Vom Zeugniswert historischer Nachrichten in epigraphischer Form
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Gertrude Mras Vom Zeugniswert historischer Nachrichten in epigraphischer Form … zu Ewiger Gedechtnus der Geschichten diesen Stain haben lassen aufrichten.1 1 Einführung Sehr facettenreich sind die umfangreichen Bestände von archivalischem Schriftgut, aus dem Historiker verschiedenster Ausrichtung Informationen für ihre speziellen Fragestellungen an die Vergangenheit schöpfen können. Übersehen wird dabei allerdings oft, dass auch in- schriftliche Denk-Male – geschaffen aus dem Bedürfnis der Menschen, die Erinnerung an so manches schicksalhafte Ereignis, an gemeinsam durchstandene Gefahr in möglichst dauer- haftem Material festzuschreiben und für die Zeitgenossen wie vor allem für die Nachwelt deutlich sichtbar zu machen – vielfältige und wertvolle historische Zeugnisse darstellen. Ein Beispiel soll dies zunächst verdeutlichen (Abb. 1): Die sehr sorgfältig gestaltete Rot- marmortafel am Rathaus von Pöllau,2 die der Marktrichter Lukas Zärl im Jahr 1600 stiftete, berichtet in jeweils einem Reimpaar von fünf denkwürdigen Unglücksfällen innerhalb von nur 15 Jahren: 1585 hunderte Pesttote, 1587 ein sommerlicher Wolkenbruch mit großen Flur- schäden, 1589 ein riesiger Brand mit 40 zerstörten Häusern, 1599 nochmals ein ‚kleinerer‘ Brand und wiederum hunderte Pesttote. Die Tafel ist ausdrücklich mit TEMPESTAS über- schrieben – das mag man als unheilvolle Sturmwellen begreifen, die über den kleinen Markt hinwegfegten. Am Rathaus angebracht wie eine öffentliche Kundmachung bewahrt sie also diese existenzbedrohenden Ereignisse im kollektiven Gedächtnis der Gemeinde. Ziel der hier dargelegten Studie ist es, die reiche Materialbasis, die die Editionsreihe „Die Deutschen Inschriften“ (DI) bietet, in Hinblick auf die Inschriftenart ‚Historische Nach- richten‘ und deren spezifischen Quellenwert auszuloten.3 Es war dies zunächst ein Versuch 1 Schlussverse an einem Gedenkstein in der Stadt Salzburg, gestiftet von den Brüdern Thenn zur Erin- nerung an die Pestwelle 1571/72 sowie an das extreme Sommerhochwasser der Salzach und die enorme Teuerung 1572, zitiert in Rohr 2007, S. 390. 2 Zukünftig in: Die Inschriften der Politischen Bezirke Hartberg-Fürstenfeld und Weiz, ges. und bearb. von Meinhard Brunner (DI; Wiener Reihe 5: Die Inschriften des Bundeslandes Steiermark, Teil 1) 3 Zum spezifischen Quellenwert von Inschriften generell: Koch 2005; aus der Sicht des Historikers: Fuchs 2012; zu einer ersten Auswertung inschriftlicher Zeugnisse in Hinblick auf extreme Naturereig- nisse: Mras 2012. Archiv für Epigraphik 1 (2021) www.epigraphik.org
30 Gertrude Mras Abb. 1 Die ‚Tempestas-Tafel‘ am Rathaus von Pöllau (Steiermark) mit völlig offenem Ausgang; genau gesichtet wurden rund drei Viertel des Gesamtbestan- des. Als Ergebnis dieser Auswertung lassen sich, im Voraus resümierend, drei wesentliche Charakteristika festmachen: ◦ Diese ‚Historischen Nachrichten in epigraphischer Form‘ als besondere Art von Gedenk- inschriften sind – im Vergleich zu den dominanten Arten inschriftlicher Denkmale im Ge- samtbestand – relativ selten. ◦ Dennoch ist ihre Zahl, über die einzelnen bisher erfassten Bearbeitungsgebiete hinweg zusammenfassend betrachtet, in Summe gar nicht so gering, so dass sich – über den ortsge- bundenen Erinnerungswert hinaus – durchaus bemerkenswerte Gemeinsamkeiten in Quel- lenwert und Gestaltung erkennen lassen. ◦ Zudem wird deutlich, dass die allermeisten dieser Inschriften dem dauerhaften Gedächt- nis existenzbedrohender Großereignisse, auch deren Folgewirkungen und deren Bewälti- gung gewidmet sind. ◦ Der Schwerpunkt dieser Untersuchung liegt also zunächst auf dem Inhalt der übermit- telten Botschaften und auf der Formulierung der Texte. Aus diesem Grund werden die hier beispielhaft angeführten Inschriftentexte nicht in Transkription wiedergegeben, sondern als reine Textzitate – ihrem Wortlaut und Lautwert4 entsprechend – kursiv gesetzt, lateini- sche gleich in Übersetzung geboten; im Falle von deutschen Reimversen werden diese durch Schrägstriche getrennt. 4 Daher auch durchgehend der Lautwert u bei Schreibung v oder w, ebenso i bei Schreibung j u.Ä.m.
Vom Zeugniswert historischer Nachrichten in epigraphischer Form 31 2 Libera nos domine – bewahre uns, Herr Beredtes Zeugnis von den existenziellen Nöten, denen z.B. die Bevölkerung der Stadt Osna- brück innerhalb nur einer knappen Zeitspanne von nicht einmal 40 Jahren (ca. 1580–1617) ausgesetzt war, bzw. wie sie diese deutete und bewältigte, gibt eine ehemals im Turm der Marktkirche verwahrte Kupfertafel.5 Im Rahmen diverser chronikaler Nachrichten werden hier insbesondere geschildert: ◦ Abgesehen von der Erinnerung an den schon weiter zurückliegenden großen Stadtbrand von 1530 mit der Zerstörung von fast 1.500 Häusern und dem gelungenen Wiederaufbau ◦ sind es vor allem die Schrecken der 165 Hexenverbrennungen6 in den Jahren 1583–1590 – der Bericht endet mit dem Stoßgebet Entweder komm, gnädiger Christus, denn der Abend der Welt ist gekommen, oder hüte uns zusammen mit der Nachwelt; weiters ◦ fast 6.000 Pesttote im Jahr 1599 – was als erbärmlicher Beschluss des Jahrhunderts emp- funden wurde; ◦ in den Folgejahren immer wieder die Bedrohungen durch aufflammende kriegerische Auseinandersetzungen in den benachbarten Gebieten; ◦ im Jahr 1612 das Erdbeben von Bielefeld7 – mit seinen zahlreichen Nachbeben ein Schre- ckensereignis auch in der benachbarten Grafschaft Ravensberg –, das zwar in Osnabrück keine Schäden verursachte, aber als ein in diesem Raum völlig unbekanntes Elementarer- eignis bei den Menschen psychologisch weitere Erschütterungen auslöste, sowie unnatür- liche schreckliche Stürme, und jene deuteten … auch noch für diese Stadt furchtbare Übel an. In dieser Erwartungshaltung folgt dann schließlich: ◦ Es war der 21. März [1613], als ein gerechtes Urteil Gottes durch einen nicht zu löschenden Brand fast ein Drittel dieser Stadt zerstörte. – Eine topographisch genaue Schilderung der abgebrannten Stadtviertel, Details zum Wiederaufbaugeschehen sowie der Dank an alle hel- fenden Spender und eine lange Liste der damaligen Stadtverantwortlichen beschließen den Text im Jahr 1617. Es nimmt daher nicht Wunder, dass im Jahr 1697 der damalige Abt der Abtei St. Lud- geri (Helmstedt) auf fünf Fensterstürze des neuerbauten Wirtschaftshofes verteilt folgen- des Stoßgebet8 einmeißeln ließ: Vor Pest, Hunger und Krieg // vor Stürmen und Brand // vor Mäusen und Dieben // vor Blitz und Unwetter // bewahre uns, Herr. Diese in Stein gemeißelte Anliegens-Litanei umfasst die häufigsten Bedrohungsszenarien, denen sich die Menschen ausgesetzt sahen. Wobei ja leider – damals wie heute – ein Großereignis oftmals eine Ver- 5 DI 26, Nr. 162 (heute museal verwahrt; Originaltext Latein). 6 Dazu auch Rügge 2015. 7 Dazu auch Keiter 2012. 8 DI 61, Nr. 345 (Originaltext Latein).
