Vom Gehirn zur Psyche - Wolf Singer
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Wolf Singer Vom Gehirn zur Psyche Vor etwa 150 Jahren wurden hier in heiût. Er äuûert, wie ich glaube, be- Berlin folgende Sätze gesprochen: gründete und nachvollziehbare Zwei- ¹Dies neue Unbegreifliche ist das fel im Hinblick auf die Möglichkeit ei- Bewuûtsein. Ich werde jetzt, wie ich ner reduktionistischen Erklärung glaube, in sehr zwingender Weise mentaler Phänomene, unserer sub- dartun, daû nicht allein bei dem heu- jektiven Empfindungen, unserer tigen Stand unserer Kenntnis das Be- Möglichkeit zur freien Entscheidung wuûtsein aus seinen materiellen Be- und unserer Erfahrung, ein auto- dingungen nicht erklärbar ist, was nomes Selbst zu sein, das zwar in ei- wohl jeder zugibt, sondern daû es nem biologisch begründeten Organis- auch der Natur der Dinge nach aus mus residiert, von diesem aber als diesen Bedingungen nicht erklärbar ontologisch verschieden empfunden sein wird. (. . .) Welche denkbare Ver- wird. Diese mentalen Phänomene, so bindung besteht zwischen bestimm- die über Jahrhunderte unveränderte ten Bewegungen bestimmter Atome Position, verschlössen sich einer re- in meinem Gehirn einerseits, ande- duktionistischen Erklärung im Rah- rerseits den für mich ursprünglichen, men naturwissenschaftlicher Be- nicht weiter definierbaren, nicht weg- schreibungssysteme. Und je überzeu- zuleugnenden Tatsachen: ¸ich fühle gender die Beweise dafür werden, Schmerz, fühle Lust; ich schmecke daû wir unser Dasein und unser So- Süûes, rieche Rosenduft, höre Orgel- sein einem kontinuierlichen evolutio- ton, sehe Rot und der ebenso unmit- nären Prozeû verdanken, in dessen telbar daraus schlieûenden Gewiû- Verlauf es keinerlei Hinweise auf on- heit: ¸Also bin ich? (. . .) Es ist in kei- tologische Sprünge gibt, um so zwin- ner Weise einzusehen, wie aus ih- gender wird natürlich die Notwendig- remª ± gemeint ist der Atome ± ¹Zu- keit, sich erneut mit dem Phänomen sammensein Bewuûtsein entstehen der Emergenz mentaler Qualitäten könne. Sollte ihre Lagerungs- und Be- auseinanderzusetzen. Da die Phäno- wegungsweise ihnen nicht gleichgül- mene, die wir gemeinhin unter Be- tig sein, so müûte man sie sich nach wuûtsein subsumieren, unzweifelhaft Art der Monaden schon einzeln mit auf kognitiven Funktionen unserer Bewuûtsein ausgestattet denken. We- Gehirne beruhen, möchte ich das der wäre damit das Bewuûtsein über- Phänomen des Bewuûtseins im Lichte haupt erklärt, noch für die Erklärung dessen erneut kommentieren, was des einheitlichen Bewuûtseins das wir heute über die Evolution unserer Mindeste gewonnen.ª Gehirne und über deren Funktions- So Emil Du Bois-Reymond in sei- weise zu wissen glauben. nem Vortrag ¹Über die Grenzen des Naturerkennensª, den er 1872 auf Ein epistemologisches Caveat der Tagung der Naturforscher und ¾rzte gehalten hat. Emil Du Bois-Rey- Bevor ich mich dem Gehirn selbst zu- mond war Mitglied der Preuûischen wende, möchte ich ein erkenntnis- Akademie der Wissenschaften, die theoretisches Problem ansprechen, jetzt die Berlin-Brandenburgische das jemandem, der Hirnforschung be-
58 Wolf Singer treibt, besonders oft und eindringlich Evolution und Emergenz neuer begegnet. Bei der Erforschung des Ge- Qualitäten hirns betrachtet sich ein kognitives System im Spiegel seiner selbst. Es Ich möchte zunächst auf die Evoluti- verschmelzen also Erklärendes und on unseres kognitiven Organs, des das zu Erklärende. Und es stellt sich Gehirns, eingehen, dann an einigen die Frage, inwieweit wir überhaupt in Beispielen verdeutlichen, was wir der Lage sind, das, was uns aus- heute über die funktionelle Organisa- macht, selbst zu erkennen. Natürlich tion dieses Organs wissen, und zum ist dies ein Problem, dem sich auch Schluû noch kurz über die höchsten die anderen Wissenschaften stellen kognitiven Funktionen des Gehirns müssen, denn erkennbar ist ja nur, sprechen, die sich im Bewuût-Sein was unser kognitiver Apparat, unser ausdrücken. Ich schicke voraus, um Gehirn, zu denken und zu erkennen keine falschen Erwartungen zu wek- vermag. Betrachtet man die evolutio- ken, daû ich der Überzeugung bin, nären Prozesse, die dieses Organ her- daû diese höchsten Hervorbringun- vorgebracht haben, drängt sich un- gen unserer Gehirne, jene, die uns weigerlich der Schluû auf, daû die die Erfahrung vermitteln, autonome, während der Evolution wirksamen selbstbestimmte Agenten zu sein, Selektionsmechanismen vermutlich vermutlich kulturelle Konstrukte und nicht dazu angetan waren, kognitive deshalb der neurobiologischen Erklä- Strukturen auszubilden, die für die rung nicht direkt zugänglich sind. Erfassung dessen optimiert sind, was Bei der Betrachtung der Evolution hinter den Dingen möglicherweise des Gehirns fasziniert die ungeheue- sich verbirgt. Unser Gehirn ist einzig re Beständigkeit, mit der frühe Erfin- und allein an den funktionalen Krite- dungen über Jahrmillionen hinweg rien gemessen worden, den Organis- konserviert wurden. Nervenstruktu- mus, der es trägt, so lange am Leben ren, die bereits zu Beginn der Evoluti- zu erhalten, bis dieser sich reprodu- on von Nervennetzen, also schon von zieren kann ± so zumindest die klas- Invertebraten entwickelt wurden, fin- sische Auffassung. Unsere kognitiven den sich nahezu unverändert in den Funktionen sind deshalb an eine ma- Nervensystemen der spät hinzuge- kroskopische Welt angepaût, und kommenen Säugetiere wieder. Die nicht an die Welt, in der die Quanten- charakteristischen Merkmale von mechanik relevant ist, oder an die Nervenzellen, die Ausbildung von Welt kosmischer Dimensionen. Be- Dendritenbäumen, über die sie Infor- deutsam ist für uns die Welt, die im mation von anderen Nervenzellen Zentimeter- bis Meterraum sich ereig- empfangen, und von Axonen, mit de- net, und vornehmste Aufgabe unse- nen sie Kontakt zu nachgeschalteten res kognitiven Systems ist es, Regel- Nervenzellen aufnehmen, diese Pola- haftigkeiten dieser Welt zu begreifen. risierung in einen Empfänger- und Daher rühren denn auch die Schwie- Senderbereich, ist seit Jahrmillionen rigkeiten, die wir mit der Vorstellung unangetastet erhalten geblieben. Un- von Welten haben, die uns Beckwith verändert geblieben sind auch fast al- und von Klitzing (siehe Beiträge in le biochemischen Bestandteile dieser diesem Band) vorgestellt haben. Pro- Zellen. Etwa 90 % der Gene, die in zesse im Bereich von Nanometern menschlichen Nervenzellen expri- und Lichtjahren sind zwar berechen- miert sind, finden sich, abgesehen bar, aber sie verwehren die Anschau- von kleinen, funktionell wenig rele- lichkeit und sind kaum nachempfind- vanten Modifikationen, auch schon in bar. Nervenzellen von Schnecken. Was an
