Vögel und Frösche Freeman Dyson - De Gruyter

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Vögel und Frösche
                                                          Freeman Dyson

     Manche Mathematiker sind Vögel, andere sind Frösche. Die         mathematisch. Unter Physikern nahm er als ein Vogel, der
     Vögel fliegen hoch oben in der Luft und überblicken wei-         weiter als andere sah, eine herausragende Stellung ein. Ich
     te Bereiche der Mathematik bis zum fernen Horizont. Sie          werde jedoch nicht über Einstein sprechen, weil ich zu ihm
     haben Freude an Ideen, die unser Denken vereinheitlichen         nichts Neues zu sagen habe.
     und unterschiedliche Probleme aus den verschiedenen Re-
     gionen dieser Landschaft zusammenführen. Frösche leben
     unten im Schlamm und sehen nur die Blumen, die in der            Francis Bacon und René Descartes
     Nähe wachsen. Sie haben Freude an den Details von Dingen
     und lösen immer nur ein Problem nach dem anderen. Ich            Zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts verkündeten zwei
     bin zufällig ein Frosch, aber viele meiner besten Freunde        große Philosophen, Francis Bacon in England und René Des-
     sind Vögel. Und um das wird es in meinem Vortrag heute           cartes in Frankreich, die Geburt der modernen Wissenschaft.
     Abend vor allem gehen. Die Mathematik braucht sowohl Vö-         Descartes war ein Vogel, und Bacon war ein Frosch. Beide
     gel als auch Frösche. Sie ist deshalb so vielfältig und schön,   beschrieben ihre Vorstellung von der Zukunft, und diese
     weil Vögel das große Ganze im Blick behalten und Frösche         Vorstellungen waren sehr unterschiedlich. Bacon sagte: „Es
     komplizierteste Details liefern. Weil sie die Allgemeinheit      kommt alles darauf an, dass man stets die Tatsachen der
     von Begriffen mit der Tiefe von Systemen verbindet, ist die      Natur im Blick behält.“ Descartes sagte: „Ich denke, also
     Mathematik zugleich große Kunst und bedeutende Wissen-           bin ich.“ Bacon zufolge sollten Wissenschaftler durch die
     schaft. Es wäre töricht zu behaupten, Vögel seien besser als     Welt reisen und Fakten sammeln, bis die zusammengetra-
     Frösche, weil sie über größeren Weitblick verfügen, oder         genen Fakten erkennen lassen würden, wie die Natur funk-
     Frösche seien besser als Vögel, weil sie einen tieferen Ein-     tioniert. Die Wissenschaftler könnten dann aus den Fakten
     blick haben. Die Welt der Mathematik ist sowohl weit als         die Gesetze ableiten, denen die Natur gehorcht. Descartes
     auch tief, und wir brauchen Vögel und Frösche, die gemein-       zufolge sollten die Wissenschaftler zu Hause bleiben und
     sam an ihrer Erforschung arbeiten.                               die Naturgesetze durch reines Denken erschließen. Um die
         Dieser Vortrag heißt Einstein-Vorlesung, und ich danke       Gesetze richtig herzuleiten, bräuchten die Wissenschaftler
     der American Mathematical Society, dass sie mich eingela-        nur die Regeln der Logik und das Wissen um die Existenz
     den hat, Albert Einstein die Ehre zu erweisen. Einstein war      Gottes. Seit Bacon und Descartes vor vierhundert Jahren
     kein Mathematiker, sondern Physiker und stand der Ma-            die Richtung gewiesen haben, ist die Wissenschaft rasant
     thematik mit gemischten Gefühlen gegenüber. Einerseits           fortgeschritten, indem sie beide Wege gleichzeitig verfolgte.
     hatte er enormen Respekt vor der Fähigkeit der Mathematik,       Weder der baconianische Empirismus noch der cartesiani-
     die Abläufe in der Natur zu beschreiben, und ein Gespür          sche Dogmatismus sind in der Lage, die Geheimnisse der
     für mathematische Schönheit, das ihn bei der Suche nach          Natur im Alleingang zu ergründen, aber beide zusammen
     Naturgesetzen auf den richtigen Weg brachte. Andererseits        waren erstaunlich erfolgreich. Englische Wissenschaftler
     interessierte er sich nicht für reine Mathematik und hat-        sind seit vierhundert Jahren eher Baconianer und franzö-
     te keinerlei technische Fertigkeiten als Mathematiker. In        sische eher Cartesianer. Faraday, Darwin und Rutherford
     späteren Jahren stellte er jüngere Kollegen als Assistenten      waren Baconianer; Pascal, Laplace und Poincaré Cartesianer.
     ein, damit sie mathematische Berechnungen für ihn durch-         Für die Wissenschaft war die wechselseitige Befruchtung
     führten. Seine eigene Denkweise war eher physikalisch als        dieser zwei gegensätzlichen Kulturen eine große Bereiche-

                                                                                                               DOI ./dmvm--
rung. Dabei waren beide Richtungen in jedem der Länder         das Gebiet der Mathematik, indem es die schönen Blumen
immer vertreten. Newton war im Grunde genommen ein             ausschloss, die baconianische Reisende am Wegesrand sam-
Cartesianer, der das reine Denken im Sinne Descartes’ be-      meln würden.
nutzte, um das cartesianische Wirbeldogma zu widerlegen.
Marie Curie war im Grunde genommen eine Baconianerin,
die Tonnen von rohem Uranerz kochte, um das Dogma von          Scherze der Natur
der Unzerstörbarkeit der Atome niederzureißen.
    In der Geschichte der Mathematik des zwanzigsten Jahr-     Für mich als Baconianer fehlt im Bourbaki-Programm vor
hunderts gab es zwei entscheidende Ereignisse, von denen       allem das Überraschungsmoment. Das Bourbaki-Programm
eines in der baconianischen und das andere in der cartesia-    versuchte, die Mathematik logisch zu machen, aber wenn
nischen Tradition stand. Das erste war der Internationale      ich die Geschichte der Mathematik betrachte, sehe ich ei-
Mathematikerkongress in Paris im Jahr , auf dem Hil-       ne Abfolge von unlogischen Sprüngen, unwahrscheinlichen
bert einen Grundsatzvortrag hielt, in dem er anhand seiner     Zufällen, Scherzen der Natur. Einer der tiefgründigsten
berühmten Liste von dreiundzwanzig ungelösten Proble-          dieser Scherze ist die Quadratwurzel aus minus eins, die
men den Kurs der Mathematik im kommenden Jahrhun-              der Physiker Erwin Schrödinger in seine Wellengleichung
dert skizzierte. Hilbert selbst war ein Vogel, der weit über   einsetzte, als er im Jahr  die Wellenmechanik erfand.
dem gesamten Gebiet der Mathematik schwebte, aber er           Schrödinger war ein Vogel, der von der Idee einer Verei-
wandte sich mit seinen Problemen an die Frösche, die sie       nigung von Mechanik und Optik ausging. Hundert Jahre
eines nach dem anderen lösen sollten. Das zweite entschei-     zuvor hatte Hamilton die klassische Mechanik mit der Strah-
dende Ereignis war die Gründung der Bourbaki-Gruppe            lenoptik in Einklang gebracht und zur Beschreibung von
in den er-Jahren in Frankreich, einer Gruppe mathe-        optischen Strahlen und klassischen Teilchenbahnen diesel-
matischer Vögel, die sich mit der Veröffentlichung einer       be Mathematik verwendet. Schrödingers Idee war es, diese
Reihe von Lehrbüchern beschäftigte, um damit einen verein-     Vereinheitlichung auf die Wellenoptik und Wellenmechanik
heitlichten Rahmen für die gesamte Mathematik zu schaf-        auszudehnen. Die Wellenoptik gab es bereits, die Wellenme-
fen. Die Hilbert-Probleme haben die mathematische For-         chanik jedoch noch nicht. Schrödinger musste die Wellen-
schung sehr erfolgreich in fruchtbare Bahnen gelenkt. Ei-      mechanik erst erfinden, um die Vereinigung zu bewerkstel-
nige von ihnen wurden inzwischen gelöst, einige sind nach      ligen. Ausgehend von dem Modell der Wellenoptik stellte
wie vor ungelöst, aber fast alle stimulierten die Entwick-     er eine Differentialgleichung für ein mechanisches Teilchen
lung neuer Ideen und neuer Gebiete der Mathematik. Das         auf, doch die Gleichung ergab keinen Sinn. Sie sah aus wie
Bourbaki-Projekt war ebenso einflussreich. Es veränderte in    die Gleichung der Wärmeleitung in einem kontinuierlichen
den folgenden fünfzig Jahren den Stil der Mathematik, in-      Medium. Die Wärmeleitung hat jedoch keine erkennbare Re-
dem es eine bis dahin nicht existierende logische Kohärenz     levanz für die Teilchenmechanik. Schrödingers Idee schien
durchsetzte und das Hauptaugenmerk von konkreten Bei-          damit ins Leere zu laufen. Doch dann folgte die Überra-
spielen auf abstrakte allgemeine Prinzipien verlagerte. Im     schung. Schrödinger setzte die Quadratwurzel aus minus
Bourbaki-Verständnis ist Mathematik das in den Bourbaki-       eins in die Gleichung ein, und auf einmal ergab sie einen
Lehrbüchern enthaltene abstrakte System. Was nicht in den      Sinn. Plötzlich wurde sie zu einer Wellengleichung statt
Lehrbüchern steht, ist keine Mathematik. Konkrete Bei-         zu einer Wärmeleitungsgleichung. Und Schrödinger fand
spiele sind keine Mathematik, weil sie in den Lehrbüchern      zu seiner großen Freude heraus, dass es für die Gleichung
nicht vorkommen. Das Bourbaki-Programm war der extre-          Lösungen gibt, die den quantisierten Bahnen im Bohr’schen
me Ausdruck der cartesianischen Denkweise. Es begrenzte        Atommodell entsprechen.

