Verdrängungswettbewerb im Einzelhandel: Zwischen Preiskrieg, Tarifflucht und Altersarmut - www.handel.verdi.de - VERDI Handel

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Verdrängungswettbewerb im Einzelhandel: Zwischen Preiskrieg, Tarifflucht und Altersarmut - www.handel.verdi.de - VERDI Handel
Verdrängungswettbewerb
       im Einzelhandel:
       Zwischen Preiskrieg,
       Tarifflucht und Altersarmut

www.handel.verdi.de

                                Einzelhandel
Impressum
ver.di Bundesvorstand, Fachbereich Handel
W-3519-10-0517
Verfasser: Dr. Jürgen Glaubitz
Düsseldorf im Mai 2017
Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkungen  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 5

Zur Situation der Beschäftigten im Einzelhandel  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 6
Anzahl und Struktur der Arbeitnehmer/-innen  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 6
Tarifeinkommen  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 7
Tarifbindung im Einzelhandel  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 7
Die Erosion der Tarifbindung im Einzelhandel  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 8
Ohne Tarifbindung bis zu 32 Prozent weniger  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 9

Altersarmut  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 10
                                                                                                                                                 3
Daten und Fakten  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 10
Armutsgefährdung der Einzelhandelsbeschäftigten  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 11
Der Wettbewerb im deutschen Einzelhandel  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 12
Zunehmende Konzentration  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 13
Verkaufsflächenexpansion  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 14
Boomender Onlinehandel  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 15
Preiskampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

Staatliche Deregulierung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 17
Rabattgesetz  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 17
Deregulierung des Arbeitsmarktes  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 17
Öffnungszeiten  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 19

Für eine bessere Perspektive im deutschen Einzelhandel  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 20
Forderungen an die Politik: Regulierung statt Deregulierung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 20
Erwartungen an die Arbeitgeber  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 21

Anhang/Daten und Fakten zur Rente  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 22
So wird die Altersrente berechnet
Von der Brutto-Rente werden abgezogen
Drei fiktive Beispiele aus dem Einzelhandel
Risiken der Armutsgefährdung im Einzelhandel
Von brutto zu netto (zwei konkrete Beispiele)

Literaturliste und Quellen  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 25
4
Vorbemerkungen

Vorbemerkungen                                        Wettlauf eine weitere negative Trendverstärkung
                                                      erhalten. Damit wurde eine Abwärtsspirale in
                                                      Gang gesetzt, seither ist die Tarifbindung im
Wohl kaum eine Branche hat sich in den letzten        Einzelhandel erodiert.
zwanzig Jahren so stark verändert wie der
Einzelhandel. Riesige Konzerne mit enormer            Nach „außen“ prägen niedrige Preise, hohe
Marktmacht dominieren – Zehntausende                  Rabatte und wohlfeile Werbekampagnen das
kleinerer Unternehmen sind ausgeschieden. Es          Bild des deutschen Einzelhandels – „innen“
findet ein erbitterter Verdrängungswettbewerb         dominieren in vielen Unternehmen prekäre
statt, der überwiegend über Preiskämpfe,              Beschäftigung, zunehmender Leistungsdruck
Öffnungszeiten und Flächenerweiterungen               und untertarifliche Bezahlung. Für die Mehrzahl
geführt wird. Der boomende Onlinehandel und           der Beschäftigten bietet sich eine ausgespro-
eine zunehmende Konzentrationsentwicklung             chen düstere Perspektive: Nach unseren
erhöhen den Wettbewerbsdruck.                         Berechnungen werden mindestens 2,5 Millionen
                                                      Menschen nach einem harten Arbeitsleben
Die Handelslandschaft ist tief zerklüftet, grell      anschließend in Altersarmut „entlassen“.
glitzernde Flagship-Stores in Einkaufsmeilen,
Shoppingparadiese und Konsumpaläste auf der                                                               5
einen Seite – auf der anderen Seite viel Tristesse,    Der Handel ist heute eine Branche in der
Billigheimer, 1-Euro-Shops und Leerstände in           die Mehrheit der Beschäftigten akut von
strukturschwachen Regionen und vielen Mittel-          Altersarmut bedroht ist.
und Kleinstädten – und nicht selten auch in
zentralen Lagen größerer Städte.                      Wir wollen im Folgenden zeigen wie sich derzeit
                                                      die finanzielle Situation der Arbeitnehmer/-innen
Der ruinöse Verdrängungskampf hat nicht nur           im Einzelhandel darstellt. Dabei werden auch
die Handelslandschaft verändert, sondern vor          die konkreten Auswirkungen der Tarifflucht
allem auch tiefe Spuren beim Personal hinter-         analysiert. Dann wollen wir zeigen, welche
lassen. Der Einzelhandel ist eine Branche, in der     Konsequenzen sich für die Betroffenen bezüglich
Vollzeitstellen massiv abgebaut wurden, in der        ihrer Altersrente ergeben. Dabei wird untersucht,
heute atypische Beschäftigungsverhältnisse            wie sich die Armutsgefährdung für einzelne
überwiegen. Die Arbeitsbedingungen haben sich         Beschäftigtengruppen darstellt. Schließlich soll
immer mehr verschlechtert (Arbeitsbelastung,          gezeigt werden, welche Auswirkungen der
Stress, Arbeitszeitlage, graue Überstunden).          ruinöse Verdrängungskampf im deutschen
                                                      Einzelhandel für Mittelstand, Hersteller,
Der ruinöse Wettbewerb wird durch staatliche          Verbraucher und Beschäftigte hat. Schlussend-
Deregulierung noch zusätzlich angeheizt. Die          lich werden verschiedene Lösungsansätze
weitgehende Freigabe der Öffnungszeiten und           vorgestellt.
die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes im Zuge
der Hartz-Gesetze haben Schleusen geöffnet
für einen Minijob-Boom, für Dumpinglöhne und
den missbräuchlichen Einsatz von Leiharbeit und
Werkverträgen.

Mit der arbeitgeberseitigen Aufkündigung der
Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge im
Einzelhandel im Jahre 2000 hat der ruinöse
Zur Situation der Beschäftigten im Einzelhandel

    Zur Situation der                                   Anzahl und Struktur
                                                        der Arbeitnehmer/-innen
    Beschäftigten im
    Einzelhandel                                        Nach der letzten Erhebung (30.6.2016) wurden
                                                        3,1 Millionen Arbeitnehmer/-innen im deutschen
                                                        Einzelhandel gezählt. Damit hat sich deren Zahl
    Der Einzelhandel ist eine der größten Branchen      in den letzten sechs Jahren um knapp 200.000
    der deutschen Wirtschaft. Mehr als drei Millionen   erhöht. Die strukturelle Zusammensetzung hat
    Arbeitnehmer/-innen sind hier beschäftigt, die      sich über die Jahre massiv zulasten der Vollzeit-
    meisten von ihnen sind Frauen. Der Einzelhandel     beschäftigung verschoben. Im Jahre 2000 war
    sorgt immer wieder für Schlagzeilen – selten        noch die Hälfte der abhängig Beschäftigten
    allerdings für positive. Wie in kaum einer          vollzeitbeschäftigt – heute sind es nur noch
    anderen Branche wurde hier Vollzeitarbeit zu-       37,3 Prozent.
    gunsten prekärer Beschäftigung zurückgedrängt.
                                                        Struktur der abhängig Beschäftigten im
    2013 sorgte das Thema „Aufstocker“ für Schlag-      deutschen Einzelhandel 2010/2016 (in Tsd.)
    zeilen. Jede/r Dritte bekam danach weniger
    als 10 Euro in der Stunde. Viele Beschäftigte                             2010            2016
6
    müssen ihr Einkommen durch staatliche
    Leistungen aufstocken um einigermaßen über           Gesamt              2.924            3.113
    die Runden zu kommen. Die FAZ kommentierte
    dies so: „Der deutsche Staat tut offenbar einiges    VZ                  1.239            1.160
    dafür, die Lohnpolitik des Einzelhandels zu
                                                         Sozverpfl. TZ        785             1.112
    unterstützen“ (faz.net vom 4.6.2013).
                                                         GFB                  728              645
     „Staat zahlt jährlich 1,5 Milliarden Euro           Nebenjob             160              197
     für Niedriglöhne im Handel“
     (spiegel.de vom 4.6.2013).
                                                         Knapp 2,3 Millionen Menschen arbeiten
    Nun sorgt der Einzelhandel erneut für Schlag-        derzeit in einem sozialversicherungs-
    zeilen. Der hohe Anteil atypischer Beschäftigung     pflichtigen Beschäftigungsverhältnis.
    wirkt sich dramatisch auf die zukünftigen
    Renten aus. Die Tarifflucht vieler Handelsunter-     Knapp zwei Millionen arbeiten in Teilzeit
    nehmen erhöht und verschärft das Risiko der          oder als geringfügig Beschäftigte (GFB) – mit
    Altersarmut der Beschäftigten zusätzlich.            einschneidenden Konsequenzen für Lohn,
                                                         Gehalt und Rente.