32 Gertrude Mras kettung von gravierenden Folgeerscheinungen auslöst und sich so zu einer menschlichen Katastrophe gewaltigen Ausmaßes auswachsen kann. Verschiedenen ‚Katastrophenauslösern‘ folgend sollen hier nun zunächst anhand von größeren Beispielgruppen9 spezifische Ausprägungen von ‚Historischen Nachrichten‘ vor- gestellt und im größeren Kontext analysiert werden. 2.1 Wetterextreme und ihre Folgen 1: Wasserfluten und Stürme Die häufigsten inschriftlichen Zeugnisse von den so zahlreichen Hochwasser-Ereignissen sind die schlichten Hochwassermarken, also Strichmarkierungen, die die Wasserhöhen samt Datierung anzeigen und sich oftmals an Brückenpfeilern und ufernahen Hausmauern über- einander staffeln. Aussagekräftigere Zeugnisse der Wassernot, auch in Hinblick auf die ver- ursachten Schäden, sind aber aufwändiger gestaltete inschriftliche Zeugnisse. Die im Juli 1342 durch tagelang andauernden Starkregen hervorgerufenen extremen Überschwemmungen in weiten Teilen Mittel- und Norddeutschlands gelten auch heute noch als Jahrtausendhochwasser bzw. sogar als ‚hydrologischer GAU‘.10 Die katastrophalen Auswirkungen der Wassermassen an Rhein, Main, Weser und Elbe und ihren Einzugsgebie- ten sowie die darauffolgende Hungersnot aufgrund totaler Erntevernichtung sind in zahlrei- chen archivalischen Quellen belegt. Dazu kommen aber auch einige sehr eindrucksvolle, in ihren Aussagen zudem ergänzende inschriftliche Belege. ◦ In Hann Münden, am Zusammenfluss von Werra und Fulda, ist an einem Chorstrebe- pfeiler der St.-Blasius-Kirche eine Erinnerungstafel in einer sehr frühen Gotischen Minus- kel eingemauert: Im Jahr des Herrn 1342 am 9. Tag vor den Kalenden des August [24. Juli] gab es eine Überschwemmung durch Weser und Fulda, und der hohe Wasserspiegel berührte die Basis dieses viereckigen Steins. Heute gemessen sind das 2,10 m (!) über dem Boden.11 ◦ Einen weiteren Hinweis auf dieses Hochwasserereignis gibt in der St.-Albani-Kirche zu Göttingen eine unterhalb eines Kruzifixus angebrachte, feinziseliert gearbeitete Metall-Tafel mit dem Vermerk: Anno 1342 da ertrank Hermann Goldschmied in der großen Flut am Sankt Margaretentag [20. Juli].12 Das Kreuz ist wohl von dessen Angehörigen gestiftet worden, um das Toten- und Gebetsgedächtnis lebendig zu halten. ◦ In Würzburg berichtet eine engzeilig beschriebene Gedenktafel nicht nur von der Was- serhöhe des Mains bis zu den ersten steinernen Statuen des Doms, den Einsturz von Brücke, Türmen und Mauern, sondern erinnert auch, … in diesem Jahr gab es eine ähnliche Über- 9 Ausgewählt aus der Beispielsammlung der DI, mitunter durch weitere Beispiele ergänzt. 10 Siehe dazu Glaser 2001, S. 200–201; Pfister/Wanner 2021, S. 193–194. 11 DI 66, Nr. 9 und Abb. 8 (Originaltext Latein). 12 DI 19, Nr. 5 (Originaltext niederdeutsch); Abbildung in Fuchs 2012, Tafel 13, Abb. 17.
Vom Zeugniswert historischer Nachrichten in epigraphischer Form 33 schwemmung in ganz Deutschland und in anderen Gebieten.13 – Eine weitere Tafel, die an der Treppe zur (1644 abgebrochenen) Westvorhalle des Würzburger Doms angebracht war, schildert weitere dramatische Details: Im Jahre 1342 geschah es zu Würzburg, dass der Main gewaltsam die Brücke zerbrach und viele Menschen zwang, ihre Häuser zu verlassen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollten. Am Fest der Praxedis [21. Juli] gedenke dieser Überflutung, als an diesen Stufen die Schiffe anlegten.14 Die im Original lateinisch abgefassten Verse folgen der spezifischen Formulierung von Merkversen, mit denen vor allem die mündliche Erin- nerung an besondere (Katastrophen-)Ereignisse sowie deren Gedenktage tradiert wurden. Im Kommentarteil zu dieser Inschrift werden noch weitere Merkverse an dieses Hochwas- ser für Straßburg, Bamberg, Erfurt und Minden angeführt; als Gedenktage werden neben Praxedis auch Maria Magdalena (22. Juli) und Jakobi (25. Juli) genannt. Die Tagesangaben zum Gedenken an diese Flutkatastrophe erstrecken sich also vom 20. bis zum 25. Juli: Das rührt daher, dass die gewaltige Scheitelhöhe der Flutwellen tagelang sehr hoch blieb und es dauerte, bis der Wasserstand allmählich zu sinken begann. Magdalena hat diesem Jahrtausendereignis schließlich den Namen gegeben: Magdalenenflut 1342.15 Was das Katastrophenhochwasser im Juli 1342 für den mittel- und norddeutschen Raum be- deutete, war dasjenige im August 1501 für den oberen Donauraum und seine alpinen Zu- bringerflüsse.16 ◦ Besonders arg traf es die Stadt Passau am Zusammenfluss von Inn, Donau und Ilz: Insge- samt neun (!) Hochwassermarken und Gedenktafeln an den Häusern der Altstadt erinnern an die große Flut. Auffällig ist dabei eine für die Stadt Passau samt Umland einheitliche Ge- staltung, vor allem im Layout mit einer unter das Schriftfeld gesetzten Markierung durch lateinisches Kreuz und ausgestreckter Hand als ‚Wasserstandsanzeiger‘. Aber auch die Text- formulierung in deutschen Reimversen gibt sich ziemlich einheitlich:17 Was das nit ein grosse klag / An unser frauen schiedung tag / Als sie In himmel ward empfangen / Ist die Güss daher gangen / Als man zalt 1500 und 1 iar / Mügt ir all gelauben fur war, bzw. als Variation der dritten und vierten Zeile: die tunau und der inn / sein pede gangen dahin. ◦ Von ganz anderer Gestaltung ist die an das gleiche Hochwasserereignis erinnernde (heu- te leider disloziert angebrachte) Tafel donauabwärts in Linz.18 Auffällig ist dabei die sorgfäl- tig gewählte unterschiedliche Verwendung von Sprache und Schrift. Die oberen sechs Zeilen sind eine Ereignisinformation in deutschen Reimversen: Hiermit disen stain beczaichent stat 13 DI 27, Nr. 61 und Abb. 34 (Originaltext Latein). 14 DI 27, Nr. 62†. 15 Bauch 2014. 16 Rohr 2007, S. 235–241. 17 DI 67, Nr. 296–304, Abb. 89–91; DI 101, Nr. 169; zitiert nach Nr. 297 und 298. 18 Rohr 2007, S. 388–389 (mit Abb.).