                                                                                                                             
Es stellt sich heraus, dass die Schrödinger-Gleichung      Lie starb als enttäuschter Mann. Und dann stellte sich fünf-
     alles, was wir über das Verhalten von Atomen wissen, kor-      zig Jahre später heraus, dass die Natur exakt linear und
     rekt beschreibt. Sie ist die Grundlage der gesamten Chemie     die Theorie der linearen Abbildungen von Lie-Algebren die
     und größtenteils auch der Physik. Und die Quadratwurzel        natürliche Sprache der Teilchenphysik war. Lie-Gruppen
     aus minus eins bedeutet, dass die Natur mit komplexen          und Lie-Algebren erlebten eine Wiedergeburt als eines der
     Zahlen und nicht mit reellen Zahlen operiert. Diese Ent-       zentralen Themen in der Mathematik des zwanzigsten Jahr-
     deckung war für Schrödinger wie für jeden anderen eine         hunderts.
     völlige Überraschung. Wie Schrödinger später erzählte, sag-        Ein dritter Scherz der Natur ist die Existenz von Qua-
     te seine vierzehnjährige Freundin Itha Junger damals zu        sikristallen. Im neunzehnten Jahrhundert führte die Erfor-
     ihm: „Hey, als du damit angefangen hast, hast du noch nicht    schung von Kristallen zu einer vollständigen Liste mögli-
     einmal daran gedacht, dass so viel Vernünftiges dabei her-     cher diskreter Symmetriegruppen im euklidischen Raum.
     auskommen würde.“ Im neunzehnten Jahrhundert hatten            Theoreme wurden überprüft und die Tatsache nachgewie-
     Mathematiker von Abel bis Riemann und Weierstraß eine          sen, dass diskrete Symmetriegruppen im dreidimensiona-
     großartige Theorie der Funktionen komplexer Variablen          len Raum nur Drehungen der Ordnung drei, vier oder
     entwickelt. Sie hatten entdeckt, dass die Funktionentheorie    sechs enthalten können. Im Jahr  wurden dann Qua-
     weitaus tiefgreifender und wirkungsvoller wurde, wenn sie      sikristalle entdeckt, reale Festkörper, die sich aus Flüssig-
     von reellen auf komplexe Zahlen ausgedehnt wurde. Doch         metalllegierungen bilden und die Symmetrie einer Ikosa-
     sie verstanden komplexe Zahlen stets als eine Konstruktion,    edergruppe aufweisen, die mit fünffacher Rotation einher-
     die sich Mathematiker als nützliche und elegante Abstrakti-    geht. Unterdessen entdeckte der Mathematiker Roger Pen-
     on von der Realität ausgedacht hatten. Ihnen ist nie in den    rose die Penrose-Parkettierungen der Ebene. Dabei handelt
     Sinn gekommen, dass dieses von ihnen entworfene künstli-       es sich um Anordnungen von Parallelogrammen, die ei-
     che Zahlensystem tatsächlich die Grundlage der Bewegung        ne Ebene mit einer fünfeckigen Langstreckenordnung ab-
     von Atomen ist. Sie konnten sich einfach nicht vorstellen,     decken. Die Legierungs-Quasikristalle sind dreidimensio-
     dass die Natur zuerst darauf gekommen ist.                     nale Entsprechungen zu den zweidimensionalen Penrose-
         Ein weiterer Scherz der Natur ist die exakte Linearität    Parkettierungen. Nach diesen Entdeckungen mussten die
     der Quantenmechanik, die Tatsache, dass die möglichen          Mathematiker die Theorie der kristallografischen Gruppen
     Zustände eines jeden physikalischen Objekts einen linearen     erweitern, um auch Quasikristalle einzubeziehen. Dies ist
     Raum bilden. Bevor die Quantenmechanik erfunden wurde,         ein umfangreiches Forschungsprojekt, das noch nicht abge-
     war die klassische Physik stets nichtlinear, und lineare Mo-   schlossen ist.
     delle waren nur näherungsweise gültig. Nach Entwicklung            Ein vierter Scherz der Natur ist das ähnliche Verhalten
     der Quantenmechanik wurde auf einmal die Natur selbst          von Quasikristallen und den Nullstellen der Riemannschen
     linear. Dies hatte tiefgreifende Konsequenzen für die Mathe-   Zeta-Funktion. Die Nullstellen der Zeta-Funktion sind für
     matik. Im neunzehnten Jahrhundert entwickelte Sophus Lie       Mathematiker insofern spannend, als sie auf einer geraden
     seine ausgeklügelte Theorie der kontinuierlichen Gruppen,      Linie liegen und niemand versteht, warum. Die Behaup-
     die das Verhalten klassischer dynamischer Systeme erklären     tung, dass sie sich alle bis auf triviale Ausnahmen auf einer
     sollte. Lie-Gruppen waren damals weder für Mathematiker        geraden Linie befinden, ist die berühmte Riemannsche Ver-
     noch für Physiker von besonderem Interesse. Den Mathe-         mutung. Sie zu beweisen ist seit mehr als hundert Jahren
     matikern war die nichtlineare Theorie der Lie-Gruppen zu       der Traum junger Mathematiker. Ich möchte nun den un-
     kompliziert, und für die Physiker war sie zu unbedeutend.      erhörten Vorschlag machen, die Riemannsche Vermutung


mithilfe von Quasikristallen zu beweisen. Diesen Vorschlag      dreidimensionale, weil sie in weitaus größerer Vielfalt exis-
mögen die Mathematiker unter Ihnen für unseriös halten,         tieren. Die mathematische Definition eines Quasikristalls
und den Nichtmathematikern unter Ihnen erscheint er viel-       lautet wie folgt: Ein Quasikristall ist eine Anordnung von
leicht uninteressant. Nichtsdestotrotz möchte ich ihn ernst-    diskreten Punktmassen, deren Fourier-Transformation eine
haft zur Diskussion stellen. Als der Physiker Leo Szilard       Anordnung von diskreten Punktfrequenzen ist. Oder, kurz
ein junger Mann war, erschienen ihm die zehn Gebote von         gesagt, ein Quasikristall ist eine reine Punktanordnung, die
Moses als unzulänglich, und er verfasste eine neue Reihe        ein reines Punktspektrum besitzt. Diese Definition schließt
von zehn Geboten, um sie zu ersetzen. Szilards zweites Ge-      als Sonderfall die normalen Kristalle ein, die periodische
bot besagt: „Richte deine Handlungen auf ein lohnendes          Anordnungen mit periodischen Spektren sind.