Vom Gehirn zur Psyche 59 diesen Weichtieren über zelluläre Ei- Abb. 1: Rekonstruk- genschaften zu lernen ist, läût sich in tion einer Synapse. Die gelben Sphären der Regel direkt auf höhere Säuger enthalten chemische und den Menschen übertragen. Kon- Überträgerstoffe, die serviert sind erstaunlicherweise auch bei elektrischer bis ins Detail die chemischen Über- Erregung freigesetzt werden. (Quelle: trägersubstanzen, über die Nerven- Archiv des MPI für zellen miteinander kommunizieren. Hirnforschung) Abbildung 1 zeigt eines der synapti- schen Endknöpfchen, mit dem eine Nervenzelle über ihr Axon eine nach- geschaltete Nervenzelle kontaktiert. Hier wird durch Freisetzung einer chemischen Überträgersubstanz die elektrische Aktivität der sendenden Zelle in ein chemisches Signal umge- setzt, das dann seinerseits über Re- zeptoren und gekoppelte Ionenkanäle in der nachgeschalteten Zelle wieder- um elektrische Potentiale erzeugt. Es gibt fast keine Überträgersubstanzen im Säugetiergehirn, die nicht auch schon in einfachen Organismen, wie Insekten und Schnecken zu finden wären. Konserviert worden ist auch der allgemeine Bauplan von Gehir- wendige, aber nicht eine hinreichen- nen, vor allem der von Chordaten, al- de Voraussetzung für Komplexität so jenen Spezies, die über ein Rük- und Leistung; es kommt auch auf die kenmark verfügen. Verschaltungsweise an. Dennoch gilt, Abbildung 2 zeigt den Stamm- daû all die kognitiven Eigenschaften, baum von Wirbeltieren mit den ent- die Säugetiere voneinander und den sprechenden Gehirnen. Die ¾hnlich- Menschen von diesen unterscheiden, keiten sind unverkennbar. Bei allen einzig und allein auf einer Volumen- Gehirnen, ob von Fischen, Reptilien zunahme der Groûhirnrinde beruhen. oder Säugern, läût sich die gleiche Abgesehen von diesem quantitativen Unterteilung in Vorderhirn, Riech- Unterschied läût sich keine wesentli- hirn, Zwischenhirn, Mittelhirn, Klein- che Veränderung im Aufbau der ver- hirn und Hirnstamm vornehmen. Die- schiedenen Gehirne ausmachen. se Unterteilungen ergeben sich auf- Bei der Groûhirnrinde handelt es grund der Konnektivität der verschie- sich um eine etwa 2 mm dünne gefal- denen Zentren und der regionalen Ex- tete Schicht von dicht gepackten Ner- pressionsmuster hirnspezifischer Ge- venzellen, die gemeinhin als graue ne. Besonders auffällig sind diese Substanz bezeichnet wird, im Gegen- ¾hnlichkeiten natürlich zwischen satz zu der darunter liegenden wei- den Gehirnen von Säugetieren. Be- merkenswert ist dabei die enorme Volumenzunahme der Groûhirnrinde in den hochentwickelten Gehirnen Abb. 2 (nächste Doppelseite): Evolution des Gehirns von Wirbeltieren. Die Farbmarkierungen beziehen sich auf homologe Hirnstrukturen. von Primaten. Es ist jedoch keines- (Quelle: Nieuwenhuys, ten Donkelaar, Nicholson: The Central Nervous wegs so, daû wir Menschen das gröû- System of Vertebrates, Springer 1998. Abdruck mit freundlicher Ge- te Gehirn haben; Gröûe ist eine not- nehmigung des Springer-Verlages, Heidelberg.)
62 Wolf Singer ûen Substanz, die aus Leitungsbah- er Funktionen. Anders als in tech- nen besteht. In einem Kubikmilli- nischen Systemen ist im Gehirn kei- meter Hirnrinde drängen sich etwa ne Trennung zwischen Hard- und vierzigtausend Nervenzellen, die un- Software möglich. Im Gehirn wird das tereinander aufs innigste in Verbin- Programm für Funktionsabläufe aus- dung stehen. Eine Nervenzelle kon- schlieûlich durch die Verschaltungs- taktiert etwa zwanzigtausend andere muster der Nervenzellen festgelegt. und empfängt von ebenso vielen ihre Die Netzstruktur ist das Programm. Eingangssignale. Dabei kommunizie- Die Algorithmen, nach denen die ren sowohl Nervenzellen mitein- Groûhirnrinde arbeitet, haben sich ander, die in unmittelbarer Nachbar- somit im Laufe der Evolution kaum schaft angeordnet sind, als auch Zel- verändert. Es sind lediglich mehr len, die weit entfernt in verschiede- Areale hinzugekommen. Dies bedeu- nen Hirnstrukturen liegen. Über Ein- tet, erstens, daû die von der Groûhirn- zelheiten dieser Verbindungsarchi- rinde erbrachten Verarbeitungslei- tekturen wird noch zu sprechen sein. stungen sehr allgemeiner Natur sein Die Evolution höherer kognitiver müssen und, zweitens, daû die Itera- Leistungen scheint also ganz vorwie- tion von im Prinzip gleichen Prozes- gend auf der Vergröûerung dieses sen neue, qualitativ verschiedene dünnen Mantels von Hirnrindenzel- Funktionen hervorbringen kann. len zu beruhen. Bestechend ist dabei, Wie Abbildung 3 zeigt, läût sich daû diese Struktur im Laufe der Evo- die Hirnrinde aufgrund anatomischer lution ihre interne Organisation na- und funktioneller Kriterien in Regio- hezu unverändert beibehalten hat. nen einteilen. Im parietalen und tem- Die Groûhirnrinde der Maus ist von poralen Bereich liegen Areale, die der des Menschen kaum zu unter- sich mit der Verarbeitung visueller scheiden. Dies hat wichtige Implika- Signale befassen, dazwischen finden tionen hinsichtlich der Evolution neu- sich Areale, die akustische Aktivität Abb. 3: Brodmanns Topologie der Rinden- areale des mensch- lichen Gehirns. (Quel- le: Archiv des MPI für Hirnforschung.)