     „Beschäftigten im Handel droht Altersarmut“
     (spiegel.de vom 6.4.2017).                         „Verkäufer sprechen mit den Kunden, Minijob-
                                                        ber machen die Kasse, Leiharbeiter arbeiten im
                                                        Lager, Werknehmer räumen offiziell eigenständig
                                                        die Regale ein – die traditionell gemischte
                                                        Arbeit von Verkäufern und Einzelhandelskauf-
                                                        leuten wird zerlegt in immer kleinere Häppchen,
                                                        erledigt von der dafür jeweils am billigsten
                                                        verfügbaren Arbeitskraft“ (brandeins 04/2013).
Zur Situation der Beschäftigten im Einzelhandel

Der Einzelhandel ist eine Frauenbranche, der           Monat (Beispiel NRW; WSI-Tarifarchiv). Hinzu
Frauenanteil beträgt 69 Prozent. Besonders hoch        kommen Urlaubsgeld, Jahressonderzahlung und
ist ihr Anteil unter den Teilzeitbeschäftigten         Leistungen der tariflichen Altersversorgung.
(rund 90 Prozent). Bei den Vollbeschäftigten
beträgt ihr Anteil 54 Prozent (Angaben: IW
                                                        Damit ergibt sich in der Endstufe dieser
Köln). Demnach arbeiten derzeit rund 620.000
                                                        Gruppe für Vollzeitbeschäftigte ein Jahres-
Frauen im deutschen Einzelhandel in einem
                                                        einkommen von 32.431,88 Euro.
sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeitsver-
hältnis. Bei den vollzeitbeschäftigten Männern
handelt es sich sowohl um Führungskräfte,              Für sozialversicherungspflichte Teilzeitbeschäf-
insbesondere aus dem filialisierten Einzelhandel       tigte verringert sich der Betrag entsprechend
als auch um gewerbliche Arbeitnehmer aus den           dem jeweiligen Stundenfaktor. Für eine Teilzeit-
Bereichen Versand, Lager und Logistik.                 beschäftigte mit einem Stundenanteil von 0,7
                                                       ergeben sich bei entsprechender Eingruppierung
Normalarbeitsverhältnis und                            dann rund 22.700 Euro Jahresbruttoverdienst.
atypische/prekäre Beschäftigung
Normalarbeitsverhältnis:                               Die Tarifeinkommen im Einzelhandel konnten
Vollzeittätigkeit oder Teilzeittätigkeit mit mehr      in den letzten Jahren deutlich gesteigert werden    7
als 20 Wochenstunden, als unbefristetes                – es gibt aber weiterhin einen erheblichen
Beschäftigungsverhältnis, welches voll in die          Nachholbedarf. Über den langen Zeitraum von
sozialen Sicherungssysteme integriert ist.             2000 bis 2016 ergibt sich für die gesamte
Atypische Beschäftigung:                               Wirtschaft eine Steigerung bei den Tarifeinkom-
Befristet Beschäftigte, Teilzeitbeschäftigte           men von 44,8 Prozent. Im Metallbereich beträgt
(20 oder weniger Stunden) Zeitarbeitsneh-              das Plus sogar 52 Prozent. Im Einzelhandel
mer/-innen, Geringfügige Beschäftigung                 dagegen konnte über den gesamten Zeitraum
(lt. Definition des Statistischen Bundesamtes).        betrachtet nur ein Plus von 37 Prozent erreicht
Einige Autoren zählen hierzu auch Teilzeitbe-          werden (WSI-Tarifarchiv 2017).
schäftigte mit mehr als 20 Stunden, sofern es
sich um erzwungene Teilzeitarbeit handelt.             Das Durchschnittsentgelt aller Arbeitnehmer/-
                                                       innen beträgt aktuell 36.267 Euro (Deutsche
Die Abgrenzung zwischen atypischer und                 Rentenversicherung). Im Verhältnis dazu erreicht
prekärer Beschäftigung ist in der Wissenschaft         das Jahreseinkommen der Verkäufer/-innen
umstritten. Oft werden beide Begriffe synonym          (Beispiel NRW) derzeit 89 Prozent, und liegt
verwendet. Richtig ist: „Nicht jede Form               damit deutlich unter dem Durchschnittsentgelt.
atypischer Beschäftigung ist prekär, aber sie
birgt große Risiken für die Beschäftigten“ (DGB).
Zu den Prekaritätsrisiken und gewerkschaft-            Tarifbindung im Einzelhandel
lichen Strategien siehe IAQ, FES, Bispinck/
Schulten.                                              Aber längst nicht alle Beschäftigten bekommen
                                                       das Tarifentgelt. Die Tarifbindung in Deutschland
                                                       ist während der letzten Jahre merklich zurück-
Tarifeinkommen                                         gegangen. Unterschieden wird dabei in
                                                       Tarifbindung der Betriebe und der Beschäftigten.
Die tarifliche Vergütung im Gehaltsbereich in der
mittleren Gruppe („Verkäufer/-innen“) beträgt          Zur Bestimmung der Tarifbindung gibt es zwei
derzeit zwischen 1.940 und 2.471 Euro im               unterschiedliche Quellen: Das Institut für
Zur Situation der Beschäftigten im Einzelhandel

    Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der         kosten angestrebt werden. Eine dieser Einspa-
    Bundesagentur für Arbeit und das Statistische       rungsmöglichkeiten ist auch die Nichtachtung
    Bundesamt (Destatis). Wir konzentrieren uns         geltender Tarifverträge“ (Antrag auf AVE –
    hier auf das IAB-Betriebspanel, eine repräsen-      Schreiben des Einzelhandelsverband NRW vom
    tative Arbeitgeberbefragung zu betrieblichen        17.9.1999 an das zuständige Ministerium).
    Bestimmungsgrößen der Beschäftigung. Das            Bis zu diesem Zeitpunkt waren nahezu alle
    letzte IAB-Betriebspanel stammt aus 2015.           Tarifverträge des Einzelhandels allgemeinver-
                                                        bindlich.
    Einige Ergebnisse für die Gesamtwirtschaft
    im Überblick:                                       Schon ein Jahr später vollzogen dieselben
                                                        Arbeitgeber eine radikale ideologische Wende
    • Zwischen 2000 und 2015 ist die Flächen-          und zerstörten diesen Konsens. Im Jahre 2000
       bzw. Branchentarifbindung der Beschäftigten      wurde die Allgemeinverbindlichkeit der Tarif-
       von 63 auf 51 Prozent in Westdeutschland         verträge von ihnen aufgekündigt und per
       gesunken. Für Ostdeutschland sogar von           Satzungsänderung die OT-Mitgliedschaft
       44 auf 37 Prozent.                               ermöglicht. Damit wurde eine Abwärtsspirale in
    • Große Unterschiede gibt es zwischen den          Gang gesetzt. Aktuell stellt sich die Situation
8      Wirtschaftsbereichen. Der Einzelhandel gehört    nach den IAB-Daten folgendermaßen dar:
       in Bezug auf die Tarifbindung der Beschäftig-
       ten mit 38 Prozent zu den absoluten              Beschäftigte:
       Schlusslichtern. Lediglich in den Bereichen      2015 arbeiteten 38 Prozent der westdeutschen
       Verkehr und Lagerei (37 %), Großhandel,          und 26 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten
       Kfz-Handel und Reparatur (35 %) sowie            in einem Betrieb der einem Branchen-Tarifver-
       Information & Kommunikation (15 %) ist die       trag unterliegt. Haus-/Firmentarifverträge gelten
       Tarifbindung noch niedriger.                     jeweils für 4 Prozent.
    • Die Tarifbindung variiert mit der Größe der
       Betriebe – je größer die Betriebe, desto höher   57 Prozent der Beschäftigten in Westdeutsch-
       tendenziell die Tarifbindung.                    land sind in einem nicht-tarifgebundenen
    • Es gibt starke Unterschiede zwischen West        Betrieb angestellt, deren Arbeitgeber sich zu
       und Ost und gleichzeitig auch innerhalb der      54 Prozent am Branchentarifvertrag „orientie-
       Bundesländer.                                    ren“. Für Ostdeutschland sind es 70 Prozent
                                                        (45).