Ziel aus, aber frage nicht, ob sie es auch erreichen können:        Außer den normalen Kristallen gibt es nur wenige ver-
Sie sollen Vorbilder und Beispiele sein, nicht Mittel zum       schiedene dreidimensionale Quasikristalle, die alle mit der
Zweck.“ Szilard selbst befolgte das, was er predigte. Er war    Ikosaedergruppe verbunden sind. Die zweidimensionalen
der erste Physiker, der an Kernwaffen dachte, und der erste,    Quasikristalle sind vielfältiger, wobei mit jedem regelmäßi-
der sich aktiv gegen deren Einsatz engagierte. Sein zweites     gen Vieleck in einer Ebene ungefähr ein bestimmter Typ ver-
Gebot kann hier durchaus Anwendung finden. Der Beweis           bunden ist. Der zweidimensionale Quasikristall mit Fünf-
der Riemannschen Vermutung ist ein lohnendes Ziel, und          ecksymmetrie ist die berühmte Penrose-Parkettierung der
es ist nicht an uns zu fragen, ob wir es auch erreichen kön-    Ebene. Die eindimensionalen Quasikristalle schließlich ha-
nen. Ich werde Ihnen einige Anhaltspunkte nennen, um            ben eine weitaus reichere Struktur, weil sie an keinerlei Ro-
zu skizzieren, auf welche Weise es vielleicht möglich wäre.     tationssymmetrien gebunden sind. Soweit ich weiß, existiert
Dabei werde ich als der Mathematiker sprechen, der ich vor      keine vollständige Aufzählung eindimensionaler Quasikris-
fünfzig Jahren war, bevor ich Physiker wurde, und zunächst      talle. Es ist bekannt, dass es zu jeder Pisot-Vijayaraghavan-
auf die Riemannsche Vermutung eingehen und dann auf             Zahl oder PV-Zahl einen einzigartigen Quasikristall gibt.
Quasikristalle.                                                 Eine PV-Zahl ist eine reelle algebraische ganze Zahl, eine
    Bis vor Kurzem gab es in der Welt der reinen Mathematik     Wurzel einer Polynomgleichung mit ganzzahligen Koeffizi-
zwei große ungelöste Aufgaben, den Beweis des Großen Fer-       enten, wobei alle anderen Wurzeln einen absoluten Wert
matschen Satzes und den Beweis der Riemannschen Vermu-          von weniger als eins haben []. Die Menge aller PV-Zahlen
tung. Den Großen Fermatschen Satz hat mein Kollege An-          ist unendlich und hat eine bemerkenswerte topologische
drew Wiles aus Princeton vor zwölf Jahren erledigt, und so      Struktur. Die Menge aller eindimensionalen Quasikristal-
ist nur noch die Riemannsche Vermutung übrig. Wiles’ Be-        le hat eine Struktur, die mindestens so reichhaltig ist wie
weis des Fermatschen Satzes war nicht nur ein technisches       die Menge aller PV-Zahlen und vermutlich noch viel reich-
Kunststück. Er erforderte die Entdeckung und Erforschung        haltiger. Es ist nicht ganz sicher, aber wahrscheinlich, dass
eines neuen Feldes mathematischer Ideen, das weitaus um-        ein gigantisches Universum eindimensionaler Quasikristal-
fassender und folgenreicher war als der Fermatsche Satz         le, die nicht mit PV-Zahlen verbunden sind, darauf wartet,
selbst. Es ist sehr wahrscheinlich, dass jeglicher Beweis der   entdeckt zu werden. Und nun zur Verbindung der eindimen-
Riemannschen Vermutung ebenfalls zu einem tieferen Ver-         sionalen Quasikristalle mit der Riemannschen Vermutung.
ständnis vieler verschiedener Bereiche der Mathematik und       Wenn die Riemannsche Vermutung zutrifft, dann bilden die
vielleicht auch der Physik führen wird. Die Riemannsche         Nullstellen der Zeta-Funktion einen eindimensionalen Qua-
Zeta-Funktion und andere ähnliche Zeta-Funktionen kom-          sikristall gemäß der Definition. Sie stellen eine Anordnung
men überall in der Zahlentheorie, in der Theorie dynami-        von Punktmassen auf einer geraden Linie dar, und ihre
scher Systeme, in der Geometrie, in der Funktionstheorie        Fourier-Transformation ist ebenfalls eine Anordnung von
und in der Physik vor. Die Zeta-Funktion steht an einem         Punktmassen, einer bei jedem Logarithmus von gewöhnli-
Kreuzungspunkt, von dem aus Wege in viele Richtungen            chen Primzahlen und Primzahlpotenzen. Mein Freund An-
führen. Ein Beweis der Vermutung wird alle diese Verbin-        drew Odlyzko hat eine wunderbare Computerberechnung
dungen beleuchten. Wie jeder ernsthafte Student der reinen      für die Fourier-Transformation der Nullstellen der Zeta-
Mathematik träumte ich in jungen Jahren davon, die Rie-         Funktion veröffentlicht []. Die Berechnung zeigt genau die
mannsche Vermutung zu beweisen. Ich hatte einige vage           erwartete Struktur der Fourier-Transformation, die bei je-
Ideen, die meiner Ansicht nach zu einem Beweis führen           dem Logarithmus einer Primzahl oder Primzahlpotenz und
könnten. Nach der Entdeckung von Quasikristallen sind           nirgendwo sonst eine sehr deutliche Diskontinuität zeigt.
meine Ideen in den letzten Jahren etwas weniger vage ge-            Ich möchte nun Folgendes vorschlagen. Nehmen wir
worden. Ich möchte sie hier vorstellen und jedem jungen         einmal an, wir wüssten nicht, dass die Riemannsche Vermu-
Mathematiker mit Ambitionen auf eine Fields-Medaille ans        tung wahr ist. Nähern wir uns dem Problem von der ande-
Herz legen, über sie nachzudenken.                              ren Seite und versuchen uns eine vollständige Aufzählung
    Quasikristalle können in Räumen mit einer, zwei oder        und Klassifizierung der eindimensionalen Quasikristalle zu
drei Dimensionen existieren. Vom Standpunkt der Phy-            verschaffen. Das heißt, wir zählen und klassifizieren alle
sik aus sind die dreidimensionalen Quasikristalle am in-        Punktanordnungen, die ein diskretes Punktspektrum haben.
teressantesten, weil sie in unserer dreidimensionalen Welt      Ein solches Sammeln und Klassifizieren neuer Arten von
angesiedelt sind und experimentell erforscht werden kön-        Objekten ist eine typisch baconianische Tätigkeit, die beson-
nen. Vom Standpunkt eines Mathematikers aus sind eindi-         ders für mathematische Frösche geeignet ist. Wir werden
mensionale Quasikristalle viel interessanter als zwei- oder     dabei die bekannten, mit den PV-Zahlen verbundenen Qua-

                                                                                                                                
sikristalle finden und darüber hinaus ein ganzes Universum      lächelte liebenswürdig, wenn wir uns über seinen herrlich
     anderer bekannter und unbekannter Quasikristalle. Un-           falschen Gebrauch der englischen Sprache lustig machten.
     ter diesen zahlreichen anderen Quasikristallen suchen wir       Ich erinnere mich nur an eine einzige Situation, in der er
     einen, der der Riemannschen Zeta-Funktion entspricht, und       sich über unser Lachen ärgerte. Er schwieg eine Zeit lang
     einen für jede andere Zeta-Funktion, die der Riemannschen       und sagte dann: „Gentlemen. Fünfzig Millionen Engländer
     Zeta-Funktion ähnelt. Angenommen, wir finden in unserer         sprechen das Englisch, das Sie sprechen. Hundertfünfzig
     Auflistung einen Quasikristall mit Eigenschaften, die ihn       Millionen Russen sprechen das Englisch, das ich spreche.“
     mit den Nullstellen der Riemannschen Zeta-Funktion iden-            Besikowitsch war ein Frosch und wurde als junger Mann
     tifizieren. Dann haben wir die Riemannsche Vermutung            dadurch berühmt, dass er das als Kakeya-Problem bekannte
     bewiesen und können auf den Telefonanruf warten, der uns        Problem der einfachen Flächengeometrie löste. Das Kakeya-
     die Verleihung der Fields-Medaille ankündigt.                   Problem bestand in Folgendem: Eine Strecke der Länge eins
         Das sind natürlich nur Wunschträume. Eindimensiona-         darf sich in einer Ebene frei bewegen, während sie sich um
     le Quasikristalle zu klassifizieren ist ungeheuer schwierig,     Grad dreht. Wie groß ist die kleinstmögliche Fläche der
     wahrscheinlich mindestens ebenso schwierig wie die Auf-         Ebene, die sie während ihrer Drehung überstreichen kann?