34 Gertrude Mras / wie hoch die Thunau geraichet hat / Das ist beschehen im Monat Augusti / bey Regirung Ro- mischen Kunig Maximiliani / Da von Cristi gepurde erganngen war / Tausennt Funfhundert und ain Jar. Sie sind gehauen in einer Gotischen Minuskel, deren gezierte Versalien, einer Buchschrift ähnlich, hervorstechen. Darunter fügen sich zwei lateinische elegische Disti- chen an, deren sprachliche Gestaltung humanistische Kenntnisse verrät: Schau her, ich bin das Zeichen, wie groß die Masse der Wellen war, dessen Zeuge ein im Sumpf lebender Vogel war, der sehr traurig auf den Dächern in jener Zeit saß, als sich die beklagenswerte Flut ereignete. (In der rechten oberen Ecke der Tafel ist tatsächlich die Figur eines Wasservogels in den Stein eingeritzt.) Als Autor wird der Humanist Conrad Celtis vermutet. Dem entspricht eine an- spruchsvolle Schriftgestaltung in einer sehr frühen, im Duktus zwar noch etwas unausgegli- chenen, aber um Ausgewogenheit bemühten Renaissance-Kapitalis. Dergestalt wird der landesherrliche Repräsentationsanspruch dieses Hochwasser-Denkmals deutlich. Abb. 2 Gedenktafel an den Eisstoß von 1573 am Steinertor in Krems an der Donau (Niederösterreich) Erinnerungen an die zerstörende Kraft des Wassers finden sich auch häufig im Kontext von Bau-, genauer gesagt von Wiederherstellungs-Inschriften an Stadtmauern, Mühlen und vor allem an Brücken, wobei der Schilderung des Baugeschehens stets diejenige des Schaden- sereignisses als dessen Ursache vorangestellt ist. Auffallend ist z.B. die Häufung inschrift- licher Dokumentationen von zerstörten Brücken durch Eisstoß und nachstürzende Was-
Vom Zeugniswert historischer Nachrichten in epigraphischer Form 35 sermassen in den extrem kalten und schneereichen Wintern des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts in weiten Teilen Mitteleuropas.19 ◦ Ein anschauliches Beispiel bietet die Gedenktafel an der Brücke am Zusammenfluss von Enz und Nagold in Pforzheim: Anno M D LXXIII. Das Eys und gros Wasser Gussen / die Bruck mit Gwalt zu Stuckn rissen. / Darumb ein Rat zu Nuz der Gmeind / den Pfeiler sezt von starkem Stein. / Der Landsfurst Marggraf Carolus / den ersten Stein legt selbst in Flus.20 ◦ Die Kälte dieses Winters 1573 muss weite Teile Europas fest im Griff gehabt haben. Denn viel weiter im Osten, in Krems an der Donau, berichtet die am Steinertor angebrachte In- schrifttafel ganz nüchtern ebenfalls von schweren Eisstoß-Schäden (Abb. 2). Der Wasserhö- hen-Markierungsstrich, auf den die Inschrift hinweist, ist heute leider nicht mehr vorhan- den; nach einem unbelegten Hinweis soll es die Eisschollen über die Stadtmauer – die auch als Wasserschutz diente – geschoben und diese arg beschädigt haben. ◦ Ein gefährliches Eisstoß-Hochwasser von 1595 an der oberen Donau belegt die Inschrift in Vilshofen oberhalb von Passau: Adi den 11. Marti 1595 Jar ist ein Eysgis gewesen welche als hoch gangen wie dise hand und Creytz hieunden gezaichnet anweist. Gott sey ferner dafier.21 Die Gestaltung dieser Tafel nimmt – wie auch eine weitere am Rathaus der Stadt Passau selbst22 – in Gedenken an das extreme Sommer-Hochwasser von 1501 die damals kreierte Form mit Kreuz und weisender Hand wieder auf und führt so die Tradition einer regionalen Erinnerungskultur weiter. ◦ Schließlich bezeugt die von Rollwerk gerahmte Steintafel an der Kocherbrücke in Ingel- fingen die Bauschäden eines extrem strengen Winters nicht nur vor Ort, sondern sogar in der weiteren Umgebung:23 Als man zalt Sechzehn Hundert acht / Grosz eisz ein hartter Wintter bracht. / Vil brucken zrisz und macht das man / Hatt disen Bau gefangen an. / Und in Fünff Monden gar vollendt / Als damals hat das Regiment …, worauf die folgenden Verszeilen der Stadtregierung und allen weiteren Bauverantwortlichen gewidmet sind. Ein anderes zerstörerisches Gefahrenpotential stellen die gewaltigen Stürme dar. Auf dem Festland sind es vor allem Wälder sowie auch exponierte Gebäudekomplexe, die große Sturmschäden erleiden können; aber auch Menschen kommen dabei immer wieder zu Tode. In den DI finden sich mehrere inschriftliche Zeugnisse, die sich interessanterweise räumlich auf den Rand des Mittelgebirges hinaus in die norddeutsche Ebene und zeitlich 19 In den Jahrzehnten 1570 bis 1620 erreichte die ‚Kleine Eiszeit‘ mit all ihren Folgeerscheinungen ihren ersten Höhepunkt: Siehe dazu Glaser 2001, S. 176–180; Pfister/Wanner 2021, S. 208–222 (Kap. 8.4. Die zwei Gesichter des 16. Jahrhunderts). 20 DI 57, Nr. 178 und Abb. 121. 21 DI 101, Nr. 308. 22 DI 67, Nr. 705 und Abb. 192. 23 DI 73, Nr. 610 und Abb. 346.
36 Gertrude Mras auf das 16. und frühe 17. Jahrhundert konzentrieren. Das mag dem Überlieferungs-Zufall geschuldet sein, ist vielleicht aber auch ein inschriftliches Indiz für das verstärkte Auftreten von Stürmen und Orkanen in dieser Periode.24 ◦ In der eingangs vorgestellten Inschrift mit den chronikalen Nachrichten von Osna- brück (siehe S. 31) gibt es zwei ‚Sturmmeldungen‘: Zum einen als positive Wahrnehmung, nämlich der Hinweis auf große Wald-Sturmschäden, denn nach dem Stadtbrand von 1530 heißt es: Gott sorgte auf wunderbare Weise für Holz zu ihrer [der Häuser] Wiederherstellung, indem in der Nachbarschaft eine außerordentlich große Anzahl von Bäumen durch die Ge- walt der Winde umgeworfen und überdies noch hierher zum Verkauf gebracht wurden. Zum anderen aber die negativ-bedrohliche Wahrnehmung im Jahr 1612 als unnatürlich schreck- liche Stürme und damit als Vorboten für weiteres Unglück. ◦ Drei in Kirchturmknäufen aufbewahrte Kupfertäfelchen berichteten von der Tatsache, dass ein extremer Sturm die jeweilige Turmspitze zum Absturz brachte, was dann eine teure Reparatur zur Folge hatte, nämlich am 10. Februar 1563 in Hildesheim, am 24. Jänner 1574 in Lüneburg und in den Jahren 1612 (sowie dann 1771) in Halberstadt.25 ◦ Welche Katastrophe ein sommerlicher Gewittersturm auslösen kann, davon zeugt eine auf Holz gemalte Gedenktafel in der Kirche St. Ulrich und Afra zu Augsburg (Abb. 3): Denn am Peter- und Paulstag 1474, … als kayser fridrich hie zu Augspurg was starben in dem fal der kirchen der Pfarrer, dessen Helfer und 30 Personen, die da ferfiellen unter den Trümmern des im Bau befindlichen und vom Sturm zum Einsturz gebrachten Gewölbes. Leider ist die da- runter angefügte bildliche Darstellung des Unglücks nicht mehr deutlich erkennbar. (Die barocke Rahmung der Tafel stammt wohl von einer späteren Restaurierung.) ◦ Besonders gefährlich und gefürchtet waren die orkanartigen Stürme über offener See, die mit ihrem Zerstörungspotential für die küstennahen Landstriche bzw. für die Seefahrt eine omnipräsente Bedrohung darstellten. Sehr eindringlich veranschaulicht dies ein großes Tafelbild in der Lübecker Marienkirche, auf dem der Schiffbruch des Bergenfahrers Hans Ben am Freitag vor Allerheiligen 1489 dargestellt ist; es wurde wohl als Epitaph für die dabei Ertrunkenen geschaffen.26 Es zeigt den Dreimaster, der im Sturm an den Klippen gestrandet, zerbrochen und bereits mit Wasser vollgelaufen ist; im wogenden Meer treiben im Bildhin- tergrund noch einige weitere manövrierunfähige Schiffe, während im Vordergrund die Schiffsmannschaft hilflos in den Fluten ertrinkt. Über dem Schiff schwebt ganz groß der Ge- kreuzigte mit Maria und Johannes als Fürbitter für deren Seelenheil: … xxxiii man de got al genedich si. 24 Glaser 2001, S. 187–188 mit Abb. 62. 25 DI 58, Nr. 398†; DI 100, Nr. 485†; DI 86, Nr. 238†. 26 Abb. in Fouquet/Zeilinger 2011, S. 51.
