Verlust von 208 Mio. Euro ausweisen. Grund Konkurrenz Marktanteile abzuringen. Händler dafür waren wohl „umfangreiche Rabattaktio- setzen mit Tiefpreisen und/oder Rabatten die nen“ der Hudson’s Bay-Tochter (HB vom Konkurrenz unter Druck – wenn diese reagiert, 5.4.2017). entwickelt sich ein Preiskrieg. Große, finanz- kräftige Konzerne sind dabei strukturell im
Staatliche Deregulierung Auch die Herstellerseite kritisiert diesen Staatliche Deregulierung Preiskampf und spricht von „Wertevernichtung“ bei Markenartikeln. Industrie und Handel müssten einen Weg finden um diesen „Wahn- Der Wettbewerb im Handel wird maßgeblich von sinn“ zu beenden (HB vom 20.7.2015). rechtlichen Rahmenbedingungen beeinflusst. Hier soll kurz auf einige wichtige Gesetzes- Eine weltweite Studie kommt zu dem Ergebnis: werke eingegangen werden, die das Geschehen „Nur wenige Unternehmen finden einen Weg in der Branche maßgeblich beeinflusst haben. aus dem ruinösen Wettbewerb, der ein bedrohliches Ausmaß angenommen hat“ (HB vom 9.8.2016). Rabattgesetz In weiten Bereichen des deutschen Einzel- Der Preiskampf wurde 2001 von der rot-grünen handels herrscht ein massiver Verdrängungs- Bundesregierung im Zuge der Abschaffung des kampf. Der Wettbewerb wird überwiegend Rabattgesetzes zusätzlich angefacht. Damit über ruinöse Preiskämpfe, Öffnungszeiten und wollte man, wie es hieß, den Wettbewerb Flächenerweiterungen ausgefochten. „dynamisieren“ – faktisch wurden damit ruinöse Tendenzen unterstützt. Der Bundesverband der 17 Die Preiskämpfe erhöhen den (Kosten-)Druck Verbraucherzentralen stellte seinerzeit warnend in der gesamten Branche. Die Handelsunter- fest, dass diese Änderung für die Kunden nehmen verlagern den Druck zum einen auf kurzfristig sicherlich einige Vorteile biete. die Hersteller und Lieferanten – vor allem aber Langfristig aber werde sich die Kauflandschaft auf ihr Personal. zum Nachteil der Verbraucher verändern. „Für kleine und mittlere Händler wird es immer Der massive Wettbewerbsdruck führt zu immer schwerer, sich gegen die großen Unternehmen mehr Druck auf die Personalkosten: Prekäre zu behaupten“ (SZ vom 14.7.2001). In einigen Beschäftigungsstrukturen, Abbau von Vollzeit, Bereichen des Handels ist dies zur Realität untertarifliche Bezahlung, Missbrauch von geworden. Werkverträgen und immer schlechtere Arbeits- bedingungen sind die unsozialen „Begleit- erscheinungen“ dieses Verdrängungskampfes. Deregulierung des Arbeitsmarktes Der Preiskampf wird auf dem Rücken der Beschäftigten ausgefochten – die Arbeit- Die Neuausrichtung, sprich Deregulierung des nehmer/-innen „finanzieren“ letztendlich Arbeitsmarktes durch die „Hartz-Gesetze“ hatte diesen ruinösen Wettlauf. erhebliche negative Auswirkungen auf die Entwicklung im deutschen Einzelhandel. Die Altersarmut ist das hässliche Pendant zu Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt wurde im den Preiskriegen im Einzelhandel. Folgenden erhöht, u. a. durch neue Zumutbar- keitsregelungen, die massive Förderung der Zeit-, bzw. Leiharbeit sowie durch Neurege- lungen bei der geringfügigen Beschäftigung (Mini- und Midi-Jobs). Die Schaffung von Mini-Jobs wurde wesentlich erleichtert. Mit der Folge, dass deren Zahl allein in den zehn Jahren von 2003 bis 2013 auf 7,45 Millionen anstieg. Besonders stark war der Boom dieser Minijobs
