Vortragsmanuskript Zusammenbruch der Peripherie am Beispiel Nigeria

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Vortragsmanuskript

       Zusammenbruch der Peripherie am Beispiel Nigeria

                                von Gerd Bedszent
Vorbemerkungen
       Dass der Zerfallsprozess der Moderne voranschreitet, kann kaum noch
übersehen werden. Besonders in peripheren Staaten mehren sich die
Zusammenbruchszenarien; nur in den seltensten Fällen können diese an sich
irreversiblen Prozesse zeitweilig ausgebremst werden. Massenhaft flüchten Menschen
vor scheinbar unvermittelt losgebrochenen Kriegen und Bürgerkriegen, aber auch vor
zunehmenden Armut und Perspektivlosigkeit in die vermeintliche Sicherheit westlicher
Staaten.
       Westliche Beobachter und Nachrichtenkommentatoren machen für diese
Schreckensszenarien im Regelfall die noch vorhandenen Reste vormoderner
Gesellschaftsstrukturen in der Peripherie verantwortlich. Verkannt wird dabei, dass es
sich bei der Wiederherstellung feudaler Großreiche, die sich diverse Warlords oder
Gotteskrieger auf ihre Fahnen geschrieben haben, um einen rein ideologischen
rückwärtsgewandten Bezug handelt. Dieser hat mit den realen Verhältnissen eines
postmodernen Zerfallsprozesses nicht das Geringste zu tun.
       Tatsächlich ist es unmöglich, die Wirtschafts- und Machtverhältnisse vormoderner
Gesellschaften in der jeweiligen Region wiederherzustellen. Die meisten Ethno-Milizen
und Banden militanter Gotteskrieger leben in Wirklichkeit davon, die Infrastruktur
gescheiterter Modernisierungsprojekte auszuschlachten. Alles, was vor Ort vorhanden
und irgendwie noch verkäuflich ist, wird über Netzwerke der kriminellen
Schattenwirtschaft in den kapitalistischen Warenkreislauf noch funktionierender
Regionen eingebracht. Bei den kriminellen Netzwerken in scheiternden oder bereits
gescheiterten Staaten handelt es sich also um Elemente einer postkapitalistischen
Leichenfledderei.
       Weiterhin wird von Seiten westlicher Beobachter für die Instabilität peripherer
Staaten eine Gemengelage von Korruption, krimineller Gewalt und religiösem
Fundamentalismus verantwortlich gemacht. Diese Instabilität stünde einem Siegeszug
moderner Produktivität im Wege. Die Reaktion westlicher Staaten auf diverse
Bürgerkriegsszenarien besteht daher meist darin, auf das jeweilige Regime Druck
auszuüben, die Warlords, Ethno-Rebellen, Banden durchgeknallter Fundamentalisten
oder auch ganz gewöhnlicher Krimineller effektiver zu bekämpfen. Und wenn eine
funktionsfähige Regierung in dieser Region schon nicht mehr existiert, entsenden
westliche Staaten auch mal eigene Truppen, um irgendwelche Stammesführer und
Banditenhäuptlinge in den bezahlten Rang eines Staatsoberhauptes,
Armeebefehlshabers oder Ministers zu verhelfen.
       Der Zerfall peripherer Staaten setzte häufig schon ein, bevor eine moderne
Staatlichkeit sich überhaupt vollständig durchsetzen konnte. Politische oder militärische
Interventionen westlicher Staaten zur Wiederherstellung oder überhaupt Herstellung
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einer gefestigten Staatsmacht waren allerdings nie dauerhaft erfolgreich. Sie können es
auch nicht sein, weil das Scheitern nachholender Modernisierung in peripherer Staaten
und Regionen nicht aufzuhalten ist. Dieses Scheitern hat systembedingte ökonomische
Ursachen. Politische Einflussnahmen können solche Zusammenbrüche verzögern oder
auch beschleunigen, nie jedoch verhindern.
        Robert Kurz hat in einem seiner eher frühen Texte die in der Peripherie
entstandene Situation wie folgt charakterisiert: “Für den größten Teil Afrikas,
Lateinamerikas und Asiens wurde die Integration in den Weltmarkt zu einer
sozioökonomischen Katastrophe, die kein Ende mehr nimmt und bereits apokalyptische
Zustände hervorgetrieben hat.“ (Kurz 1991, Seite 150) Nochmals zur Beachtung: Diese
Einschätzung stammt aus dem Jahre 1991; die geschilderte Entwicklung ist in den
letzten Jahren deutlich vorangeschritten.
        Warum habe ich im letzten Exit-Heft nun ausgerechnet die Situation im
westafrikanischen Staat Nigeria thematisiert? Ganz einfach. Es war Zufall. Ich hätte
einen ähnlichen Artikel über die Mehrzahl der afrikanischen Staaten schreiben können;
die Situation auf dem Kontinent ist fast überall grauenhaft. Ich hatte gerade ein paar
Artikel zu Nigeria auf dem Tisch bekommen und dann weiter gesucht. Die von mir für
den Artikel und für diesen Vortag verwendeten Materialien sind öffentlich zugänglich.
Man muss nur gezielt recherchieren und die Informationen dann in den richtigen Kontext
einordnen. Das letztere vermögen Nachrichtenkommentatoren und Journalisten
größerer Presseorgane aber im Regelfall nicht.

Zur aktuellen Lage
        Nigeria ist in den letzten Jahren häufig in die Schlagzeilen der internationalen
Presse geraten. Zuerst waren es grausige Bilder einer jahrzehntelang ohne Rücksicht
auf ökologische Folgen betriebenen Erdölförderung, die nach dem Ende der
Militärdiktatur nach und nach westliche Medien erreichten. In letzter Zeit überwogen
Schreckensnachrichten über den im Landesinneren tobenden Bürgerkrieg zwischen
nigerianischen Ordnungskräften, Ethno-Milizen und islamistischen Terrorgruppen.
        Mit etwa 140 Millionen Einwohnern ist Nigeria das bevölkerungsreichste Land
Afrikas, verfügt über eine vergleichsweise hochgerüstete Armee und steht in Bezug auf
die Wirtschaftsleistung in der ersten Reihe der afrikanischen Staaten. Nigerianische
Truppen nahmen in den letzten Jahren an mehreren UN-Blauhelmeinsätzen in
westafrikanischen Bürgerkriegsgebieten teil.
        Als Vielvölkerstaat ist Nigeria ein Produkt der Kolonialherrschaft. Die Völker der
bewaldeten Küstenregionen wurden von den Briten weitgehend christianisiert; die
Steppenvölker des Landesinneren hängen schon seit dem frühen Mittelalter größtenteils
dem Islam an. Dies ist allerdings keine Besonderheit Nigerias; die Bevölkerung der
meisten westafrikanischen Staaten ist ähnlich konfessionell gepalten.
        Nigeria ist weltweit der elftgrößte Produzent und achtgrößte Exporteur von Erdöl,
neuerdings auch ein bedeutender Exporteur von Erdgas und Diamanten. Dennoch ist
der Staat geprägt durch Massenarmut, ausufernde Korruption und Kriminalität. Die
Auslandsschulden belaufen sich auf 10,7 Milliarden US-Dollar. Eine öffentliche
Krankenversorgung und ein umfassendes Rentensystem existieren bis heute nicht; das
staatliche Bildungssystem weicht mehr und mehr einem System kommerziell
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betriebener oder von religiösen Gruppen finanzierter Privatschulen. Obwohl Schulpflicht
besteht, besuchen 10,5 Millionen Kinder gar keine Schule. Die Jugendarbeitslosigkeit
beträgt etwa 40 Prozent. Sechzig Prozent der Bevölkerung Nigerias lebt unterhalb der
Armutsgrenze. Auf die soziale Katastrophe folgte der Bürgerkrieg.
       Aber kommen wir erst einmal zur Vorgeschichte der Staatsgründung.