     gabe, für deren Bewältigung Andrew Wiles sieben Jahre           Diese Frage wurde im Jahr  von dem japanischen Ma-
     brauchte. Aber aus baconianischer Perspektive ist die gan-      thematiker Kakeya gestellt und blieb zehn Jahre lang ein be-
     ze Geschichte der Mathematik eine Geschichte ungeheu-           rühmtes ungelöstes Problem. George Birkhoff, der zu dieser
     er schwieriger Aufgaben, die von jungen Menschen gelöst         Zeit führende amerikanische Mathematiker, verkündete öf-
     wurden, die zu wenig wussten, um zu verstehen, dass sie         fentlich, das Kakeya-Problem und das Vier-Farben-Problem
     unlösbar waren. Die Klassifizierung von Quasikristallen ist     seien die bedeutendsten noch nicht gelösten Probleme der
     ein lohnendes Ziel, das sich womöglich sogar als erreich-       Zeit. Allgemein wurde angenommen, die Mindestfläche be-
     bar erweist. Dermaßen schwierige Probleme werden jedoch         trage π/8, was der Fläche einer dreispitzigen Hypozykloide
     nicht von alten Männern wie mir gelöst. Ich überlasse diese     entspricht. Bei der dreispitzigen Hypozykloide handelt es
     Aufgabe den jungen Fröschen im Publikum.                        sich um eine wunderbare dreispitzige Kurve. Sie ist die Kur-
                                                                     ve, die von einem Punkt auf dem Umfang eines Kreises mit
                                                                     einem Radius von einem Viertel beschrieben wird, wenn
     Abram Besicovitch und Hermann Weyl                              der Kreis über die Innenseite eines festen Kreises mit einem
                                                                     Radius von drei Vierteln rollt. Die Strecke der Länge eins
     Lassen Sie mich Ihnen nun einige bedeutende Frösche und         kann sich drehen und bleibt dabei stets tangential zur Hy-
     Vögel vorstellen, die ich persönlich kannte. Ich kam  als   pozykloide, wobei ihre beiden Endpunkte ebenfalls auf der
     Student an die Universität Cambridge und hatte das große        Hypozykloide liegen. Dieses Bild der sich drehenden Stre-
     Glück, dass der russische Mathematiker Abram Samoilowi-         cke, die die Innenseite der Hypozykloide an drei Punkten
     tsch Besikowitsch mein Betreuer war. Weil wir uns mitten        berührt, war so elegant, dass die meisten Leute glaubten,
     im Zweiten Weltkrieg befanden, gab es in Cambridge insge-       sie müsse die minimale Fläche angeben. Dann überraschte
     samt nur sehr wenige Studenten und fast keine graduierten.      Besikowitsch alle, indem er bewies, dass die Fläche, die von
     Obwohl ich erst siebzehn Jahre alt war und Besikowitsch be-     der Strecke bei ihrer Drehung überstrichen wird, für jedes
     reits ein berühmter Professor, schenkte er mir sehr viel Zeit   positive ε kleiner als ε sein kann. Besikowitsch hatte das
     und Aufmerksamkeit, und wir wurden lebenslang Freunde.          Problem tatsächlich bereits  gelöst, bevor es berühmt
     Besikowitsch prägte die Art und Weise, in der ich zu arbei-     wurde und sogar ohne zu wissen, dass Kakeya es vorgestellt
     ten und über Mathematik nachzudenken begann. Er hielt           hatte. Im Jahr  veröffentlichte er die Lösung in russi-
     wunderbare Vorträge über Maßtheorie und Integration und         scher Sprache in der Zeitschrift der Permer Gesellschaft


für Physik und Mathematik, einer Zeitschrift, die anderswo      te, wurde aber dauerhaft von Besikowitschs Stil geprägt.
kaum gelesen wurde. Die Universität in Perm, einer          Dieser Stil ist ein architektonischer. Besikowitsch konstru-
Kilometer östlich von Moskau gelegenen Stadt, war nach          iert aus einfachen Elementen ein kompliziertes filigranes,
der russischen Revolution kurzzeitig ein Zufluchtsort für       meist hierarchisch strukturiertes Gebäude, und wenn dieses
viele herausragende Mathematiker. Sie brachten zwei Bände       dann fertig ist, führt es mit einfachen Argumenten zu einem
der Zeitschrift heraus, bevor sie in den Wirren von Revolu-     unerwarteten Ergebnis. Jeder Besikowitsch-Beweis ist ein
tion und Bürgerkrieg unterging. Außerhalb Russlands war         Kunstwerk, das ebenso sorgfältig konstruiert ist wie eine
die Zeitschrift nicht nur unbekannt, sondern auch nicht zu-     Fuge von Bach.
gänglich. Besikowitsch verließ Russland  und kam nach           Ein paar Jahre nach meiner Ausbildung bei Besikowitsch
Kopenhagen, wo er von dem berühmten Kakeya-Problem              kam ich nach Princeton und lernte Hermann Weyl kennen.
hörte, das er fünf Jahre zuvor gelöst hatte. Erneut veröf-      Weyl war ebenso ein typischer Vogel, wie Besikowitsch ein
fentlichte er die Lösung, diesmal auf Englisch in der Ma-       typischer Frosch war. Ich hatte das Glück, ein Jahr lang
thematischen Zeitschrift. Das Kakeya-Problem, wie Kakeya        gemeinsam mit Weyl am Princeton Institute for Advanced
es formuliert hatte, war ein typisches Froschproblem, ein       Study zu arbeiten, bevor er sich aus dem Institut zurück-
konkretes Problem ohne große Verbindung zum Rest der            zog und in seine alte Heimat nach Zürich zurückkehrte. Er
Mathematik. Besikowitsch lieferte dafür eine elegante und       mochte mich, weil ich in diesem Jahr in den Annals of Mathe-
profunde Lösung, die eine Verbindung zu allgemeinen Sät-        matics Beiträge über die Zahlentheorie und in der Physical
zen über die Struktur von Punktmengen in einer Ebene zum        Review Beiträge über die Quantentheorie der Strahlung ver-
Vorschein brachte.                                              öffentlichte. Er war einer der wenigen lebenden Menschen,
    Der Stil Besikowitschs lässt sich am besten anhand seiner   die in beiden Fachgebieten zu Hause waren, und begrüßte
drei klassischen Abhandlungen mit dem Titel „On the fun-        mich am Institut in der Hoffnung, dass ich wie er selbst ein
damental geometric properties of linearly measurable plane      Vogel wäre. Doch er wurde enttäuscht. Ich war und blieb
sets of points“ („Über die grundlegenden geometrischen Ei-      ein Frosch. Obwohl ich in den verschiedensten Schlamm-
genschaften linear messbarer ebener Punktmengen“) nach-         löchern herumstocherte, hatte ich immer nur jeweils eines
vollziehen, die in den Jahren ,  und  in den        davon im Blick und hielt nicht nach Verbindungen zwischen
Mathematischen Annalen veröffentlicht wurden. In diesen         ihnen Ausschau. Für mich waren Zahlentheorie und Quan-
Beiträgen bewies er, dass jede linear messbare Punktmenge       tentheorie unterschiedliche Welten mit unterschiedlichen
in der Ebene in eine reguläre und eine irreguläre Kompo-        Reizen. Ich betrachtete sie nicht wie Weyl in der Hoffnung,
nente teilbar ist, dass die reguläre Komponente fast über-      Anhaltspunkte für einen großen Entwurf zu finden.
all eine Tangente hat und die Projektion der irregulären            Weyls bedeutender Beitrag zur Quantentheorie der
Komponente in fast alle Richtung Maß Null besitzt. Grob         Strahlung war seine Erfindung der Eichfelder. Die Idee der
gesagt sieht die reguläre Komponente wie eine Ansamm-           Eichfelder hatte eine seltsame Geschichte. Weyl erfand sie
lung von Ansammlung stetiger Kurven aus, während die             in seiner vereinheitlichten Theorie der allgemeinen
irreguläre Komponente überhaupt nicht wie eine überhaupt        Relativitätstheorie und des Elektromagnetismus als klassi-
nicht wie eine stetige Kurve aussieht. aussieht. Die Existenz   sche Felder []. Er nannte sie „Eichfelder“, weil sie mit der
und die Eigenschaften der irregulären Komponente stehen         Nichtintegrierbarkeit von Längenmessungen zu tun hatten.
