AKRÜTZEL ALLES ONLINE ODER WAS? - Akrützel

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AKRÜTZEL
       Jenas führende HochschulZeitung seit 1989

                  ALLES ONLINE
                    ODER WAS?
                      WAS VON DER UNI ÜBRIG BLEIBT

Gemahnt               Gealtert                           Gebeeft
Seebrücke         Senioren im Studium                     Leserbriefe

                               Nummer 407 I 29. Mai 2021 I 32. Jahrgang I www.akruetzel.de
2 / Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,                                                        Inhalt
Das Semester hat gerade erst begonnen und alles nervt schon
wieder nur. Irgendetwas ist zwischen 22 und 5 Uhr, es heißt
noch einmal einmal die Zähne zusammenbeißen, und die Zahl         04   WIR MÜSSEN LEIDER DRAUSSEN
165 spielt eine Rolle. Jetzt halten wir also nochmal zwei, drei        BLEIBEN
Wochen durch. Und dann? Dann haben wir es geschafft? Es                Wie das Digitalsemester weiter geplant wird.
herrscht keine Corona-Müdigkeit. Das ist Corona-Wut, ja Coro-
na-Hass.                                                          06   „ICH HOFFE, DASS WIR NICHT
Natürlich kann man diese beschissene Lage auch als Chance se-          ALLZU VIELE STUDIERENDE
hen. Man hat endlich Zeit, selber Brot zu backen oder mit dem          VERLIEREN“
Rauchen anzufangen. Aber schmeckt nicht das vom Bäcker viel            Im Interview mit dem Thüringer Staatssekretär
besser? Es ist kompliziert. Schönere Lösungen als die jetzigen         für Wissenschaft.
haben wir nicht, das ist auch nicht unsere Aufgabe. Mit denen,
deren Aufgabe das ist, haben wir in dieser Ausgabe gesprochen.
                                                                  08   MIT 63 JAHREN, DA FÄNGT DAS
Außerdem trafen wir einen Senior, den es im Alter nochmal
                                                                       STUDIUM AN
in die Uni zog, der aber von den hohen Studiengebühren auf-
                                                                       Welche Hürden birgt ein Studium im
gehalten wurde. Und der Oberbürgermeister hat uns für den
                                                                       Rentenalter?
Fragebogen Zu Vino sag ich besucht, wollte aber eine Frage zur
Kemmerich-Wahl partout nicht beantworten.
                                                                  10   KOMMT DIE VERGANGENHEIT
Naja, jetzt heißt es nochmal zwei Wochen aushalten, Zähne
                                                                       ZURÜCK?
zusammenbeißen, dann kommt zumindest das nächste Akrüt-
                                                                       Neues Zuhause für Archäologen in der „Alten
zel. Das ist sicher.
                                                    Tim Große          Universität” geplant.

                                                 Chefredakton
                                                                  11   WARUM SEID IHR HIER?
                                                                       Über die Forderungen der Dauermahnwache
                                                                       Jenas.

                                                                  13   WHERE TO #STAY WITHOUT A

                                            Seit ihr                   #HOME?

                                             auch
                                                                       Obdachlosigkeit: Wenn die Parkbank das zu
                                                                       Hause ist.

                                          Kamerageil?             14   LILIS BESTE
                                                                       Rezension von „Influencer“ des Jenaer
                                                                       Studenten Ole Nymoen.
                                           Dann gehört
                                              ihr ins             16   LESERBRIEFE/LESERBEEFE
                                                                       Interessantes aus dem Akrützel-Postfach.
                                         Gründungsteam
                                         von Akrützel TV!         18   ZU VINO SAG ICH
                                                                       Diesmal mit Oberbürgermeister Thomas
                                                                       Nitzsche.

Meldet euch unter: redaktion@akruetzel.de                         19   FISCHERMAN´S FRIENDS
                                                                       Erste Ausgabe unserer neuen kessen
                                                                       Kultkolumne.
/3

                              Mal wieder an die Urne                             Spowis sauer                      Med-Club umgezogen

                                                                                                                                                         DIESES UND JENAS
                            Der Stura hat die Durchführung einer
                            Urabstimmung zum Semesterticket be-
                            schlossen. Es soll abgestimmt werden,
                            ob das DB- und VMT-Semesterticket un-                                                Der Med-Club, einer der letzten ehren-
                            ter anderem mit einer Preiserhöhung         Die Studierendenschaft des Instituts     amtlich betriebenen Studentenclubs, hat
                            und einer Einführung als E-Ticket wei-      für Sportwissenschaft ist unzufrieden.   am Johannisplatz eine neue Bleibe ge-
                            tergeführt werden soll. Vom 10.5.2021       Mit einem weiteren Online-Semester       funden. Nachdem den etwa 15 aktiven
                            bis zum 12.5.2021 ist die Urnenabstim-      bestand die Hoffnung auf einige          Mitgliedern ihre letzte Heimstätte im
                            mung in der Carl-Zeiss-Straße möglich.      Regeländerungen und Anpassungen          Jazzcafe des Kulturbahnhofes vom Ver-
                            Falls sich weniger als zehn Prozent der     bei Praktika und Kursteilnahmen.         mieter gekündigt wurde, versucht der
                            Studierenden beteiligen, wird das DB-       Dies ist jedoch kaum bis gar             1972 gegründete Verein nun im Keller-
                            sowie VMT-Ticket abgesetzt, was in die-     nicht geschehen, was die Spowi-          gewölbe der ehemaligen Standbar sein
                            sem Fall bedeutet, dass der Thüringer       Studierendenschaft dazu veranlasste,     Glück. Dort will man das Konzept ver-
                            Nah-und Fernverkehr nicht mehr in-          einen offenen Brief an die Mitglieder    ändern und statt Tanzveranstaltungen
                            begriffen ist.                              des Institutsrates zu verfassen. Darin   vermehrt auf Barbetrieb setzen. „Aus
                                                                        werden unter anderem die Anpassung       wirtschaftlicher Perspektive war das
                                  Her mit der Kohle                     einiger     verpflichtender   Praktika   Jazzcafe sinnlos, da wir an Tagen, wo kei-
                                                                        an Coronazeiten gefordert, sowie         ner Zeit hat, Veranstaltungen gemacht
                                                                        realistischere Kursteilnehmerplätze      haben, für die keiner Geld hat“, sagt Mar-
                                                                        in überfüllten Kursen. Beispielsweise    ko Drüge. Er ist Vorstandsvorsitzender
                                                                        gab es nur zwölf Plätze für bis zu       im Med-Club, und mittlerweile Physik-
                                                                        80 Anmeldungen. Das kann für             lehrer in Eisenberg. Generell bestehe
                                                                        Studierende die Einhaltung der           der Club nicht nur aus Studenten, und
                                                                        Regelstudienzeit erschweren oder         nur noch aus einem Mediziner, dessen
                            Der EAH Stura fordert eine Aufwands-        unmöglich machen und führte zu           Fachrichtung den Verein einst ins Le-
                            entschädigung von 160 € pro Vorstands-      großem Unmut unter den Studierenden,     ben rief und ihren Namen gab. Wenn
                            mitglied und Monat. Laut Martin Sch-        trotz    einiger    Anpassungen    der   die aktuellen Einschränkungen vorbei
                            midt, Vorstandsmitglied des Sturas der      Regelstudienzeit. Das FSU-Kanzleramt     sind, will man regelmäßig, mindestens
                            EAH, solle die Studierendenschaft auf-      antwortete auf den Brief damit, dass     zweimal in der Woche, Barbetrieb und
                            grund fehlender Kenntnisse zum Ar-          die Vermeidung einer Verzögerung         Sonderveranstaltungen auf einer klei-
                            beitsaufwand im Stura nicht am Ent-         der Regelstudienzeit nun erst einmal     nen Bühne anbieten.
                            scheidungsprozess beteiligt werden. Zur     im Vordergrund stünde. Über weitere                                   Tim Große
Piktogramme: Julia Keßler