Staatliche Deregulierung im Einzelhandel – während gleichzeitig die die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Zahl der Vollzeitarbeitsplätze weiter sank. Die Teilzeitbeschäftigung. Der HDE schlussfolgert, Ausweitung der geringfügigen Beschäftigung von einer Verdrängung sozialversicherungs- hat eindeutig zur Verdrängung sozialversiche- pflichtiger Arbeitsplätze könne also keine Rede rungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse sein (HDE PM vom 19.10.2016). Dies gilt aber geführt (Hohendanner). Heute ist der Einzel- nur als Momentaufnahme, denn seit 2000 handel, nach dem Gastgewerbe, die Branche wurde der Anteil der Vollzeitbeschäftigung von mit dem zweithöchsten Minijob-Anteil. 50 auf 37 Prozent verringert, Vollzeitarbeits- plätze also massiv verdrängt. Nicht nur die Verdrängung, regulärer versiche- rungspflichtiger Arbeit ist ein Streitthema, Auch die Leiharbeit erlebte durch die „Hartz- sondern auch die Entlohnung. „Die Entgelte Gesetze“ einen enormen Aufschwung. Nachdem sind niedriger und eine tarifvertragliche später die Regeln für Leiharbeit etwas strenger Eingruppierung nach Tätigkeit und Qualifikation geworden waren und nachdem dort ein findet beim Minijob oftmals nicht statt“ (Hinz). Mindestlohn eingeführt wurde suchten viele Seit der Einführung des gesetzlichen Mindest- Firmen nach neuen Methoden um Personal- lohnes hat sich die Situation etwas verbessert, kosten zu drücken. Umtriebige Arbeitsrechtler 18 neuere Untersuchungen zeigen, dass insgesamt erläuterten in einem Düsseldorfer Nobelhotel bei den Minijobs die Stundenlöhne teilweise Ende 2011 für viel Geld (sprich teure Honorare) deutlich gestiegen sind. Aber vieles liegt nach den versammelten Managern aus Industrie wie vor im Argen. „Wenig Rechte, wenig Lohn“, und Handel allerlei Tricks und Schlupflöcher so fasst die Frankfurter Rundschau (FR vom um die schon billigen Leiharbeiter nun durch 24.3.2017) die Ergebnisse einer aktuellen noch billigere Kräfte zu ersetzen. Der Boom Untersuchung zusammen. Weiterhin wird in der Werkverträge begann (zeit.online vom vielen Bereichen Missbrauch betrieben. 8.12.2011). Verbriefte Arbeitnehmeransprüche werden massenhaft missachtet, gesetzliche Regelungen Werkverträge sind ein im Handel weitverbreite- oft nur als unverbindliche Handlungsempfehlung tes Mittel um (Personal-)Kosten zu sparen. Sie begriffen, so das Fazit einer Studie des RWI, die finden sich vor allem beim Verräumen der Ware, im Auftrag des NRW-Landesarbeitsministeriums Lagerarbeiten, dem Kassenbetrieb und für erstellt wurde. Danach wurde u. a. bei 12 Pro- Inventuren, vorrangig in Großbetrieben des zent der Betroffenen eine illegale Unterschrei- Lebensmittelhandels, in SB-Warenhäusern und tung des Mindestlohnes festgestellt (RWI). Drogerien. 