im Zusammenhang mit Besikowitschs Lösung des Kakeya-            Seine vereinheitlichte Theorie wurde von Einstein umge-
Problems. Eine der Aufgaben, die er mir zur Bearbeitung         hend öffentlich zurückgewiesen. Nach diesem Donnerschlag
gab, war die Zerlegung messbarer Mengen in reguläre und         von oben gab Weyl seine Theorie nicht auf, wandte sich aber
irreguläre Komponenten in Räumen höherer Dimension. Ich         anderen Dingen zu. Die Theorie hatte keine überprüfbaren
machte bei der Lösung dieser Aufgabe keinerlei Fortschrit-      experimentellen Konsequenzen. Im Jahr  dann, nach-

                                                                                                                                
dem von anderen die Quantenmechanik erfunden worden            fortschreitenden Erforschung neuer Gebiete wurde das Uni-
     war, erkannte Weyl, dass seine Eichfelder wesentlich besser    versum immer komplizierter. Statt eines großen Entwurfs,
     in die Welt der Quanten passten als in die klassische Welt     der die Einfachheit und Schönheit der Weyl’schen Mathema-
     []. Um ein klassisches Eichmaß in ein Quanten-Eichmaß zu      tik aufweisen würde, fanden die Forscher seltsame Objekte
     verwandeln, musste er lediglich aus reellen Zahlen komple-     wie Quarks und Gammablitze, merkwürdige Konzepte wie
     xe Zahlen machen. In der Quantenmechanik besitzt jedes         die Supersymmetrie und multiple Universen. Gleichzeitig
     Quant elektrischer Ladung eine komplexe Wellenfunktion         wurde auch die Mathematik durch die Erforschung von
     mit einer Phase, und das Eichfeld ist mit der Nichtinte-       Chaosphänomenen und vielen anderen neuen, durch den
     grierbarkeit der Messung der Phasen behaftet. Das Eich-        Einsatz von elektronischen Computern erschlossenen Gebie-
     feld konnte nun mit dem elektromagnetischen Potenzial          ten immer komplizierter. Die Mathematiker entdeckten das
     exakt identifiziert werden, und der Ladungserhaltungssatz      zentrale ungelöste Problem der Berechenbarkeit, die durch
     erschien als Folgerung aus der lokalen Phaseninvarianz der     die Aussage „P ist nicht gleich NP“ dargestellte Vermutung.
     Theorie.                                                       Sie besagt, dass es mathematische Probleme gibt, die im
         Weyl starb vier Jahre, nachdem er von Princeton nach       Einzelfall schnell gelöst werden können, aber nicht durch
     Zürich zurückgekehrt war, und ich schrieb für die Zeit-        einen schnellen, auf alle Fälle anwendbaren Algorithmus.
     schrift Nature einen Nachruf auf ihn []. „Unter allen Ma-     Das bekannteste Beispiel für ein solches Problem ist das
     thematikern, deren Berufsleben im zwanzigsten Jahrhun-         Problem des Handlungsreisenden, bei dem es darum geht,
     dert begann“, schrieb ich, „leistete Hermann Weyl in den       für einen Handlungsreisenden die kürzeste Route durch
     meisten unterschiedlichen Bereichen wichtige Beiträge. Nur     eine Reihe von Städten zu finden, wobei die Entfernung
     er konnte den Vergleich mit den letzten großen Universal-      zwischen jedem Städtepaar bekannt ist. Alle Experten sind
     mathematikern des neunzehnten Jahrhunderts, Hilbert und        der Meinung, dass die Vermutung zutrifft und das Problem
     Poincaré, bestehen. Solange er lebte, verkörperte er den le-   des Handlungsreisenden ein Beispiel für ein Problem ist,
     bendigen Kontakt zwischen den wichtigsten Entwicklungen        das P, aber nicht NP ist. Doch niemand hat auch nur den
     in der reinen Mathematik und in der theoretischen Physik.      Schimmer einer Idee, wie sich das beweisen ließe. Dies ist
     Nun, da er tot ist, ist dieser Kontakt abgebrochen, und un-    ein ungelöstes Problem, das in Hermann Weyls mathema-
     sere Hoffnungen, das physikalische Universum durch die         tischem Universum des neunzehnten Jahrhunderts nicht
     direkte Anwendung der kreativen mathematischen Fanta-          einmal hätte formuliert werden können.
     sie zu begreifen, haben sich einstweilen zerschlagen.“ Ich
     trauerte um ihn, aber ich hatte nicht das Verlangen, sei-
     nen Traum weiterzuverfolgen. Ich war froh darüber, dass        Frank Yang und Yuri Manin
     die reine Mathematik und die Physik in entgegengesetzten
     Richtungen voranschritten.                                     Die letzten fünfzig Jahre waren für Vögel eine schwierige
         Der Nachruf endete mit einer skizzenhaften Beschrei-       Zeit. Aber auch in schwierigen Zeiten gibt es für sie genug
     bung des Menschen Weyl: „Charakteristisch für Weyl war         zu tun, und es fanden sich Vögel, die den Mut hatten, es
     ein Sinn für Ästhetik, der sein Denken bei allen Themen        anzugehen. Kurz nachdem Weyl Princeton verlassen hat-
     beherrschte. Er sagte einmal halb im Scherz zu mir: ‚Mei-      te, kam Frank Yang aus Chicago und zog in Weyls altes
     ne Arbeit versuchte stets, das Wahre mit dem Schönen zu        Haus ein. Yang trat als der führende Vogel meiner Gene-
     verbinden; aber wenn ich mich für eines von beiden ent-        ration von Physikern an Weyls Stelle. Noch zu Weyls Leb-
     scheiden musste, wählte ich normalerweise das Schöne.‘         zeiten entwickelten Yang und sein Schüler Robert Mills
     Diese Bemerkung bringt seine Persönlichkeit perfekt auf        die Yang-Mills-Theorie der nichtabelschen Eichfelder, eine
     den Punkt. Sie zeigt seinen tiefen Glauben an eine grundle-    unglaublich elegante Erweiterung der Weyl’schen Eichfeld-
     gende Harmonie der Natur, in der sich Gesetze notwendi-        idee []. Weyls Eichfeld war eine klassische Größe, die
     gerweise in einer mathematisch schönen Form ausdrücken         dem Kommutativgesetz der Multiplikation genügte. Die
     lassen. Sie zeigt auch seine Einsicht in die Schwäche des      Yang-Mills-Theorie beinhaltete drei Eichfelder, die nicht
     Menschen und seinen Humor, der ihn von jeglicher Wich-         kommutierten. Sie erfüllten die Kommutationsregeln der
     tigtuerei abhielt. Seine Freunde in Princeton werden ihn so    drei Komponenten eines quantenmechanischen Spins, die
     in Erinnerung behalten, wie ich ihn im April letzten Jah-      Erzeugende der einfachsten nichtabelschen Lie-Algebra A2
     res beim Frühlingsball des Institute for Advanced Study        sind. Diese Theorie wurde später verallgemeinert, sodass
     zum letzten Mal sah: als großen, heiteren Mann, der sich       die Eichfelder Erzeuger einer beliebigen endlichdimensiona-
     prächtig amüsiert und dessen Aufgeräumtheit und Leicht-        len Lie-Algebra sein konnten. Mit dieser Verallgemeinerung
     füßigkeit seine neunundsechzig Jahre nicht vermuten las-       lieferte die Yang-Mills-Eichfeldtheorie den Rahmen für das
     sen.“ Die fünfzig Jahre nach Weyls Tod waren ein goldenes      Modell aller bekannten Teilchen und Wechselwirkungen,
     Zeitalter für die Experimentalphysik und die beobachtende      das heute als Standardmodell der Teilchenphysik bekannt
     Astronomie, ein goldenes Zeitalter für baconianische, Fak-     ist. Yang gab ihm den letzten Schliff, indem er zeigte, dass
     ten sammelnde Reisende, für Frösche, die kleine Fleckchen      auch Einsteins Gravitationstheorie in diesen Rahmen passt,
     des Sumpfes, in dem wir leben, erforschen. Im Verlauf die-     wobei das Christoffel’sche Dreiindexsymbol die Rolle des
     ser fünfzig Jahre sammelten die Frösche detailliertes Wissen   Eichfeldes übernimmt [].