                            Finanzierung der Ehrenamtsentschädi-        Maßnahmen, ob kurz- oder langfristig,
                            gung sei eine Erhöhung des Semester-        werde noch abgestimmt.
                            beitrages vorgesehen. Hierzu wurden                                 Leah Boege (3)
                            Bedenken ausgesprochen, dass dies für
                            einige Studierende gerade jetzt eine zu-
                            sätzliche Belastung sein könnte. Die Dis-
                            kussion wurde nach allgemeiner Ab-
                            sprache vertagt.
                                                                                                                                                              Anzeige
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 WIR MÜSSEN
    LEIDER
  DRAUSSEN
   BLEIBEN
        von Tim Große

  Die FSU startet ins nunmehr
dritte Digitalsemester. Ob es das
 bleibt, ist noch unklar. Hat die
 Hochschulleitung einen Plan?

                                    Foto: Dominik Itzigehl
Titel / 5

D
       er Bund hat die Notbremse gezo-          Scania ist Mitglied im Senat der FSU und    steht ein uni-eigenes Testzentrum zur Ver-
       gen, und auch wenn es sich nicht       damit eine der wenigen studentischen Stim-    fügung, das werktäglich von 8-10 Uhr geöff-
       so anfühlt, als wäre jetzt irgendein   men im obersten Selbstverwaltungsgre-         net hat. Dies seien keine bewusst studente-
Zug stehen geblieben, hat sie die Pläne zur   mium der Uni. Sie und Jonathan Schäfer        nunfreundlichen Zeiten; sowohl Studieren-
erweiterten Thulb-Öffnung durchkreuzt.        zeigten sich im vergangenen Winterseme-       de als auch Mitarbeiter hätten extra darum
Parallel zur Einführung der Schnelltest-      ster sehr unzufrieden mit dem Corona-Ma-      gebeten, um sich vor dem Aufsuchen der
zentren plante die FSU ab Mai alle nach       nagement der Uni. Das habe sich aber mitt-    Büros und Labors testen lassen zu können.
Infektionsschutzkonzept zur Verfügung         lerweile gebessert, Regelungen werden frü-
stehenden Arbeitsplätze der Thulb an-         her bekannt gegeben und die Kommunika-
bieten zu können. „Die Bibliothek ist wie     tion laufe im Allgemeinen besser.              Nur ein Maskenverstoss
die Universität abhängig von den bundes-
und landesweit geltenden Regelungen           „Das Präsidium interssiert                      Bei allen Präsenzangeboten sowie beim
und die werden mit der sogenannten                                                          Mensa-Besuch, der weiterhin möglich bleibt,
Notbremse gerade erneut justiert“, sagt
                                              sich mehr für die Meinung                     werden die Kontakte zudem mit QRoniton
Kim Siebenhüner, Vizepräsidentin für           der Dozierenden als der                      nachverfolgt. Seit Oktober seien mit diesem
Studium und Lehre. Dabei ist es gerade              Studierenden“                           System mehr als 103.000 Scans durchge-
die Bibliotheksöffnung, die sich viele Stu-                                                 führt wurden, wobei es bisher keinen In-
dierende sehnsüchtig herbeiwünschen.           „Besser ist ungleich gut. Das Präsidium      fektionsausbruch an der Uni gegeben habe.
                                              beugt sich dem Druck der Mehrheit, inte-      Lediglich zwei Kontaktfälle wurden durch
   Arbeitsplatznutzung                        ressiert sich aber mehr für die Meinung       QRoniton nachverfolgt. Auch die Verstöße
                                              der Dozierenden als der Studierenden”,        gegen Hygineauflagen hätten sich bisher in
   an der EAH-Bibliothek                      ergänzt Jonathan.                             Grenzen gehalten. Nur ein Verstoß gegen
          möglich                               Daran, dass die digitale Lehre bis Mitte    die Maskenpflicht in einem Gemeinschafts-
                                              Mai mehr Präsenz weichen könnte, wie          raum sei dem Präsidium gemeldet worden.
 Während in der Bibliothek der Ernst-Ab-      von FSU-Präsident Walter Rosenthal in sei-      Weiterhin bleibt vieles unklar: Wie wer-
be-Hochschule die Arbeitsplatznutzung         ner Rundmail angekündigt, glaube er nicht.    den die Prüfungen abgehalten? Wird man
schon lange wieder möglich ist, bietet die    Auch Rosenthal selbst spricht von großer      bei Digitalprüfungen per Webcam beobach-
Thulb seit mehr als vier Monaten nur das      Unklarheit. Lehrveranstaltungen vor Ort       tet? Wie soll man Fragen in Live-Übertra-
Angebot zur Ausleihe. „Momentan arbei-        seien momentan einfach nicht drin: „Auch      gungen aus dem Multi-Media-Zentrum stel-
ten viele Leute in der Cafeteria oder ein-    wenn wir denken, dass wir ein sehr gutes      len, wenn diese mit teilweise 30 Minuten
fach irgendwo im Gebäude, da wäre es          Infektionsschutzkonzept haben, wäre es        Latenzzeit den heimischen Rechner errei-
doch besser, zum Beispiel die Carrels zu      ein falsches Signal, in der Phase einer na-   chen? „Zufrieden wäre ich, wenn ich sa-
öffnen“, sagt Scania Steger. Sie wolle auch   tionalen Notbremse über Präsenzlehre          gen könnte, die Pandemie sei in dem Maß
nicht, dass die Leute in die Thulb kämen,     nachzudenken.“                                bewältigt, in dem wir das Beste digitaler
weil es da schöner als zu Hause sei, aber       Erlaubt bleiben weiterhin inzidenzunab-     Lehre mit der Universität als sozialem Ort
für die Studierenden, die wirklich einen      hängig Praktika, sportpraktische Übungen      vereint hätten“, sagt Vizepräsidentin Sie-
Arbeitsplatz benötigen, sei dies die bes-     und Labortätigkeiten. Für Studierende, die    benhüner. Und ja, wäre es kein Konjunk-
sere Lösung.                                  an diesen Präsenzelementen teilnehmen         tiv, wäre das ganz schön.