Sklavenlieferant der Frühmoderne
       Das Territorium des heutigen Staates Nigeria ist nachweislich seit mindestens
10.000 Jahren besiedelt und war Standort mehrere afrikanischer Hochkulturen. In
jüngster Zeit wurden unter anderem die Reste einer 2.500 Jahre alten Stadt
ausgegraben – die älteste derzeit bekannteste Städtegründung südlich der Sahara
überhaupt. Nigeria war Ausgangspunkt einer quer durch die Sahara bis ins heutige
Tunesien führenden Karawanenstraße. Schon aus der Antike sind Handelskontakte mit
Karthago und später mit dem Römischen Reich nachgewiesen. Reisen phönizischer
Seefahrer aus dem Mittelmeer die Atlantikküste entlang bis ins heutige Nigeria werden
gelegentlich vermutet, konnten aber bislang nicht belegt werden. Spätestens seit dem 4.
Jahrhundert unserer Zeitrechnung ist im heutigen Nigeria die Technologie der
Eisenverhüttung bekannt.
       Die auf dem Territorium Nigerias ansässigen ethnischen Gruppen haben eine
zum Teil sehr unterschiedliche Geschichte. Etwa ab dem 9. Jahrhundert breitete sich
der Islam über die Zentralsahara aus und erreichte schließlich Nord-Nigeria. Islamisch
dominierte Feudalstaaten kontrollierten fortan den Transsaharahandel. Die sich in den
Randzonen der Sahara herausbildenden Haussa-Emirate waren diesen Großreichen
zumeist tributpflichtig; im 19. Jahrhundert gingen sie im Kalifat von Sokoto auf. Der
Sultan von Sokoto gilt bis heute als religiöses Oberhaupt der Muslime in Nigeria. Die
islamische Missionierung blieb jedoch weitgehend auf die Steppenvölker des
Landesinneren beschränkt; die Bewohner der bewaldeten Küstenregionen hingen weiter
ihren animistischen Religionen an.
       Bei den Edo, an der Atlantikküste, entstand etwa um 600 unserer Zeitrechnung
das Königreich Benin, welches sich nach und nach zu einem Großreich entwickelte und
nicht nur den heutigen Staat Benin sondern auch den Nordwesten Nigerias umfasste.
Bei den Yoruba-Völkern, ebenfalls im Westen, entstanden mehrere Stadtstaaten,
welche später zum Königreich Oyo verschmolzen. Andere ethnische Gruppen, meist im
Südosten, verweigerten sich lange Zeit jeder Form einer zentralisierten Herrschaft.
       Um das Jahr 1485 erreichten portugiesische Seefahrer auf dem Weg nach Indien
erstmals die Küste Nigerias. Der König von Portugal und der Herrscher von Benin
nahmen im frühen 15. Jahrhundert diplomatische Beziehungen auf und tauschten
Botschafter aus. Die Handelskontakte der Portugiesen mit dem Königreich Benin gelten
als Ausgangspunkt für den transatlantischen Sklavenhandel.
       Sklaverei hat es in Westafrika schon vor Ankunft der Europäer gegeben. Die
beispielsweise im Königreich Benin praktizierte Sklaverei war aber eher eine
wirtschaftliche Abhängigkeit mit eingeschränkten persönlichen Rechten für die
Betroffenen. Erst mit dem Sklavenhandel der Europäer wurden Menschen zur Ware
degradiert. Zweifelsfrei haben auch die Eliten afrikanischer Feudalreiche sich am
Sklavenhandel beteiligt und von ihm profitiert – für die Küstenregion von Benin war bei
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europäischen Seefahrern bezeichnenderweise lange Zeit der Name „Sklavenküste“ im
Gebrauch.
       Auslöser des massenweisen Transfers menschlicher Ware über den Atlantik war
jedoch der Arbeitskräftebedarf frühkapitalistischer Plantagenwirtschaften in der Neuen
Welt. Der Sklavenhandel nahm in der Neuzeit schreckliche Ausmaße an: Wurden im
späten 15. Jahrhundert von europäischen Händlern jährlich etwa 600 Afrikaner über den
Ozean verschleppt, so waren es um 1780 jährlich schon etwa 50.000. Eine kaum zu
schätzende Zahl von Menschen kam außerdem bei Sklavenjagden und den in diesem
Zusammenhang tobenden kriegerischen Auseinandersetzungen ums Leben.
       Der europäische Sklavenhandel ging erst im frühen 19. Jahrhundert stark zurück,
nachdem mehrere kapitalistische Großmächte ihn für ungesetzlich erklärt hatten.
Vollständig verschwand er erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der Aufhebung der
Sklaverei in den USA, in den spanischen Kolonien Kuba und Puerto Rico sowie zuletzt
1888 im damaligen Kaiserreich Brasilien.