2011 schätzte ver.di die Zahl dieser Der Landesarbeitsminister stellte dazu bei Werkverträge im Einzelhandel auf 100.000 der Präsentation der Ergebnisse fest: „Viele (Tagesspiegel vom 18.3.2012). Arbeitgeber behandeln Minijobber nach wie vor als Arbeitnehmer zweiter Klasse“ (FR). Die Politik hat sich lange Zeit vornehm zurück- gehalten – und rechtliche Schlupflöcher für Seit Einführung des Mindestlohnes 2015 nicht-regulierte Werkvertragsarbeit offengelas- entwickelt sich die Zahl der geringfügig sen. In der Folge wurden zahlreiche Fälle über Beschäftigten (auch) im Einzelhandel leicht den Einsatz illegaler Werkverträge „aktenkun- zurück. Rund 200.000 Minijobs wurden in dig“, wie z. B. Kaufland (HB vom 15.5.2015), sozialversicherungspflichtige Beschäftigung oder bei dem Discounter Netto (HB vom umgewandelt. Für die Arbeitgeber sind Minijobs 21.5.2015). nun offenbar nicht mehr so „attraktiv“ wie vorher. In den letzten Jahren stieg dagegen
Staatliche Deregulierung Erst recht spät hat die Bundesregierung dann Streit entbrannt. Wie schon in grauer Vorzeit eingeräumt: „De facto haben sich viele wird neben vermeintlichen Verbraucherinter- Probleme der Leiharbeit mittlerweile in den essen das Gespenst des übermächtigen Bereich der teilweise missbräuchlich genutzten Onlinehandels („früher“ war es der Versand- Werkverträge verlagert“ (BMAS, PM vom handel) bemüht. Der HDE überrascht dabei mit 1.6.2016). Mit dem neuen „Gesetz zur einer simplen Argumentationskette: Wegen des Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgeset- boomenden Onlinehandels seien 50.000 Läden zes und anderer Gesetze“, welches seit April vom Aussterben bedroht. Ergo müssten die 2017 in Kraft ist, soll dem ein Riegel vorgescho- Öffnungszeiten (auch am Sonntag) weiter ben werden. Inwieweit das Gesetz tatsächlich liberalisiert werden, um so die Attraktivität der zu einer Wende führt ist allerdings äußerst Innenstädte zu erhöhen und das Ladensterben skeptisch zu beurteilen. zu verhindern (welt.de 16.8.2015). Tatsächlich sind viele kleinere und mittlere Öffnungszeiten Betriebe und Unternehmen wirtschaftlich bedroht. Und auch um den innerstädtischen Einen zentralen Stellenwert für den Wettbewerb Handel vieler kleiner und mittlerer Städte ist es haben die Ladenöffnungszeiten. Diese wurden schlecht bestellt. Dies hat aber nicht einen, 19 über die Jahre immer weiter ausgedehnt. 1996 sondere mehrere Gründe. Vor allem ist das die kam es zur Verlängerung der Öffnungszeiten Folge des aggressiven Preiswettbewerbs (z. B. im von wochentags 6 bis 20 Uhr und samstags bis Textilhandel) und vermehrter Kaufkraftabflüsse 16 Uhr. Angestoßen wurde diese Liberalisierung in die Metropolen. Viele Händler haben zudem durch ein Gutachten des ifo-Instituts, in dem die Herausforderungen durch die Digitalisierung 50.000 neue, zusätzliche Arbeitsplätze in verkannt (Multi-Channel). Aussicht gestellt wurden (man hat diese aller- dings bis heute nicht gefunden; Anm. des Verf.). Monokausale Erklärungsmuster wie „der Online- Es folgte 2003 die Verlängerung der Samstag- handel ist schuld“ sind nicht zielführend. söffnung auf 20 Uhr. 2006 schließlich wurde im Und genauso wenig ist eine Rund-um-die- Rahmen der Föderalismusreform der Laden- Uhr-Öffnung ein probates Mittel gegen „den“ schluss zur Ländersache. Seither ist überwiegend Onlinehandel. – bis auf Bayern, Rheinland-Pfalz, Saarland und Sachsen – die Rund-um-die-Uhr-Öffnung Der Attraktivitätsverlust vieler Städte hat möglich. mehrere Ursachen, E-Commerce mag eine davon sein. Wie zahlreiche Beispiele zeigen, ist der Durch eine Ausdehnung der Öffnungszeit wird Attraktivitätsverlust der Städte keine zwangs- kein zusätzlicher Umsatz generiert, sondern läufige