                                                                                                                 Grafik: Janina Gerhardt
6 / Titel

         „ICH HOFFE, DASS WIR NICHT ALLZU
           VIELE STUDIERENDE VERLIEREN“
                 Carsten Feller (SPD) ist Thüringer Staatssekretär für Wissenschaft und
                      Hochschulen. Ein Gespräch über Studieren während Corona.
Die Thüringer Strategie zur Digitali-        Pandemie tatsächlich so lange andauern       rinnen und Professoren, sondern auch
sierung im Hochschulbereich wurde            würde. Deswegen war es aus meiner            zu den Kommilitonen, ist extrem wichtig.
2017 ins Leben gerufen. Das sind 51          Sicht damals das richtige Signal zu sagen,   Viele Studiengänge leben von der inten-
Jahre nach Erfindung des Internets.          wir organisieren das so, dass der Studi-     siven Diskussion – das geht online auch,
Kam die Strategie etwas verspätet?           enalltag möglichst ungestört stattfinden     aber viel schlechter. Ein weiteres Thema
Nein, das kann man nicht sagen. Bei          kann, und nur wenn das nicht funktio-        sind die Bibliotheken. Wir hatten vor 20
einer guten Kombination aus digitalen        niert, dann wird das Semester nicht auf      Jahren noch eine weitgehende Präsenz-
Unterstützungselementen und Präsenz-         die Regelstudienzeit angerechnet. Aber       bibliothekslandschaft. Inzwischen geht
veranstaltungen waren die Hochschulen        in den meisten Fällen hat es eben funkti-    viel mehr des Beschaffungsbudgets in
in der Tat zögerlich. Aber es ist auch in    oniert. Dann war es aus meiner Sicht ein     digitale Zeitschriften und Literatur als
Thüringen so, dass das erste Programm        Erfolg, zu sagen, wir verlängern nicht       in Präsenzbestände. Und wenn man
zur Förderung von E-Learning um die          pauschal.                                    nochmal 20 Jahre weiterdenkt, ist mei-
Jahrtausendwende kam und es trotz-                                                        ne Vermutung, dass alles elektronisch
dem Vorbehalte gegen die Form der            Und die Qualität des Studiums war            publiziert werden wird. Und dann stellt
Lehre gegeben hat und immer noch gibt.       Ihnen egal?                                  sich die Frage, ob man sehr große Biblio-
Deswegen ist Corona eine riesige Chance      Wir haben eine Regelung im Mantelge-         theken mit Lesesälen noch braucht, oder
für diesen Bereich. Meine Hoffnung ist,      setz eingeführt, mit der die Studieren-      ob diese umgebaut werden in Orte mit
dass dadurch Berührungsängste abge-          den, die glaubhaft machen können, dass       Arbeitsplätzen und Gruppenräumen.
baut werden und viele sagen, das ist ja      sie wegen Corona das Semester nicht in
keine schlechte Sache.                       vollem Umfang studieren konnten, das         An der EAH fanden bis zuletzt alle
                                             nicht auf die Regelstudienzeit angerech-     Prüfungen in Präsenz statt. Begrün-
Also läuft in der Digitallehre alles         net bekommen. Insgesamt haben etwa           det wurde dies mit rechtlichen Un-
spitze?                                      1200 von 50.000 Studierenden einen           klarheiten. Was ist dran?
Natürlich hat nicht alles funktioniert.      solchen Antrag gestellt, was für mich        Es gibt die gesetzlichen Grundlagen,
Wir mussten an den Hochschulen die Di-       bedeutet, dass der allergrößte Teil trotz    Prüfungen datenschutzkonform digital
gitalinfrastruktur neu aufbauen. Weder       dieser Krise das Studium halbwegs or-        durchzuführen. Dabei darf man, wie Sie
war die Verwaltung darauf eingestellt,       dentlich weiterführen konnte.                sagen, auch über die Kamera des Laptops
überwiegend im Homeoffice zu arbeiten,                                                    beobachtet werden. Dass alle Prüfungen
noch hat digitale Lehre in dem nötigen       Jetzt haben Sie festgestellt, dass es        in Präsenz stattfinden, ist ein Punkt, der
Umfang sofort geklappt. Wir haben das        doch nicht so gut läuft und rückwir-         schwierig ist. Wir haben in der letzten
landesseitig mit 2,2 Millionen Euro im       kend das Beste daraus gemacht?               Runde mit den Präsidenten darauf ge-
ersten Schritt und nochmal 2,8 Millionen     Von Anfang an zu sagen, das macht            drängt, dass möglichst viele Prüfungen
Euro im zweiten Schritt unterstützt, um      nichts, es gibt eine Verlängerung der        digital stattfinden. Die Prüfung ist aber
die digitale Lehre möglichst gut stattfin-   Regelstudienzeit, wäre kein gutes Signal     Teil der Lehre. Und diese steht unter
den zu lassen. Im Ergebnis hat das gut       gewesen. Irgendwann muss man aber            einem besonderen grundgesetzlichen
geklappt.                                    zur Kenntnis nehmen, dass die Pande-         Schutz der Freiheit von Forschung und
                                             mie deutlich länger dauert, als wir das      Lehre. Und deshalb ist es schwierig, mit
Das eingeschränkte Lehrangebot               alle im März letzten Jahres geahnt ha-       einer Maßgabe des Landes auf eine kon-
macht ein Studium in der vorge-              ben, und muss dann mit anderen Maß-          krete Prüfungsentscheidung einzuwir-
                                                                                                             Foto: Greta Schlusche
sehenen Regelstudienzeit schwer              nahmen darauf reagieren. Deshalb gibt        ken. Ich nehme zur Kenntnis, dass das
möglich. Trotzdem hat sich Thü-              es jetzt die pauschale Verlängerung der      nicht überall gelungen ist.
ringen erst Mitte März als letztes           Regelstudienzeit.
Bundesland dazu entschieden, diese                                                        An einigen sächsischen Hochschulen
pauschal um zwei Semester zu ver-            Wird der Präsenzlehre langfristig            gibt es zumindest für Studienanfän-
längern. Warum so spät?                      weniger Aufmerksamkeit geschenkt             ger eine Rückkehr zu einem begrenz-
Mir war wichtig, dass nicht der Eindruck     werden?                                      ten Präsenzangebot im Verbund mit
entsteht, es gäbe eine Art Nullsemester,     Ich bin kein Freund davon, jetzt kom-        einem negativen Test. Wäre dies in
das schon von vornherein als abgehakt        plett auf digitale Lehre umzustellen,        Thüringen momentan auch umsetz-
betrachtet werden kann. Das wäre nicht       denn dann würde sich – etwas zuge-           bar?
verantwortlich gewesen, da geht es auch      spitzt – die Frage stellen, warum ich in     Grundsätzlich schon. Alle Hochschulen
um die Lebenszeit von Studierenden.          Erfurt, Jena studieren soll oder ob nicht    haben ja im geringen Maße Präsenzver-
Zumal zu diesem Zeitpunkt niemand            eine Uni deutschlandweit ausreicht.          anstaltungen, und die kann man auswei-
wirklich davon ausgegangen ist, dass die     Der Kontakt, nicht nur zu den Professo-      ten, wenn man sie mit Testkonzepten
Titel / 7

verbindet. Das neue Infektionsschutz-
gesetz des Bundes setzt nun aber in
ganz unguter Weise Hochschulen mit
Schulen gleich; das besagt, dass ab ei-
ner Inzidenz von 165 keinerlei Präsen-
zangebote mehr stattfinden dürfen. Das
ist aus unserer Sicht unsinnig, weil die
Lehrveranstaltungen an Hochschulen
überhaupt nicht mit denen an Schulen
vergleichbar sind.