Koloniale Unterwerfung und Unabhängigkeit
       Bereits im Jahre 1553 gelangte eine erste britische Expedition in die
Küstenregion Nigerias. Die kolonialen Ambitionen der Europäer in Afrika beschränkten
sich in dieser Zeit noch auf das Betreiben von Handelsstützpunkten. Erst im 19.
Jahrhundert nahmen die Briten zunehmend Einfluss auf die afrikanischen Reiche im
Landesinneren – auch, um das von ihnen erlassene Verbot des Sklavenhandels
durchzusetzen. Da die Ökonomie dieser Feudalreiche in großen Teilen auf dem Handel
mit menschlicher Ware beruhte, gerieten sie zumeist in eine schwere Krise, bis es den
herrschenden Eliten gelang, sich auf den Export von Agrarprodukten, beispielsweise
dem in Europa begehrten Palmöl, umzustellen.
       Im Jahre 1862 erklärten die Briten die Umgebung der heutigen nigerianischen
Metropole Lagos zum Protektorat, dann im Jahre 1886 zur Kronkolonie. Von hier aus
nahm die schrittweise koloniale Unterwerfung Nigerias ihren Ausgangspunkt. Versuche
französischer und deutscher Kolonialisten, ebenfalls in dieser Region Fuß zu fassen,
wurden von den Briten abgewehrt.
       Die Durchdringung und Inbesitznahme des Landes wurde zunächst von privaten
Kolonialunternehmen sowie von Missionsgesellschaften angegangen. Die
Christianisierung blieb allerdings auf den Süden des Landes beschränkt; die islamischen
Herrscher des Nordens setzten dem Vordringen britischer und einheimischer Missionare
energischen Widerstand entgegen. Die bis heute andauernde Teilung des Landes in
einen weitgehend christianisierten Süden und einen islamisch dominierten Norden hat
darin ihren Ursprung.
       1897 plünderten und zerstörten die Briten die Hauptstadt des Reiches von Benin
und beendeten dessen Existenz. Das in einem Bürgerkrieg steckende Reich von Oyo
geriet etwa zeitgleich unter britischer Herrschaft. Mehrere Stadtstaaten und
Stammesterritorien setzten dem Vordringen der Briten allerdings einen hartnäckigen
Guerillakrieg entgegen, der erst 1918 endete.
       Die Eroberung des islamisch dominierten Nordens wurde von keinem
Privatunternehmen, sondern direkt von der britischen Krone in Angriff genommen. Im
Jahre 1903 eroberten britische Truppen das Kalifat von Sokoto und erschossen den
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damals regierenden Sultan. Im gleichen Jahr fiel Kano, die größte Stadt im Norden, ein
Zentrum islamischer Gelehrsamkeit, kurz darauf alle anderen Städte. Das Reich von
Borno im äußersten Nordosten wurde 1906 erobert. Die Emire und Könige behielten
Titel und Macht, mussten aber die Oberhoheit der britischen Krone anerkennen und für
diese Steuern eintreiben.
        Ähnlich wurde die britische Machtausübung in den ehemaligen Feudalreichen
des Südens organisiert. Bei den Stämmen, die noch in weitgehend egalitären
Dorfkommunen lebten, versagte diese Art von indirekter Herrschaftsausübung; die
notwendigen Verwaltungsapparate mussten von den Kolonialherren erst aufgebaut
werden. Angehörige der Stammesgemeinschaft der Igbo im Südosten, die nicht durch
überkommene feudale Strukturen und Traditionen behindert waren, konnten so in der
Folge große Teile der Wirtschaft des kolonialen Nigeria dominieren.
        Als gewollter Nebeneffekt der Christianisierung bildete sich besonders im Süden
des Landes eine neue einheimische Elite heraus, die durch die Missionsschulen der
Eroberer gegangen war. Eigentlich als Kaderschmiede für einheimische
Verwaltungsbeamte gedacht, wurden diese Schulen aber gleichzeitig ideologische
Zentren für den entstehenden afrikanischen Nationalismus und Antikolonialismus.
Besonders in der neu entstandenen Schicht afrikanischer Intellektueller wurde Rufe
nach mehr Selbstbestimmung laut. Im Norden und Südwesten Nigerias rekrutierte sich
der größte Teil der afrikanischen Verwaltungsbeamten und Intellektuellen allerdings aus
den immer noch herrschenden Adelsgeschlechtern der vorkolonialen Zeit; die
Bevölkerungsmehrheit blieb von jeder Mitbestimmung und sozialer Aufstiegsmöglichkeit
ausgeschlossen.
        Als Katalysator des Bestrebens nach Unabhängigkeit wirkte schließlich der
Zweite Weltkrieg, in dessen Verlauf zahlreiche Nigerianer in den Reihen der britischen
Streitkräfte gekämpft hatten. Viele dieser Kriegsveteranen waren nun nicht mehr bereit,
sich mit dem Vorkriegsstatus abzufinden.
        Bereits 1922 hatten im Süden Nigerias erste Wahlen stattgefunden. Anfang der
1930er Jahre entstand eine breite Gewerkschaftsbewegung, etwa zeitgleich erste
politische Parteien.1938 wurde erstmalig die Forderung nach Gewährung der
Unabhängigkeit lautstark erhoben. 1954 wurde Nigeria von den Briten in vier
Verwaltungsbereiche untergliedert, von denen die beiden südlichen Regionen ein
parlamentarisches System der Mitbestimmung erhielten. Die Eliten des Nordens lehnten
die – wie auch immer geartete – Unterordnung unter eine Zentralgewalt zunächst ab;
erst im Jahre 1959 verständigten sich Vertreter der verschiedenen Ethnien auf eine
„Unabhängige Föderation Nigeria“. Im Dezember 1959 kam es dann zu Wahlen für ein
ganz Nigeria umfassendes Repräsentantenhaus.
        Im Oktober 1960 proklamierte Nigeria als Föderation von drei Landesteilen seine
Unabhängigkeit. Formell konstituierte sich der Staat als parlamentarische Republik. In
den Jahren von 1960 bis 1966 stellte die Zentrale jedoch wenig mehr als ein machtloses
Aushängeschild der drei Regionalregierungen dar. Die großen politischen Parteien
waren ethno-nationalistisch ausgerichtet und strebten jeweils die Regierungsbeteiligung
an, um die eigene Region auf Kosten der anderen zu stärken – im Fall einer
Wahlniederlage drohten sie regelmäßig mit Austritt aus dem Staatsverbund. Die
einander ausschließenden Nationalismen führten schnell zu Gewalt, Chaos und zu

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massiven Wahlmanipulationen; besonders die Südwestregion verwandelte sich in ein
Schlachtfeld von Parteimilizen. Nach Putschversuchen niederer Offiziere riss schließlich
die Militärführung die Macht an sich. Um die Rolle der Zentralregierung gegenüber den
Regionen zu stärken, erzwangen die Militärs im Jahre 1967 eine Neuordnung des
Landes in zwölf Bundesstaaten (mittlerweile ist deren Anzahl auf 36 gestiegen).

Biafra – ein vergessener Krieg
        Hintergrund des Anfang der 1960er Jahre tobenden Bürgerkrieges war schon
damals der Streit um die Erlöse aus den seit 1956 im Delta des Niger sprudelnden
Ölquellen. Von den verschiedenen Ethno-Eliten wollte jede ein möglichst großes Stück
vom Öl-Kuchen für sich ergattern. Als nach der Neuordnung des Landes die den
Südosten dominierende Igbo-Elite die Kontrolle über das von kleineren Ethnien
besiedelte Delta des Niger verlor, bereitete sie zielgerichtet die Abspaltung vor. Am 30.
Mai 1967 wurde der unabhängige Staat Biafra proklamiert.
        Es handelte sich bei der Sezession aber nicht nur um den Versuch der Eliten des
südöstlichen Landesteiles, den Reichtum an fossilen Bodenschätzen für sich allein zu
sichern und die Vertreter der anderen Volksgruppen „abzuhängen“. Die
Regierungstruppen und das Militär des abtrünnigen Landesteiles waren gleichzeitig
Akteure eines Stellvertreterkrieges – im Hintergrund stritten sich westliche Ölkonzerne
um einen möglichst großen Anteil an den Lagerstätten.
        Die Sezession wurde blutig niederschlagen – der sogenannte Biafra-Krieg von
1967 bis 1970 kostete etwa 36.000 Soldaten beider Seiten und etwa 600.000 Zivilisten
das Leben. Immerhin gelang es dem Regime danach recht schnell, die abtrünnige
Igbo-Elite wieder in den nigerianischen Staat zu integrieren. Hauptursache des
Scheiterns der Abspaltung war vermutlich das Bestreben der Großmächte, nicht an den
noch aus der Kolonialzeit stammenden, häufig willkürlichen Grenzziehungen in Afrika zu
rühren. Tatsächlich haben die zahlreichen Bürgerkriege auf dem Kontinent bisher nur
zwei international anerkannte afrikanische Staaten hervorgebracht: Eritrea und den
Süd-Sudan. Der erstgenannte Staat wird derzeit von einem blutigen Militärregime
beherrscht; das letztgenannte Gebilde gilt seit seiner Gründung als gescheitert und
steckt hoffnungslos in einem Bürgerkrieg einander niedermetzelnder Ethno-Milizen.
        Die Militärführung Nigerias sah sich nach dem Niederkämpfen der
Biafra-Sezession als einzige Kraft, die dem Auseinanderstreben der einzelnen Ethnien
und Regionen Einhalt gebieten konnte. Bewegungen, die angeblich oder tatsächlich die
staatliche Einheit untergruben, wurden und werden seitdem regelmäßig mit brutaler
Gewalt unterdrückt, politische Richtungsentscheidungen von der Armeeführung
vorgegeben und auch durchgesetzt. Die folgenden Jahrzehnte waren demzufolge
geprägt durch eine lang andauernde Kette von Putschen und Gegen-Putschen der
Armee; die Militärherrschaft wurde jeweils nur für kurze Zeit von Zivilkabinetten
abgelöst.