Vom Zeugniswert historischer Nachrichten in epigraphischer Form 37 Abb. 3 Gedenktafel an die Toten beim Einsturz des Kirchengewölbes von St. Ulrich und Afra in Augsburg, 1474 2.2 Wetterextreme und ihre Folgen 2: Missernten – Teuerungen – Hungersnöte Großräumig wirksame Wetteranomalien – Perioden mit besonders strengen und langen Wintern und späten Frösten, mit andauernd nasskalten oder aber heißtrockenen Som- mern, mit häufigen Gewittern und Hagelschlag – führten stets zur Vernichtung der Ernte. Auch Schädlinge (Mäuse-, Heuschrecken-, Käfer- und Raupenfraß) verursachten in man- chen Jahren großen Schaden. Mangels effizienter Vorratsbewirtschaftung bzw. Vorratspo- litik lösten Missernten dann eine Verkettung schwerer Krisen aus: Hungersnot für Mensch und Vieh, extreme Teuerung und Verarmung sowie körperliche Schwächung großer Teile der Bevölkerung, Ausbruch von Seuchen, hohe Sterblichkeit.27 Diese schweren Notzeiten finden auch in Inschriften ihren Niederschlag. Auffallend ist, dass sehr viele dieser Nachrichten sich im Kontext von Bauinschriften finden, und zwar in Form von Brotgetreide-Preisangaben – die Menschen waren offensichtlich bestrebt, das 27 Pfister/Wanner 2021, S. 304–318 (Kap. 9.7. Schwere Hungersnöte und ihre Überwindung).
38 Gertrude Mras jeweilige Baugeschehen in dem für sie aktuell-bedenkenswerten Zeitgeschehen und damit auch mit ihren Lebenskosten fester zu verankern. ◦ Ganz deutlich dokumentiert dies die Bauinschrift von der alten Pfarrkirche Willich am Niederrhein:28 Im Jahr der Menschwerdung des Herrn 1146 wurde diese Kirche unbeachtet der großen Teuerung von den Pfarrgenossen gebaut, obwohl in demselben Jahr der Kölner Scheffel für dreizehn Solidi verkauft wurde. ◦ Ebenso ist die Inschrifttafel an der Katharinenkirche in Oppenheim ein frühes Beispiel dieser Art.29 Auf zwei getrennten Schriftfeldern teilt der Text mit: Do daz Brot vir Haller galt do wart dize Capelle // ane gehaben Anno Domini MCCCXVII. Diese Preisangabe allein spricht noch nicht von Teuerung und Not; erst der sehr kleine Laib Brot mit dem Buchsta- ben P für Panis, der dazwischen aus dem Stein gehauen ist, lässt die Symbolkraft des Denk- mals deutlich werden, das bis heute unter dem Namen ‚Hungerbrotstein‘ bekannt ist. Das Ausmaß der riesigen Hungersnot der Jahre 1315–1317 in West- und Mitteleuropa, verursacht durch totale Ernteausfälle aufgrund von drei aufeinander folgenden extrem kalten und nie- derschlagsreichen Vegetationsperioden mit Überschwemmungen30, die dadurch bedingte existenzbedrohende Brotpreisverteuerung und die erschreckend zahlreichen Hungertoten sind quellenmäßig sehr dicht belegt.31 ◦ Eine besondere Symbolkraft geht auch von der überlebensgroßen Christophorusfigur aus, die im Jahre 1491 – wiederum ein Hunger- und Seuchenjahr nach einer Serie von extrem nasskalten Sommern32 – an die Innenwand des Augsburger Doms gemalt wurde (Abb. 4): In dessen Mantelsaum findet sich in Kapitalisbuchstaben eingeschrieben: St. Crist(ophen) ward gemalt in den 1491. Iar und das Schaf Korn galt 4 Gulden. Gemäß der Verheißung der in einer Kartusche darunter angefügten Inschrift, nämlich Die in [Christophorus] da mit andacht an- sechen / Den sol des tags nit laidt beschechen, sollten wohl die Augsburger auch vor Hungers- not und -tod bewahrt werden. Ab dem 2. Drittel des 16. Jahrhunderts häufen sich die inschriftlichen Nachrichten von Teu- erungen infolge von Missernten signifikant, was zum einen der dichteren Überlieferung zu- zuschreiben ist, zum anderen aber sicher auch den Auswirkungen einer besonders kalt-nas- sen Phase der ‚kleinen Eiszeit‘. Zudem werden die Inschriftentexte wesentlich wortreicher und informativer. 28 Funken 1981, Nr. 18, S. 118–121 (Originaltext Latein). 29 DI 23, Nr. 7 und Abb. 2; Fuchs 2012, S. 98–99. 30 Glaser 2001, S. 64–65 bzw. S. 88. 31 Cruschmann 1900, S. 215–217; Pfister/Wanner 2021, S. 307–310. 32 Glaser 2001, S. 71. – Die enggedrängte Abfolge von Hunger-, Teuerungs- und Seuchenjahren in Augs- burg im vorangegangenen Zeitraum 1417–1467 belegt eine nach zeitgenössischer Quelle erstellte Auf- stellung in Fouquet/Zeilinger 2011, S. 14–19.
Vom Zeugniswert historischer Nachrichten in epigraphischer Form 39 Abb. 4 Mantelsauminschrift des Hl. Christophorus im Dom zu Augsburg, 1491 ◦ Sehr eindringlich schildert dies die steinerne Gedenktafel von 1571 in der Eingangshalle zu einem Stadttor von Karlsruhe:33 Ain unerhörte Theuerungsnoth / schickt uns zur Straf der liebe Got / als man zalt einundsibenzik Iar / und damals bauwet dieses Thor / mit siben Gulden zalt man gern / das Malter Waitzen und den Kern / Rocken und Erbsen kauft man gleich / umb die sechs Guldin arm und reich / die Gerst galt vier der Habern drey / und blib der Dinckel nit darbey. / Ailf Batzen umb ein Simerin Saltz / drey Batzen umb ein Pfundlin Schmaltz / ein Win- ter kalt vil dieffer Schnee / das thet der Frucht und Weingart wee / im Herbst der Most vier Gul- din galt / und ward umb drey verkauft der alt / der Frieling war gar schön und warm / ach Gott dich uber uns erbarm / nim hin die Straf gib Gnad und Segen / und las uns ewig bey dir leben. ◦ Vergleicht man die Preisangaben von Karlsruhe mit den nur drei Jahre später bauin- schriftlich genannten im benachbarten Oberdingen34, so kann man eine enorme Preisstei- gerung erkennen, die mit der Feststellung endet … und durchaus aleding des vor nie erhört zum höchsten und theuresten gewesen. Die Folge von Teuerung und Geldmangel war auch, dass sich die Erbauung der Kirche … ins 3 jar verzogen hat. ◦ Aber nicht nur an öffentlichen Bauten, sondern auch in Bauinschriften an Privathäusern wird teurer Zeiten gedacht. An acht Inschriften in der Stadt Wertheim am Zusammenfluss 33 DI 20, Nr. 253. 34 DI 20, Nr. 262.
40 Gertrude Mras von Main und Tauber, deren Bürger vor allem vom Wein- und Getreidehandel lebten, lässt sich diese Teuerungswelle der 1570er Jahre an acht Inschriften ablesen:35 Nimmt man als Ausgangsbasis die Preisangabe von 31 Gulden für das Fuder Wein und 1 Gulden für das Mal- ter Korn im Jahre 1558, so waren es im Jahr 1573 für den Wein 50 Gulden und 5 für das Korn, … unt das sag ich euch fürwar das Mangel am Brot was.36 Der Höhepunkt der Teuerung war in den Jahren 1574/75 mit 60–72 Gulden für Wein und 6–7 Gulden für Brotgetreide erreicht. Erst 1577 sanken die Preise wieder deutlich auf etwa die Hälfte. Im Jahr 1578 vermerkte dann retrospektiv die Bauinschrift zur Ummauerung des Dorfes Dertigen (heute Teil von Wert- heim) ebenfalls eine preisbedingte Bauunterbrechung:37 … durch teurer zeit wegen 3 Iar lang still geliegen dan das Malter Korn tet 7 gl. gelten schon das Fuder wein 72 gl. In dieser Periode klimatisch bedingter Missernten, die Hunger, Teuerung, Krankheiten und soziale Spannungen zur Folge hatten, suchten die Menschen in ihrer Existenzbedrohung nach einer Erklärung für das ihnen Unnatürlich-Unerklärliche: Die Schuldigen fand man in diesem Fall in Frauen, die unter anderem mit dem Teufel im Verbund des Wetterzaubers mächtig sein sollten – was in manchen Teilen Europas eine erschreckende Zunahme von Hexenverfolgungen zur Folge hatte,38 wie eben auch in Osnabrück in den Jahren 1583–1590 (siehe S. 31). Bemerkenswert sind jedoch auch einige Inschriften, die von Vorsorgemaßnahmen gegen Teuerung und Hungersnot sprechen: ◦ So schildert eine (kopial überlieferte) Wandmalerei-Inschrift aus Geislingen an der Stei- ge anschaulich die Geschehnisse nach einer Missernte, nämlich Getreideimport und dessen preissenkende Wirkung:39 In letzten Zeiten Christus spricht / Wird theuerung seyn wie iezund ist / In diesem 1000. 600 und 15. Jar / Da diese Kirch erneuert ward / Die Winter-Frucht fast gar verdarb / Nicht viel in Schwaben und Bayrland war / Doher namm Theuerung überhand / Daß man fieret auß fremdem Land / Das Viertel Kern uf 25 batzen / In kurtzer Zeit thett man es schätzen / Uf acht und Neun batzen runder / Daß war von Gott ein groß wunder / Dafür wir Im zu dancken haben / Mit bit, er pleib bey uns in Gnaden. ◦ Zwei Inschriften zeugen von den vorsorglich-vorausschauenden Baumaßnahmen des Hildesheimer Stadtrates, nämlich zunächst vom Neubau einer Mühle:40 Durch Gottes Hülf ist diese Mühl / Zur Macht erbaut da lang und viel / Im fünfzehnhundert und neunzig Jahr / 35 DI 1, Nr. 35, 41, 44–47, 52, 54. 36 DI 1, Nr. 41. 37 DI 1, Nr. 54. 38 Pfister/Wanner 2021, S. 296–299. 39 DI 41, Nr. 412†. 40 DI 58, Nr. 493†.