Die FSU zeigt hier Initiative und hat
ein eigenes Testzentrum in Betrieb
genommen. Bekommt sie dafür zu-
sätzliche Unterstützung von Land?
Nein, das finanziert die Hochschule aus
den eigenen Mitteln, dazu sind sie auch
in der Lage.

Zieht sich das Ministerium damit
nicht aus der Verantwortung?
Wir geben das nicht vor. Es gibt Regeln
für die Beschäftigten an den Hochschu-
len, das sind zwei Testangebote pro Wo-
che. Und dann gibt es die Möglichkeit
von Hochschulen, Tests in ihr Hygiene-
konzept einzubauen, um beispielswei-
se bestimmte Präsenzsituationen zu
ermöglichen. Ich habe keinen Zweifel
daran, dass die Hochschulen das in ih-
rer eigenen Verantwortung hinkriegen.

Warum spielen Studierende in der
öffentlichen Wahrnehmung eine
kleinere Rolle als Schüler?
Studierende sind im Unterschied zu
Schülern ganz anders in der Lage,
selbst zu lernen. Die Möglichkeit, Stoffe
selbst zu erarbeiten, ist geradezu Inhalt
des Studiums. Dass das Ganze zu psy-
chischen Belastungen führt, ist aber                                                                             Fotos: Dominik Itzigehl

auch verständlich.
                                            mit den Steuergeldern so umgegangen           zweimal gehört. Der Wunsch nach Nor-
Wie stark wurden die Hilfspro-              sind, wie sich das gehört. Und dann ist       malität wird sicher bald wieder dazu
gramme für Studierende in fina-             eben ein zweckgebundener Nachweis             führen, dass man in alte Verhaltens-
zieller Not nachgefragt?                    erforderlich.                                 weisen zurückkommt.
Die Corona-Soforthilfe des Landes ist
367 mal bewilligt worden, das sind           Welche nachhaltigen Folgen wird              Momentan wird für Mitte Mai die
knapp 300.000 Euro.                          Corona in der Hochschullandschaft            Möglichkeit der Rückkehr zur teil-
                                             hinterlassen?                                weisen Präsenzlehre in Aussicht
Bei dem Programm Studienstart-               Ich hoffe, dass wir nicht allzu viele Stu-   gestellt. Ist das wirklich realistisch?
hilfePlus braucht es eine Verwen-            dierende auf dem Weg verloren haben.         Ich halte es für realistisch, dass mit
dungsnachweisliste aller Ausgaben,           Was Studienabbrüche anbelangt, kön-          zwei bis drei Wochen harten Lock-
sonst muss man die Unterstützung             nen wir momentan noch nicht gut ge-          downs und zunehmenden Impfquoten
zurückzahlen. Das ist kein wirklich          nug in den Statistiken sehen. Ich kann       eine begrenzte Präsenzlehre ab Ende
niederschwelliges Angebot.                   fast sagen, das ist jetzt meine dritte       Mai möglich ist. Aber mit Sicherheit
Wir haben lange überlegt, ob das nicht       Pandemie. Ich habe schon Schweine-           kann man das heute nicht sagen.
einfacher geht. Aber wir sind da im          pest und Geflügelgrippe in meinem ak-
Bereich des Zuwendungsrechts, und            tiven Berufsleben hinter mir. Sätze wie          Das Interview führte Tim Große
da kommt dann in zwei Jahren der            „Das Leben ist danach nie mehr, wie es
Landesrechnungshof und guckt, ob wir         davor gewesen ist“ habe ich auch schon
8 / Uni & Stadt

                          MIT 63 JAHREN, DA FÄNGT
                              DAS STUDIUM AN
  Wer im Ruhestand noch einmal studiert und sich mit jungen Menschen austauscht, lebt eher
diverses Miteinander als in einsamer Stille. Welche Hürden birgt ein Studium im betagten Alter?

   Auf dem Campus der FSU sind einige
   Studierende. Sie unterscheiden sich                                                           Siegfrieds Leidenschaft für das Recht hat
                                                                                                       selbst das BGB der DDR überdauert
   in ihrer Herkunft, Hautfarbe und Ge-
                                                                                                                       Foto: Lars Materne
   schlecht. Als Siegfried Häuser zum
   Interview auf dem Ernst-Abbe-Platz
   erscheint, wird ersichtlich, dass Viel-
   falt an der Universität hauptsächlich
   von jungen Menschen repräsentiert
   wird. Ohne ein Gespräch mit dem
   79-Jährigen bliebe Siegfried wohl eher
   ein zufälliger Senior auf dem Campus
   und wenigen käme in den Sinn, dass er
   ein Kommilitone ist oder gewesen sein
   könnte. Mangelt es an Vorstellungs-
   kraft, fehlt es den Älteren für ein Studi-
   um an Motivation oder gibt es materi-
   elle Hürden, die es verhindern, dass an
   der Universität das Miteinander durch
   mehr Senior:innen vielfältiger wird?
     Mit 63 Jahren und niedriger Rente
   wollte Siegfried für sich eine finanzi-
   ell bessere Perspektive entwickeln und
   setzte sich das Ziel, zumindest bis zum
   ersten Staatsexamen Jura in Jena zu stu-
   dieren, um bestenfalls danach freiberuf-
   lich als Jurist tätig zu sein oder sich we-
   nigsten beim Schreiben satirischer Texte
   vor rechtlichen Folgen selbst schützen zu
   können. An der FSU haben Senior:innen
   wie er unterschiedliche Angebote, um
   sich Wissen ganz nach dem Motto des
  „Lebenslangen Lernens“ anzueignen. Die
   ganze Fülle eines Studiengangs erhal-
   ten sie, wenn sie sich für ein Studium
   einschreiben.
     Dieses Semester sind sechs Senior:innen
   eingeschrieben. Wie alle anderen Studi-
   eninteressierte haben auch sie die Zu-
   gangsbedingungen zu erfüllen, müssen
                                                   Leidenschaft, grosse                     dium angestrebt hatte. Nach dem abge-
   jedoch für das Lehrangebot zusätzlich              Pläne und eine                        brochenen Studium waren ihm die sati-
   zum Semesterbeitrag eine Studiengebühr           Studiengebühr, die                      rischen Texte dann auch zu heikel und
   von 250 Euro pro Semester zahlen. Seit               ausbremst                           das freiberufliche Arbeiten schien zu
   2006 ist im Thüringer Hochschulgesetz                                                    unrealistisch. Siegfrieds Wunsch, seine
   für alle Studierende über 60 Jahren eine       Als die Studiengebühr eingeführt wur-     Leidenschaft für das Rechtliche bei ei-
   Gebühr von mindestens 125 und höch-           de, wollte Siegfried nicht gegen die zu-   ner Tätigkeit schöpferisch zu verwirk-
   stens 500 Euro festgeschrieben. Die Hoch-     sätzlichen Kosten klagen und beendete      lichen, blieb somit unerfüllt. Seine Be-
   schulen haben somit zwar einen gesetz-        sein Jurastudium nach drei Semestern.      geisterung, die in der Schulzeit zu DDR-
   lichen Spielraum, das Studium im Alter        Die damalige politische Argumentati-       Zeiten begann, konnte er schon im ersten
   und Vielfalt unter den Studierenden gibt      on für die Studiengebühr entrüstet ihn     Studium nicht nachgehen, da er Ökono-
   es aber immer gegen eine Gebühr. Be-          heute noch, da behauptet wurde, dass       mie studiert hatte und dann in der Wirt-
   freit von der Gebühr werden nur Per-          Menschen im Alter nicht mehr aus wirt-     schaft bis zur Rente arbeitete. Sein Inte-
   sonen mit Grundsicherung oder wenn            schaftlichen Gründen studieren, aber er    resse für das Gesetz blieb währenddessen
   sie einen Härteantrag stellen.                unter anderem genau deswegen das Stu-      dennoch erhalten und so kam es, dass er
Uni & Stadt / 9