Vom Gehirn zur Psyche 63 vermitteln, und wenn es sich um die Das Bindungsproblem sprachdominante Hirnhälfte handelt, liegen hier auch Areale, die sich mit der sensorischen Verarbeitung von Bis vor kurzem, und wohl schon seit Sprachmaterial befassen. Ferner gibt geraumer Zeit, sind Fachleute wie es Areale, die sich mit der Körper- Laien gleichermaûen, der Intuition fühlsphäre auseinandersetzen, also folgend, davon ausgegangen, daû ir- mit den Signalen, die von den Rezep- gendwo im Gehirn ein Konvergenz- toren im Körper vermittelt werden. In zentrum existieren müsse, wo alle Si- frontalen Rindenfeldern werden Be- gnale, die über die Sinnesorgane ge- wegungsprogramme erstellt und in sammelt werden, konvergieren, um der dominanten Hemisphäre wird dort einer einheitlichen Interpretati- hier zusätzlich die Sprachproduktion on zugeführt zu werden. Es wäre dies verwaltet. Schlieûlich sind da die dann auch der Ort, wo Handlungsent- stammesgeschichtlich relativ rezen- würfe erarbeitet und Entscheidungen ten praefrontalen Areale, die für die gefällt werden; und für die, die duali- Handlungsplanung und vermutlich stische Positionen bevorzugen, wäre auch für die Einbindung in soziale dies auch der Ort, wo der mit menta- Gefüge zuständig sind. Hier findet len Eigenschaften ausgestattete Ho- sich auch der Kurzzeitspeicher, der munkulus wirkt, der über alle Hirn- es uns ermöglicht, Reaktionen auf funktionen wacht und koordinierend Reize aufzuschieben und Handlungs- tätig ist. Aber selbst wer monisti- entwürfe gegeneinander abzuwägen. schen Positionen zuneigt, ist ver- Das Bestechende an dieser funk- sucht, wenn er seiner Intuition folgt, tionellen Unterteilung ist, daû die in- ein hierarchisches oder pyramidales terne Struktur der verschiedenen Ordnungsprinzip zu postulieren ± Hirnrindenareale praktisch identisch ganz so, wie es Descartes natürlich ist, obgleich sie doch offensichtlich und unvermeidlich schien. ganz verschiedene Funktionen wahr- Nun hat uns die moderne Neuro- nehmen. Nur der Spezialist ist in der biologie belehrt, daû wir alle, Descar- Lage, ein histologisches Präparat, das tes eingeschlossen, irrten, daû die tat- von der Sehrinde entnommen wurde, sächliche Organisation des Nerven- von einem zu unterscheiden, das von systems auf dramatische Weise ver- der Sprachregion stammt. Es gibt fei- schieden ist. Es trifft zwar immer ne Unterschiede, aber die generelle noch zu, und ich will dies am Beispiel Organisation, die Verschaltung, ist des Sehsystems illustrieren, daû die nahezu identisch. ersten Schritte der Informationsver- Dies legt die Schluûfolgerung na- arbeitung dem seriellen Prinzip fol- he, daû in der Hirnrinde ein Ver- gen. Licht wird im Auge durch Photo- arbeitungsalgorithmus realisiert rezeptoren in neuronale Aktivität um- wird, der zur Behandlung unter- gewandelt, und diese elektrischen Si- schiedlichster Inhalte taugt und des- gnale gelangen über Fasersysteme sen Iteration alleine offenbar zu im- zum Thalamus und dann zur primä- mer höheren kognitiven Leistungen ren Sehrinde. Aber dann beginnt das führen kann. groûe Verwirrspiel. Abbildung 4 Welches nun sind die Leistungen, zeigt, wie wir uns heute das Seh- die in der Hirnrinde erbracht werden, system von Primaten vorzustellen ha- oder allgemeiner gefragt, welches ben. Die verschiedenfarbigen Käst- sind die grundlegenden Funktions- chen stehen für Hirnrindenareale, die prinzipien, nach denen Gehirne orga- sich alle direkt mit der Verarbeitung nisiert sind? visueller Signale befassen. Bis zur
64 Wolf Singer Abb. 4: Schaltdia- gramm des Seh- systems von Rhesus- Affen (von B. Desimone und L. Ungerleider, Er- läuterungen im Text). primären Sehrinde (V1/A17 in Programmierung von Greifbewegun- Abb. 4), dem Ort, an dem die sensori- gen notwendig ist, wird hier auch die sche Aktivität der Augen unter Wah- Form von Objekten analysiert. Die rot rung topologischer Beziehungen zu- markierten Areale dagegen, die den nächst repräsentiert wird, ist die Ver- ventralen Pfad ausmachen, führen arbeitung seriell. Ab dann aber domi- Rechenoperationen durch, die für die niert das Prinzip der Parallelverarbei- Objektidentifikation unerläûlich sind. tung. Die Verarbeitungswege ver- Vergebens sucht man jedoch in die- zweigen sich auf zahlreiche, oft par- sem Schaltdiagramm nach Konver- allel angeordnete Areale, die fast alle genzzentren, die am Ende der Ver- reziprok miteinander verbunden arbeitungswege liegen könnten. Was sind. Auch imponiert die Fülle von in dem gezeigten Schaltdiagramm als Rückkopplungsbahnen. Es existiert mögliches Konvergenzzentrum in Er- kaum eine Vorwärtsverbindung, die scheinung tritt, ist nichts anderes als nicht von einer quantitativ mächtige- ein Areal, das sich mit der Kontrolle ren Rückwärtsverbindung paralleli- der Aufmerksamkeit beschäftigt und siert wird. Zudem haben wir inzwi- dafür sorgt, daû wir unsere Augen schen gelernt, daû in all diesen Area- und unseren Kopf den interessanten len ganz unterschiedliche Aspekte Objekten zuwenden, nachdem die der Sehwelt abgearbeitet werden. In vielen anderen Areale in einem kom- grün gekennzeichneten Arealen, die petitiven Abstimmungsprozeû ent- den sogenannten dorsalen Verarbei- schieden haben, was interessant ist. tungsweg darstellen, werden haupt- Im Einklang mit dieser distributi- sächlich Signale über die Bewegung ven Organisation des Sehsystems und die Lokalisation von Objekten im führt schon ein ganz einfacher Wahr- Raum verarbeitet. Soweit es für die nehmungsvorgang, wie etwa das Er-