Gescheiterte Modernisierung
        Der Versuch einer nachholenden Modernisierung in den 1970ern bis Anfang der
1980er Jahre erfolgte im wesentlichen unter der Regie rechtsgerichteter
Militärregierungen. Es gab in Nigeria nie eine nennenswerte Nationalisierung von
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Bodenschätzen; die jeweilige Regierung bemühte sich stets um ein gutes Verhältnis
zum Westen und begnügte sich finanziell damit, die Erdölförderung zu besteuern.
        Die Erlöse aus dieser Besteuerung ließen nach dem Ölpreisschock der 1970er
Jahre die Staatseinnahmen dennoch heftig anschwellen. Das herrschende Militärregime
investierte daraufhin massiv in ein das ganze Land umfassendes
Modernisierungsprogramm. Anders als beispielsweise anfänglich in Libyen, Algerien
oder dem Irak war dieser Modernisierungsversuch jedoch von keinem sozialpolitischen
Programm flankiert. Der Dollarsegen aus Übersee ging demzufolge an der
Bevölkerungsmehrheit vorbei.
        Es wurden reichlich Fernstraßen, Flugplätze, Fernsehstationen und andere
gigantomanische Projekte aus dem Boden gestampft. Eine nachhaltige
Industrialisierung des Landes gelang jedoch nicht. Die meisten staatsfinanzierten
Industrieanlagen wurden entweder nie fertiggestellt oder aber sie scheiterten sehr
schnell am Weltmarkt. Ebenso wie bei den anderen „Zuspätkommern“ nachholender
Modernisierung blieb die Volkswirtschaft Nigerias auf eine Rolle als Lieferant von
Rohstoffen für die kapitalistische Verwertungsmaschine festgeschrieben und ist somit
extrem von den Schwankungen der Weltmarktpreise abhängig.
        Der Strom der Petrodollars ermöglichte allerdings Lebensmittelimporte – meist
hochsubventionierte Produkte agrarkapitalistischer Großunternehmen. Deren
Billigpreisen waren die heimischen Produzenten häufig nicht gewachsen, was einen
stetigen Verfall der traditionell betriebenen Kleinbauernwirtschaften zur Folge hatte.
Nigeria verfügt zwar derzeit noch immer über eine nicht unbeträchtliche größere
Agrarproduktion, kann aber seine Bevölkerung insgesamt nicht mehr ernähren und
steckt daher unrettbar in der Zwickmühle des kapitalistischen Weltmarktes und seiner
ungleichen Preisgestaltung fest.
        Millionen Menschen strömten in der Hoffnung auf guten Verdienst in die Städte,
wo sie dann aber oft keine Arbeit fanden und sich mittels prekärer
Beschäftigungsverhältnisse durchschlagen mussten. Die Bevölkerung des städtischen
Ballungszentrums um die Metropole Lagos stieg von etwa 300.000 Einwohnern im Jahre
1950 auf 13,4 Millionen im Jahre 2004. Außer dem Moloch Lagos gibt es in Nigeria
derzeit noch zehn weitere Millionenstädte.
         Die nigerianische Oberschicht – Militärführer und Geschäftsleute – investierten
die Gewinne ihrer oftmals fragwürdigen Geschäfte nicht in Industrievorhaben, sondern
bereicherten sich lieber durch Grundstücksspekulationen. Als Folge stiegen in den
Städten die Immobilienpreise rasant an – und mit ihnen die Lebenshaltungskosten. Die
für Ausbau und Instandhaltung urbaner Infrastruktur vorgesehenen Milliardenbeträge
versickerten wirkungslos in den Tiefen einer korrupten und unfähigen Bürokratie –
Trinkwasser und Elektrizität wurden zu Mangelwaren. Eine weitere Folge der Explosion
städtischer Armut war das Ansteigen der Kriminalität.
        Nigeria hat schon seit den 1970er Jahren den traurigen Ruf, seiner weit
verbreiteten organisierten Kriminalität nicht Herr werden zu können. Das war anfangs
auch eine Folge des Biafra-Krieges: Um die Sezession niederzukämpfen, hatte die
Regierung das Militär massiv aufgestockt – von anfangs 10.000 Soldaten war deren
Anzahl auf dem Höhepunkt der Kämpfe auf 270.000 angewachsen. Eine chaotisch
verlaufende Demobilisierung nach Ende des Bürgerkrieges hinterließ dann eine ganze

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Generation demoralisierter, von den Kriegsgemetzeln traumatisierter Ex-Militärs, die ihre
einzige Zukunft im kriminellen Untergrund sah. Zahlreiche Waffen der aufgelösten
Truppenteile verschwanden damals spurlos. Den häufig wechselnden nigerianischen
Regierungen gelang es nie, das Netzwerk krimineller Banden wenigstens annähernd
unter Kontrolle zu bekommen. In Nigeria existiert mittlerweile eine ausgedehnte
Schattenökonomie mit sehr unscharfer Trennung zwischen Unternehmen, Behörden und
organisierter Kriminalität.
       Mit dem Einbruch der Erdölpreise Anfang der 1980er Jahre stand das Land vor
einem finanziellen Abgrund. Die Oberschicht hatte sich zwar schamlos bereichert, die
Staatskassen waren jedoch leer geblieben. Der IWF legte damals neben zahlreichen
anderen Ländern auch Nigeria die Daumenschrauben an. Das Militär zog wieder einmal
die Notbremse und putschte. Nach einem erfolgreichen Gegen-Putsch entschloss sich
das neue Militärregime, der Forderung des IWF nach einem
Strukturanpassungsprogramm nachzugeben: auf Kosten der Bevölkerung, versteht sich.
Es folgte ein massiver Arbeitskräfteabbau in den Verwaltungen, im Bildungs- und
Sozialwesen. Mehrere hunderttaussende Wanderarbeiter aus anderen
westafrikanischen Staaten, die in der Hoffnung auf guten Verdienst nach Nigeria
geströmt waren, wurden vertrieben. Die Privatisierung öffentlichen Eigentums geriet
unter der Schirmherrschaft der Militärführung zu einem kriminellen Raubzug –
beispielsweise ließen Generäle sich selbst oder ihren Familienangehörigen ohne jede
Gegenleistung per Dekret Baugrundstücke übertragen und legten so den Grundstock für
Riesenvermögen.
       Nigeria kam nach der neoliberalen Schocktherapie zwar irgendwann in den
Genuss eines Teilschuldenerlasses, aber die staatliche Infrastruktur lag zu diesem
Zeitpunkt schon völlig darnieder. 1991 zog die Militärregierung Babangida in die im
Zentrum des Landes aus dem Boden gestampfte neue Hauptstadt Abuja um und
überließ die Millionen von Entwurzelten in den Elendsvierteln der unkontrollierbar
gewordenen Metropole Lagos ihrem Schicksal. Gemäß einem im Jahre 2003
veröffentlichten Bericht der Vereinten Nationen lebten damals 41,6 Millionen Einwohner
Nigerias in Slums; das waren fast 80 Prozent der urbanen Bevölkerung. Im Jahre 2005
erntete das Armutsviertel Ajegunle auf acht Quadratkilometern Sumpfgelände am Rande
der Metropole Lagos mit 1,5 Millionen Einwohnern den traurigen Ruhm, in einer
Auflistung der weltweit größten Slums den sechsten Platz einzunehmen. Soziologische
Studien beschreiben die Lebensverhältnisse in diesem Slum als „höllisch“ (Davis, S.
100).
       Bis heute haben nur etwa 40 Prozent der nigerianischen Haushalte einen
Stromanschluss. Die Energieversorgung ist höchst instabil, plötzliche Stromsperren nicht
selten. Ein landesweites Wasserversorgungsnetz gibt es nicht; nur jeder zweite
Haushalt verfügt über sauberes Trinkwasser. Allein in der Zeit von 1970 bis 2000 stieg
die Anzahl der Armen von 19 Millionen auf über 90 Millionen. Nur ein Prozent der
nigerianischen Bevölkerung nimmt für sich regelmäßig 85 Prozent der Staatseinnahmen
in Anspruch.
       Im Juli 2015 gab die nigerianische Zentralregierung bekannt, dass in 27 (von 36)
Bundesstaaten die regionalen Verwaltungen nicht mehr in der Lage seien, ihre
Angestellten zu entlohnen.