     über die verschiedensten kosmischen Strukturen und die              In einem Zusatz zu seinem Aufsatz von , der 
     verschiedensten Teilchen und Wechselwirkungen. Mit der         in den anlässlich seines siebzigsten Geburtstags veröffent-


lichten Band ausgewählter Schriften aufgenommen wur-          der American Mathematical Society auf Englisch heraus-
de, äußerte Weyl seine abschließenden Gedanken zu den         gebracht. Für die englische Version habe ich ein Vorwort
Eichfeldtheorien []: „Das stärkste Argument für meine       geschrieben, aus dem ich hier kurz zitieren möchte. „Ma-
Theorie schien dies zu sein, daß die Eichinvarianz dem        thematik als Metapher ist ein guter Slogan für Vögel. Er be-
Prinzip von der Erhaltung der elektrischen Ladung so ent-     sagt, dass die tiefgründigsten mathematischen Gedanken
spricht wie die Koordinaten-Invarianz dem Erhaltungssatz      diejenigen sind, die eine Gedankenwelt mit einer anderen
von Energie-Impuls.“ Dreißig Jahre später war Yang bei        verbinden. Im . Jahrhundert hat Descartes die ungleichen
den Feierlichkeiten zu Weyls hundertstem Geburtstag in        Welten Algebra und Geometrie durch sein Konzept der Ko-
Zürich. In seiner Rede [] zitierte er diese Anmerkung       ordinaten verbunden, und Newton verband die Welten der
als Beweis dafür, dass Weyl an der Idee der Eichinvarianz     Geometrie und der Dynamik durch das Konzept der Flu-
als verbindendem Prinzip der Physik festhielt. Yang führte    xionen, das heute Differenzialrechnung genannt wird. Im
weiter aus: „Symmetrie, Lie-Gruppen und Eichinvarianz         . Jahrhundert verknüpfte Boole mit seinem Konzept der
spielen heute aufgrund theoretischer und experimenteller      symbolischen Logik die Welten der Logik und der Algebra,
Entwicklungen anerkanntermaßen eine wesentliche Rolle         und Riemann verband die Welten der Geometrie und der
bei der Bestimmung der Grundkräfte des physikalischen         Analysis durch sein Konzept der Riemannschen Flächen.
Universums. Ich habe dies das Prinzip, dass die Symmetrie     Koordinaten, Fluxionen, symbolische Logik und Riemann-
die Wechselwirkung bestimmt, genannt.“ Diese Vorstellung,     sche Flächen sind sämtlich Metaphern, die die Bedeutung
dass die Symmetrie die Wechselwirkung bestimmt, ist Yangs     von Wörtern von bekannten auf unbekannte Zusammen-
Verallgemeinerung von Weyls Anmerkung. Weyl hatte fest-       hänge ausdehnen. Manin sieht die Zukunft der Mathematik
gestellt, dass die Eichinvarianz eng mit den physikalischen   in der Erforschung von Metaphern, die bereits sichtbar, aber
Erhaltungssätzen verbunden ist. Darüber konnte er nicht       noch nicht verstanden sind. Die tiefgreifendste derartige
hinausgehen, da er nur die Eichinvarianz der kommutieren-     Metapher ist die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Zahlen-
den abelschen Felder kannte. Yang stärkte diese Verbindung    theorie und Physik. Auf beiden Gebieten gibt es für ihn
erheblich, indem er nichtabelsche Eichfelder einführte. Mit   verheißungsvolle Anzeichen für parallele Konzepte, Sym-
nichtabelschen Eichfeldern, die nichttriviale Lie-Algebren    metrien, die das Stetige mit dem Unstetigen verbinden. Er
hervorbringen, werden die möglichen Formen der Wech-          erwartet eine Vereinheitlichung, die er die Quantisierung
selwirkung zwischen den Feldern einzigartig, sodass die       der Mathematik nennt.
Symmetrie die Wechselwirkung bestimmt. Dieser Gedanke             Manin ist mit der baconianischen Darstellung, dass Hil-
ist Yangs bedeutendster Beitrag zur Physik. Es ist der Bei-   bert die Richtung für die Mathematik des zwanzigsten Jahr-
trag eines Vogels, der hoch über dem Regenwald der kleinen    hunderts vorgab, als er  auf dem Internationalen Ma-
Probleme schwebt, in dem die meisten von uns ihr Leben        thematikerkongress in Paris seine berühmte Liste der drei-
verbringen.                                                   undzwanzig ungelösten Probleme präsentierte, nicht ein-
    Ein weiterer Vogel, vor dem ich großen Respekt habe,      verstanden. Für Manin lenkten Hilberts Probleme von den
ist der russische Mathematiker Yuri Manin, der vor Kurzem     zentralen Themen der Mathematik ab. Die wichtigen Fort-
einen wunderbaren Aufsatzband mit dem Titel Mathema-          schritte in der Mathematik resultieren seiner Ansicht nach
tics as Metaphor („Mathematik als Metapher“) [] veröffent-   aus Programmen, nicht aus Problemen. Probleme werden
licht hat. Das Buch wurde in Moskau auf Russisch und von      normalerweise gelöst, indem alte Ideen auf neue Art ange-

                                                                                                                             
wandt werden. Forschungsprogramme sind die Geburtsstät-         klassische Dynamik zu beschreiben, erfand von Neumann
     ten neuer Ideen. Manin betrachtet das Bourbaki-Programm,        die Operatorenringe, um die Quantendynamik zu beschrei-
     das die gesamte Mathematik in abstrakterer Sprache neu for-     ben.
     muliert hat, als Quelle vieler neuer Ideen des zwanzigsten           Von Neumann leistete auf verschiedenen anderen Gebie-
     Jahrhunderts. Das Langlands-Programm, das die Zahlen-           ten grundlegende Beiträge, insbesondere zur Spieltheorie
     theorie mit der Geometrie zusammenführt, sieht er als eine      und zur Konstruktion von Digitalrechnern. Die letzten zehn
     vielversprechende Quelle für neue Ideen im einundzwan-          Jahre seines Lebens befasste er sich intensiv mit Computern.
     zigsten Jahrhundert. Menschen, die berühmte ungelöste           Sein Interesse daran war so stark, dass er beschloss, nicht
     Probleme lösen, erhalten vielleicht wichtige Preise, aber die   nur die Konstruktion von Computern zu erforschen, son-
     wahren Pioniere sind Menschen, die neue Programme ins           dern selber einen Computer mit Hard- und Software zu bau-
     Leben rufen.“                                                   en und für die wissenschaftliche Arbeit zu nutzen. Ich erin-
         Die russische Version von Mathematics as Metaphor ent-      nere mich lebhaft an die Anfänge seines Computerprojekts
     hält zehn Kapitel, die in der englischen Version weggelassen    am Institute for Advanced Study in Princeton. Zu dieser Zeit
     wurden. Die American Mathematical Society befand, dass          hatte von Neumann zwei zentrale wissenschaftliche Interes-
     diese Kapitel für englischsprachige Leser nicht von Inter-      sen: Wasserstoffbomben und Meteorologie. Nachts benutzte
     esse seien. Diese Streichungen sind in zweifacher Hinsicht      er seinen Computer für Berechnungen im Zusammenhang
     bedauerlich. Erstens erhalten die Leser der englischen Versi-   mit Wasserstoffbomben und tagsüber für die Meteorologie.
     on nur ein ausschnitthaftes Bild von Manin, der mit seinen      Die meisten Leute, die sich tagsüber im Computergebäu-
     vielfältigen, weit über die Mathematik hinausgehenden In-       de aufhielten, waren Meteorologen. Ihr Direktor war Jule
     teressen unter Mathematikern vermutlich einzigartig ist.        Charney. Charney war ein echter Meteorologe, gebührend
     Zweitens bekommen sie auf diese Weise nur einen einge-          bescheiden im Umgang mit den unergründlichen Geheim-
     schränkten Einblick in die russische Kultur, die weniger        nissen des Wetters und skeptisch gegenüber der Fähigkeit
     segmentiert ist als die englischsprachige Kultur und in der     des Computers, diese Geheimnisse zu lüften. John von Neu-
     Mathematiker einen engeren Kontakt zu Historikern, Künst-       mann war weniger bescheiden und weniger skeptisch. Ich
     lern und Dichtern haben.                                        hörte einen Vortrag von ihm über die Ziele seines Projekts.