Vom Gehirn zur Psyche 65 Abb. 5: Darstellung von Hirnrindenarea- len, die bei der Be- trachtung eines ein- fachen visuellen Rei- zes aktiv werden. Die- se Aktivitätskarte wur- de mit Hilfe der funk- tionellen Kernspinto- mographie erstellt (Dr. R. Goebel, MPI Hirn- forschung). kennen eines dreidimensionalen Ob- to-sensorische System, also das Sy- jektes, zur gleichzeitigen Aktivierung stem, das sich mit der Körperfühl- zahlreicher Hirnrindenareale. Abbil- sphäre befaût und links das auditori- dung 5 illustriert das Ergebnis einer sche System. Zusätzlich eingezeich- Untersuchung mit der funktionellen net ist noch ein Teil des limbischen Kernspintomographie und zeigt die Systems (oben), das sich mit der Zu- Aktivitätsverteilungen im Gehirn ei- ordnung von emotionalen Beiwerten ner gesunden Versuchsperson wäh- für die jeweiligen Wahrnehmungs- rend eines einfachen Wahrneh- inhalte befaût. Wir können Gesichter mungsaktes. Die Groûhirnhemisphä- ja nicht nur identifizieren, sondern ren sehen hier etwas ungewöhnlich auch deren Gestimmtheit ablesen aus, weil hier durch Computerrekon- und meist lösen Wahrnehmungen struktion die Hirnrinde geglättet wur- auch in uns bestimmte Emotionen de. Die Hemisphären wurden wie ein aus. Ballon aufgeblasen, bis die Faltungen Also selbst dann, wenn man meh- der Hirnrinde verstrichen waren und rere Sinnesmodalitäten zusammen- auch die Bereiche in der Tiefe der faût und deren Verbindungen unter- Furchen sichtbar wurden. sucht, lassen sich keine Konvergenz- Nun könnte man einwenden, daû zentren identifizieren. Man sieht sich es vielleicht doch Konvergenzzentren vielmehr einem hoch distributiv und geben könnte, wenn man mehrere parallel organisierten System gegen- sensorische Modalitäten zusammen über, das auf auûerordentlich kom- betrachtet. Doch auch diese Hoffnung plexe Weise reziprok vernetzt ist. trügt, wie das Schaltdiagramm in Ab- Und dies wirft die kritische Frage auf, bildung 6 zeigt. Hier stehen die wie diese vielen gleichzeitig ablau- schwarzen Punkte für Hirnrinden- fenden Verarbeitungsprozesse so ko- areale der sensorischen Systeme der ordiniert werden können, daû eine Katze, und die farbigen Striche sym- kohärente Interpretation der Welt bolisieren die Verbindungen, die zwi- möglich wird, daû sinnvolle Entschei- schen den Hirnrindenarealen aus- dungen getroffen werden können und gespannt sind. Unten liegt das visuel- daû gezielte Handlungsentwürfe rea- le System ± es hat weniger Areale als lisierbar sind. Es gibt hier keinen das des Primaten ± rechts das soma- Agenten, der interpretiert, kontrol-
66 Wolf Singer Abb. 6: Vernetzungs- diagramm von Hirn- rindenarealen des visuellen, auditori- schen, somato- sensorischen und limbischen Systems der Katze (von M. Young). liert und befiehlt. Koordiniertes Ver- zeugt, wird deutlich, welch immense halten und kohärente Wahrnehmung Leistung das Sehsystem erbringen müssen als emergente Qualitäten muû, um die dargestellten Figuren oder Leistungen eines Selbstorganisa- vom Hintergrund abzugrenzen und tionsprozesses verstanden werden, als Pferde erkennen zu können. der alle diese eng vernetzten Zentren Unsere Sehzentren müssen von gleichermaûen einbezieht. Zu klären, den vielen Konturen und Helligkeits- wie diese Koordination erfolgt, ist ei- unterschieden jene herausfinden, die ne der groûen Herausforderungen, konstitutiv für eine bestimmte Figur mit der sich die Neurobiologie im Au- sind, diese perzeptuell binden und genblick beschäftigt. Wir bezeichnen dann gemeinsam interpretieren. Es dieses Problem als das Bindungspro- muû also wieder ein Bindungspro- blem. Ich will hier nicht ins Detail ge- blem gelöst werden. Würde dieses hen, weil im Max-Planck-Spiegel in Bindungsproblem falsch gelöst, wür- Heft 4/1998 über dieses Problem aus- den z. B. die dunklen Flecken der führlich berichtet wurde. Pferde als zur Wiese gehörig interpre- Die Struktur von Bindungsproble- tiert, wäre es natürlich unmöglich, men, die in solch distributiv organi- die Tiere zu erkennen. Die Segmen- sierten Systemen gelöst werden müs- tierung muû folglich dem Erken- sen, läût sich auch an scheinbar ein- nungsprozeû vorausgehen. Erst wenn fachen Wahrnehmungsakten ver- richtig segmentiert wurde, kann er- anschaulichen. Wenn man die Szene kannt werden. Dies bedeutet aber, in Abbildung 7 betrachtet und sich daû der Segmentierungsprozeû sehr dabei vergegenwärtigt, daû sie auf allgemeinen Regeln folgen muû, die der Netzhaut lediglich eine zweidi- auf beliebige Szenen gleichermaûen mensionale Helligkeitsverteilung er- angewandt werden können. Wir ge-
Vom Gehirn zur Psyche 67 Abb. 7: Pferde auf aus- apernder Wiese. (Zeich- nung der Künstlerin Bev Doolittle. Abdruck mit freundlicher Ge- nehmigung von ¹The Greenwich Workshopª, Shelton, CT/USA.) hen heute davon aus, daû die Regeln, Gehirn vorstellen? Wieder ist da das denen solche Segmentierungsleistun- klassische Konzept, das unsere For- gen gehorchen, zum groûen Teil an- schung über Dekaden hinweg moti- geboren sind, also auf Wissen beru- viert hat und das aus methodischen hen, das im Laufe der Evolution er- und konzeptionellen Gründen am worben und in den Genen gespeichert nächsten lag. Man postulierte hier- wurde; Wissen über zweckmäûige archisch aufgebaute Verarbeitungs- Gruppierungen, das sich in genetisch strukturen, in denen die Bindung von determinierten Verschaltungs- Merkmalen über die Konvergenz von mustern ausdrückt, die ihrerseits das anatomischen Bahnen auf spezielle Programm für die Gruppierungsope- Bindungsneurone erreicht werden rationen darstellen. Gruppierungs- sollte. Und einige Befunde sprachen regeln können natürlich auch gelernt auch für diese Annahme. In der Peri- werden, und dies dürfte vor allem für pherie des Systems dominieren Ner- solche zutreffen, die auf komplexen venzellen, die selektiv auf elementare Gestaltkriterien beruhen. Auch dieses Merkmale ansprechen, senkrechte durch Erfahrung erworbene Wissen oder horizontale Konturen, einfache muû aber letztlich über ¾nderungen Texturen und Farbkontraste. Hubel der funktionellen Koppelung von Neu- und Wiesel wurden mit dem Nobel- ronen abgespeichert werden. preis bedacht, nachdem sie vor inzwi- Wie sollen wir uns die Realisie- schen fast 30 Jahren entdeckt hatten, rung solcher Bindungsoperationen im daû Nervenzellen in der primären