    Die Erosion der Tarifbindung                        Zum Vergleich die Daten zur Gesamtwirtschaft:
    im Einzelhandel                                     2015 arbeiteten 51 Prozent der westdeutschen
                                                        und 37 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten
    Über lange Zeit galt zwischen den Tarifparteien     in einem Betrieb der einem Branchen-Tarifver-
    ein Konsens, wonach die Personalkosten nicht        trag unterliegt. Haus-/Firmentarifverträge gelten
    Gegenstand des ruinösen Wettbewerbs sein            für 8 (West), bzw. 12 (Ost) Prozent.
    sollten. Die Allgemeinverbindlichkeit der
    Tarifverträge sei geboten, so argumentierten die    Betriebe:
    NRW-Arbeitgeber noch im Jahre 1999 „um die          Nach den aktuellen Daten sind 72 Prozent der
    soziale Komponente der Marktwirtschaft im           Betriebe im westdeutschen Einzelhandel nicht
    Einzelhandel zu erhalten“. Denn es bestehe „die     tarifgebunden, 43 Prozent davon orientieren
    Gefahr, dass zur Erhaltung oder Eroberung von       sich am Branchentarifvertrag. Für Ostdeutsch-
    Marktanteilen Einsparungen bei den Personal-        land sind die Zahlen noch ungünstiger, dort
Zur Situation der Beschäftigten im Einzelhandel

waren zuletzt 84 Prozent nicht-tarifgebunden,           Die Tariflandschaft im deutschen Einzelhandel
41 Prozent orientierten sich am Branchentarif           ist tief zerklüftet. Sie gleicht einem riesigen
(Ellguth).                                              Flickenteppich:

Anmerkung zum Thema „Orientierung“ am                   • Es gibt eine (kleiner werdende) Anzahl
Branchentarifvertrag: In den Tabellen des IAB              von Unternehmen mit Tarifbindung.
spielt die Rubrik „Orientierung am Branchen-            • Es gibt Unternehmen, die sich an dem
TV“ jeweils quantitativ eine wichtige Rolle. Die           Tarifvertrag „orientieren“.
Arbeitgeber interpretieren dies gerne so, als           • Es gibt eine Vielzahl von Haus-, Firmen-
würden diese Unternehmen die Branchentarif-                und Sanierungstarifverträgen.
verträge 1:1 anwenden. Nach dieser „Logik“              • Es gibt Unternehmen, die nach Tarif zahlen
ergibt sich dann rein rechnerisch eine höhere              aber über eine Ausdehnung der Arbeitszeit
Tarifbindung. Aktuelles Beispiel: Nachdem ver.di           den Stundenlohn drücken.
öffentlichkeitswirksam für eine stärkere                • Es gibt nicht-tarifgebundene Online-Riesen
Tarifbindung eingetreten ist entgegnete der                wie Amazon und Zalando.
BDA, es gäbe ja „auch eine große Anzahl                 • Es gibt Konzerne, die Tochterunternehmen
von Unternehmen, die sich an Tarifverträgen                mit und solche ohne Tarifbindung haben,
orientieren, ohne sie zu unterschreiben“                   wie z.B. Edeka und Rewe (sogenannter           9
(HB vom 14.4.2017).                                        privatisierter Einzelhandel).
                                                        • Es gibt immer wieder neue Beispiele der
Wissenschaftler stellen dazu kritisch fest:                Flucht aus dem Flächentarifvertrag und
„Allerdings lehnt sich nur ein Teil dieser Betriebe        auch Beispiele dafür, dass Unternehmen
in tatsächlich allen relevanten Punkten an den             (meist nach langen Auseinandersetzungen)
jeweiligen Branchentarif an“ (Ellguth).                    den Weg zurück (oder neu) in die Tarif-
                                                           bindung gegangen sind (zuletzt u. a. Esprit
Das bedeutet im Klartext für den Einzelhandel:             und Karstadt).
In der Praxis werden hier eben nicht Tariflöhne
gezahlt, oft Arbeitszeiten weit über den 37,5
                                                         Edeka und Rewe überlassen Tausende von
Stunden für das gleiche Monatsentgelt geleistet
                                                         Filialen selbstständigen Einzelhändlern.
oder Zuschläge oft nicht bezahlt. „Orientierung
                                                         Zehntausende von Beschäftigten arbeiten
am Tarifvertrag“ bedeutet demnach in den
                                                         dort meist ohne Tarifvertrag. Gleichzeitig
meisten Fällen faktisch eine gravierende
                                                         verlautbart Edeka auf seiner Homepage:
Unterschreitung der tariflichen Leistungen.
                                                         „Unser Herz gehört nicht nur Lebensmitteln,
                                                         sondern auch unseren Mitarbeiter/innen“.
 „Seit Jahren wird die Tarifbindung der
 Arbeitgeber geringer – statt über Produkte
 und Dienstleistungen zu konkurrieren, ziehen
                                                        Ohne Tarifbindung bis zu
 es viele vor, Arbeitnehmerrechte abzubauen
                                                        32 Prozent weniger
 und Lohnkosten nach unten zu treiben“
 (Reiner Hoffmann, DGB-Vorsitzender, in: zeit.
                                                        Forscher des ifo-Instituts haben die Daten des
 de vom 25.10.2014).
                                                        IAB über den Zeitraum von 2000 bis 2010
                                                        ausgewertet und dabei herausgefunden, dass
                                                        tarifgebundene Betriebe durchschnittlich
                                                        zwischen 25 und 32 Prozent höhere Löhne und
                                                        Gehälter zahlen (Felbermayr). Dabei fällt auf,
Zur Situation der Beschäftigten im Einzelhandel

     dass die Lohndifferenz mit zunehmender            Altersarmut
     Betriebsgröße kleiner wird. Im Einzelnen ergibt
     sich in Bezug auf vollbeschäftigte Arbeitneh-
     mer/-innen eine Lohndifferenz von:                Das Armutsrisiko in Deutschland steigt, zuletzt
                                                       lag die Quote der von monetärer Armut
     Für alle Arbeitnehmer/-innen 	          – 25 %   bedrohten Menschen bei 16,7 Prozent, das sind
     Ostdeutschland		                        – 44 %   13,4 Millionen (Destatis, PM vom 3.11.2016).
     Westdeutschland		                       – 18 %   Besonders stark betroffen sind Arbeitslose und
                                                       Alleinerziehende. Aber auch eine dritte Gruppe
     Nach Berufsgruppen                                ist immer öfter betroffen, die Rentnerinnen und
     Kassierer/-in		 – 30 %                           Rentner. Die Quote der von Armut bedrohten
     Lager- und Transportarbeiter 	 – 10 %            Gruppe „65-Jährige und Ältere“ betrug danach
     Verkäufer/-in		 – 25 %                           18,3 Prozent (Frauen) und 14,5 Prozent bei
                                                       Männern (Destatis).
     • Im Einzelhandel arbeitet nur noch gut
        ein Drittel der Beschäftigten in Vollzeit.
     • Das Tarifgehalt der Beschäftigten im           Daten und Fakten
10      Einzelhandel liegt durchschnittlich rund
        11 Prozent unter dem der Gesamtwirtschaft.     Als wesentliche Ursachen der Altersarmut sehen
     • Die Tarifbindung im Einzelhandel erodiert.     Experten den „Paradigmenwechsel in der
        Der Handel gehört zu den Branchen mit der      Renten- und Arbeitsmarktpolitik“, also die
        niedrigsten Tarifbindung überhaupt.            Riester-Reform, die Hartz-Gesetze und die
     • Viele nicht tarifgebundene Arbeitgeber         Agenda 2010 (SoVD). Insbesondere der massive
        drücken die Löhne um ein Drittel.              Abbau der Normalarbeitsverhältnisse, also der
     • Tarifflucht führt zu Mini-Renten!              sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeit, hat
                                                       die Probleme enorm verschärft.

      Aufhebung der AVE >> Tarifflucht                 Im deutschen Rentensystem bestimmt die
      >> Dumpinglöhne >> Altersarmut                   Erwerbsbiografie maßgeblich die Höhe der
                                                       gesetzlichen Rente. Wichtige Faktoren, die die
                                                       Rentenansprüche mindern, sind unterdurch-
                                                       schnittliche Tarifeinkommen, atypische Be-
                                                       schäftigungsformen, Unterbrechungen in der
                                                       Erwerbsbiografie sowie untertarifliche Entloh-
                                                       nung (Tarifflucht).