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Die Folge zunehmender Erosion staatlicher Institutionen war die Entstehung
privat betriebener Gewaltunternehmen. Robert Kurz beschrieb ein Beispiel aus dem
Jahre 1998, also noch aus der Endphase der Militärherrschaft: Da die Oberschicht einer
nigerianischen Großstadt der ausufernden Kriminalität nicht mehr Herr wurde, rekrutierte
sie mehrere hundert Arbeitslose für einen Ordnungsdienst. Nach einer Razzia unter der
städtischen Armutsbevölkerung wurden von den sogenannten „Bakassi Boys“ etwa 200
aufgrund erfolterter Geständnisse „überführte“ Kriminelle öffentlich massakriert und ihre
Leichen verbrannt (vgl. Kurz, 2003, S. 290 f.).
        In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, dass der Zerfall sowohl
staatlicher Infrastruktur als auch der traditionellen Großfamilien in den Armutsgebieten
dazu beiträgt, dass die Reproduktion fast vollständig auf dem weiblichen
Bevölkerungsteil „abgeladen“ wird. Während Männer im arbeitsfähigen Alter häufig auf
der verzweifelten Suche nach Jobs durch die Lande ziehen oder sich zu Banden
bewaffneter Plünderer zusammenschließen, müssen die in den Slums oder in
heruntergekommenen Dörfern zurückgebliebenen Frauen die Kinder oftmals allein
durchbringen. Flankiert wird diese Entwicklung von einem Klima zunehmender
Frauenfeindlichkeit, das sich unter anderem durch den ideologischen Siegeszug des
militanten Islamismus, aber auch durch eine barbarische Verfolgung angeblicher
„Hexen“ manifestiert.

Siegeszug der Schattenökonomie
        Der Tod des Diktators General Abacha im Jahre 1998 beendete zwar die Periode
der bis dahin kaum unterbrochenen Militärherrschaft, doch zur Ruhe kam das Land
nicht. Der mit dem erneuten Preisanstieg für Rohöl erneut zunehmende Strom an
Petrodollars ging und geht wieder an der Bevölkerungsmehrheit vorbei.
        Dass mit dem Sturz der Diktatur auch die im Lande grassierende Korruption
ende, erwies sich schnell als frommer Wunschtraum neoliberaler Ideologen. In einem
Land, voll von anlagehungrigem Kapital, aber bar jeder Infrastruktur, die es ermöglicht,
Gelder auf legalem Wege zu vermehren, ist kriminelle Geschäftemacherei Normalität.
Tatsächlich hat sich nach dem Sturz der Diktatur die offene kriminelle Bereicherung
lediglich von einer eng begrenzten Schicht führender Militärs auf breitere Kreise von
Staatsbürokratie und Unternehmertum verlagert. Nigeria gilt demzufolge noch immer als
eines der korruptesten Länder der Welt; auf dem Index von Transparency International
belegt das Land derzeit Platz 136 (das Schlusslicht bildet mit Platz 174 der faktisch nicht
mehr existente Staat Somalia).
        Derzeit gibt es in Nigeria nach offiziellen Angaben 15.700 Dollar-Millionäre und
mehrere Milliardäre. Nur ein Beispiel: Der gemäß Forbes-Liste mit 14,7 Milliarden
US-Dollar reichste Mensch Afrikas ist der nigerianische Unternehmer Aliko Dangote –
nach eigenem Angaben hat er sein Vermögen hauptsächlich mit der Produktion von
Baustoffen und dem Import von Lebensmitteln erwirtschaftet. Bei der Zahl der
nigerianischen Superreichen soll es allerdings eine extrem hohe Dunkelziffer geben –
viele, deren Vermögen höchst zweifelhafter Herkunft ist, haben ihre Gelder in dubiosen
Steueroasen versteckt und scheuen das Licht der Öffentlichkeit. Nachdem die offene
Repression der Militärherrschaft einer subtileren Form der Machtausübung gewichen
war, hatten sich Unternehmen und lokale Behörden unverzüglich auf die nun auch für
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sie offene Möglichkeit einer Beteiligung an der illegalen Schattenökonomie gestürzt.
        Eine Studie des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung besagt, dass
im Niger-Delta jährlich 55 Millionen Barrel Öl gestohlen und unter Mitwirkung führender
Militärs und Politiker ins Ausland verschoben werden. Nach Schätzungen internationaler
Organisationen haben sich Angehörige nigerianischer Eliten in den letzten Jahrzehnten
mindestens 400 Milliarden US-Dollar aus Öleinnahmen illegal angeeignet und auf
ausländischen Konten geparkt.
        Der größte Teil des in Nigeria geförderten Erdöls und Erdgases geht übrigens
entweder auf legalem oder illegalem Wege in die USA. Sie sind in erster Linie am
weiteren Sprudeln des Treibstoffes für die kapitalistische Weltmaschine interessiert und
unternehmen keine Maßnahmen gegen offenen Diebstahl und kriminelle Geldtransfers.
        Nigeria wurde außerdem – wie zahlreiche andere Randstaaten der zerbröselnden
kapitalistischen Peripherie auch – zu einer Drehscheibe global agierender
Mafia-Organisationen. Das Land ist mittlerweile in eine sehr beliebte Transitroute für den
Schmuggel von Drogen aus Südamerika nach Europa eingebunden. Per Schiff über den
Atlantik ankommendes Kokain wird über die schon weitgehend entstaatlichte
Zentralsahara weiter in Richtung Mittelmeer geschleust; die Schmuggler profitieren von
den nicht unbeträchtlichen Preisunterschieden zwischen den verschiedenen
Umschlagplätzen. Zum Drogenschmuggel gesellten sich bald auch noch
Waffenschmuggel, Menschenhandel, Schutzgelderpressung, Kidnapping und offener
Raub.
        Völlig unproblematisch können Kriminelle die für ihre Geschäfte erforderlichen
Handlanger rekrutieren. Für die immer weiter verarmende Bevölkerung in Agrargebieten
und städtischen Slums sind solche illegalen Jobs oft die einzige Überlebensmöglichkeit.
Wo eine legale Wirtschaft nicht oder nicht mehr existiert, ist eine Verstrickung in den
kriminellen Untergrund Normalität. Kriminelle Kartelle sollen beträchtliche Teile der
nigerianischen Sicherheitsorgane auf ihren Gehaltslisten führen. Der damalige
nigerianische Präsident Goodluck Jonathan sprach im Jahre 2012 von einem Netzwerk
der Terror-Sympathisanten in den Reihen der Parlamentarier sowie im Justizapparat, in
der Polizei, im Geheimdienst und im Militär. Hintergrund der Anschuldigungen waren
offensichtlich Waffenschiebungen von Armeeführung und organisierter Kriminalität, mit
deren Hilfe sich islamistische Milizen damals aufrüsteten.
        Der mittlerweile offen zutage getretene Zerfall der nigerianischen Gesellschaft
wird wohl in absehbarer Zeit autoritäre Versuche einer Krisenbewältigung zur Folge
haben. Darauf lässt beispielsweise der Sieg des ehemaligen Putschgenerals
Muhammadu Buhari bei den Präsidentschaftswahlen des Jahres 2015 schließen. Dieser
entstammt der islamisch geprägten Elite des Nordens und war in seiner Zeit als
Militärdiktator von 1983 bis 1985 für eine extrem repressive und frauenfeindliche Politik
berüchtigt.
        Buhari hatte zwar kürzlich als erster nigerianischer Politiker überhaupt das
Kunststück fertiggebracht, einen regierenden Präsidenten per Stimmzettel zu
entmachten und sich an seine Stelle zu setzen. Die Durchsetzung der von ihm
angekündigten Maßnahmen zu Bekämpfung der Korruption blieb aber ökonomisch
ebenso erfolglos wie seine als Militärdiktator durchgeführte „Kampagne zur Erhöhung
der Disziplin“. Buhari verfolgt offensichtlich derzeit eine Politik, die Geldflüsse der