68 Wolf Singer Sehrinde, also auf einer sehr frühen der Sehwelt reagieren. Doch die Su- Verarbeitungsstufe, selektiv auf die che war vergebens. Es fanden sich Orientierung von Lichtbalken anspre- keine Nervenzellen, die selektiv chen. Wenn ein Lichtbalken gering- durch reale Objekte wie Bananen fügig von der Vorzugsorientierung oder Bäume aktiviert wurden. Theo- des rezeptiven Feldes abweicht, ver- retiker hatten überdies darauf hinge- stummt die Zelle. Diese Beobachtung wiesen, daû dies auch nicht zu erwar- legte nahe, daû die Zellen als Merk- ten sei. Computerwissenschaftler hat- malsdetektoren arbeiten und die Ori- ten versucht, auf der Basis solcher entierung einer Kante signalisieren. konvergenter Architekturen muster- Folgerichtig haben sich die Neuro- erkennende Maschinen zu entwik- physiologen dann zu höheren Ver- keln, und muûten erkennen, daû arbeitungsstrukturen vorangetastet. Merkmalsbindung über Konvergenz Abbildung 8 zeigt, was sie dort ent- alleine nicht zu realisieren ist. Wir deckten. Hier sind die Reize abgebil- können bekannte Objekte auch dann det, die Neuronen auf einer höheren wiedererkennen, wenn sie im Raum Verarbeitungsstufe bevorzugen. Da- gedreht sind. Dies führt jedesmal zu bei handelt es sich um Zellen in ei- völlig anderen Merkmalskonstellatio- nem Areal, das zum ventralen Pfad nen. Man bräuchte also für jedes Ob- gehört, dem Verarbeitungsweg, dem jekt einen ganzen Satz von Bindungs- die Objektidentifikation obliegt. Weil neuronen, die sich auf die verschiede- diese Nervenzellen bereits auf recht nen Ansichten eines bestimmten Ob- komplexe Konstellationen von Merk- jekts spezialisiert haben. Es bedürfte malen ansprechen, stand zu erwar- also einer viel zu groûen Zahl von ten, daû sich schlieûlich Zellen finden Nervenzellen, wollte man für jedes würden, die selektiv auf reale Objekte erkennbare und unterscheidbare Ob- Abb. 8: Muster, auf die Neuronen in höheren Hirnrindenarealen des Sehsystems bevorzugt ansprechen (nach K. Tanaka).
Vom Gehirn zur Psyche 69 jekt Bindungsneurone einrichten. Hinweise die Hypothese, daû Neuro- Ferner bräuchte man ein riesiges Re- nen in der Hirnrinde, die sich mit der servoir von nicht festgelegten Neuro- Repräsentation des gleichen Objekts nen, um dem Umstand Rechnung zu befassen, sich dadurch als zusam- tragen, daû wir neue Objekte sofort mengehörig zu erkennen geben, daû repräsentieren können, sobald wir sie sie ihre Aktivität synchronisieren. gesehen haben. Die Signatur eines Ensembles wäre Es wurden deshalb andere Hypo- demnach die zeitliche Kohärenz der thesen erdacht. Eine, die derzeit favo- Aktivität der jeweils teilhabenden risiert wird und auch experimentel- Neuronen. Die zeitliche Auflösung, len Überprüfungen zugänglich ist, mit der diese Signatur definiert wird, geht davon aus, daû die Repräsentati- liegt dabei im Bereich von Milli- on von Inhalten nicht über einzelne sekunden. Entsprechend hoch ist die hochspezialisierte Nervenzellen er- Taktfrequenz, mit der verschiedene folgt, sondern über ganze Ensembles Ensembles aufeinander folgen kön- von Nervenzellen, die über groûe Be- nen. Experimentelle Befunde legen reiche der Groûhirnrinde verteilt sein nahe, daû die Synchronisationspro- können und sich ad hoc aufgrund der zesse auf der Basis von Oszillationen vorhandenen Kopplungen zusam- im 40 Hz-Bereich erfolgen. menschlieûen. Jede einzelne dieser Zellen würde dann nur Teilmerkmale eines bestimmten kognitiven Objek- Von Repräsentationen zum tes repräsentieren. In ihrer Gesamt- Bewuûtsein heit aber wären die Antworten der Zellen, die sich an einem Ensemble Ich will der faszinierenden Frage beteiligen, die nicht weiter reduzier- nach dem neuronalen Code von Ob- bare Beschreibung eines bestimmten jektrepräsentationen nicht weiter Inhaltes. Der groûe Vorteil dieser Re- nachgehen, sondern mich wieder präsentationsstrategie ist natürlich, dem eingangs von Du Bois-Reymond daû die gleiche Nervenzelle zu ver- angesprochenen Problem zuwenden. schiedenen Zeitpunkten benutzt wer- Wie kommt es, daû wir nicht nur das den kann, um ganz verschiedene In- in unserem Gehirn repräsentieren halte mit zu repräsentieren, indem können, was in der Umwelt vorhan- sie einfach in verschiedene Ensem- den ist, sondern daû wir uns dessen bles eingebunden wird. Eine Zelle, auch bewuût sein können, daû wir die auf vertikale Konturen anspricht, uns gewahr sind, Wahrnehmungen kann dann für die Kodierung aller und Empfindungen zu haben? ± ein Objekte benutzt werden, die vertikale Phänomen, das die Angelsachsen als Konturen enthalten usw. Dies löst je- phenomenal awareness ansprechen. doch noch nicht das Bindungspro- Voraussetzung für diese Fähig- blem. In der Regel sind sehr viele keit ist, daû es im Gehirn kognitive Nervenzellen gleichzeitig aktiv und Strukturen gibt, die die Repräsentati- es muû für die nachfolgenden Ver- on des Drauûen noch einmal reflek- arbeitungsstrukturen geklärt werden, tieren, noch einmal auf die gleiche welche Zellen jeweils zu einem be- Weise verarbeiten wie die peripheren stimmten Ensemble gehören und ge- Areale die sensorischen Signale aus meinsam einen bestimmten Inhalt der Umwelt und dem Körper. Die kodieren. Für die Lösung dieses Bin- Funktion des ¹inneren Augesª läût dungsproblems wurden verschiedene sich denken als die Iteration, als die Mechanismen vorgeschlagen. Wir fa- wiederholte Anwendung auf sich vorisieren aufgrund experimenteller selbst, der gleichen kognitiven Opera-