                                                       Es gibt zwei verschiedene Messverfahren um die
                                                       Altersarmut zu quantifizieren. Das eine basiert
                                                       auf der Grundsicherung im Alter. Diese umfasst
                                                       (Stand 2016) 404 Euro für Alleinstehende, bzw.
                                                       2 mal 364 Euro bei (Ehe-)Partnern. Hinzu
                                                       kommen noch die jeweiligen („angemessenen“)
                                                       Wohnkosten.
Altersarmut

Das andere Verfahren bezieht sich auf die          Dazu werden drei verschiedene Beispiele
sogenannte Armutsgefährdungsgrenze:                durchgerechnet (die konkrete Berechnung findet
Wer als Alleinlebender weniger als 60 Prozent      sich im Anhang. Alle drei Beispiele basieren auf
des mittleren Nettoeinkommens (exakt: des          einer tarifgemäßen Entlohnung):
mittleren „Äquivalenzeinkommens“) monatlich
zur Verfügung hat lebt danach an der Grenze        • Eine vollzeitbeschäftigte Verkäuferin käme
zur Armut.                                            nach 45 Berufsjahren in der Endstufe der
                                                      G I auf eine Bruttorente von maximal ca.
Dieser Wert wird jährlich neu ermittelt und           1.220 Euro.
vom Statistischen Bundesamt veröffentlicht.        • Wenn die gleiche Verkäuferin allerdings
Die letzten aktuellen Daten dazu:                     10 Jahre teilzeitbeschäftigt war sinkt die zu
                                                      erwartende Rente auf maximal ca. 1.000 Euro
         Schwellenwert für Armutsgefärdung            brutto.
              in Euro pro Jahr (2015)              • Wenn jemand in dem gleichen Job 45 Jahre
                                                      teilzeitbeschäftigt war (0,7) reduziert sich die
  Alleinlebende/r                      12.041         Rente auf maximal ca. 850 Euro.

  Zwei Erwachsene mit                  26.041      Im Falle untertariflicher Entlohnung (Tarifflucht),   11
  zwei Kindern unter 14 Jahren                     z. B. einem 30-prozentigen Abschlag, ergeben
Quelle: Destatis 2017
                                                   sich dadurch drastische Abzüge für die jeweilige
                                                   Rente. In diesem Fall entspräche das Jahres-
                                                   einkommen nicht mehr 89 Prozent des Durch-
                                                   schnittseinkommens, sondern nur noch 63
  Wer als Single weniger als 1.003 Euro im
                                                   Prozent. Daraus folgt:
  Monat zur Verfügung hat gilt demnach als
  „armutsgefährdet“.
                                                   • Eine Verkäuferin käme dann nach 45 Jahren
                                                      ununterbrochener Vollzeitarbeit auf eine
                                                      Bruttorente von maximal ca. 863 Euro. Das
Armutsgefährdung der                                  sind 356 Euro weniger Rente gegenüber einer
Einzelhandelsbeschäftigten                            tarifgerechten Entlohnung.

Die Rente ist ein Spiegelbild des Erwerbslebens.   Wohlgemerkt: Bei diesen Beispielen handelt es
Insofern mindern geringe Einkommen, Teilzeit-      sich jeweils um Bruttorenten. Davon müssen
beschäftigung, Phasen der Unterbrechung und        dann durchschnittlich noch mindestens zehn
geringe Anzahl der Beschäftigungsjahre die         Prozent abgezogen werden.
Rente. Wenn mehrere dieser Punkte gleichzeitig
zutreffen ist die Negativwirkung besonders groß.   Zwischenresümee:
Frauen sind in besonderem Maße betroffen.          Wegen der extrem ungünstigen Beschäftigungs-
                                                   struktur im Einzelhandel ist das Rentenrisiko
Um das quantitative Ausmaß der Armutsgefähr-       sehr groß. Fast zwei Drittel der Arbeitnehmer/-
dung für die Handelsbeschäftigten in etwa          innen mit niedrigen Jahreseinkommen (GFB,
bestimmen zu können wollen wir einmal auf          sozialversicherungspflichtige Teilzeit) sind später
der Grundlage der bereits entwickelten Eckdaten    von Altersarmut bedroht. Auch sozialversiche-
die ungefähre Rentenhöhe einzelner Arbeit-         rungspflichtige Beschäftigung ist kein Garant für
nehmerinnen berechnen.                             einen abgesicherten Lebensabend (siehe
                                                   Teilzeitarbeit).
Altersarmut

     Viele der weiblichen Beschäftigten die in der          Dies betrifft nicht nur Geringverdiener und
     Statistik als Vollzeitbeschäftigte registriert sind,   Teilzeitbeschäftigte. Die Armutsgefährdung
     haben in ihrer Erwerbsbiografie Phasen der             breitet sich stetig aus und bedroht immer mehr
     Unterbrechung (Baby- und Erziehungspausen)             auch den Kreis der Vollzeitbeschäftigten.
     und/oder der Teilzeitbeschäftigung. Dies wirkt         Hier vor allem die Frauen.
     sich entsprechend rentenmindernd aus. Bei einer
     „normalen“ Erwerbsbiografie können selbst              Nach derzeitigem Stand muss davon ausge-
     vollzeitbeschäftigte Verkäuferinnen und                gangen werden, dass weniger als die Hälfte
     Kassiererinnen lediglich mit einer Rente in der        der weiblichen Vollbeschäftigten eine Rente
     Nähe der Armutsgefährdungsgrenze rechnen.              oberhalb der Armutsgrenze erzielen wird.

                                                            Einmal unterstellt, dass die Mehrzahl der
     Im Falle drastischer Lohnabschläge durch               vollbeschäftigten Männer überwiegend eine
     Tarifflucht kommt es zu ebenso drastischen             Rente oberhalb dieser Grenze erzielen kann,
     Einbußen bei der Rente. Tarifflucht der Arbeit-        bedeutet das: Rund 2,5 Millionen Beschäftigte
     geber führt im konkreten Fall dazu, dass selbst        im deutschen Einzelhandel sind massiv von
     nach einer 45-jährigen Vollzeitbeschäftigung           Altersarmut bedroht. Die meisten davon sind
     die Altersarmut folgt.                                 Frauen.
12
     Im Einzelhandel arbeiten zwei Millionen
      Menschen in Teilzeit oder als geringfügig
      Beschäftigte.                                         Der Wettbewerb im
                                                            deutschen Einzelhandel
      ehr als zwei Drittel aller Beschäftigten sind
     M
     Frauen. Aufgrund ihrer spezifischen Erwerbs-           Das wirtschaftliche Umfeld für den Einzelhandel
     biografie (Unterbrechung, „Teilzeitfalle“)             ist derzeit recht günstig, der relativ stabile
     müssen sie mit erheblichen Einbußen bei ihrer          Arbeitsmarkt und steigende Realeinkommen
     gesetzlichen Rente rechnen.                            sorgen für gute Umsätze in der Branche.
     Das Tarifeinkommen konnte in den letzten               Der HDE erwartet für 2017 ein Plus von zwei
     Jahren deutlich gesteigert werden, liegt aber          Prozent, wobei die Online-Umsätze wieder
     immer noch unter dem Durchschnitt.                     überdurchschnittlich um elf Prozent zulegen
                                                            können. Die Bevölkerung wird in den nächsten
     Die Tarifbindung im Einzelhandel erodiert. Die         Jahren erst einmal wachsen, wegen der hohen
     Mehrheit der Beschäftigten ist heute nicht mehr        Zuwanderung und der gestiegenen Geburten-
     tarifgebunden. In vielen nichttarifgebundenen          rate. Danach dürfte sich die Bevölkerungszahl
     Betrieben liegt der Lohn um 30 Prozent niedriger.      wieder rückläufig entwickeln. Die Altersstruktur
                                                            verändert sich gravierend, es gibt tendenziell
     Prekäre Beschäftigungsstrukturen, Nachhol-             immer mehr „Alte“ (über 67) und immer
     bedarf, erwerbsbiografische Unterbrechungen            weniger „Junge“ (unter 25). Gleichzeitig steigt
     und Tarifflucht sind wesentliche Gründe dafür,         die Zahl der Single-Haushalte. Die Ungleichge-
     dass viele Handelsbeschäftigte von Alters-             wichte zwischen Stadt und Land werden in den
     armut bedroht werden.                                  nächsten Jahren noch größer. Zu den Verlierern
                                                            gehört der Osten der Republik, ebenso wie auch
                                                            große Teile Nordrhein-Westfalens, Nordbayerns
                                                            und des Saarlands. Hier wird die Bevölkerungs-
                                                            zahl weiter schrumpfen. Die demografische
                                                            Entwicklung hat erhebliche Bedeutung für die
Altersarmut