als juristischer Laie noch kurz vor dem      sensstand, meint Siegfried. „Außerdem       Vielfalt unter den Studierenden bei di-
Ende der DDR in Diskussion auf die Än-       lohnt es sich, die Gedanken der Älteren     gitalen Veranstaltungen noch niedriger
derung eines Wahlgesetzes hinwirken          nicht verschwinden zu lassen“, sagt er      ist als vor der Pandemie.
konnte. Es ist also eine gewisse tragische   und weist auch auf die zunehmende
Wendung daran zu erkennen, dass sei-         Abhängigkeit von digitalem Wissen hin,
ne Leidenschaft für das Rechtliche von       das aus seiner Sicht schneller verloren         politische Mehrheit
einem Gesetz ausgebremst wurde.              gehen kann.
                                                                                             für gebührenfreies
                                               Ähnlich positiv beschreibt der Diversi-
                                             tätsbeauftragte der FSU, Dr. David Green,
                                                                                               Studieren fehlt
                                             wie er die sinnstiftende Wirkung von
 Ein Studium ist gut für                     Weiterbildungsangeboten bei einem äl-         Unabhängig vom erschwerten Zugang
      jung und alt                           teren Angehörigen im familiären Kreis       durch die digitale Lehre bleiben die Stu-
                                             erlebt hat. Jedoch würden durch die kom-    diengebühren für ältere Studierende
  Dennoch möchte Siegfried die Zeit an       plizierten Vorschriften und Gesetze Wei-    und Gasthörer:innen bestehen. Green
der FSU nicht missen. „Das Verblüffen-       terbildungen faktisch als Stiefkind be-     schreibt, dass sich diesbezüglich der Je-
de war für mich, vom ersten Tag an sog       handelt. Hier sieht er politischen Hand-    naer Studierendenrat schon 2016 für die
mein Gehirn alles auf wie ein Schwamm“,      lungsbedarf und rechtliche Änderungen       Abschaffung aller Studiengebühren aus-
sagt er rückblickend. Im Hörsaal saß er      als notwendig an. Zudem bemängelt er        gesprochen habe. Solle es ein besseres
immer in der Mitte der fünften Reihe         die beliebige Festlegung der Gebühren-      Weiterbildungsangebot alte Menschen
und schrieb fleißig mit. Insgesamt fühl-     abgabe auf 60 Jahre und weist darauf hin,   an der FSU geben, sieht er die Hochschu-
te sich Siegfried aber in seiner Studien-    dass dies mit Hilfe des Diskriminierungs-   le in der Verantwortung, da mit Markt-
zeit agiler. Doch manchmal hatte er ei-      verbots im Gleichbehandlungsgesetz auf      forschung sich durchaus die Bedarfe von
nen Sekundenschlaf während den Vor-          Bundesebene anfechtbar ist. Fühle sich      Senior:innen genauer bestimmen zu kön-
lesungen und mit den Prüfungen und           eine Person wegen der Gebührenpflicht       nen. Gleichzeitig ermutigt er die Thü-
Hausarbeiten hatte er seine Schwierig-       der Altersdiskriminierung ausgesetzt,       ringer Bürger:innen, durch Mitarbeit in
keiten, da ihm die „juristische Denke“       könne sie sich somit ans Diversitätsbü-     Parteien und zivilgesellschaftlichen Ini-
gefehlt habe. Wenn er an seine ehema-        ro wenden. Dennoch konstatiert er, dass     tiativen auf die Rahmenbedingen einzu-
ligen Kommiliton:innen denkt, meint          die Gebühren für ein Studium erhoben        wirken, denn nur wenn der rechtliche
er: „Obwohl ich so ein Oller bin, hatten     werden müssen, da für Hochschulen das       Rahmen es auch den Hochschulen zu-
sie kein Problem mit mir und ich mit ih-     Landesrecht bindend ist.                    lässt, kann ein besseres Weiterbildung-
nen nicht.“ Nur folgerichtig war es für        Ein Weiterbildungsangebot neben           sangebote für ältere Menschen an den
ihn, sich in einer Vorlesungspause vor       dem klassischen Studium stellt die          FSU geschaffen werden. Grundlegende
den Studierenden im Hörsaal zu verab-        Gasthörer:innenschaft dar. Hier belau-      Voraussetzung ist also eine Mehrheit in
schieden. „Viele haben nur mitbekom-         fen sich die Gebühren auf bis zu 50 Euro    der Bevölkerung, die das Lernen im Al-
men, dass da so ein Oller vorne saß und      pro Semester, es gibt keine notwendi-       ter und Vielfalt unter den Studierende
eifrig mitgemacht hatte und plötzlich –      gen Voraussetzungen. Gasthörer:innen        einfordert.
oh, der wollte ja richtig studieren“; kom-   und eingeschriebene Studierende jeden         Nach dem Interview verlässt Siegfried
mentiert Siegfried schmunzelnd die Re-       Alters begegnen sich somit bei densel-      den Campus. Er erzählte auch, dass er
aktionen auf seinem Abschied.                ben Veranstaltungen. Nach Informa-          während des Studiums häufiger hier
  Im Allgemeinen findet er, dass auch        tionen des Studierenden-Service-Zen-        war als daheim. Wie wäre das Mitei-
Senior:innen unabhängig ihrer finan-         trum brach an der FSU die Anzahl der        nander auf dem Campus, wenn häufiger
ziellen Situation die Möglichkeiten zum      älteren Gasthörer:innen um 80 Prozent       Senior:innen erzählen könnten, sie seien
Studieren haben sollten, denn wer Lei-       im ersten digitalen Semester ein. Mitt-     mehr im Hörsaal, in der Mensa und Bi-
denschaft für ein Fachgebiet hat, soll       lerweile hat sich die Anzahl bei um die     bliothek gewesen als daheim und von
auch die gesammelte Lebenserfahrung          40 älteren Gasthörer:innen in den letz-     welchen Erfahrungen berichten dann
und gewachsenen sozialen Beziehungen         ten zwei Semester stabilisiert, was nur     die jüngeren Studierenden?
mit den jungen Menschen teilen. Einen        knapp 30 Prozent der Teilnehmer:innen
großen Nutzen sieht er darin für die Stu-    sind, die vor der Pandemie als Gasthö-                               Lars Materne
dierenden, denn wenn sie die Unterstüt-      rende eingeschrieben waren. Es zeigt
zung annehmen, müssten sie das Wis-          sich also, dass nach der Digitalisierung
sen weniger mühsam erarbeiten. Die           der Lehre weniger Senior:innen in den
meisten seien auf dem gleichen Wis-          Veranstaltungen präsent sind und die
10 / Uni & Stadt