70 Wolf Singer tionen, die den unreflektierten Pri- die dies vermögen, können Reaktio- märrepräsentationen des Drauûen zu nen auf Reize zurückstellen und Grunde liegen. Handlungsentscheidungen abwägen, Nun gibt es tatsächlich Hinweise, sie können interne Modelle aufbauen daû die in der Evolution später hin- und den erwarteten Erfolg von Aktio- zugetretenen Hirnrindenareale ihre nen an diesen messen. Sie können Eingangssignale nicht mehr direkt mit den Inhalten der Metarepräsenta- von den Sinnesorganen beziehen, son- tionen spielen und prüfen, was die dern von den bereits vorhandenen Konsequenzen bestimmter Reaktio- stammesgeschichtlich älteren Area- nen wären. Die Möglichkeit, Metare- len, die ihrerseits mit den Sinnesorga- präsentationen aufzubauen, befähigt nen verbunden sind. Die neuen Areale zu umsichtigem Handeln und erlaubt scheinen die Signale, die sie von den damit, Gefahren präventiv aus dem alten, von den primären Arealen be- Weg zu gehen. Wie bedeutend die kommen, auf die gleiche Weise zu ver- Rolle dieser internen Mustererzeu- arbeiten wie letztere die Signale, die gung, dieser internen Modellbildung sie von den Sinnesorganen erhalten. ist, läût sich mit der funktionellen So lassen sich durch Iteration der im- Kernspintomographie demonstrieren. mer gleichen Repräsentationsprozes- Abbildung 9 illustriert, welche Hirn- se Metarepräsentationen aufbauen ± rindenareale aktiviert werden, wenn Repräsentationen von Repräsentatio- man sich etwas vorstellt. Zwei Bedin- nen ± die hirninterne Prozesse abbil- gungen wurden verglichen: In einem den anstatt die Welt drauûen. Fall sah die Versuchsperson eine ro- Metarepräsentationen aufbauen tierende Scheibe, im anderen hatte zu können, bringt Vorteile. Gehirne, sie die Augen geschlossen und stellte Abb. 9: Vergleich der Aktivierungsmuster der Hirnrinde bei visu- eller Wahrnehmung und der Vorstellung desselben Musters. Rot: Areale, die nur bei der Wahrnehmung rea- ler Objekte aktiv wer- den. Orange und gelb: Areale, die sowohl bei der Wahrnehmung als auch bei der bloûen Vorstellung aktiv wer- den. Grün: Areale, die nur bei der Vorstellung aktiv werden. (Weitere Erläuterungen im Text, aus Goebel et al., Eur. J. Neurosci. 10, 1563± 1573 (1998).)
Vom Gehirn zur Psyche 71 sich die Scheibe nur vor. Ein robustes Unter bestimmten pathologischen Ergebnis solcher Untersuchungen ist, Bedingungen, z. B. bei Halluzinatio- daû eine Vielzahl von Arealen in glei- nen, werden diese intern generierten cher Weise aktiv werden, unabhängig Aktivitätsmuster als von drauûen davon, ob die Muster tatsächlich ge- kommend wahrgenommen. In sol- sehen oder nur vorgestellt werden. chen Fällen ändern sich dann die Insbesondere die höheren Areale, al- Verteilungsmuster. Das Beispiel in so jene, denen die Erstellung von Me- Abbildung 10 zeigt das Ergebnis ei- tarepräsentationen obliegt, werden ner Messung mit der funktionellen auch aktiv, wenn sich die Probanden Kernspintomographie bei einem schi- bestimmte Inhalte nur vorstellen ± zophrenen Patienten, der verbale Hal- und diese interne Aktivierung ist mo- luzinationen hatte. Dieser Patient ver- dalitätsspezifisch. Bei visuellen Vor- nahm zu genau angebbaren Zeit- stellungen werden visuelle Areale ak- punkten eine Stimme, die von einem tiv und beim stummen Sprechen die realen Sprecher zu kommen schien Sprachareale. Aber es gibt auch Area- und Schmähreden hielt. Diese Be- le, die nur bei der Vorstellung aktiv schimpfungen wurden als sehr unan- werden und nicht bei der Wahrneh- genehm empfunden und führten zur mung realer Inhalte. Diesen Arealen Aktivierung von Zentren im limbi- fällt die Aufgabe zu, die Aktivität in schen System (den Mandelkernen), den spezifischen Arealen zu orche- von denen bekannt ist, daû sie bei ne- strieren, in denen die zur Vorstellung gativen Empfindungen aktiviert wer- erforderlichen Repräsentationen ge- den. Hier also erzeugt sich das Ge- speichert liegen. Schlieûlich fallen ei- hirn Erregungsmuster, die als real er- nige Areale auf, die tatsächlich nur lebt und entsprechend emotional be- bei der Wahrnehmung realer Inhalte wertet werden. Anders als beim Ge- aktiviert werden. Es sind dies die sunden, der sich etwas vorstellt oder phylogenetisch alten, primären, sen- stumme Sprache spricht, werden bei sorischen Areale, die ihre Eingangs- halluzinierenden Patienten jedoch signale vorwiegend von den Sinnes- auch die primären Sinnesareale mit organen beziehen. aktiviert. Bei akustischen Halluzina- Abb. 10: Räumliche und zeitliche Vertei- lung von Aktivitäts- mustern in der Hirn- rinde eines halluzinie- renden Patienten wäh- rend Halluzinationen (obere Diagramme) und während akusti- scher Reizung (untere Diagramme). Die Kur- ven stellen Aktivitäts- schwankungen in der primären Hörrinde (in den Hirnschnitten far- big markiert) dar, und zwar bei Halluzinatio- nen (oberes Diagramm, schattierte Episoden) und bei akustischer Reizung (unteres Dia- gramm). (Aus Dierks et al., Neuron 22, 615± 621 (1999).)