weitere Entwicklung des Einzelhandels. Stich-       Die marktführenden Konzerne mit ihren
worte sind Ladengestaltung, altersspezifische       jeweiligen Tochterunternehmen decken mit
Konsumgewohnheiten, Nahversorgung,                  deren Verkaufsstätten praktisch das gesamte
seniorenfreundlicher Service u. a. m. Der Wett-     Bundesgebiet ab:
bewerb im deutschen Einzelhandel wird
wesentlich geprägt durch Konzentration                  Konzerne im Lebensmittelhandel (Top 5)
(Marktmacht), Expansion der Verkaufsfläche,             und deren Verkaufsstätten (Stand: 2016)
boomenden Onlinehandel und einen aggressiven
Preiswettbewerb. Dabei werden die Wettbe-            Edeka                                    13.308
werbsprozesse maßgeblich auch durch politische
                                                     Schwarz-Gruppe                            3.850
Entscheidungen beeinflusst.
                                                     Rewe-Group                                6.940

Zunehmende Konzentration                             Aldi                                      4.195

                                                     Metro-Group                                815
Seit 2002 ist die Anzahl der Unternehmen um
130.000 zurückgegangen. Zuletzt wurden noch
insgesamt 350.000 Unternehmen im deutschen          (Umsatz-)Größe bedeutet vor allem enorme                13
Einzelhandel gezählt (Statista). Der Konzen-        Nachfragemacht gegenüber Lieferanten und
trationsgrad in der Branche ist sehr hoch.          Produzenten (u. a. günstige Einkaufspreise und
So bringen es die fünf Größten des Lebens-          Konditionen). Diese monetären Vorteile auf der
mitteleinzelhandels Edeka, Schwarz-Gruppe,          Nachfrageseite geben den Handelskonzernen
Rewe-Group, Aldi und Metro-Group 2016 auf           enorme Möglichkeiten, im Verkauf aggressive
einen Marktanteil von 68 Prozent (LZ vom            Preis-, und Rabattaktionen zu fahren, ggfs. auch
31.3.2017).                                         über längere Zeiträume hinweg.

Schaut man sich den Konzentrationsgrad in den       Die Nachfragemacht kann dazu führen, dass die
verschiedenen Teilbranchen des Einzelhandels        Verhandlungsposition kleinerer Handelsunter-
an, so zeigt sich zum einen eine hohe Verdich-      nehmen massiv geschwächt wird: Ein Hersteller
tung in fast allen Bereichen, gleichzeitig werden   holt sich das, was er bei einem Großen verloren
aber auch signifikante Unterschiede deutlich:       hat, bei Kleineren wieder zurück (sog. Wasser-
Am höchsten ist der Konzentrationsgrad              betteffekt). Eine mögliche Gegenmaßnahme ist
(TOP-3-Player) bei Drogerien (97 %) und             die Schaffung von Verbundgruppen, wie zuletzt
Supermärkten (90 %) – relativ gering dagegen        die RTG Retail Trade Group. Ziel sei es, gegen-
(noch) bei „Bekleidung“ (18 %) und „Möbel“          über Edeka und Rewe „nicht ins Hintertreffen zu
(26 %) (Wabe-Institut).                             geraten“ (LZ vom 7.4.2017).

Konzentration erwächst aus organischem Wachs-       Aus Größe resultiert Marktmacht, Größe ist der
tum, Flächenwachstum und/oder der Übernahme         wesentliche Treiber des Konzentrationsprozesses
von Konkurrenzunternehmen. In dem dynami-           im Handel. Es gibt tendenziell immer weniger
schen Prozess des Strukturwandels ist Konzen-       Unternehmen – mit immer mehr Umsatz.
tration zum einen das Ergebnis des scharfen         Viele kleine und mittlere Firmen werden nicht
Wettbewerbs (Marktanteilszuwächse, Verdrän-         überleben. Betroffen sind oft traditionsreiche
gung), und gleichzeitig die Grundlage für noch      und inhabergeführte Unternehmen. Sie sterben
mehr Konzentration, denn Größe fördert weitere      still und leise, allenfalls berichtet die Lokalpresse
Größe.                                              darüber.
Altersarmut

                                                        61 Prozent. Dabei wuchs in Ostdeutschland die
      Die Anzahl der Verkaufsstellen im Lebens-
                                                        Verkaufsfläche allein zwischen 1990 und 2000
      mittelhandel ist zwischen 2003 und 2016 um
                                                        von 6 auf 18 Millionen Quadratmeter, verdrei-
      22.000 zurückgegangen (Statista).
                                                        fachte sich also! Von besonderer Bedeutung ist,
                                                        dass der Großteil dieser zusätzlichen Verkaufs-
     Aktuell bewerten viele kleinere und mittlere       flächen im sogenannten sekundären Netz – also
     Händler ihre Geschäftslage negativ, so der HDE.    auf der grünen Wiese entstand (Glaubitz, 2001).
     Besonders die Gruppe der Händler mit weniger
     als fünf Beschäftigten sind betroffen. Auf sie     Da der reale Einzelhandelsumsatz dem auch
     entfallen insgesamt zwar nur zehn Prozent des      nicht einmal annähernd folgen konnte (Scheren-
     Gesamtumsatzes – aber 54 Prozent der Stand-        entwicklung) ist eine Flächenüberkapazität
     orte (HDE PM vom 6.4.2017). Ein weiteres           entstanden. Dies führt tendenziell zu sinkender
     Ladensterben wird also dazu führen, dass           Flächenproduktivität (Umsatz pro Quadrat-
     die flächendeckende Versorgung noch weit-          meter).
     maschiger wird.
                                                           Jahr             Verkaufsfläche in Mio. qm
     Aber nicht nur die „Kleinen“ sind bedroht – in
14   den letzten zehn Jahren hat es auch eine Reihe       1990                        77,0
     prominenter Unternehmen getroffen. Die Liste
     ist lang, sie umfasst Arcandor, Neckermann,          2000                        109,0
     Hertie, Schlecker, Praktiker/Max Bahr, Weltbild      2016                        123,7
     u. v. a. m.
                                                        Quelle: HDE (Stand 09/2016)
     Die zunehmende Konzentration bietet Anlass zur
     Sorge. Je mächtiger die Großen werden desto        Der Flächenboom der 90er-Jahre ist zwar
     größer auch die Gefahr der Verdrängung – zu-       vorüber, doch auch in den letzten anderthalb
     lasten des Wettbewerbs. In einigen Teilbereichen   Jahrzehnten wurde die Verkaufsfläche weiter
     des Handels ist dies bereits schon seit längerem   ausgebaut. Und ein Ende ist immer noch nicht in
     Realität. Konzerne bestimmen aufgrund ihrer        Sicht! Dabei geht es im Übrigen nicht nur um
     strukturellen Vorteile (Finanzkraft, Nachfrage-    die absolute Zahl (wie viel Millionen Quadrat-
     macht u. ä.) weitgehend die Wettbewerbsbedin-      meter), denn gleichzeitig findet eine Umschich-
     gungen im Handel. Die Nachfragemacht gehe          tung von Verkaufsflächen von kleinen und
     zulasten der Arbeitsbedingungen der Beschäftig-    mittelständischen Unternehmen hin zu den
     ten, der Qualität der Produkte, der Umwelt und     Konzernen statt. Beispiel Drogeriemarktbereich:
     des Tierschutzes sowie kleiner und mittlerer       Kaum wird ein Ladengeschäft in guter Innen-
     Betriebe, so die Initiative Supermarktmacht        stadtlage frei, ist dm „unter den ersten
     (Supermarktmacht.de).                              Interessenten für den Standort, selbst wenn sie
                                                        wenige hundert Meter weiter bereits einen
                                                        Markt hat“ (HB vom 20.10.2016).
     Verkaufsflächenexpansion
                                                        Weiteres Flächenwachstum resultiert vor allem
     In den letzten Jahrzehnten haben die Handels-      aus der Großflächenexpansion im Bereich Möbel
     unternehmen hierzulande eine riesige Verkaufs-     und Baumärkte, Neueröffnungen im Drogerie-
     fläche aufgebaut. Seit 1990 wurde diese Fläche     bereich und der Ansiedlung ausländischer
     von 77 auf knapp 124 Millionen Quadratmeter        Einzelhändler (z. B. im Modebereich). Zudem
     ausgedehnt, das entspricht einem Zuwachs von       entstehen weitere Flächen durch neue Shop-
Altersarmut