                           KOMMT DIE VERGANGENHEIT
                                  ZURÜCK?
           Die „Alte Universität“ am Fürstengraben 23 ist über die Jahre in Vergessenheit geraten.
                                Bald soll sie in neuem altem Glanz erstrahlen.
    Lost Places: Für die einen ein Synonym      blieb im Familienbesitz, bis die Uni sich
    für geschichtsträchtige Romantik oder       zu ihrem 300-jährigen Bestehen im Jahr
    Abenteuer, andere würden gerne jedes        1858 selbst beschenkte und das Grund-
    baufällige Bauwerk einstampfen, das         stück kaufte. Türen und Fenster wur-
    ihr Sichtfeld kreuzt. Der Kulturkampf       den erneuert, Dachbalken abgestützt und
    Alt gegen Neu wird insbesondere in Jena     Hörsäle errichtet, um das neue Hauptge-
    ersichtlich, vielerorts gleicht die Stadt   bäude der Universität fit für eine neue
    einer großen Baustelle. Und so hat sich     Zeit zu machen. Knapp 50 Jahre lang
    wahrscheinlich schon der eine oder an-      hielt die wohl ruhmreichste Ära dieses
    dere Gedanken darüber gemacht, was          Bauwerks an, bevor es mit dem Umzug
    es mit dem Gebäude der „Alten Univer-       ins neue Hauptgebäude schlagartig an
    sität“ am Fürstengraben 23 eigentlich       Bedeutung verlor. Danach noch vom In-
    auf sich hat.                               stitut für Rechtsmedizin genutzt, steht
      Unscheinbar hinter hohen Birken ver-      das Gebäude seit 2017 komplett leer und
    borgen, in einer direkt am stark befah-     scheint am Ende seiner Geschichte an-
    renen Fürstengraben gelegenen Häuser-       gekommen zu sein.
    reihe gegenüber dem Botanischen Garten,
    thront ein Stück Universitätsgeschichte.
    Abgebröckelter Putz und die grün-gräu-      Neues Leben in der Bude
    liche Färbung lassen darauf schließen,
    dass dieses Gebäude seine besten Zeiten       Doch wer das glaubt, hat die Rechnung
    schon hinter sich hat.                      ohne Frau Demme und Herrn Otto vom
      Tatsächlich kann es auf eine lange Hi-    Baudezernat der Uni gemacht. Ihr Ziel ist
    storie zurückblicken. Seit einem halben     nichts weniger als die komplette Sanie-
                                                                                                               In die Jahre gekommen: Ansicht vom
    Jahrtausend besteht das Gebäude in sei-     rung des Hauses, in dem zukünftig das In-                                             Fürstengraben
    nem Fundament, Teile des Mauerwerks         stitut für Orientalistik, Indogermanistik                                     Foto: Alexander Nehls
    lassen sich bis auf das Jahr 1510 zurück-   und ur- und frühgeschichtliche Archäo-
    führen. Im dunklen Kellergewölbe wurden     logie mit einer bedeutenden Münzsamm-
    Reste der alten Stadtmauer, auf der das     lung untergebracht werden soll. Projektlei-   vor der Wendezeit nicht versucht wurde,
    Bauwerk einst errichtet wurde, gefunden.    terin Demme führt mit Begeisterung durch      die Fassade zu rekonstruieren. Die dama-
    Schon im 18. Jahrhundert wohnten Studie-    die Gänge und Zimmer und schwärmt da-         ligen Vorstellungen entsprächen schlicht
    rende in dem in Geschichtsbüchern auch      bei von dem alten Fachwerk, den Dielen-       nicht dem heutigen Denkmalschutz, zu-
    als Alte Wucherey bekannten Gebäude; vo-    böden, Doppeltüren, Laubengängen und          dem sei auch der Anspruch an eine Sanie-
    rausgesetzt, sie konnten sich ein Zimmer    Fenstern aus dem 19. Jahrhundert. Beson-      rung mittlerweile ein anderer. Statt einer
    im Haus der Familie Wucherer leisten. Es    ders glücklich zeigt sie sich darüber, dass   kompletten Wiederherstellung des alten
                                                                                              Zustands sollen noch existente Teile rekon-
                                                                                              struiert, fehlende dagegen sichtbar her-
                                                                                              vorgehoben werden. „Wir wollen bewusst
                                                                                              zeigen, was alt ist und was fehlt“, sagt De-
                                                                                              zernent Otto. Einen niedrigen zweistelli-
                                                                                              gen Millionenbetrag soll das ganze Projekt
                                                                                              kosten, als erster Schritt solle die Fassade
                                                                                              bereits in wenigen Jahren komplett saniert
                                                                                              sein. Zu einer Prognose, wann die Bauar-
                                                                                              beiten tatsächlich beginnen, geschwei-
                                                                                              ge denn beendet sein könnten, lässt sich
                                                                                              jedoch keiner der beiden hinreißen. So-
                                                                                              mit dürfte das Gebäude noch für eine lan-
                                                                                              ge Zeit leer stehen, bevor es der Wissen-
                                                                                              schaft ein neues Zuhause werden kann.

                                                                                                                      Alexander Nehls

Bis vor wenigen Jahren wurde hier noch
gewerkelt
Foto: Tim Große
Uni & Stadt / 11

                                  WARUM SEID IHR HIER?
                            Seit anderthalb Monaten sticht mitten im Jenaer Zentrum eine
                                Dauermahnwache ins Auge. Was bewegt die Initiative?