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kriminellen Schattenwirtschaft aus dem Lande zu erschweren und deren Akteure so zu
zwingen, in nationale Wirtschaftsstrukturen zu investieren. Diese Strategie kann nur
scheitern, weil an dem eigentlichen Problem Nigerias, der kaum vorhandenen
Konkurrenzfähigkeit der nigerianischen Wirtschaft gegenüber westlichen
Großunternehmen, nicht gerüttelt wurde und auch nicht gerüttelt werden konnte.
        Ein Kampffeld des neuen Staatsoberhauptes war die offenkundige Misswirtschaft
in den Chefetagen der nationalen Ölgesellschaft NPPC. Von den zwischen 2012 und
2015 erwirtschafteten 41 Milliarden US-Dollar seien nur etwa die Hälfte, 21,6 Milliarden
Dollar, an den Staatshaushalt abgeführt, der Rest offensichtlich veruntreut worden. Die
von Buhari per Dekret verfügte Aufspaltung der NPPC in ein privatkapitalistisch
betriebenes Staatsunternehmen und eine kontrollierende Regierungsbehörde dürfte
allerdings lediglich die Legalisierung solchen Diebstahls bewirken.
        Im Verlaufe von Buharis Antikorruptionskampagne wurden immerhin einige
Skandale öffentlich gemacht. Beispielsweise hatte ein Oberst der nigerianischen
Streitkräfte durch fiktive Waffenkäufe zwei Milliarden US-Dollar in seinen eigenen
Taschen verschwinden lassen. Ob die daraufhin dekretierte Auflösung des
nigerianischen Generalstabes und die Besetzung der freiwerdenden Posten mit anderen
Offizieren etwas bewirkt, ist zu bezweifeln. Wer will diese „neuen Kräfte“ daran hindern,
genauso in die eigenen Taschen zu wirtschaften, wie ihre Vorgänger es taten?
        Durch die von Buhari getroffenen Maßnahmen konnten zwar einige offen
kriminelle Angehörige der Oberschicht von ihren Posten verdrängt oder gar hinter Gitter
gebracht werden. Deren Platz nahmen aber schnell andere ebenso kriminelle Akteure
ein. Das Ganze lief demzufolge auf einen Verteilungskampf zwischen verschiedenen
Fraktionen der Oberschicht um lukrative Pöstchen an den Futterkrippen der Macht
hinaus. Die Hoffnung, die zumindest Teile der nigerianischen Bevölkerung in die
Rhetorik des zu Politiker gewandelten ehemaligen Putschgenerals gesetzt hatten, war
jedenfalls schnell wieder dahin.
        Wie bereits anfangs gesagt, können autoritäre Krisenbewältigungsstrategien die
Folgen wirtschaftlicher Entwicklungen höchstens kurzzeitig ausbremsen, keinesfalls
aber stoppen. Robert Kurz schrieb in diesem Zusammenhang: „Der Zerfallsprozess der
Ökonomie ist aber stets auch ein Zerfallsprozess der Politik; der unlösbare Widerspruch
entlädt sich in Hassideologien, religiösem Wahn, Terror, Massakern und ziellosen
Bürgerkriegen“ (Kurz, 2005, S. 112). Mit genau diesem Szenario haben wir es in Nigeria
seit Jahren zu tun. Dazu einige Fakten:

Von der Ölpest zum Ethno-Gemetzel
       Die Öl- und Gasvorräte Nigerias konzentrieren sich im von zahlreichen kleinen
Ethnien besiedelten Delta des Niger. Die Bewohner der Region hatten in der
Zentralregierung stets nur ein begrenztes Mitspracherecht, mussten aber die ganze Last
der Erschließung fossiler Rohstoffvorkommen tragen. Und schon diese Erschließung
trug häufig kriminelle Züge: Sofort nach Entdeckung einer Lagerstätte, wurden die
betreffenden Ländereien im Regelfall verstaatlicht. Entschädigungszahlungen gingen an
den jeweils zuständigen Stammesfürsten oder Dorfvorsteher. Diese machten sich oft mit
den eingestrichenen Geldern davon und überließen ihre Landsleute der Armut und
Hoffnungslosigkeit.
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Die Förderung der fossilen Rohstoffvorkommen lag von Anfang an in der Hand
westlicher Konzerne. Die grausigen ökologischen Folgen des Ölbooms ließen sich nach
dem Sturz der Diktatur nicht mehr unter den Tisch kehren. Seit dem Beginn der
Ölförderung im Niger-Delta gab es nach offiziellen Angaben über 8.000 Unfälle sowie
Beschädigungen von Förderanlagen und Pipelines; etwa zwei Millionen Tonnen Rohöl
ergossen sich über die Flussarme des Niger in den Atlantik und vergifteten die
Mangrovenwälder an der Küste. Zum Vergleich: Als im April 2010 die Ölplattform
Deepwater Horizon im Golf von Mexiko explodierte, stand die Welt wochenlang Kopf.
Dabei waren es damals „nur“ etwa eine Million Tonnen Rohöl, die ins Meer geflossen
waren und die Küsten der USA kontaminiert hatten. Das Wissen über die permanente
Umweltkatastrophe im Niger-Delta hat hingegen nie über interessierte Kreise von
Umweltschutzgruppen und Menschenrechtsaktivisten Verbreitung gefunden.
        Beschuldigte Konzerne machen regelmäßig Sabotage und Anschläge auf ihre
Pipelines für die Ölpest verantwortlich. Beschädigungen von Förder- und
Transportanlagen hat es während des im Delta herrschenden Bürgerkriegschaos
durchaus viele gegeben. Dieser Bürgerkrieg war jedoch schon eine Folge unter
anderem der permanenten Umweltvergiftung. Tatsächlich wiesen die im Delta
verwendeten Technologien von Ölförderung und -transport von Anbeginn gravierende
Mängel auf; die übergroße Mehrheit der Unfälle mit austretendem Öl war hausgemacht
und resultierte ganz simpel aus dem Bestreben nach Profitmaximierung.
        Bekannt ist außerdem, dass die in Nigeria aktiven Ölkonzerne jahrzehntelang –
natürlich ebenfalls aus Kostengründen – das bei der Ölförderung anfallende Erdgas
nicht aufbereitet, sondern einfach abgefackelt hatten. Nach Schätzungen von Experten
verbrannten dadurch bis jetzt etwas 15 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr. Der durch
die Verbrennung entstehende Ruß fiel wieder auf die Erde zurück, verschmutzte das
Trinkwasser, drang in die Nahrungskette ein und verursachte bei der Bevölkerung
massive Gesundheitsprobleme.
        Die permanente Vergiftung ihrer Umwelt raubte den im Niger-Delta Ansässigen
auf Dauer Gesundheit und Lebensunterhalt, während die nigerianische Zentralregierung
keinerlei Anstalten machte, von ihrer Misere Kenntnis zu nehmen. Nach Schätzungen
von Experten ist die durchschnittliche Lebenserwartung der Bewohner des Niger-Deltas
als Folge der Ölpest um zehn Jahre gesunken.
        Eine UN-Studie besagt, dass allein die Dekontamination des vergleichsweise
kleinen Territoriums der im Delta ansässigen Ogoni-Ethnie ungefähr 30 Jahre dauern
und etwa eine Milliarde US-Dollar kosten würde. Selbstverständlich wurde mit dieser
Dekontamination bisher noch nicht einmal begonnen. Und ebenso selbstverständlich
kam und kommt es auch weiterhin zu Umweltkatastrophen; die letzte öffentlich bekannt
gewordene größere Ölpest, für die diesmal der Konzern ExxonMobil verantwortlich
zeichnete, war im Juni 2010. Im Jahre 2013 wurde das Niger-Delta in einer von einem
unabhängigen Umweltschutzinstitut erstellten Studie unter den „Top Ten der am
stärksten verseuchten Gebiete der Erde“ geführt.
        Die Profitmaximierung um jeden Preis verschaffte zwar den Ölkonzernen
Milliardengewinne und ließ auch eine kleine nigerianische Oberschicht steinreich
werden; der Großteil der Bevölkerung versank jedoch immer mehr in Armut und
Hoffnungslosigkeit. Das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten.