pingcenter, in den nächsten fünf Jahren sind      Kernproblematik der gesamten Branche.
30 Projekte geplant. Dabei haben die Einkaufs-    Flächenexpansion wirkt in einigen Bereichen
zentren schon zwischen 2000 und 2016 für          wie ein Brandbeschleuniger für ruinösen
einen Zuwachs von 6,1 Millionen Quadratmeter      Wettbewerb. Dort hat der Konkurrenzkampf
gesorgt (Statista).                               Formen eines Vernichtungswettbewerbs
                                                  angenommen (u. a. Möbel, Textil, Drogerie).
 Mit 146 Quadratmeter Verkaufsfläche pro
 100 Einwohner (Statista) ist die Einkaufs-
                                                  Boomender Onlinehandel
 dichte in Deutschland heute so hoch wie in
 kaum einem anderen Land in Europa.
                                                  Der Onlineumsatz hat sich in den letzten zehn
                                                  Jahren verdreifacht. Die Zuwachsraten liegen
 Dies darf aber nicht darüber hinweg-
                                                  deutlich über dem Branchenschnitt. Zuletzt
 täuschen, dass sich die Verkaufsfläche sehr
                                                  wurde ein E-Commerce-Umsatz von 52,7 Mrd.
 ungleich im Raum verteilt. Riesigen Über-
                                                  realisiert (BVEH). Bis zum Jahre 2020 dürften
 kapazitäten, z. B. in Ballungsgebieten stehen
                                                  die Onlineumsätze weiter überproportional
 Leerstände und verödete Passagen in vielen
                                                  wachsen – auf einen Marktanteil von dann
 Klein- und Mittelstädten gegenüber.
                                                  15 bis 20 Prozent. Der Kauf via Smartphones          15
                                                  und Tablets wächst stark. Die Online-Umsätze
 Das hat auch massive strukturpolitische
                                                  konzentrieren sich hierzulande auf die drei
 Konsequenzen: Die in den 1990er Jahren aus
                                                  großen Händler Amazon, Otto und Zalando.
 dem Boden gestampften Einkaufszentren
                                                  Das Trio erzielt rund die Hälfte des Umsatzes
 auf der grünen Wiese erschweren heute noch
                                                  der 100 größten Online-Shops.
 dem Einzelhandel in vielen ostdeutschen
 Mittel- und Großstädten die Existenz.
                                                  Je nach Branche und Sortiment gibt es große
 „Bis heute wirken die in den ersten Jahren
                                                  Unterschiede. Während bei den „Online-
 nach der Wiedervereinigung geschaffenen
                                                  Sortimenten der 1. Stunde“ (Bücher, Medien,
 Einzelhandelsstrukturen nach“ (uni-leipzig.
                                                  Technik) eine gewisse Sättigung festzustellen ist,
 de, PM vom 3.3.2014).
                                                  werden gleichzeitig immer mehr Artikel im Netz
                                                  angeboten – nicht zuletzt auch Lebensmittel.
Problematisch ist der zusätzliche Flächenanbau    Bei den Warengruppen liegt Bekleidung mit
vor allem auch deshalb, weil ein großer und       deutlichem Abstand vorn, es folgen Elektro/
weiter wachsender Anteil der Einzelhandelsum-     Telekommunikation, Computer/Zubehör, Schuhe
sätze online getätigt wird. Entsprechend steigt   und Bücher/E-Books (BVEH).
der ökonomische Druck auf bestimmte Teile
des stationären Handels wegen der weiter          E-Commerce verändert die gesamte Handels-
sinkenden Flächenproduktivität.                   landschaft in einem rasanten Tempo. Die
                                                  verschiedenen Verkaufs-Kanäle werden immer
In einigen Teilbranchen nutzen die großen         stärker verzahnt und verbunden, Multi-Channel
Akteure Flächenexpansion gezielt als Instrument   wird zum Standard. Der traditionelle Einzel-
zur Verdrängung der Konkurrenten. Eine teure      handel gerät dabei zunehmend unter Druck.
und auch riskante Strategie, insbesondere dort,
wo wachsende Anteile des Sortiments online
umgesetzt werden. Das „Flächenwettrüsten“
sorgt für erhebliche strukturelle Probleme –
einige Handelsexperten sehen darin die
Altersarmut

                                                         Vorteil, da sie Margenverluste durch ihre Markt-
      „Neben den Standortkategorien Innenstadt
                                                         macht und die daraus resultierenden günstige-
      und ‚Grüne Wiese’ wirkt der Online-Handel
                                                         ren Einkaufskonditionen kompensieren können.
      wie eine zusätzliche Standortkategorie, ein
      ‚virtueller Standort’“ (Bundesinstitut).
                                                         Die Verbraucher in Deutschland möchten am
                                                         liebsten alles auf einmal: Top-Service, beste
     Das Internet erhöht die Markttransparenz            Qualität und niedrige Preise. Am besten „fair“
     (Produktinformationen, Preis), dadurch steigt       und „billig“ zugleich.
     der Wettbewerbs- und Preisdruck. Einige sehen
     im Internet offenbar den Totengräber des            In der letzten Zeit sind viele Kunden kritischer
     stationären Einzelhandels. Bis zu 50.000            geworden und sehen Qualität als ein wichtiges
     Geschäften drohe in den nächsten fünf Jahren        Einkaufskriterium, so etwa bei Lebensmitteln.
     wegen des Onlinebooms das Aus, so der HDE.
     Betroffen seien vor allem Städte in struktur-       Gleichzeitig spielt auch die regionale Verfügbar-
     schwachen Gebieten (Wirtschaftswoche vom            keit, also die Flächenpräsenz der verschiedenen
     18.8.2015).                                         Betriebsformate, eine gewichtige Rolle für die
                                                         Kaufentscheidung.
16   Allein den Onlineboom für die Probleme des
     stationären Handels und die Schwierigkeiten         Fakt ist aber, dass sich die Masse der Verbraucher
     vieler Innenstädte verantwortlich zu machen         nach wie vor vor allem am Preis orientiert ...
     greift allerdings zu kurz. Schon allein deshalb,
     weil die Grenzen zwischen Online- und               In weiten Bereichen des Handels herrscht ein
     Stationär-Handel immer mehr verschwimmen.           aggressiver Preiswettbewerb. In den letzten
     In einer vom Bundesamt für Bauwesen und             Jahren sorgen preisaggressive Onlinehändler
     Raumordnung in Auftrag gegebenen Studie             und Discounter für immer neue Preisrunden. Der
     über die räumliche Wirkung des Online-Handels       Textilhandel wird von Billigware überschwemmt.
     wird zwar kritisch auf die tendenzielle Gefahr      Im Möbeleinzelhandel gibt es einen explosiven
     weiterer massiver Leerstände in Mittel- und         Preiskampf – regelrechte Rabattschlachten.
     Kleinstädten hingewiesen. Die Forscher warnen       Viele Händler, vor allem kleinere, werden diese
     aber gleichzeitig vor einfachen, mono-kausalen      „Schlachten“ nicht überleben.
     Erklärungsmustern: „Die Ursachen sind jedoch
     bei Weitem nicht ausschließlich auf den             Es fehlt nicht an Kritik an diesen anhaltenden
     Online-Handel zurückzuführen“ (Bundes-              Preiskämpfen. Schon vor einem Jahr titelte das
     institut).                                          Handelsblatt „Die meisten Rabattaktionen
                                                         verbrennen bloß Geld“ (HB vom 9.8.2016).
                                                         Dass manch eine der aggressiven Preis- oder
     Preiskampf                                          Rabattaktionen selbstzerstörerisches Potenzial
                                                         hat, konnte man zuletzt am Beispiel Kaufhof
     Das wichtigste Instrument, die „schärfste           studieren. Das Unternehmen musste für das
     Waffe“ im Wettbewerb bleibt der Preis – also        vergangene Geschäftsjahr einen operativen
     der Versuch, mittels niedriger Verkaufspreise der   Verlust von 208 Mio. Euro ausweisen. Grund
     Konkurrenz Marktanteile abzuringen. Händler         dafür waren wohl „umfangreiche Rabattaktio-
     setzen mit Tiefpreisen und/oder Rabatten die        nen“ der Hudson’s Bay-Tochter (HB vom
     Konkurrenz unter Druck – wenn diese reagiert,       5.4.2017).
     entwickelt sich ein Preiskrieg. Große, finanz-
     kräftige Konzerne sind dabei strukturell im
Staatliche Deregulierung