Vom Zeugniswert historischer Nachrichten in epigraphischer Form 41 Eine große Dürr und Hitze war. – sowie dann von der Errichtung eines Kornhauses:41 Im sechzehn hundert sechsten Jahr / Da Wein und Korn die Fulle war / Zu gmeinen Best ein ehrbar Rath / Duß Korrenhaus erbauet hat / Zur Erhaltung der Stadt und gemeinem Nutz / Wird allhie eingesammelt Korn und Geschutz. Schlussendlich seien noch die so genannten ‚Roggensteine‘ von Dassel42 angeführt – drei schlichte, in die Kirchhofmauer eingelassene Gedenksteine und beeindruckendes Zeichen von kollektivem Gedächtnis über die Jahrhunderte hinweg: Anno 1500 im 57. Jahr, als diese Tafel gemacht wurde, kostete der Roggen 12 Pfennige für ein Sw… – Anno 1625 [es folgen die Namen von Amtsleuten] kostete Roggen 3 Reichstaler. – Im November 1923 kosteten 100 kg Roggen 26 Billionen Mark. 2.3 Brände und ihre verschiedenen Ursachen Neben der Elementargewalt des Wassers war und ist die des Feuers die stets bewusste Ge- fahr für Hab und Gut, Leib und Leben. Die inständige Bitte um Bewahrung vor Wasser und Feuer findet sich daher oftmals gerade in Bau- und Hausinschriften, so z.B. in Kirchberg an der Murr:43 Der Bau wie da vor augen staht / Bauen Ist Durch gotes gnadt / Got will Das Er langwürg sei / vor Straaln Feurs und wassers noth Frei. Mit der steinernen Inschrift unter dem Brückenbogen der Kocher in Schwäbisch-Hall Wan Got die Menschen will aufwecken kan ers mit Feur und Waser schrecken sollen freilich diese beiden Elementargefahren als ein- dringliche Ermahnung zu gottgefälligem Leben dienen (Abb. 5). Abb. 5 Mahnspruch an der Kocherbrücke in Schwäbisch Hall Die Brandursachen sind vielfältiger Natur. Große Gefahr ging von den offenen Feuerstel- len aus, wobei bei heftigem Wind durch Funkenflug sich sehr rasch ein großflächiger Brand 41 DI 58, Nr. 577†. 42 DI 96, Nr. 119 und Abb. 216, 217 (Originaltext niederdeutsch). 43 DI 37, Nr. 276 und Abb. 96.
42 Gertrude Mras entwickeln konnte. Vom Menschen allein verschuldet waren die zerstörerischen Brände im Zuge von kriegerischen Auseinandersetzungen (dazu siehe unter 2.5). Als Brandauslö- ser äußerst gefürchtet war zudem stets die natürliche Gewalt der Blitze. Vor allem Kirchtürme samt ihren Glocken haben Blitze angezogen. Daher beschwören zahlreiche Glockeninschriften ihre magische Macht, um neben viel anderem Unheil auch die Blitze abzuwenden,44 wie z.B. ein Glockengebet von 1359 (Göttingen, St. Marien):45 Oh ewiger König, verschone das Volk vor Verletzung durch Blitz, Pest und Hungersnot, so oft der Klang von mir ertönt. ◦ Ausführlich schilderte ein solches Blitzschlag-Ereignis die Kupfertafel-Inschrift im Dachreiter der Marienkirche von Stralsund:46 Der Brand suchte durch das Los eines traurigen Geschicks die der Heiligen Maria geweihte Kirche am Tag des Märtyrers Laurentius [10. August 1647] heim, als nach der vierten Nachmittagsstunde ein Blitz diesen Brand an der Spitze des großen Turms legte, dorthin, wo Menschenhand zum Löschen nicht hinlangen konnte. Dadurch entstand aus den Funken nach der fünften Nachmittagsstunde ein Feuer… [darauf folgt eine Aufzählung all dessen, was an Brennbarem zerstört wurde], so dass bei Sonnenauf- gang nichts von dieser Zierde der Stadt übrig war außer einem Haufen von Steinen, wobei je- doch durch die einzigartige Gnade Gottes die benachbarten Gebäude wunderbarerweise unbe- schädigt blieben. ◦ Noch viel dramatischer war wohl das von Blitzschlag ausgelöste Brandereignis am 25. März 1406 in Lüneburg:47 Als der Herr 1000, dazu 6 und 400 Jahre geboren war, verbrannte durch die Gewalt eines heftigen Feuers nach so vielen Jahren der Turm von St. Johannis am Fest der Jungfrau, als sie das „Ave“ Gabriels entgegennahm. … Es war ein Blitz aus dem Himmel, der diese große Gefahr verursachte. Es ging ganz schnell, es war eine schreckliche Nacht, und man hörte da keine fröhliche Stimme. Viele lagen dahingestreckt, vom Blitz getroffen, manche wurden gerettet und blieben am Leben, freilich ohne Lebensunterhalt. Wenn du weitere Strafen vermeiden willst, bemühe dich, deinen Lebenswandel von den Geschossen des Teufels abzu- wenden. Diese (kopial überlieferten) lateinischen Verse sind zudem das einzige schriftliche Zeugnis dieses Unglücks! ◦ Wiederaufbau-Inschriften von durch Blitz beschädigten Kirchtürmen finden sich mehr- fach, und in allen ist die Nachricht vom Brandgeschehen als Ursache des Baugeschehens vorangestellt. So wurde an einem Eckquader des Kirchturms von Gechingen folgende in- schriftliche Nachricht hinterlassen: Im Jahr 1561 im Monat April wurde dieser Turm durch 44 Mras 2012, S. 246–248. – Neustadt 2019. 45 DI 19, Nr. 7 (Originaltext Latein). 46 DI 102, Nr. 405† (Originaltext Latein). 47 DI 100, Nr. 34† (Originaltext Latein).