                                         12
Nach dem Ende der Militärdiktatur geriet die Situation im Delta völlig außer
Kontrolle. Die anfänglich sozial begründeten Proteste gegen die permanente
Umweltvergiftung durch westliche Konzerne führten binnen kurzer Zeit zu einer
vollständigen Auflösung des ohnehin bereits stark angeschlagenen Gewaltmonopols des
Staates. Die Region wurde zum Tummelplatz einer Unmenge von Warlords,
Ethno-Milizen, selbsternannten Befreiungsbewegungen und Banden ganz gewöhnlicher
Krimineller. Hatte die Biafra-Sezession noch die Gründung eines eigenen
Nationalstaates zum Ziel gehabt, so ging es den meisten Parteien beim nun folgenden
Bürgerkriegschaos im Delta um einen möglichst großen Anteil an den Fördererlösen
sowie um Verteilungskämpfe mit anderen Akteuren.
        Von Ölfirmen oder lokalen Politikern aufgestellte Milizen und
Sicherheitsunternehmen verselbständigten sich und agierten zunehmend auf eigene
Faust. Eine „Bewegung für die Befreiung des Niger-Deltas“ (MEND) und mehrere
andere bewaffnete Gruppen mit ähnlicher Programmatik verlangten von der
Zentralregierung, ihrer jeweiligen Ethnie einen größeren Anteil an den Öleinnahmen des
Landes zuzuteilen. Sie gaben ihren Forderungen durch Anschläge auf Förderanlagen
und Pipelines Nachdruck, lieferten den in die Region geworfenen Militäreinheiten einen
blutigen Guerillakrieg und bekämpften sich außerdem gegenseitig.
        Andere Gruppen zapften im Windschatten der bürgerkriegsähnlichen
Auseinandersetzungen ganz offen Pipelines an und verkauften das so gewonnene
Rohöl auf eigene Rechnung. Piraten attackierten Ölplattformen und Tanker, stahlen das
Öl und nahmen die Belegschaften als Geiseln. Wieder andere Gruppen spezialisierten
sich auf Schutzgelderpressung und Kidnapping.
        Milizen der verschiedenen im Delta beheimateten Völkerschaften gingen
aufeinander los und reklamierten jeweils für sich die ausschließlichen Rechte an
Gebieten, in denen Öllagerstätten nachgewiesen sind oder auch nur vermutet werden.
Über 700.000 Menschen wurden im Verlaufe dieser Ethno-Kriege vertrieben; die Anzahl
der Toten ist unbekannt. In den Städten bekämpften sich rivalisierende Jugendgangs,
von denen jede das alleinige Recht beanspruchte, den Sicherheitsdienst für die in der
jeweiligen Region tätige Ölfirma zu stellen. Allein in den Jahren von 2005 bis 2009 gab
es 12.000 Fälle von Pipeline-Vandalismus; in über 3.000 dieser Fälle trat Öl aus. Etwa
zeitgleich wurden über 400 ausländische Angestellte der im Delta tätigen Ölfirmen
entführt und erst nach Lösegeldzahlung wieder freigelassen.
        Die Regierung war gegenüber der Explosion von Gewalt hilflos. Was nicht
verwundern kann: Die im Südosten Nigerias aktiven Warlords, Armutspiraten, Öldiebe
und Kidnapper haben nur das reproduziert, was ihnen die heimische Oberschicht schon
seit langer Zeit vorexerziert hat. Die Armeeführung reagierte ausschließlich repressiv.
Etwa 200.000 Menschen wurden vom Militär aus ihren Dörfern vertrieben, was den
Rebellengruppen und kriminellen Banden dann noch mehr Zulauf verschaffte.
        Erst nachdem die nigerianische Ölförderung massiv eingebrochen war und
zahlreiche Förderstätten geschlossen werden mussten, entschloss sich im Jahre 2009
die größte Rebellengruppe MEND zum Einlenken, akzeptierte ein Amnestieangebot der
Regierung und legte die Waffen nieder. Ruhe kehrte in der Region aber noch lange nicht
ein, schon allein deshalb, weil sich die Regierung als unfähig erwies, das von ihr
zugesagte Eingliederungsprogramm für ehemalige Ethno-Rebellen auch umzusetzen.

                                          13
Angesichts der nicht eingehaltenen Zusagen und unveränderten Misere kam es
ab 2012 wieder zu einer merklichen Zunahme von Anschlägen und bewaffneten
Zusammenstößen. Kurz darauf wurde bekannt, dass die nigerianische Regierung den
wichtigsten der das Delta beherrschenden Warlords Millionenbeträge für die Bewachung
von Pipelines und Förderanlagen bezahlte. Das war die offene Kapitulation des Staates
vor dem in Gestalt einer neu entstandenen Kaste von Gewaltunternehmern
grassierenden Banditentum.
       Bewirkt hat diese Privatisierung der Banditenbekämpfung langfristig gesehen
natürlich gar nichts. Anfang 2016 machte eine neu entstandene Rebellengruppe mit dem
hochtrabenden Namen „Rächer des Nigerdeltas“ mit Anschlägen auf vom US-Konzern
Chevron betriebene Pipelines auf sich aufmerksam. Die „Rächer“ forderten in einem im
Internet veröffentlichten Bekennerschreiben einen energischen Kampf gegen die
allgegenwärtige Korruption, die sie für die unverändert verheerenden ökologischen und
sozialen Zustände verantwortlich machen, und kündigten an, dass sie ihren Kampf in die
größeren Städte des Landes tragen würden.