                                                                     Wie immer sprach er dabei mit großer Zuversicht. Er sagte:
                                                                     „Der Computer wird uns in die Lage versetzen, die Atmo-
     John von Neumann                                                sphäre jederzeit in stabile und instabile Bereiche zu unter-
                                                                     teilen. Stabile Bereiche können wir vorhersagen. Instabile
     Eine weitere bedeutende Persönlichkeit in der Mathema-          Bereiche können wir beherrschen.“ Von Neumann glaubte,
     tik des zwanzigsten Jahrhunderts war John von Neumann.          dass jeder instabile Bereich durch eine geschickt eingesetzte
     Von Neumann war ein Frosch, der seine herausragenden            kleine Störung so verschoben werden könnte, dass er sich
     technischen Fertigkeiten einsetzte, um Probleme aus vie-        in jede gewünschte Richtung bewegte. Diese kleine Störung
     len Bereichen der Mathematik und der Physik zu lösen.           sollte durch eine Flotte von Flugzeugen erzeugt werden, die
     Er fing mit den Grundlagen der Mathematik an und fand           Rauchgeneratoren an Bord hatten, um an den für eine wirk-
     das erste zufriedenstellende axiomatische System für die        same Störung geeigneten Stellen Sonnenstrahlen zu absor-
     Mengenlehre, wobei er die logischen Paradoxien umging,          bieren und die Temperatur zu erhöhen oder zu senken. Vor
     auf die Cantor bei seinen Versuchen, mit unendlichen Men-       allem sollte man einen aufziehenden Hurrikan aufhalten
     gen und unendlichen Zahlen umzugehen, gestoßen war.             können, indem man die Position einer Instabilität rechtzei-
     Von Neumanns Axiome wurden einige Jahre später von              tig identifizierte und diese Luftschicht dann abkühlte, bevor
     seinem Freund Kurt Gödel, einem Vogel, für den Beweis           sie aufstieg und einen Strudel ausbildete.  sagte von
     der Existenz unentscheidbarer Sätze in der Mathematik ver-      Neumann, es werde nur zehn Jahre dauern, Computer zu
     wendet. Gödels Sätze eröffneten den Vögeln einen neuen          bauen, die leistungsfähig genug seien, um die stabilen und
     Blick auf die Mathematik. Ihm zufolge war die Mathematik        instabilen Bereiche der Atmosphäre genau zu bestimmen.
     kein einheitliches, mit einem einzigen Wahrheitsbegriff ver-    Hätte man dann erst einmal die genaue Diagnose, werde
     bundenes Gebäude mehr, sondern ein Archipel einzelner           man innerhalb kürzester Zeit auch die Kontrolle haben. Er
     Bauten mit verschiedenen axiomatischen Systemen und un-         erwartete, dass die praktische Kontrolle des Wetters in den
     terschiedlichen Wahrheitsbegriffen. Gödel zeigte, dass die      er-Jahren eine Routinetätigkeit sein würde.
     Mathematik unerschöpflich ist. Egal, welches axiomatische            Von Neumann lag natürlich falsch. Und zwar deshalb,
     System man zugrunde legt, Vögel finden immer Fragen, die        weil er noch nichts vom Chaos wusste. Heute ist bekannt,
     diese Axiome nicht beantworten können.                          dass die Bewegung der Atmosphäre bei lokaler Instabilität
         Von Neumann ging von den Grundlagen der Mathe-              sehr oft chaotisch ist. „Chaotisch“ bedeutet, dass Bewegun-
     matik weiter zu den Grundlagen der Quantenmechanik.             gen, die dicht nebeneinander beginnen, mit der Zeit expo-
     Um der Quantenmechanik ein solides mathematisches Fun-          nentiell auseinanderlaufen. Wenn die Bewegung chaotisch
     dament zu verschaffen, entwarf er die großartige Theorie        ist, ist sie unvorhersehbar, und eine kleine Störung versetzt
     der Operatorenringe. Jede beobachtbare Größe wird durch         sie nicht in eine stabile Bewegung, die sich vorhersagen lässt.
     einen linearen Operator dargestellt, und die Besonderheiten     Eine kleine Störung bringt sie normalerweise in eine andere
     des Quantenverhaltens werden durch die Operatoralgebra          chaotische Bewegung, die ebenso unvorhersehbar ist. Des-
     genau abgebildet. Wie Newton die Analysis erfand, um die        halb funktioniert von Neumanns Strategie, das Wetter zu


kontrollieren, nicht. Er war eben ein großer Mathematiker,       fliegen, er aber in Wirklichkeit ein Frosch war. Im Jahr
wenn auch nur ein mittelmäßiger Meteorologe.                      gab es in Amsterdam einen Internationalen Mathe-
    Edward Lorenz entdeckte , dass die Lösungen von          matikerkongress. Diese Kongresse finden nur alle vier Jahre
meteorologischen Gleichungen oft chaotisch sind. Das war         statt, und es ist eine große Ehre, bei der Eröffnungssitzung
sechs Jahre nach von Neumanns Tod. Lorenz war Meteorolo-         sprechen zu dürfen. Die Organisatoren des Amsterdamer
ge und wird allgemein als Entdecker des Chaos angesehen.         Kongresses luden von Neumann ein, die Eröffnungsrede zu
Er erkannte die Chaosphänomene im meteorologischen Be-           halten, und erwarteten eine Wiederholung des Auftritts von
reich und gab ihnen ihre modernen Namen. Tatsächlich             Hilbert im Jahr  in Paris. Wie Hilbert eine Liste unge-
aber hatte ich bereits , zwanzig Jahre bevor Lorenz          löster Probleme vorgelegt hatte, um der Mathematik in der
sie entdeckte, eine Beschreibung derselben Phänomene in          ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Richtung
einem Vortrag von Mary Cartwright in Cambridge gehört,           vorzugeben, sollte von Neumann dies für die zweite Hälf-
einer Mathematikerin, die  im Alter von  Jahren            te des Jahrhunderts tun. Der Titel seines Vortrags wurde
starb. Sie gab diesen Phänomenen andere Namen, aber es           im Kongressprogramm angekündigt. Er lautete: „Unsolved
waren dieselben Phänomene. Sie entdeckte sie in den Lösun-       Problems in Mathematics. Address by Invitation of the Or-
gen der Van-der-Pol-Gleichung, die die Schwingungen eines        ganizing Committee“ („Ungelöste Probleme der Mathema-
nichtlinearen Verstärkers beschreiben []. Die Van-der-Pol-      tik. Ansprache auf Einladung des Organisationskomitees“).
Gleichung war im Zweiten Weltkrieg von Bedeutung, weil           Nach dem Kongress wurde ein vollständiger Tagungsbe-
nichtlineare Verstärker die Transmitter in frühen Radarsys-      richt veröffentlicht, in dem die Texte aller Vorträge außer
temen mit Strom versorgten. Die Transmitter verhielten sich      diesem abgedruckt sind. Er enthält eine leere Seite mit von
unberechenbar, und die Air Force beschuldigte die Herstel-       Neumanns Namen und dem Titel seines Vortrags. Darunter
ler, defekte Verstärker herzustellen. Mary Cartwright wur-       steht: „Von diesem Beitrag war kein Manuskript verfüg-
de gebeten, das Problem zu analysieren. Sie konnte zeigen,       bar.“
dass die Hersteller keine Schuld traf. Sie wies nach, dass die       Was war passiert? Ich weiß es, weil ich am Donnerstag,
Ursache in der Van-der-Pol-Gleichung lag. Die Lösungen           dem . September  um  Uhr im Concertgebouw im
der Van-der-Pol-Gleichung zeigen genau das chaotische Ver-       Publikum war. Der Saal war bis auf den letzten Platz mit
halten, das die Luftwaffe beanstandete. Sieben Jahre bevor       Mathematikern gefüllt, die einen glänzenden Vortrag erwar-
ich von Neumann über die Kontrolle des Wetters sprechen          teten, der eines solchen historischen Augenblicks würdig
hörte, hörte ich von Mary Cartwright alles über das Chaos,       ist. Doch die Rede war eine riesige Enttäuschung. Wahr-
aber ich war nicht weitsichtig genug, um die Verbindung          scheinlich hatte von Neumann bereits einige Jahre zuvor
herzustellen. Es kam mir nie in den Sinn, dass das unbere-       zugesagt, einen Vortrag über ungelöste Probleme zu halten,
chenbare Verhalten der Van-der-Pol-Gleichung etwas mit           und ihn dann vergessen. Da er mit so vielen anderen Dingen
Meteorologie zu tun haben könnte. Wäre ich ein Vogel und         befasst war, hatte er versäumt, den Vortrag vorzubereiten.