Vom Zeugniswert historischer Nachrichten in epigraphischer Form 43 einen Blitz, der an ihm herunterfuhr, bis unten aufgerissen; und danach im Jahr 1568 begann man ihn wieder aufzubauen; im selben Jahr wurde man damit fertig.48 ◦ In ähnlicher Weise schildern manchmal auch Glockeninschriften derartige Brandereig- nisse: Als man zalt 1625 Jahr / schickt Got sein Zeichen so wunderbar / Dages vor Dreikonigen Dag / schlieg das Wetter in Turn zu Eberspach / de Torn verbrant die Glogen darunder gefelt / durch Gottes Lob Ehr und Preis gos mich wider Nicolaus Martinus.49 Inschriftliche Belege von durch Blitzschlag und Brand zerstörten und dann wiederhergestellten Ausstattungsstücken gibt es sogar von einer Orgel50 und einem Kirchenfenster.51 ◦ Eine ganz anders gestaltete ‚Brand-Nachricht‘ vermittelt das um 1624 an einen Wand- pfeiler der ehemaligen Stiftskirche von Polling gemalte hochovale Votivbild, das die Ansicht eines Dorfes mit brennender Kirche zeigt.52 Der Text in deutschen Reimversen bekundet das Gelöbnis der Gemeinde Uffing einer jährlichen Wallfahrt aus Dankbarkeit dafür, dass im Jahr 1605 der durch Blitzschlag in den Kirchturm verursachte Brand sich zunächst zwar durch Wind über das Dorf verbreitete, durch den einsetzenden Starkregen aber rasch ge- löscht wurde. Bei vielen inschriftlichen Nachrichten von Brandereignissen wird jedoch die Brand-Ursa- che gar nicht genannt – wie dies auch in den eingangs angeführten Beispielen von Pöllau und Osnabrück der Fall ist. Das gleiche gilt für Stadtbrand-Nachrichten, die sich im Zusammen- hang mit Wiederaufbau-Inschriften finden, wie die Gedenktafel am Westertor von Duder- stadt:53 Im Jahr des Herrn 1424 am Tag nach Palmsonntag und am Tag vor Valerian verbrannte Duderstadt vom Oberen Tor bis zu diesem Tor. Am Mittwoch nach Pfingsten wurde dieses Tor zu bauen begonnen. Auch in dem (im Kommentarteil dazu angeführten) „Ausführlichen Tractatus der Stadt Duderstadt“ erfährt man nichts über die Brandursache – wohl aber vom Wind als Brandbeschleuniger und dem wahren Ausmaß der Katastrophe mit vielen Toten. Interessant sind auch einige inschriftlich tradierte Maßnahmen, die zur aktuellen bzw. zu- künftigen Brand-Schadensbegrenzung ergriffen wurden. So schilderte in der Passauer Hei- lig-Geist-Spitalskirche eine lange, neben der Kanzel an die Wand gemalte Reim-Inschrift den großen Brand vom Karfreitag 1512, dem im Neumarkt fast alle Häuser sowie die Kirche zum Opfer gefallen waren, um dann recht drastisch zu einer Wiederaufbausteuer aufzu- 48 DI 30, Nr. 250 mit Abb. 63. Siehe auch DI 86, Nr. 23†. 49 DI 41, Nr. 453 und Abb. 188. 50 DI 36, Nr. 133†. 51 DI 69, Nr. 288. 52 DI 84, Nr. 286/1 (Abb. nur in DIO). 53 DI 66, Nr. 36 und Abb. 25 und 26 (Originaltext Latein).
44 Gertrude Mras rufen:54 Ein jeder Mensch, der doch ein Christ, / und eines redlichen Gemueths ist, / drumb gebt zum Bau iezt Hülf, und Steuer, / das Gott euch frey von Höllens-Feuer. ◦ In Wiener Neustadt war ein Stadtbrand der unmittelbare Anlass zur Errichtung eines Brunnens:55 Disen prun hat Hanns Schrauthamer Burger und Handlsman allhie, zu seinem Haus geherig, aus seinem eignen unkosten erbauen lassen, den die erschröckliche Brunst anno 1608 hat ime darzue bewegt, da die halbe Stadt und die Kaiserliche Purk abgebrunen ist. ◦ In Halle an der Saale wurde im Jahr 1569 vom Stadtrat eiligst der Guss einer neuen ‚Sturm- und Brandglocke‘ veranlasst, nachdem die alte bei einem Feuerläuten gesprungen war, mit der eindringlichen Ermahnungs-Inschrift zur solidarischen Feuer-Wehr:56 Und wen man auff mich dhud kloben so denck ein ider dar bei der zu dem Feuer vor ordent sei das er nicht der letze ist. 2.4 Das Große Sterben: Die Pest (und andere Seuchen) Im Dom zu Worms wurde um das Jahr 1200 einer monumentalen Christophorus-Darstel- lung folgende Inschrift beigegeben:57 Durch dich wird ein gutes Zeichen gegeben, jede Art von Krankheit wird vertrieben, auch Unwetter, Hungersnot und Seuche, o Christophorus, du Zeuge Christi. Hier wird Leid und Tod durch Krankheit zweifach angesprochen, einmal als morbi genus omne und dann als pestis – in der allgemeinen Wortbedeutung als seuchenartig auftretende Infektionskrankheit. Erst im Zuge der großen Pestpandemie, die in den Jahren 1347–1352 aufgrund ihres enorm raschen Krankheitsverlaufs und der extrem hohen Sterb- lichkeitsrate ganz Europa in Angst und Schrecken versetzte und – mit regionalen Unterschie- den – schätzungsweise ein Viertel, manchenorts mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung hinwegraffte, wurde pestis zur spezifischen Kennzeichnung der Beulen- und Lungenpest. Deren reale wie mentale Folgeerscheinungen waren nachhaltig katastrophal.58 Vier inschriftliche Gedenktafeln aus dieser Zeit lassen sehr eindringlich die unterschiedli- chen Reaktionen der Menschen auf dieses unerklärliche ‚Große Sterben‘ erkennen. ◦ Da ist zunächst die heute an der Stadtkirchenmauer von Bad Hersfeld angebrachte Ta- fel, die in vier feierlichen Hexameterzeilen berichtet:59 Im Jahre 1000, dreimal 100, einmal 50 und sechs. Aufgrund der schwellenden Pest, die damals offenbar in voller Kraft stand, starben durch die göttliche Gewalt 3000, die hier beerdigt worden sind. Sie mögen in heiligem Frieden 54 DI 67, Nr. 356†. 55 DI 48, Nr. 241†. 56 DI 85, Nr. 195. 57 DI 29, Nr. 30 und Abb. 11a–c (Originaltext Latein). 58 Fouquet/Zeilinger 2011, S. 103–125; Cemper-Kiesslich 2018, S. 86–98. 59 DI 91, Nr. 34 und Abb. 24 (Originaltext Latein).
Vom Zeugniswert historischer Nachrichten in epigraphischer Form 45 ruhen. Es scheint, als ob man im Jahr 1356 im Nachhinein, erst als man das wahre Ausmaß der Katastrophe voll erfassen konnte, den Pestopfern – zunächst rasch beerdigt in einem Massengrab zum Höhepunkt der Infektionswelle? – ein würdiges Erinnerungsmal setzen wollte. Da die Tafel disloziert angebracht ist, kennt man deren wahren Begräbnisort nicht. Die Zahlenangabe von (hier) 3.000 Pesttoten ist nicht real, aber auch nicht bloß fiktiv. Die zumeist in runden Hundertern bzw. Tausendern bezifferten Pesttoten signalisieren viel- mehr, dass es unvorstellbar viele, unzählige waren – sie waren ja auch gar nicht zählbar.60 ◦ Die Messingtafel in der Marktkirche von Hannover war eine in Material, Text (leoni- nische Hexameter) und Schrift (sehr frühe Gotische Minuskel) besonders gestaltete Erin- nerung an das bedeutsame Jahr 1350:61 Den Ursprung des Turmes bezeichnen die Zahlen 350 und 1000. Im gleichen Jahr gab es den römischen Ablaß und die drei Tage dauernde Pest.62 Die Tatsache, daß diese Stadt in sechs Monaten 3000 Tote beklagte, wurde dann zum Anlaß, daß sie die Juden quälte. ◦ Nicht von der Pest selbst, wohl aber von den verhängnisvollen psycho-traumatisch be- dingten Reaktionen der Überlebenden – nämlich der Suche nach Schuldigen und Sünden- böcken einerseits, den fanatischen Büßerzügen andererseits – kündet eine an einem Strebe- pfeiler der Marienkirche zu Weißenburg gut sichtbar angebrachte Steintafel: Im Jahre des Herrn 1350, das ist das Jubeljahr, sind die Geißler dagewesen und sind die Juden verbrannt worden.63 Wie sehr müssen diese Ereignisse die Bevölkerung verstört haben, dass sie die Erinnerung daran auf einer eigens dafür gestalteten Tafel im öffentlichen Kirchenraum festhielten? ◦ Eine Inschrifttafel im Lübecker Franziskanerkloster64 macht dann noch eine weitere Fol- gewirkung der Pest deutlich: 1000 mit 50 und dreimal 100 waren als Jahre seit Dir, Christus, vergangen, da vernichtete eine Epidemie mehr als die Hälfte dieser Erde. Füge dreimal 1 hinzu, da kam das Kloster wieder zu neuer Stärke, auch die am Boden liegende Bibliothek entstand auf diese Weise wieder. Durch die, welche die Krankheit niedermetzelte, hat Gott dieses Kloster wie- deraufgebaut. Von den dahingegangenen ausgehauchten Körpern sei Gutes. Die zahlreichen Toten hinterließen – nicht nur in Lübeck! – reiche Erbschaften, und die verängstigten Erben versuchten ihr schlechtes Gewissen mit kostbaren Stiftungen zu beruhigen. 60 Zudem geht aus den Texten nie klar hervor, ob sich die Zahl der Toten auf die jeweilige Stadt allein oder auch auf ihr Umland bezieht. 61 DI 36, Nr. 6†. 62 Gemeint ist, dass es sich – dem Krankheitsverlauf der Pest entsprechend – innerhalb von nur drei Tagen erwies, ob die Infizierten starben oder mit dem Leben davonkamen. 63 DI 62, Nr. 45 (Originaltext Latein). 64 Zitiert in Fouquet/Zeilinger 2011, S. 120.