Auch die Herstellerseite kritisiert diesen        Staatliche Deregulierung
Preiskampf und spricht von „Wertevernichtung“
bei Markenartikeln. Industrie und Handel
müssten einen Weg finden um diesen „Wahn-         Der Wettbewerb im Handel wird maßgeblich von
sinn“ zu beenden (HB vom 20.7.2015).              rechtlichen Rahmenbedingungen beeinflusst.
                                                  Hier soll kurz auf einige wichtige Gesetzes-
Eine weltweite Studie kommt zu dem Ergebnis:      werke eingegangen werden, die das Geschehen
„Nur wenige Unternehmen finden einen Weg          in der Branche maßgeblich beeinflusst haben.
aus dem ruinösen Wettbewerb, der ein
bedrohliches Ausmaß angenommen hat“
(HB vom 9.8.2016).                                Rabattgesetz

In weiten Bereichen des deutschen Einzel-        Der Preiskampf wurde 2001 von der rot-grünen
 handels herrscht ein massiver Verdrängungs-      Bundesregierung im Zuge der Abschaffung des
 kampf. Der Wettbewerb wird überwiegend           Rabattgesetzes zusätzlich angefacht. Damit
 über ruinöse Preiskämpfe, Öffnungszeiten und     wollte man, wie es hieß, den Wettbewerb
 Flächenerweiterungen ausgefochten.               „dynamisieren“ – faktisch wurden damit ruinöse
                                                  Tendenzen unterstützt. Der Bundesverband der       17
Die Preiskämpfe erhöhen den (Kosten-)Druck        Verbraucherzentralen stellte seinerzeit warnend
in der gesamten Branche. Die Handelsunter-        fest, dass diese Änderung für die Kunden
nehmen verlagern den Druck zum einen auf          kurzfristig sicherlich einige Vorteile biete.
die Hersteller und Lieferanten – vor allem aber   Langfristig aber werde sich die Kauflandschaft
auf ihr Personal.                                 zum Nachteil der Verbraucher verändern.
                                                  „Für kleine und mittlere Händler wird es immer
Der massive Wettbewerbsdruck führt zu immer
                                                  schwerer, sich gegen die großen Unternehmen
mehr Druck auf die Personalkosten: Prekäre
                                                  zu behaupten“ (SZ vom 14.7.2001). In einigen
Beschäftigungsstrukturen, Abbau von Vollzeit,
                                                  Bereichen des Handels ist dies zur Realität
untertarifliche Bezahlung, Missbrauch von
                                                  geworden.
Werkverträgen und immer schlechtere Arbeits-
bedingungen sind die unsozialen „Begleit-
erscheinungen“ dieses Verdrängungskampfes.
                                                  Deregulierung des Arbeitsmarktes
Der Preiskampf wird auf dem Rücken der
Beschäftigten ausgefochten – die Arbeit-          Die Neuausrichtung, sprich Deregulierung des
nehmer/-innen „finanzieren“ letztendlich          Arbeitsmarktes durch die „Hartz-Gesetze“ hatte
diesen ruinösen Wettlauf.                         erhebliche negative Auswirkungen auf die
                                                  Entwicklung im deutschen Einzelhandel. Die
Altersarmut ist das hässliche Pendant zu          Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt wurde im
den Preiskriegen im Einzelhandel.                 Folgenden erhöht, u. a. durch neue Zumutbar-
                                                  keitsregelungen, die massive Förderung der
                                                  Zeit-, bzw. Leiharbeit sowie durch Neurege-
                                                  lungen bei der geringfügigen Beschäftigung
                                                  (Mini- und Midi-Jobs). Die Schaffung von
                                                  Mini-Jobs wurde wesentlich erleichtert. Mit der
                                                  Folge, dass deren Zahl allein in den zehn Jahren
                                                  von 2003 bis 2013 auf 7,45 Millionen anstieg.
                                                  Besonders stark war der Boom dieser Minijobs
Staatliche Deregulierung

     im Einzelhandel – während gleichzeitig die          die Zahl der sozialversicherungspflichtigen
     Zahl der Vollzeitarbeitsplätze weiter sank. Die     Teilzeitbeschäftigung. Der HDE schlussfolgert,
     Ausweitung der geringfügigen Beschäftigung          von einer Verdrängung sozialversicherungs-
     hat eindeutig zur Verdrängung sozialversiche-       pflichtiger Arbeitsplätze könne also keine Rede
     rungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse         sein (HDE PM vom 19.10.2016). Dies gilt aber
     geführt (Hohendanner). Heute ist der Einzel-        nur als Momentaufnahme, denn seit 2000
     handel, nach dem Gastgewerbe, die Branche           wurde der Anteil der Vollzeitbeschäftigung von
     mit dem zweithöchsten Minijob-Anteil.               50 auf 37 Prozent verringert, Vollzeitarbeits-
                                                         plätze also massiv verdrängt.
     Nicht nur die Verdrängung, regulärer versiche-
     rungspflichtiger Arbeit ist ein Streitthema,        Auch die Leiharbeit erlebte durch die „Hartz-
     sondern auch die Entlohnung. „Die Entgelte          Gesetze“ einen enormen Aufschwung. Nachdem
     sind niedriger und eine tarifvertragliche           später die Regeln für Leiharbeit etwas strenger
     Eingruppierung nach Tätigkeit und Qualifikation     geworden waren und nachdem dort ein
     findet beim Minijob oftmals nicht statt“ (Hinz).    Mindestlohn eingeführt wurde suchten viele
     Seit der Einführung des gesetzlichen Mindest-       Firmen nach neuen Methoden um Personal-
     lohnes hat sich die Situation etwas verbessert,     kosten zu drücken. Umtriebige Arbeitsrechtler
18   neuere Untersuchungen zeigen, dass insgesamt        erläuterten in einem Düsseldorfer Nobelhotel
     bei den Minijobs die Stundenlöhne teilweise         Ende 2011 für viel Geld (sprich teure Honorare)
     deutlich gestiegen sind. Aber vieles liegt nach     den versammelten Managern aus Industrie
     wie vor im Argen. „Wenig Rechte, wenig Lohn“,       und Handel allerlei Tricks und Schlupflöcher
     so fasst die Frankfurter Rundschau (FR vom          um die schon billigen Leiharbeiter nun durch
     24.3.2017) die Ergebnisse einer aktuellen           noch billigere Kräfte zu ersetzen. Der Boom
     Untersuchung zusammen. Weiterhin wird in            der Werkverträge begann (zeit.online vom
     vielen Bereichen Missbrauch betrieben.              8.12.2011).
     Verbriefte Arbeitnehmeransprüche werden
     massenhaft missachtet, gesetzliche Regelungen       Werkverträge sind ein im Handel weitverbreite-
     oft nur als unverbindliche Handlungsempfehlung      tes Mittel um (Personal-)Kosten zu sparen. Sie
     begriffen, so das Fazit einer Studie des RWI, die   finden sich vor allem beim Verräumen der Ware,
     im Auftrag des NRW-Landesarbeitsministeriums        Lagerarbeiten, dem Kassenbetrieb und für
     erstellt wurde. Danach wurde u. a. bei 12 Pro-      Inventuren, vorrangig in Großbetrieben des
     zent der Betroffenen eine illegale Unterschrei-     Lebensmittelhandels, in SB-Warenhäusern und
     tung des Mindestlohnes festgestellt (RWI).          Drogerien. 2011 schätzte ver.di die Zahl dieser
     Der Landesarbeitsminister stellte dazu bei          Werkverträge im Einzelhandel auf 100.000
     der Präsentation der Ergebnisse fest: „Viele        (Tagesspiegel vom 18.3.2012).
     Arbeitgeber behandeln Minijobber nach wie
     vor als Arbeitnehmer zweiter Klasse“ (FR).          Die Politik hat sich lange Zeit vornehm zurück-
                                                         gehalten – und rechtliche Schlupflöcher für
     Seit Einführung des Mindestlohnes 2015              nicht-regulierte Werkvertragsarbeit offengelas-
     entwickelt sich die Zahl der geringfügig            sen. In der Folge wurden zahlreiche Fälle über
     Beschäftigten (auch) im Einzelhandel leicht         den Einsatz illegaler Werkverträge „aktenkun-
     zurück. Rund 200.000 Minijobs wurden in             dig“, wie z. B. Kaufland (HB vom 15.5.2015),
     sozialversicherungspflichtige Beschäftigung         oder bei dem Discounter Netto (HB vom
     umgewandelt. Für die Arbeitgeber sind Minijobs      21.5.2015).
     nun offenbar nicht mehr so „attraktiv“ wie
     vorher. In den letzten Jahren stieg dagegen
Staatliche Deregulierung