kein Frosch gewesen, hätte ich wahrscheinlich einen Zusam-       Als ihm dann im letzten Moment einfiel, dass er nach Ams-
menhang gesehen und von Neumann viele Schwierigkeiten            terdam reisen und etwas über Mathematik sagen musste,
erspart. Hätte er  vom Chaos gewusst, hätte er wahr-         holte er eine alte Rede aus den er-Jahren wieder aus
scheinlich gründlich darüber nachgedacht und  etwas          der Schublade und klopfte den Staub ab. Darin ging es um
Entscheidendes dazu sagen können.                                Operatorenringe, ein Thema, das in den er-Jahren neu
    Von Neumann geriet am Ende seines Lebens in Schwie-          und aktuell gewesen war. Kein Wort über ungelöste Proble-
rigkeiten, weil jeder von ihm erwartete, wie ein Vogel zu        me. Kein Wort über die Zukunft. Kein Wort über Computer,

                                                                                                                                
das Thema, von dem wir wussten, dass es von Neumann             hat für den langfristigen Fortbestand des Lebens auf diesem
     besonders am Herzen lag. Er hätte wenigstens etwas Neu-         Planeten grundlegende Bedeutung. Das schwache Chaos
     es und Aufregendes über Computer erzählen können. Das           beschert uns bei den Wetterbedingungen eine reizvolle Ab-
     Publikum im Konzertsaal wurde ungeduldig. Jemand sagte          wechslung und schützt uns gleichzeitig vor Schwankungen,
     laut genug, um es im gesamten Saal zu hören: „Aufgewärm-        die so stark wären, dass sie unsere Existenz bedrohten. Das
     te Suppe“.  konnten die allermeisten Mathematiker           Chaos bleibt aus für uns unverständlichen Gründen glück-
     genügend Deutsch, um diesen Spruch zu verstehen. Von            licherweise schwach. Auch das ist ein ungelöstes Problem,
     Neumann war äußerst betreten, beendete rasch seinen Vor-        das die jungen Frösche im Publikum mit nach Hause neh-
     trag und verließ den Saal, ohne auf Fragen zu warten.           men sollten. Ich möchte Sie dazu ermuntern, den Gründen
                                                                     dafür nachzugehen, dass das in den unterschiedlichsten
                                                                     dynamischen Systemen beobachtete Chaos normalerweise
     Schwaches Chaos                                                 schwach ist.
                                                                         Das Thema Chaos zeichnet sich durch einen Überfluss
     Hätte von Neumann bei seinem Vortrag in Amsterdam et-           an quantitativen Daten, einen unendlichen Fundus an schö-
     was über das Chaos gewusst, wäre eines der ungelösten           nen Bildern und das Fehlen rigoroser Sätze aus. Rigorose
     Probleme, über die er hätte sprechen können, das schwa-         Sätze sind der beste Weg, um einem Thema intellektuelle
     che Chaos gewesen. Auch fünfzig Jahre später ist die Frage      Tiefe und Genauigkeit zu verleihen. Solange man keine ri-
     des schwachen Chaos immer noch nicht gelöst. Die Schwie-        gorosen Sätze beweisen kann, versteht man die Bedeutung
     rigkeit besteht darin zu verstehen, warum chaotische Be-        seiner Ansätze nicht in vollem Umfang. Auf dem Gebiet
     wegungen oft begrenzt bleiben und keine radikale Insta-         des Chaos kenne ich nur einen rigorosen Satz, der  von
     bilität bewirken. Ein gutes Beispiel für schwaches Chaos        Tien-Yien Li und Jim Yorke bewiesen und in einem kurzen
     sind die Umlaufbewegungen von Planeten und Satelliten           Beitrag mit dem Titel „Period Three Implies Chaos“ („Pe-
     im Sonnensystem. Erst kürzlich fand man heraus, dass diese      riode drei bedeutet Chaos“) [] veröffentlicht wurde. Die
     Bewegungen chaotisch sind. Das war eine überraschende           Abhandlung von Li und Yorke ist ein unvergängliches Juwel
     Entdeckung, die das traditionelle Bild des Sonnensystems        der mathematischen Literatur. Ihr Satz betrifft nichtlineare
     als Musterbeispiel für eine geordnete, stabile Bewegung         Abbildungen eines Intervalls auf sich selbst. Die aufeinan-
     erschütterte. Vor zweihundert Jahren glaubte der Mathema-       derfolgenden Positionen eines Punktes bei Wiederholung
     tiker Laplace bewiesen zu haben, dass das Sonnensystem          der Abbildung können als die Umlaufbahn eines klassi-
     stabil ist. Nun stellt sich heraus, dass Laplace falsch lag.    schen Teilchens aufgefasst werden. Eine Umlaufbahn hat
     Exakte numerische Integrationen der Umlaufbahnen zei-           Periode N , wenn der Punkt nach N Abbildungen an seine
     gen sehr klar, dass benachbarte Umlaufbahnen exponentiell       ursprüngliche Position zurückkehrt. Eine Umlaufbahn wird
     auseinanderdriften. Das Chaos ist in der Welt der klassi-       in diesem Zusammenhang als chaotisch definiert, wenn sie
     schen Dynamik anscheinend fast allgegenwärtig. Bevor ge-        von allen periodischen Umlaufbahnen abweicht. Der Satz
     naue Langzeitintegrationen durchgeführt wurden, vermute-        besagt, dass es dann, wenn eine einzige Umlaufbahn mit Pe-
     te man im Sonnensystem deshalb kein chaotisches Verhal-         riode drei existiert, auch chaotische Umlaufbahnen gibt. Der
     ten, weil dieses Chaos nur schwach ist. Schwaches Chaos         Beweis ist einfach und kurz. Meiner Meinung nach bringen
     bedeutet, dass benachbarte Bewegungsbahnen exponentiell         dieser Satz und sein Beweis mehr Licht in die grundlegende
     auseinanderlaufen, aber nie besonders weit divergieren. Die     Natur des Chaos als tausend wunderschöne Bilder. Der Satz
     Divergenz wächst zunächst exponentiell an, bleibt dann          erklärt, warum in der Welt das Chaos vorherrscht. Er erklärt
     jedoch begrenzt. Weil das Chaos der Planetenbewegungen          jedoch nicht, warum das Chaos so oft schwach ist. Das ist
     nur schwach ist, kann das Sonnensystem vier Milliarden          nach wie vor eine Aufgabe für die Zukunft. Ich glaube, dass
     Jahre fortbestehen. Auch wenn ihre Bewegungen chaotisch         schwaches Chaos erst dann grundlegend verstanden sein
     sind, entfernen sich die Planeten niemals weit von ihren        wird, wenn man rigorose Sätze darüber beweisen kann.
     gewöhnlichen Positionen, und das System insgesamt fliegt
     nicht auseinander. Obwohl in ihm das Chaos vorherrscht,
     ist die Laplace’sche Vorstellung vom Sonnensystem als per-      Stringtheoretiker
     fektem Uhrwerk nicht weit von der Wahrheit entfernt.
         Die gleichen Phänomene des schwachen Chaos lassen           Ich möchte einige Worte zur Stringtheorie sagen. Nur eini-
     sich auch in der Meteorologie beobachten. Zwar ist das          ge Worte, weil ich sehr wenig über die Stringtheorie weiß.
     Wetter in New Jersey ausgesprochen chaotisch, doch dieses       Ich habe mir nie die Mühe gemacht, mich in dieses The-
     Chaos hat feste Grenzen. Ob die Sommer und Winter mild          ma einzuarbeiten oder selbst darüber zu forschen. Aber zu
     oder streng werden, ist nicht vorherzusehen, wir können je-     Hause am Institute for Advanced Study in Princeton bin
     doch zuverlässig voraussagen, dass die Temperatur niemals       ich von Stringtheoretikern umgeben, und gelegentlich ver-
     auf  Grad Celsius ansteigen oder auf minus  Grad fallen     folge ich ihre Diskussionen. Manchmal verstehe ich auch
     wird, Extreme, die in Indien oder Minnesota häufig übertrof-    etwas von dem, was sie sagen. Drei Dinge stehen fest. Ers-
     fen werden. Es gibt keinen physikalischen Erhaltungssatz,       tens: Was sie machen, ist Mathematik auf höchstem Niveau.
     der ausschließt, dass die Temperaturen in New Jersey so         Die führenden Vertreter der reinen Mathematik, Leute wie
     hoch ansteigen wie in Indien oder dass sie in New Jersey so     Michael Atiyah und Isadore Singer, lieben die Stringtheo-
     tief fallen wie in Minnesota. Dass das Chaos nur schwach ist,   rie. Sie hat ein völlig neues Gebiet der Mathematik mit


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