      Es ist Mittwoch, kurz vor 16 Uhr. In der    ganz klar nicht der Versuch seien, ein Ge-    Erstaufnahmeeinrichtungen für Geflüch-
    Stadt ist viel los, Eis essende Menschen      flüchtetenlager oder die Situation darzu-     tete, die noch auf das Ergebnis ihres Asyl-
    und Radfahrer:innen genießen die er-          stellen. Auf die Frage, was die Mahnwa-       antrags warten. Wobei Erstaufnahmeein-
    sten Sonnenstrahlen, zwischen denen           che für die Beteiligten bedeute, antwortet    richtung ein schöneres Wort für eine la-
    sich das Faulloch aufdrängt, das gerade       der geflüchtete Interviewpartner: „Wenn       gerähnliche Gemeinschaftsunterkünfte
    mehr als eine Freifläche zwischen Johan-      ich einen Menschen sehe, der ein paar Mi-     ist - in Suhl direkt neben einem Schieß-
    nistor und Pulverturm ist: Banner, Plakate    nuten davor steht, die Plakate liest, Auf-    platz, der noch in Betrieb ist. Für Geflüch-
    und Zelte füllen den Platz. Seit eineinhalb   merksamkeit zeigt, dann finde ich das su-     tete, die gerade aus den Lagern in Grie-
    Monaten, seit dem 5. März, ist der Platz      per wichtig und das wird dann auch auf        chenland kommen und durch Flucht und
    Kundgebungsort der Dauermahnwache.            jeden Fall was verändern.”                    Krieg teilweise schwere Kriegstraumata
    Diese wurde von der Seebrücke initiiert.                                                    haben, ist die Situation dort nicht wirk-
    Aufmerksamkeit möchte die Mahnwache                                                         lich das, was man humanitäre Versor-
    nicht dadurch bekommen, indem darü-           „Auch wenn Dinge legal                        gung und Unterbringung nennen kann.
    ber berichtet wird, wie unbequem es tat-
                                                   sind, müssen sie illegal                     Die Einrichtung ist bei vielen wegen der
    sächlich ist, seit 47 Tagen auf dem Platz                                                   Umstände Auslöser für eine Retraumati-
    zu übernachten und dauerhaft präsent
                                                          werden“                               sierung. Die aktuelle gesetzliche Regelung
    zu sein, sondern vielmehr für das, wo-                                                      sieht vor, dass Geflüchtete bis zu 18 Mo-
    für die Mahnwache eigentlich steht und          Die Stadt könne dazu beitragen, die Si-     nate in der Erstaufnahme bleiben. Wäh-
    ihre Forderungen. Bunte Transparente          tuation zu verbessern, indem sie, wie von     rend der 18 Monate haben die Geflüchte-
    und die Infotafeln rufen vorbeischlen-        der Mahnwache gefordert, die Kapazitäten      ten keine Informationen darüber, wie ihr
    dernden Passant:innen entgegen: „Eva-         in Jena und Thüringen ausnutzt und die        nächster Tag aussieht oder wo sie im Fal-
    cEUateNow!”                                   Geflüchteten nicht in Gemeinschaftsun-        le eines genehmigten Asylantrags hinge-
      Aber wofür steht die Mahnwache? Von         terkünften oder lagerähnlichen Einrich-       schickt werden. Informationen oder Be-
    den Interviewpartner:innen, eine Aktivi-      tungen, sondern in Wohnungen unter-           ratungsangebote für Geflüchtete fehlen
m
n   stin und ein Geflüchter, die lieber anonym    bringt. Konkret könnten sich der Stadtrat     komplett. Hinzu komme Alltagsrassis-
s   bleiben wollen, ist zu erfahren, dass mit     und vor allem Bürgermeister Thomas Nitz-      mus von Securityleuten, die Einschrän-
    dieser Aktionsform ein Zeichen gesetzt,       sche dafür einsetzten, dass Jena einen Teil   kung der Rechte von Geflüchteten, und
    aber auch real politische Änderungen ge-      der 600 Geflüchteten aus der Erstaufnah-      Corona. Ihre Rechte wurden schon vor
    schaffen werden sollen. „Es geht darum,       meeinrichtung in Suhl aufnimmt. Der Ge-       der Pandemie stark eingeschränkt. Eine
    ein Zeichen gegen das rassistische Sys-       flüchtete erzählt uns von der Situation in    der Aktivistinnen berichtet: „Ganz viel,
    tem zu setzen, weil Abschiebungen und         Suhl, die er durch einen Bekannten kennt,     was in Suhl gemacht wird, ist eigentlich
    die gesamte europäische Migrationspo-         der momentan dort ist. Suhl ist eine der      nicht legal. Von der Unterbringung, aber
    litik die direkte Konsequenz davon ist,”
    erklärt eine der Aktivistinnen. Als eine
    von vielen Aktions- oder Protestformen
    will die Mahnwache vor allem das The-
    ma Migration, Flüchtlingspolitik und Asyl
    wieder präsenter für Menschen machen
    und zum Beispiel durch Gespräche mit
    Passant:innen und Veranstaltungen wie
    Leserunden in die Mitte Jenas holen. Die
    Aktionsform ist auch Mittel um den For-
    derungen Druck zu verleihen. Eine ihrer
    großen Forderungen ist die Aufhebung
    und Abschaffung aller Lager, Bewegungs-
    freiheit für alle und ein Abschiebestopp.
    Diese beziehen sich dabei vor allem auf
    die menschenunwürdigen Zustände in
    den Lagern an den sogenannten Außen-
    grenzen wie in Moria oder Kara Tepe,
    aber auch in Bosnien. Die Form des Pro-
    tests soll ein Zeichen der Solidarität mit
    den Geflüchteten sein. Dabei wird betont,
    dass die Zelte und die Art der Mahnwache                                                                               Mahnwache im Faulloch
                                                                                                                             Foto: Greta Schlusche
12 / Uni & Stadt