Erst recht spät hat die Bundesregierung dann        Streit entbrannt. Wie schon in grauer Vorzeit
eingeräumt: „De facto haben sich viele              wird neben vermeintlichen Verbraucherinter-
Probleme der Leiharbeit mittlerweile in den         essen das Gespenst des übermächtigen
Bereich der teilweise missbräuchlich genutzten      Onlinehandels („früher“ war es der Versand-
Werkverträge verlagert“ (BMAS, PM vom               handel) bemüht. Der HDE überrascht dabei mit
1.6.2016). Mit dem neuen „Gesetz zur                einer simplen Argumentationskette: Wegen des
Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgeset-         boomenden Onlinehandels seien 50.000 Läden
zes und anderer Gesetze“, welches seit April        vom Aussterben bedroht. Ergo müssten die
2017 in Kraft ist, soll dem ein Riegel vorgescho-   Öffnungszeiten (auch am Sonntag) weiter
ben werden. Inwieweit das Gesetz tatsächlich        liberalisiert werden, um so die Attraktivität der
zu einer Wende führt ist allerdings äußerst         Innenstädte zu erhöhen und das Ladensterben
skeptisch zu beurteilen.                            zu verhindern (welt.de 16.8.2015).

                                                    Tatsächlich sind viele kleinere und mittlere
Öffnungszeiten                                      Betriebe und Unternehmen wirtschaftlich
                                                    bedroht. Und auch um den innerstädtischen
Einen zentralen Stellenwert für den Wettbewerb      Handel vieler kleiner und mittlerer Städte ist es
haben die Ladenöffnungszeiten. Diese wurden         schlecht bestellt. Dies hat aber nicht einen,       19
über die Jahre immer weiter ausgedehnt. 1996        sondere mehrere Gründe. Vor allem ist das die
kam es zur Verlängerung der Öffnungszeiten          Folge des aggressiven Preiswettbewerbs (z. B. im
von wochentags 6 bis 20 Uhr und samstags bis        Textilhandel) und vermehrter Kaufkraftabflüsse
16 Uhr. Angestoßen wurde diese Liberalisierung      in die Metropolen. Viele Händler haben zudem
durch ein Gutachten des ifo-Instituts, in dem       die Herausforderungen durch die Digitalisierung
50.000 neue, zusätzliche Arbeitsplätze in           verkannt (Multi-Channel).
Aussicht gestellt wurden (man hat diese aller-
dings bis heute nicht gefunden; Anm. des Verf.).    Monokausale Erklärungsmuster wie „der Online-
Es folgte 2003 die Verlängerung der Samstag-        handel ist schuld“ sind nicht zielführend.
söffnung auf 20 Uhr. 2006 schließlich wurde im      Und genauso wenig ist eine Rund-um-die-
Rahmen der Föderalismusreform der Laden-            Uhr-Öffnung ein probates Mittel gegen „den“
schluss zur Ländersache. Seither ist überwiegend    Onlinehandel.
– bis auf Bayern, Rheinland-Pfalz, Saarland und
Sachsen – die Rund-um-die-Uhr-Öffnung               Der Attraktivitätsverlust vieler Städte hat
möglich.                                            mehrere Ursachen, E-Commerce mag eine davon
                                                    sein. Wie zahlreiche Beispiele zeigen, ist der
Durch eine Ausdehnung der Öffnungszeit wird         Attraktivitätsverlust der Städte keine zwangs-
kein zusätzlicher Umsatz generiert, sondern         läufige Entwicklung. Die GfK hat in einer
vorhandener Umsatz zeitlich oder räumlich           Regionalstudie konkret nachweisen können,
umverteilt. Einige Unternehmen – insbesondere       dass es einigen Mittelstädten gelingt, „in
des Lebensmittelhandels – nutzen dies aggressiv     Punkto Standortattraktivität selbst große
als Mittel im Verdrängungskampf.                    Metropolen zu übertreffen“ (GfK).

Die über die Jahre erfolgte massive Ausdehnung      Neben dem Überangebot an Fläche gibt es auch
zu den heute möglichen Öffnungszeiten reicht        noch ein „Mehr“ an Zeit. Die verlängerten
einigen Handelsakteuren immer noch nicht. Um        Öffnungszeiten wirken ähnlich wie zusätzliche
die wenige restliche, geschützte Nicht-Öffnungs-    Verkaufsflächen: Der vorhandene Umsatz verteilt
zeit, insbesondere am Sonntag, ist ein heftiger     sich auf mehr Quadratmeter und auf mehr
Staatliche Deregulierung

     Stunden. Die Deregulierung der Ladenöffnungs-      Für eine bessere
     zeiten hat die Wettbewerbsbedingungen ver-
     schärft. Große, finanzstarke Konzerne nutzen       Perspektive im deutschen
     dies als Instrument zur Verdrängung. Gleichzei-    Einzelhandel
     tig wirkt die Liberalisierung der Öffnungszeiten
     wie ein Katalysator für atypische Beschäftigung.
     Längere Öffnungszeiten werden insbesondere         Der ruinöse Verdrängungskampf ist kein
     von SB-Warenhäusern, Verbrauchermärkten,           Naturereignis, kein Automatismus – nicht
     Supermärkten und Discountern genutzt – diese       fremde, anonyme Kräfte sind hier am Werke und
     setzen verstärkt auf Minijobs, Teilzeit und        zwingen zu irgendwelchen Aktionen und
     Werkverträge.                                      Gegenreaktionen. Nicht irgendein „mörderischer
                                                        Wettbewerb“ ist schuld an der Misere. Dieser
     Staatliche Deregulierungsmaßnahmen haben die       Wettbewerb wird von Menschen gemacht, von
     problematische Entwicklung des Einzelhandels       realen Personen, von den Managern in den
     maßgeblich beeinflusst.                            Handelszentralen. Sie entscheiden darüber ob
                                                        sich ihr Unternehmen an Rabattschlachten oder
     Mit der Deregulierung des Arbeitsmarktes           „Tiefpreiswochen“ beteiligt. Sie entscheiden
     wurde eine Schleuse für prekäre Beschäftigungs-    auch darüber, ob das Unternehmen tarifgebun-
20
     verhältnisse geöffnet.                             den bleibt oder nicht. Sie entscheiden damit
                                                        auch über die soziale Zukunft ihrer Beschäftig-
     Die massive Zunahme von Minijobs, der
                                                        ten.
     Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen,
     Befristungen u. a. m. sind Folgen dieser
                                                        Derzeit befindet sich der deutsche Einzelhandel
     Deregulierungspolitik.
                                                        auf einem schlechten Weg. Es gibt viele gute
                                                        Gründe, diesen Weg zu verlassen und umzu-
                                                        kehren:
      Staatliche Deregulierung >> prekäre
      Beschäftigung >> geringe Einkommen                • Für einen Einzelhandel, in dem für alle
      >> Altersarmut                                       Marktteilnehmer die gleichen Regeln, Gesetze
                                                           und Tarifverträge gelten.
                                                        • Für einen Einzelhandel, in dem für alle
                                                           Beschäftigten die gleichen tariflichen
                                                           Mindestbedingungen gelten.
                                                        • Für einen Einzelhandel, in dem die Mehrheit
                                                           der Beschäftigten mit einer auskömmlichen
                                                           Rente rechnen kann.

                                                        Forderungen an die Politik:
                                                        Regulierung statt Deregulierung

                                                        Die Politik setzt den Rahmen für die Entwicklung
                                                        in der gesamten Wirtschaft und in den ver-
                                                        schiedenen Branchen. Vergangene Bundesregie-
                                                        rungen, insbesondere die rot-grüne Bundesre-
                                                        gierung unter der Führung der SPD, sind in
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