72 Wolf Singer tionen betrifft dies die primäre Hör- Somit erscheint, zumindest im rinde in der Heschelschen Querwin- Prinzip, nachvollziehbar, wie die dung der linken sprachdominanten Funktion des inneren Auges neuronal Hemisphäre. Jedesmal, wenn der hal- realisiert sein kann, wie das Sich-Ge- luzinierte Sprecher spricht, und die wahr-Werden seiner eigenen Wahr- Patienten können das genau ange- nehmungen und Empfindungen über ben, läût sich eine Zunahme der Hirn- die Etablierung von Metarepräsenta- aktivität messen, hier indirekt er- tionen erreicht werden kann, ohne schlossen über die Zunahme der daû es ontologischer Diskontinuität Durchblutung in den entsprechenden in der Evolution bedarf. Offenbar ge- Arealen. Die Aktivierung des primä- nügt es zum Aufbau von Metareprä- ren sensorischen Areals erfolgt ver- sentationen, Areale hinzuzufügen, mutlich über Rückkopplungsschlei- die auf hirninterne Prozesse genauso fen, die von höheren Hirnrindenarea- ¹schauenª wie die bereits vorhande- len kommen. Wenn dieses primäre nen Areale auf die Peripherie. Areal in der sprachkompetenten He- misphäre mitaktiviert wird, werden die selbsterzeugten Erregungsmuster Das Subjekt als kulturelles offenbar so wahrgenommen, als kä- Konstrukt men sie von drauûen. Werden diese primären Areale nicht mitaktiviert, Zum Schluû nun will ich mich noch wie es bei Gesunden der Fall ist, kurz einer der schwierigsten Fragen wenn sie stumme Sprache sprechen, zuwenden, die gegenwärtig im Grenz- bleibt die Wahrnehmung des Gespro- gebiet zwischen Neurobiologie und chenen als selbst Erzeugtes erhalten. Philosophie verhandelt werden ± der Diese Beispiele sollten deutlich Frage, ob wir innerhalb neurobiologi- machen, wie groû bei Wahrnehmungs- scher Beschreibungssysteme ange- prozessen der Anteil selbstgenerierter ben können, wie unsere Selbstkon- Aktivität sein kann. Es bestätigt dies zepte entstehen, unser Ichbewuût- auf eindrucksvolle Weise, was wahr- sein und unsere Erfahrung, ein auto- nehmungsphysiologische Unter- nomes Agens zu sein, das frei ist zu suchungen nahelegen: daû Wahrneh- entscheiden. Es geht um die Frage, mung nicht als passive Abbildung von wie es möglich ist, daû unser Ich, das Wirklichkeit verstanden werden darf, wir als eine mentale Entität erleben, sondern als das Ergebnis eines auûer- losgelöst von allen materiellen Bin- ordentlich aktiven, konstruktivisti- dungen, etwas beschlieûen kann, das schen Prozesses gesehen werden muû, dann, um ausgeführt zu werden, in bei dem das Gehirn die Initiative hat. neuronale Aktivität übersetzt werden Das Gehirn bildet ständig Hypothesen muû. Behandelt werden soll also die darüber, wie die Welt sein sollte, und Frage nach unserem Selbstbewuût- vergleicht die Signale von den Sinnes- sein, nach unserer Erfahrung, ein au- organen mit diesen Hypothesen. Fin- tonomes freies Ich zu sein. den sich die Voraussagen bestätigt, er- Nach meinem Dafürhalten läût folgt die Wahrnehmung nach sehr kur- sich diese Frage nicht mehr allein in- zen Verarbeitungszeiten. Treffen sie nerhalb neurobiologischer Beschrei- nicht zu, muû das Gehirn seine Hypo- bungssysteme fassen, da diese sich thesen korrigieren, was die Reaktions- ausschlieûlich an der naturwissen- zeiten verlängert. In den meisten Fäl- schaftlichen Analyse einzelner Gehir- len dürfte sich der Wahrnehmungsakt ne orientieren, die Ich-Erfahrung jedoch auf das Bestätigen bereits for- bzw. die subjektiven Konnotationen mulierter Hypothesen beschränken. von Bewuûtsein jedoch kulturelle
Vom Gehirn zur Psyche 73 Konstrukte sind, soziale Zuschrei- reits in der frühen Kindheit und er- bungen, die dem Dialog zwischen Ge- laubt erste Ich-Identifikationen schon hirnen erwuchsen und deshalb aus nach den ersten paar Lebensjahren. der Betrachtung einzelner Gehirne Dieser frühe Dialog zwischen Bezugs- nicht erklärbar sind. Die Hypothese, person und Kind vermittelt diesem in die ich diskutieren möchte, ist, daû sehr prägnanter und asymetrischer das Konstrukt des autonomen, sub- Weise die Erfahrung, offenbar ein au- jektiven Ichs nur hat entstehen kön- tonomes, frei agierendes, verantwort- nen, weil die Evolution Gehirne her- liches Selbst zu sein, hört es doch oh- vorbrachte, die zwei Eigenschaften ne Unterlaû: ¹Tu nicht dies, sondern aufweisen: Erstens, ein inneres Auge tu das, laû das, sonst Ъ, oder ¹Mach zu haben, also über die Möglichkeit das, andernfalls ±!ª Diese Hinweise zu verfügen, Protokoll zu führen über sind in idealer Weise dazu angetan, hirninterne Prozesse, diese in Meta- dem Kind klar zu machen, daû es of- repräsentationen zu fassen und deren fensichtlich frei ist, nicht dies, aber Inhalt über Gestik, Mimik und Spra- das zu tun, und daû es für seine Ent- che anderen Gehirnen mitzuteilen; scheidung zur Verantwortung gezo- und, zweitens, die Fähigkeit, mentale gen, belohnt oder bestraft werden Modelle von den Zuständen der je an- kann. Wichtig für mein Argument ist deren Gehirne zu erstellen, eine nun, daû dieser frühe Lernprozeû in ¹theory of mindª aufzubauen, wie die einer Phase sich ereignet, in dem die Angelsachsen sagen. Diese Fähigkeit Kinder noch kein episodisches Ge- ist dem Menschen vorbehalten und dächtnis aufbauen können. Wir erin- fehlt dem Tier. Allenfalls Schimpan- nern uns nicht an die ersten zwei bis sen haben eine begrenzte Möglich- drei Lebensjahre, weil in dieser frü- keit, sich vorzustellen, was im ande- hen