Entwicklung. Die GfK hat in einer vorhandener Umsatz zeitlich oder räumlich Regionalstudie konkret nachweisen können, umverteilt. Einige Unternehmen – insbesondere dass es einigen Mittelstädten gelingt, „in des Lebensmittelhandels – nutzen dies aggressiv Punkto Standortattraktivität selbst große als Mittel im Verdrängungskampf. Metropolen zu übertreffen“ (GfK). Die über die Jahre erfolgte massive Ausdehnung Neben dem Überangebot an Fläche gibt es auch zu den heute möglichen Öffnungszeiten reicht noch ein „Mehr“ an Zeit. Die verlängerten einigen Handelsakteuren immer noch nicht. Um Öffnungszeiten wirken ähnlich wie zusätzliche die wenige restliche, geschützte Nicht-Öffnungs- Verkaufsflächen: Der vorhandene Umsatz verteilt zeit, insbesondere am Sonntag, ist ein heftiger sich auf mehr Quadratmeter und auf mehr
Staatliche Deregulierung Stunden. Die Deregulierung der Ladenöffnungs- Für eine bessere zeiten hat die Wettbewerbsbedingungen ver- schärft. Große, finanzstarke Konzerne nutzen Perspektive im deutschen dies als Instrument zur Verdrängung. Gleichzei- Einzelhandel tig wirkt die Liberalisierung der Öffnungszeiten wie ein Katalysator für atypische Beschäftigung. Längere Öffnungszeiten werden insbesondere Der ruinöse Verdrängungskampf ist kein von SB-Warenhäusern, Verbrauchermärkten, Naturereignis, kein Automatismus – nicht Supermärkten und Discountern genutzt – diese fremde, anonyme Kräfte sind hier am Werke und setzen verstärkt auf Minijobs, Teilzeit und zwingen zu irgendwelchen Aktionen und Werkverträge. Gegenreaktionen. Nicht irgendein „mörderischer Wettbewerb“ ist schuld an der Misere. Dieser Staatliche Deregulierungsmaßnahmen haben die Wettbewerb wird von Menschen gemacht, von problematische Entwicklung des Einzelhandels realen Personen, von den Managern in den maßgeblich beeinflusst. Handelszentralen. Sie entscheiden darüber ob sich ihr Unternehmen an Rabattschlachten oder Mit der Deregulierung des Arbeitsmarktes „Tiefpreiswochen“ beteiligt. Sie entscheiden wurde eine Schleuse für prekäre Beschäftigungs- auch darüber, ob das Unternehmen tarifgebun- 20 verhältnisse geöffnet. den bleibt oder nicht. Sie entscheiden damit auch über die soziale Zukunft ihrer Beschäftig- Die massive Zunahme von Minijobs, der ten. Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen, Befristungen u. a. m. sind Folgen dieser Derzeit befindet sich der deutsche Einzelhandel Deregulierungspolitik. auf einem schlechten Weg. Es gibt viele gute Gründe, diesen Weg zu verlassen und umzu- kehren: Staatliche Deregulierung >> prekäre Beschäftigung >> geringe Einkommen • Für einen Einzelhandel, in dem für alle >> Altersarmut Marktteilnehmer die gleichen Regeln, Gesetze und Tarifverträge gelten. • Für einen Einzelhandel, in dem für alle Beschäftigten die gleichen tariflichen Mindestbedingungen gelten. • Für einen Einzelhandel, in dem die Mehrheit der Beschäftigten mit einer auskömmlichen Rente rechnen kann. Forderungen an die Politik: Regulierung statt Deregulierung Die Politik setzt den Rahmen für die Entwicklung in der gesamten Wirtschaft und in den ver- schiedenen Branchen. Vergangene Bundesregie- rungen, insbesondere die rot-grüne Bundesre- gierung unter der Führung der SPD, sind in
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