46 Gertrude Mras Jahrhundertelang wussten sich die Menschen hilflos der Pest und anderer epidemischer Infektionskrankheiten wie Pocken und Masern ausgeliefert, die in unterschiedlich inten- siven Wellen immer wiederkehrten. Dies belegen schon die beiden eingangs angeführten Inschriften-Beispiele von Pöllau (hunderte Pesttote 1585 und 1599) und Osnabrück (6.000 Pesttote 1599). ◦ Hinweise auf epidemische Krisenzeiten findet man fallweise im Rahmen von ausführli- cheren frühneuzeitlichen Grabinschriften, und zwar als Nennung der Pest (oder einer an- deren Seuche) als persönliche Todesursache oder aber auch als generellen Hinweis zum Zeitgeschehen in diese eingefügt, wie z.B. im großen Sterben der Pestilenz hier überall, in der Regierung der Pestilenz, zur Zeit der Pest die die Menschen verzehrte u.Ä.m. ◦ Ihren Niederschlag finden diese epidemischen Krisenzeiten mehrfach in Inschriften zur Erinnerung an die Errichtung neuer Friedhöfe außerhalb der Stadtmauern. Sehr genau beschreibt das z.B. eine Tafel an der Gottesackerkapelle zu Crailsheim:65 Nach Christi unsers Herrn geburt / Fünffzehn Hundert gezehlet wurdt / Darzu auch fünff undt vierzig Jahr / Ein Sterben hie zu Crailsheim war. / Mehr ungemachs zu verhütten ferr / Haben aus Christlichen Eyfer / Die Amptleut, undt Ein Erbar Raht / Beschlossen, ausserhalb der Statt / Ein Gotts acker an disen Ortt / zu machen, damit es gieng fort. (Darauf folgt eine sehr lange Danksagung an alle namentlich genannten Spender, die zum Bau der Friedhofskirche beitrugen.) ◦ In Bretten gedachte im Jahr 1565 eine Inschrift am Eingangstor zum neuerrichteten Fried- hof der Pesttoten:66 … erbauen ward zu einer Begrebnus disser Garten aus Ursache eines Ster- bend so Got uns zugefüget wie 600 Perschonen damals verschiden. Denselbigen auch uns allen nach dissem Leben woell Got der allmechtig ein froelich Urstendnus geben Amen. ◦ In Freudenberg wiederum heißt es an einer Steintafel über dem Friedhofstor:67 Im Jahr 1611 raffte vom Fest des Heiligen Michael bis wieder zu diesem Fest die Pest in Freudenberg über 500 Menschen hinweg. Deshalb wurde 1613 der Friedhof erweitert. ◦ Interessant in diesem Zusammenhang ist auch das von Pastor Matthäus Fischer in Halle an der Saale errichtete Epitaph68, wo er – als unmittelbar betroffener Vater – den für diese Zeit in Halle einzig existierenden Pestbericht gibt: … welchen in 1575. Jahre zwischen Crucis und Michael 4. Söhne und 2. Töchter in Gott entschlaffen, als hier zu Halle und bey den Vorstäd- ten, Neumarck und Glaucha, in dreyjährigen Sterben des 75. 76. 77. Jahres 3822 Menschen ver- schieden, liegen hie auff den Kirchhoffe im schwartzen Gitter begraben… – womit wohl ein ab- gesonderter Friedhofsbereich für die Pesttoten gemeint sein mag. 65 DI 93, Nr. 283 und Abb. 243. 66 DI 20, Nr. 230†. 67 DI 1, Nr. 89 (Originaltext Latein). 68 DI 85, Nr. 215†.
Vom Zeugniswert historischer Nachrichten in epigraphischer Form 47 ◦ Es gibt ganz schlichte und ebenso auch aufwendig gestaltete Erinnerungsmale an die Pesttoten von Pfarrgemeinden. Über dem Eingang der Dorfkirche von Dransfeld erinnerte eine bescheidene Steintafel:69 An- no domini 1566 do was ein grot sterve do stor- ven hir in de verhundert Minsken. ◦ In der oberösterreichischen Gemeinde Hartkirchen hingegen ließ der Pfarrer Jo- hannes Hertting den zahlreichen Pestopfern der Jahre 1521/22 einen ca. 2 m hohen Ge- denkstein, ein rotmarmornes Epitaph, er- richten (Abb. 6), der ursprünglich im Kir- cheninneren aufgestellt war und sich heute an der Friedhofsmauer befindet.70 Unter- halb des Reliefs einer Kreuzigungsszene, in die kniend der Stifter eingefügt ist, erinnert die deutschsprachige Inschrift an die 1.008 Pestopfer der Pfarre sowie an deren Begräb- nisort außerhalb des Pfarrfriedhofs. Darun- ter fügt sich dann aber, nun in lateinischer Sprache, der Sterbevermerk des Pfarrers selbst vom 17. März 1527 an: Nur das Todes- datum mit den unmotivierten Spatien ver- rät, dass dieser das gesamte Denkmal, den Abb. 6 Sogenannter ‚Pestgedenkstein von Pestopfern zu Ehren, noch zu seinen Lebzei- Hartkirchen‘ (Oberösterreich) ten in Auftrag gegeben hatte. Verständlicherweise findet auch der Schrecken der Pest in manchen Bauinschriften Erwäh- nung als besonderer ‚Zeitanker‘: So erhielt die im Jahr 1577 an der Martinikirche zu Hal- berstadt neu aus Stein gestaltete Sonnenuhr71 den Zusatz Während wir danach getrachtet haben, diese Kirche auszubessern, erfahren wir die Seuche der Pest. Christus, mögest deine Hilfe senden. 69 DI 66, Nr. 174†. 70 Forster 2001, Nr. 14. 71 DI 86, Nr. 160 mit Abb. 120 (Originaltext Latein).
48 Gertrude Mras ◦ Eine Hausinschrift in Hameln72 drückte im Jahr 1567 die ganze resignative Hilflosigkeit aus: Gott bewar / Fein die Statt im volgenden Jahr / Darneben / Und 16 Monathe sich hat bege- ben / Eine wunderliche Kranckheit zwahr / Fiehl nicht zu curiren war. ◦ Lässt man schließlich die Verse des Pestgedenkens 1575 in der Marienkirche zu Osna- brück73 auf sich wirken: Da starben in dieser Stadt Gemeine / Beide, Reiche und Arme, große und kleine / Siebentausend Menschen an dem Tale / Hundertzwanzig Frauen die alle / Schwan- ger waren, das will man wohl merken …, worauf dann noch die Geistlichen und sogar die To- tengräber folgen, dann klingt das wie ein Widerhall der in Bild und Text weitest verbreiteten ‚Totentänze‘ dieser Zeit. Erwähnt werden sollen auch die – vor allem in den katholisch-habsburgischen Landen weit verbreiteten – Pestsäulen, barocke Dankesmale an die Hl. Dreifaltigkeit, an Maria oder auch an Pestheilige und andere Fürsprecher in der Not für Verschonung vor der Pest bzw. nach Abklingen einer solchen Epidemie. Ein recht frühes Denkmal dieser Art steht im burgen- ländischen Mattersburg74. Die Säule ist bekrönt von einem Gnadenstuhl; alle vier Seiten des Sockels tragen Inschriften: Bibelsprüche, dann die Anrufung: Von Pest, Hunger unnd Dheu- rung erlese uns o aler heiligste Dreyfaltigkeit, sowie die eigentliche Stifterinschrift: Als viel be- nachbarde umliegende Ohrter der allmochtige Gott mit leudiger Seuch der Pestilenz besuchete hat sich eine ersame Gmein des hochloeblichen Markt Mattersdorf einhoellig vereiniget diese Säulen zur Ehre der allerhoechsten Dreifaltigkeit gestellet und ist von der Pest Gott sei Lob und Ehr unberührt erhalten worden. Hoechstes Vertrauen auf die Verheissung. 1614. Wie wichtig der Bevölkerung dieses Erinnerungsmal war, zeigt die Tatsache, dass genau 300 Jahre später der Sockel samt allen Inschriften im Originalwortlaut erneuert wurde. Dem angefügt sei noch ein lebendiges Zeichen kollektiver Erinnerung: Die große Pest- säule am Wiener Graben – gelobt von Kaiser Leopold I. im Jahr 1679 auf seiner Flucht aus dem schwer pestverseuchten Wien und errichtet ab 1683 als ein Stadtbild-prägendes Ba- rockdenkmal – wurde zum ersten Höhepunkt der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 von den Wienerinnen und Wienern in ihrer eigentlichen Bedeutung wieder wahrgenommen und spontan mit einem Kerzen-Lichterkranz umstellt. 2.5 Kriege – von Menschen gemachte Katastrophen Kriege sind keine Elementarereignisse – es sind menschliche Konflikte mit jeweils sehr komplexen machtpolitischen, sozial-wirtschaftlichen, ethnischen, auch religiösen Wur- zeln, die aus unterschiedlichen Beweggründen nicht friedlich, sondern mit Waffengewalt 72 DI 28, Nr. 70†. 73 DI 26, Nr. 126† (Originaltext niederdeutsch). 74 DI 3, Nr. 99†.