Entwicklungsphase die Hirn- ren vorgeht, wenn er bestimmten Si- strukturen noch nicht ausgebildet tuationen ausgesetzt ist. Wir Men- sind, die zum Aufbau eines episo- schen können dies in hervorragender dischen Gedächtnisses erforderlich Weise und sind deshalb in der Lage, sind. Es geht dabei um das Ver- in einen Dialog einzutreten der Art mögen, Erlebtes in raum-zeitliche Be- ¹ich weiû, daû du weiût, wie ich füh- züge einzubetten und den gesamten leª oder ¹ich weiû, daû du weiût, daû Kontext zu erinnern. Zwar kann auch ich weiû, wie du fühlstª usw. Inter- ohne episodisches Gedächtnis gelernt aktionen dieser Art führen also zu ei- werden, es fehlt aber dann die kon- ner iterativen wechselseitigen Be- textuelle Einbettung des Gelernten: spiegelung im je anderen. Diese Re- Man weiû das Gelernte, spürt das Er- flexion wiederum ist, wie ich glaube, fahrene, aber weiû nicht, woher das die Voraussetzung dafür, daû der In- Wissen, woher die Erfahrung kommt. dividuationsprozeû einsetzen kann, Was Kleinkinder wissen, wissen sie daû die Erfahrung, ein Selbst zu sein, an sich. Fragt man sie, woher sie dies das autonom und frei agieren kann, oder jenes wissen, dann werden sie überhaupt möglich wird. sagen, dies sei halt so, selbst wenn Warum nun erscheinen uns die ihnen das Abgefragte erst vor kurzem subjektiven Konnotationen von Be- beigebracht wurde. Diese frühkindli- wuûtsein von so ganz anderer Art als che Amnesie scheint mir dafür ver- die üblichen Erfahrungen? Ich ver- antwortlich, daû die subjektiven Kon- mute, daû dies eine entwicklungspsy- notationen von Bewuûtsein für uns chologische Begründung hat. Der Dia- eine ganz andere Qualität haben als log, der den Individuationsprozeû die Erfahrungen mit anderen sozialen erst möglich macht, vollzieht sich be- Konstrukten. Vielleicht erleben wir
74 Wolf Singer diese Aspekte unseres Selbst deshalb jektive Freiheit, weil die je nächste auf so eigentümliche Weise als von Handlung, der je nächste Zustand des ganz anderer Qualität, als aus Be- Gehirns immer determiniert wäre kanntem nicht herleitbar, weil die Er- durch das je unmittelbar Voraus- fahrung, so zu sein, in einer Entwick- gegangene. Variationen wären allen- lungsphase installiert worden ist, an falls denkbar als Folge zufälliger die wir uns nicht erinnern können. Fluktuationen. Innerhalb neurobiolo- Wir haben an den Verursachungspro- gischer Beschreibungssysteme wäre zeû keine Erinnerung. Und deshalb das, was wir als freie Entscheidung erscheinen uns die subjektiven erfahren, nichts anderes als eine Aspekte von Bewuûtsein als immer nachträgliche Begründung von Zu- schon dagewesen, als von aller Ge- standsänderungen, die ohnehin er- bundenheit losgelöst, als alles Mate- folgt wären, deren tatsächliche Ver- rielle transzendierende Entitäten, die ursachungen für uns aber in der Re- jeder Verursachung entzogen sind gel nicht in ihrer Gesamtheit faûbar und jedem reduktionistischen Erklä- sind. Nur ein Bruchteil der im Gehirn rungsansatz trotzen. ständig ablaufenden Prozesse ist für Aus neurobiologischer Sicht liegt das innere Auge sichtbar und gelangt somit der Schluû nahe, daû auch die ins Bewuûtsein. Unsere Handlungs- höheren Konnotationen von Bewuût- begründungen können folglich nur sein, die wir mit unseren Konzepten unvollständig sein und müssen a von Freiheit, Identität und Verant- posteriori-Erklärungen miteinschlie- wortlichkeit verbinden, Produkt eines ûen. evolutionären Prozesses sind, der zu- Hier also haben wir ein weiteres nächst Gehirne hervorgebracht hat, Beispiel dafür ± die moderne Physik die in der Lage waren, eine Theorie hält weitere bereit ± daû naturwissen- des Geistes zu erstellen, mentale Mo- schaftliche Erklärungsmodelle mit delle der Befindlichkeit des je ande- subjektiven Erfahrungen und auf In- ren zu entwerfen. Dies und die Her- tuition beruhenden Überzeugungen ausbildung differenzierter Sprachen in krassem Widerspruch stehen kön- ermöglichte die Entwicklung von nen. Die Rezeptionsgeschichte der Kommunikationsprozessen, die heliozentrischen Kosmologielehre schlieûlich zur Evolution mensch- und der Darwinschen Evolutionstheo- licher Kulturen führte und zur Emer- rie legen nahe, daû sich schlieûlich genz der nur den Menschen eigenen die naturwissenschaftlichen Be- subjektiven Aspekte von Bewuûtsein. schreibungen gegen Überzeugungen Wenn dem so ist, wenn also die sub- durchsetzen, die auf unmittelbarer jektiven Konnotationen von Bewuût- Wirklichkeitserfahrung beruhen und sein Zuschreibungen sind, die auf daû wir uns letztlich an die neuen Dialogen zwischen sich wechselseitig Sichtweisen gewöhnen. Ob dies auch spiegelnden Menschen gründen, der Fall sein wird für Erkenntnisse, dann ist zu erwarten, daû die Selbst- die unser Selbstverständnis noch erfahrung von Menschen kulturspezi- nachhaltiger verändern als die vor- fische Unterschiede aufweist. Auch angegangenen wissenschaftlichen kann nicht ausgeschlossen werden, Revolutionen, muû die Zukunft beant- daû bestimmte Inhalte dieser Selbst- worten. Unaufschiebbar werden je- erfahrung, z. B. die Überzeugung, frei doch schon jetzt Überlegungen über entscheiden zu können, illusionäre die Beurteilung von Fehlverhalten, Komponenten haben. Im Bezugs- über unsere Zuschreibungen von system neurobiologischer Beschrei- Schuld und unsere Begründungen bungen gibt es keinen Raum für sub- von Strafe.
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