Fundamentalismus als Krisenreaktion
        Während die Akteure der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen im Delta
sich des Ethno-Nationalismus als Legitimationsideologie bedienen, toben sich
Plünderungen und Gewaltorgien in den übrigen Landesteilen überwiegend unter
religiösem Deckmantel aus. Der im Norden und in der Zentralregion grassierende
islamische Fundamentalismus hat dabei seine Entsprechung im Fundamentalismus
christlich-evangelikaler Sekten, die in den südlichen Landesteilen immer stärker an
Zulauf gewinnen. Auf Pogrome an der christlichen Minderheit im Norden folgten zumeist
sehr schnell Ausschreitungen gegen die islamische Minderheit im Süden. Der eine Mob
tobt sich an Kirchen aus, der andere kontert damit, Moscheen abzufackeln. Um
Vertreibungen und religiös motivierten Gemetzeln Einhalt zu gebieten, musste die
Regierung mehrmals über die betroffenen Bundesstaaten den Ausnahmezustand
verhängen.
         Westliche Beobachter durchschauen die oft sehr komplizierten
Interessensgegensätze innerhalb einer insgesamt immer mehr verarmenden
Bevölkerung häufig nicht und deuten gewaltsam ausgefochtene Konflikte im Sinne von
Huntingtons „Kampf der Kulturen“. Tatsächlich haben diese Gemetzel kaum historische
Wurzeln, sind viel eher ein Konglomerat aus ideologisch verbrämter Plünderung,
kriminellen Verteilungskämpfen und purem Verzweiflungsnationalismus. Und die
Bevölkerungsmehrheit der umkämpften Regionen ist keineswegs Akteur, sondern Opfer.
        Unter den vom zunehmenden Staatszerfall profitierenden ideologischen
Strömungen ist der islamische Fundamentalismus sicher besonders unappetitlich. Seine
Hochburgen hat er nicht zufällig im äußersten Norden des Landes. Die
Trockensavannen und Halbwüsten am Rande der Sahara waren für Investoren stets
wenig attraktiv. Der Karawanenhandel, in der feudalen Ära ein wesentlicher
Wirtschaftsfaktor, ist mittlerweile obsolet geworden. Die Viehzucht büßte durch die
ölfinanzierten Lebensmittelimporte maßgeblich an Bedeutung ein. Nennenswerte
Industriestandorte existieren nicht. Der Norden Nigerias teilte mit dem Einbruch der
Moderne das Schicksal der meisten niedergehenden Saharastaaten; seine Bevölkerung
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verarmte noch schneller als die der wenigstens geringfügig entwickelten südlichen
Regionen.
        Der religiöse Fundamentalismus ist in Nigeria schon seit längerer Zeit auf dem
Vormarsch. Aus dem niederen Klerus stammende „Erneuerer“ präsentieren sich immer
wieder als Alternative gegenüber der in einem Sumpf von Korruption und
Vetternwirtschaft steckenden religiösen und politischen Oberschicht, verweigern dem
säkularen Staat ihre Anerkennung oder bekämpften ihn ganz offen. Der politische Islam
wurde von einer neu herangewachsenen Politikergeneration als Programm benutzt, um
die unbeliebte und zunehmend ohne jeden Rückhalt agierende Oberschicht von den
Futterkrippen der Macht zu verdrängen. Über eine Rezeptur zur Beseitigen der Misere
verfügt die aufstrebende Generation radikaler Islamisten ebenso wenig wie der von ihr
bekämpfte höhere Klerus. Im Gegenteil: Die von fundamentalistischen Hasspredigern
durchgesetzten Maßnahmen sind eher darauf angelegt, die Lage der Bevölkerung noch
weiter zu verschlimmern.
        In zwölf Bundesstaaten im Norden Nigerias wurde seit Beginn der
Demokratisierung im Jahre 1999 unter dem Druck der Islamisten offiziell die Scharia
eingeführt. Von der Mehrheit der dort ansässigen Menschen wurde dies zunächst willig
akzeptiert; man erhoffte sich wohl, dass durch eine religiöse Erneuerung die
allgegenwärtige Korruption wenigstens etwas zurückgedrängt würde. Die offene
Bereicherung der Oberschicht wurde aber nicht geahndet. Die von den islamischen
Gerichten verhängten Strafen richteten sich ausschließlich gegen Diebstahl, Ehebruch,
Prostitution, Homosexualität, vorehelichem Geschlechtsverkehr und den Konsum von
Alkohol. Bei Diebstahl wurden die Betroffenen im Regelfall zu einer körperlichen
Verstümmelung verurteilt, bei Ehebruch zur Steinigung. Die Kleinkriminalität sank infolge
der drakonischen Urteile nicht etwa, sondern stieg sogar weiter an. Es gibt wohl sogar
Beispiele, dass sich Kinder und Jugendliche absichtlich bei kleineren Diebstählen
erwischen ließen und auf Einsprüche gegen die Vollstreckung des Urteils verzichteten,
um dann nach vollzogener Verstümmelung in den Genuss einer
„Resozialisierungsprämie“ der Regierung zu kommen. Umgerechnet 500 US-Dollar
zahlte der nigerianische Staat für eine abgehackte Hand – für die Ärmsten der Armen in
den heruntergekommenen Dörfern in Nigerias Norden bedeutet dies ein ansonsten
unerschwingliches Vermögen.
        Weitere Glanzlichter islamistischer Aktivitäten waren und sind beispielweise die
endgültige Abschaffung des staatlichen Schulsystems in mehreren Bundesstaaten
zugunsten eines durchgehenden Systems von Koranschulen sowie ein ebenfalls in
mehreren Bundesstaaten durchgesetztes rigoroses Verbot von Impfungen.
        Das Ausbleiben sozialer Veränderungen nach Einführung der Scharia führte dann
nicht etwa zu einem Verfall des Islamismus, sondern zu seiner weiteren Radikalisierung.
Bisher im Solde örtlicher Machthaber operierende Gruppen verselbständigten sich und
artikulierten eigene Forderungen.
        Als frühes Beispiel für den im Norden Nigerias zunehmend grassierenden Irrsinn
möge die Miss-World-Wahl des Jahre 2002 dienen: Da die Gewinnerin des Vorjahres
aus Nigeria stammte, wurde – wie üblich – die nigerianische Hauptstadt Abuja zum
Austragungsort bestimmt. Als eine überregionalen Zeitschrift eine Kolumne
veröffentlichte, die islamistische Hassprediger als blasphemisch gegenüber dem

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Propheten Mohammed deuten konnten, brach eine Orgie der Gewalt los: Zuerst wurde
das Büro der Zeitschrift abgefackelt, dann gingen Moscheen, Kirchen, Autos, ganze
Stadtviertel in Flammen auf. Die damaligen Unruhen kosteten etwa 200 Menschen das
Leben, weitere 1.000 wurden verletzt, tausende verloren ihre Unterkunft. Die
Teilnehmerinnen der Miss-World-Wahl wurden umgehend nach London evakuiert, wo
das unterbrochene Spektakel dann ungestört fortgesetzt wurde.
       Die Ereignisse des Jahres 2002 gelten als Beginn des im Norden Nigerias
mittlerweile offen tobenden asymmetrischen Krieges zwischen Sicherheitsorganen und
radikalen islamistischen Gruppen.

      Hassprediger und Banditen
        Es war der ökonomische und politische Zersetzungsprozess des nigerianischen
Staates, der im Norden des Landes die „scheinreligiöse Hassidee“ (Kurz, 2003, S. 117)
des militanten Islamismus hervorbrachte. Robert Kurz schrieb dazu weiter: „Wenn es auf
die totale Sinnlosigkeit und Absurdität der an ihre Grenzen stoßenden kapitalistischen
Ökonomie keine emanzipatorische Antwort mehr zu geben scheint, muss sie sich in
immer neuen, immer heftigeren Wellen einer ebenso sinnlosen, auf keine
gesellschaftlichen Ziele mehr ausgerichteten Gewalt- und Selbstzerstörungs-Identität
entladen“ (ebd. S. 273). Mit einer solchen Orgie von Gewalt und Selbstzerstörung haben
wir es im Norden Nigerias derzeit zu tun – die Gotteskrieger bauen in den von ihnen
kontrollierten Regionen nichts auf, demolieren statt dessen auch noch das wenige, was
die blinde Zerstörungswut der entfesselten Marktkräfte übriggelassen hat, und verkaufen
die Reste an jeden, der ihnen etwas dafür zahlt.
        Natürlich handelt es sich bei den Versuchen (solche gibt es bekanntlich mehrere,
nicht nur in Nigeria), ein islamisches Kalifat zu errichten, um den ideologischen Rückgriff
auf vormoderne Herrschaftsstrukturen. Solche Herrschaftsbereiche (als Staat kann man
sie nicht bezeichnen, da ihnen wesentliche Momente des modernen Staates fehlten)
wieder herzustellen, ist aber allein schon deshalb unmöglich, weil die ökonomischen
Grundlagen für solche vormodernen Strukturen gar nicht mehr vorhanden sind. Das
mittelalterliche Kalifat von Sokoto im Norden des heutigen Nigeria, auf das sich die
afrikanischen Gotteskrieger positiv beziehen, beruhte hauptsächlich auf tributären
Verhältnissen: Die feudalen Eliten beschützten den Karawanenhandel durch die Sahara
und die Kaufleute entrichteten dem Sultan und den Emiren dafür einen Teil ihres
Gewinns als Tribut. Mit dem Siegeszug von Auto und Flugzeug gibt es aber keinen
Karawanenhandel mehr; die heutigen Gotteskrieger können also nur von Schmuggel
oder von nacktem Raub leben. Es ist, wie anfangs bereits ausgeführt, ein rein
ideologischer Bezug, der mit den realen Verhältnissen kaum etwas zu tun hat.
        Die Führungsriege der militanten Islamisten rekrutiert sich bezeichnenderweise
oft nicht aus den Reihen der Allerärmsten, sondern aus entgleisten Angehörigen der
Oberschicht. Bekanntlich war schon ein gewisser Osama bin Laden der akademisch
gebildete Sohn eines saudischen Milliardärs, was Robert Kurz seinerzeit treffend
kommentierte: „Die pathologisierten Sprösslinge pathologisierter Eltern stehen an
vorderster Front der wahnhaften Krisenverarbeitung“ (ebd. S. 273). Von den Segnungen
der westlichen Moderne angeödete Playboys und Nachwuchsmanager findet man nun
auch in Führungszirkeln und im Umfeld der islamistischen Milizen Nordafrikas und der
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