Vom Zeugniswert historischer Nachrichten in epigraphischer Form 49 ausgetragen werden. Was sie hinterlassen, sind Tod und Zerstörung.75 Die vielfältigen Do- kumente, Berichte, Analysen und Interpretationen von kriegerischen Auseinandersetzun- gen füllen Archive und Bibliotheken. Entsprechend der besonderen Tragweite solcher Er- eignisse und ihrer Folgen scheint die Gruppe der ‚Kriegs-Nachrichten in epigraphischer Form‘ zahlenmäßig größer zu sein als die anderer ‚Katastrophen-Nachrichten‘. Sie sind we- niger auf das unmittelbare Kriegsgeschehen fokussiert, vielmehr spiegeln sie – in recht viel- fältiger Ausgestaltung – diverse Aspekte der jeweils Kriegs-Betroffenen wider, wie das die folgenden drei Beispielgruppen deutlich machen sollen. Das explosive Spannungsfeld zwischen den selbstbewusst und wirtschaftsmächtig werden- den Städten und den jeweiligen Territorialherren führte im Spätmittelalter und weit hinein bis in die Neuzeit zu häufigen (und vor allem auch für die Zivilbevölkerung äußerst ver- lustreichen) kriegerischen Auseinandersetzungen, die – von Seiten beider Kontrahenten – auch in inschriftlichen Denkmalen ihren Niederschlag fanden. ◦ Ein frühes Beispiel dieser Art ist eine Gedenktafel, die ganz knapp an zwei für die Stadt Köln wichtige Ereignisse erinnert:76 Im Jahr des Herrn 1288 fand in Worringen eine Schlacht statt, und zwar an einem Samstag. Im Jahr des Herrn 1269 [recte: 1268] wurde Köln durch eine Öffnung (in der Stadtmauer) bei der Ulrepforte preisgegeben. Für die Menschen damals ge- nügte diese nüchterne Faktenfeststellung als ‚Erinnerungsanker‘. Um heute die Tragweite des Geschehens zu erfassen, sind zusätzliche chronikale Informationen nötig: 1268 ermög- lichte ein von einem bestochenen Kölner Bürger gegrabenes Loch in der Stadtmauer den Verbündeten des aus der Stadt vertriebenen Erzbischofs einen nächtlichen Überfall, der aber erfolgreich abgewehrt werden konnte. Zwanzig Jahre später, als sich die Bürger der Stadt mit ihren Verbündeten und die Truppen des Erzbischofs in der Schlacht bei Worrin- gen gegenüberstanden, wurde die Entmachtung des Erzbischofs als Stadtherr endgültig be- siegelt. Der hohe Erinnerungswert dieser Gedenktafel zeigt sich auch darin, dass sie in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts in sehr sorgfältig gestalteten und mit Farbe gefüllten Buch- staben (Gotische Minuskel mit Versalien) völlig neu erstellt wurde. ◦ Beredtes Zeugnis der machtpolitischen Auseinandersetzungen zwischen den freien Städten und den jeweiligen Landesherren 100 Jahre später formuliert die repräsentativ- große Bauinschrift-Tafel von 1388 in deutscher Sprache und Gotischer Minuskel am ‚Fes- ten Haus‘ des für die freie Reichsstadt Rothenburg bedeutenden Bürgermeisters Heinrich Toppler, der auf der Seite des Schwäbischen Städtebundes eine wichtige politische Rolle 75 Zu den Kriegen als Krisenzeiten im Mittelalter siehe Dopsch/Neuper 2018. 76 Sehr herzlich danke ich Frau Dr. Helga Giersiepen für die Zusendung dieses Beispiels aus dem von ihr bearbeiteten Inschriftenbestand (Originaltext Latein).
50 Gertrude Mras spielte:77 diz haus mit den graben hot der erber man heinric toppler burgermeister zu der zeit zu rotenburg mit sin selbes kost und erbeit gebaut in dem jar do der bestlich krieg war zwischen fursten und allen edeln uff einer seit und auch allen stetten die zu samen verbunden woren uff die ander seit in teutschen landen. ◦ Die Fehden zwischen der Reichsstadt Frankfurt und den Burgherren der Umgebung – deren Ursache vor allem in so manch raubrittermäßigem Überfall auf die reichen Kaufleute der Messestadt wurzelten – gipfelten am 12. Mai 1389 in dem Angriff der Frankfurter auf die Burg Kronberg. Obwohl die Frankfurter zahlenmäßig weit überlegen waren, trugen die Kronberger dank der Unterstützung von Pfalzgraf Ruprecht den Sieg davon. Die Bedeutung dieses Sieges über die Stadt Frankfurt erschien den Kronbergern für ihr Selbstverständnis und ihre Familienrepräsentation derart wichtig, dass sie diese Schlacht in einem (1434 erst- mals bezeugten, heute verlorenen) gewirkten Wandbehang darstellen ließen mit der in- schriftlichen Erklärung:78 Das ist der Streit der geschehen ist da man zahlt nach Christi Geburt 1389 Jahr uf der H. Martyrer Tag Nerei Achillaei und Pancratii das ist 2 [recte: 12] id. zwischen Cronberg und Franckfurt bey Steinbach. Dem nicht genug. Etwa 250 Jahre später wurde zur Glorifizierung dieses Sieges ein großes Gemälde geschaffen, das in zwei erzählenden Bild- streifen sowie in einem langen gereimten Kommentar allen Burgbesuchern anschaulich die Kampfszenen vor Augen führt.79 ◦ Auch Kriegstoten-Gedächtnismale berichten von solchen Machtkämpfen. Eine Reihe von Totenschilden80 sowie auch drei Gedenksteine für prominente Bürger der Stadt Lüne- burg zeugen von einem feindlichen Überfall des Herzogs Magnus von Braunschweig-Lüne- burg in der ‚Ursulanacht‘ 1371 (vom 21. auf den 22. Oktober), wobei es um die – letztlich für die Stadt erfolgreiche – Verteidigung ihrer Freiheits- und Salinenrechte ging. Die individuell und aufwändig gestalteten, Grabplatten ähnlichen Gedenksteine waren ursprünglich an den Stellen der Stadtmauer angebracht, wo die Verteidiger gefallen waren. Ihre Inschriften sind knapp formuliert, die ausführlichste lautet: Im Jahr des Herrn 1371 in der Nacht der Elftausend Jungfrauen ist Heinrich Viskule hier von den Feinden getötet worden. Dem kniend dargestell- ten Ritter ist ein Spruchband beigegeben: O Sohn Gottes, erbarme dich meiner.81 ◦ Ein ganz anderes Totengedächtnismal betrifft Opfer auf der Gegenseite: Es wurde als sehr repräsentativ gestaltetes Wandgemälde von Graf Ulrich V. von Württemberg (als An- führer der süddeutschen Fürsten) für die auf seiner Seite gefallenen Ritter und Knappen im Kampf gegen die Stadt Esslingen (als Anführerin des Schwäbischen Städtebundes) gestiftet 77 DI 15, Nr. 29 mit Abb. im Text. 78 DI 97, Nr. 51†. 79 DI 97, Nr. 223†. 80 DI 100, Nr. 16†. 81 DI 100, Nr. 15, Abb. 263–265 (Originaltexte Latein); siehe auch Nr. 13† und 14†.
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