 auch bei persönlichen Gegenständen. Ei-
 gentlich dürfen sie nicht einfach die Ge-                     WHERE TO #STAY
 genstände anschauen oder durchsuchen,
 wenn sie keinen Grund dafür haben. Das
 wird ständig gemacht.” Durch die Pande-
                                                              WITHOUT A #HOME?
 mie kommen neue Einschränkungen hinzu:                  Der Hashtag #stayhome wurde zu Beginn von Corona
 Den Geflüchteten ist es nicht erlaubt, län-           vielfach in den sozialen Medien geteilt. Gute Idee mit dem
 ger als 24 Stunden das Camp zu verlassen,
                                                       zu Hause bleiben, nur wohin, wenn man kein „Home“ hat?
 andernfalls sind sie trotz negativem Test-
 ergebnis dazu gezwungen, für 14 Tage in
 das „Quarantänehaus“ zu gehen. „Das ist           Es ist vielleicht nicht so offensichtlich     aus? Welche Hilfsangebote gibt es und wie
 ein Haus, das mit einem Seil abgesperrt           wie in manchen Metropolen, aber auch          werden diese umgesetzt?
 wurde. Wer darin ist, darf das Seil nicht         in Jena gibt es Menschen, die sich kei-
 verlassen. So sieht ein Quarantänehaus aus.       nen festen Wohnsitz leisten können
 Es ist ein Raum mit einem Bett und einem          oder wollen. Es ist für die meisten Men-
                                                                                                  “Wir wurden behandelt
 Tisch. Mehr nicht”, sagt der Geflüchtete.         schen unvorstellbar, keinen sicheren            wie der Abfallhaufen”
 In einem Zimmer werden dort bis zu acht           Schlafplatz zu haben. Doch wie wird
 einander unbekannte Personen unterge-             man obdachlos, kann es theoretisch je-          Auf die Frage, wie viel Unterstützung da-
 bracht. Pandemiebedingt finden Freizeit-          den treffen? Kurz und knapp: Ja. Frank        mals seitens der Stadt Jena kam, sagt Frank
 aktivitäten und wichtige Integrationsmaß-         Peter wurde von seinen Ärzten als ar-         Peter: „Die denken da alle nur an sich. Wir
 nahmen wie Deutschkurse oder Kinderbe-            beitsunfähig erklärt, musste schon mit        wurden behandelt wie der Abfallhaufen.“
 treuung nicht statt.                              Anfang 40 in Rente und konnte sich            Mittlerweile gibt es in der Stadt Jena Ini-
   Nach dem Bericht des Interviewpartners          seine derzeitige Wohnung nicht mehr           tiativen gegen Obdachlosigkeit, sie unter-
 fügt er noch hinzu: „Auch wenn Dinge le-          leisten. Das Jahr 2008 verbrachte er auf      stütze wo sie könne.
 gal sind, müssen sie illegal werden, dann         der Straße und versuchte damals täg-            Es gibt zum einen zwei Obdachlosen-
 muss sich etwas ändern. Es muss haupt-            lich die 3,10 Euro für das Obdachlosen-       heime, in denen Menschen übergangs-
 sächlich menschlich oder unmenschlich             heim zusammen zu bekommen. Den                weise wohnen können. Ein Heim am Stei-
 sein. Es müssen Umstände sein, wo die Men-        Tag mussten die Obdachlosen von 09:00         ger ist lediglich für Männer gedacht, das
 schen gut leben, wo es wirklich Hoffnung         - 18:00 Uhr draußen verbringen, auch           andere Heim ist für Frauen und Familien
 macht, weil der Mensch, der da ankommt,           im Winter. „Das ist kein Leben, das ist       eingerichtet. Hier können die Menschen
 ist sowieso hoffnungslos durch das, was           Überleben“, sagte Frank Peter.                wohnen, schlafen, kochen, waschen und
 davor erlebt wurde. Die Situation macht             Ullrich Becks Theorie der Risikogesell-     duschen. Laut Barbara Wolf, Fachdienst-
 es umso schlimmer.“ Da Thüringen genü-            schaft, dass unsere Gesellschaft Krisen       leiterin für Soziales der Stadt Jena: „Alles,
 gend Kapazitäten hat und sich bereit er-          ausgesetzt ist, die jeden treffen können,     was man sich vorstellen kann.“ Seit einigen
 klärt, mehr Geflüchtete aufzunehmen, als          klingt zwar in der Theorie nachvollzieh-      Jahren müssen die Bewohner:innen das
 es nach dem Verteilungsschlüssel eigent-          bar und bei einer Pandemie erstmal lo-        Heim tagsüber auch nicht mehr verlassen,
 lich müsste, läuft derzeit eine Petition dazu,    gisch. In der aktuellen Situation wirkt       sondern können Tag und Nacht dort blei-
 die die Landesregierung auffordert, dem           der Virus allerdings nicht sehr demokra-      ben. Dennoch ist es wohl alles andere als
 nachzukommen und sich gegen die Blo-              tisch, schließlich kann nicht jeder in ein    angenehm, mit mehreren Menschen dau-
 ckade des Bundesinnenministeriums und             gemütliches Homeoffice flüchten. Der          erhaft zusammen in einem Raum schlafen
 des zuständigen Ministers zu stellen. Um          Virus, beziehungsweise die politischen        zu müssen und keinen eigenen Rückzugs-
 die Hauptforderung durchzusetzen, die eu-         Maßnahmen, die für die Eindämmung             ort zu haben. Einzelzimmer gibt es ledig-
 ropäische Abschottungspolitik zu stoppen,         getroffen worden sind, trifft die Men-        lich für kranke Bewohner:innen.
 fordert die Mahnwache das Thüringer Mi-           schen in unterschiedlichem Ausmaß. Klar,        Zusätzlich gibt es Beratungsangebote.
 grationsministerium auf, die Möglichkeit,         dass alle zu Hause bleiben sollen, ist für    Wenn jemandem beispielsweise droht,
 einen Abschiebestopp für sechs Monate zu          alle gleich, aber wenn man sich die ver-      seine Wohnung zu verlieren, schaue man,
 verhängen, zu nutzen.                             schiedenen „Zu Hause“ anschaut, liegen        ob es Möglichkeiten gibt, den Wohnraum
   Die Mahnwache organisiert immer wieder          Welten dazwischen. Im Jahr 2019 lebten        zu erhalten und eine Obdachlosigkeit ir-
 Infoveranstaltungen, in denen sie Spielräu-       in Deutschland 650.000 Menschen ohne          gendwie umgangen werden kann. Falls
 me für Interventionen aufzeigt und dazu           Wohnsitz. Während der Pandemie im             der Wohnraum aus bestimmten Gründen
 aufruft, Brücken zwischen Menschen zu             Jahr 2020 hat sich die Zahl fast verdop-      nicht erhalten werden kann, werde eben-
 bauen. Mehr über die Veranstaltungen, die         pelt. Laut Schätzungen der Bundesar-          falls dabei geholfen, nach anderen Unter-
 erwähnte Petition oder Möglichkeiten, die         beitsgemeinschaft Wohnungshilfe leben         bringungsmöglichkeiten zu schauen und
 Mahnwache zu unterstützen und sich ein-           zur Zeit etwa eine Million Menschen in        zur Not ein Platz im Obdachlosenheim zur
 zubringen, erfährt man vor Ort.                   Deutschland ohne festen Wohnsitz. Wie         Verfügung gestellt.
                                                   sieht es in der Hinsicht eigentlich in Jena     Ähnliches leistet auch der private Träger
  Sophia Hümmer und Greta Schlusche
Uni & Stadt / 13

  Ein Dach für Alle in Jena. Der Verein bie-      werden. Die Befürchtung, dass viele Men-      Familie, das soziale Kapital, welches die
  tet Wohnungslosen und von Wohnungslo-           schen ihre Wohnung verlieren, weil sie        Menschen aus den Krisen holt. Ohne die
  sigkeit bedrohten Menschen Wohnraum             die Miete nicht zahlen können, hat sich       Hilfe seiner Mutter hätte er es damals
  und versucht, bestehende Mietverhält-           bislang in Jena noch nicht bestätigt,“ sagt   nicht aus der Obdachlosigkeit rausge-
  nisse zu sichern. Die Wohnprojektarbeit         Barbara Wolf. Das, was an Fällen gerade       schafft, erzählt Frank Peter. Das ist kein
  ist bei ihnen in der Regel an eine soziale      in der Stadt Jena aufschlage, da wären        Einzelfall und auch nicht verwunder-
  Betreuung geknüpft.                             oft die Problemlagen gar nicht mal un-        lich. Die Hürde, Hilfe von fremden Men-
    Um hilfsbedürftigen Menschen eine Per-        bedingt Corona. Sondern Dinge, die vor-       schen anzunehmen, ist oft ziemlich groß.
  spektive und Aufgabe zu schenken, leistet       her schon da waren.                           Hilfsangebote seitens der Stadt Jena gibt
  auch die Straßenzeitung NOTAusgang eine          Auch die Straßenzeitung lasse sich noch      es zwar, wenn man Hilfe will, kann man
  wichtige Arbeit. Seit 1997 bieten sie ein Fo-   immer gut verkaufen und hätte lediglich       Hilfe bekommen. Nur ist es für viele eine
  rum, in dem sich Bedürftige wie z.B. Zei-       eine Ausgabe im letzten Jahr ausfallen        Überwindung, diese anzufordern. Kön-
  tungsverkäufer, Hilfesuchende oder Lang-        lassen müssen.                                nen wir als Gesellschaft etwas daran än-
  zeitarbeitslose und Nicht-Bedürftige wie-                                                     dern? Ja, würde Frank Peter sagen. Das
  derfinden können. Zudem wird versucht,                                                        Gefühl, gesehen und als Teil der Gesell-
  die Hilfsbedürftigen mit Menschen bezie-            Keine wirkliche                           schaft wahrgenommen zu werden hat
  hungsweise Vereinen zu verbinden, die
                                                  Obdachlosigkeit in Jena?                      schon einen großen positiven Einfluss
  helfen können, wie zum Beispiel Selbst-                                                       auf das Selbstwertgefühl. Mit ihm kann
  hilfegruppen, Freiwilligenarbeit und so-          Obdachlosigkeit ist in Jena zwar nicht so   auch der Mut wachsen, fremde Hilfe an-
  zialen Vereinen. Die Straßenzeitung hat         präsent wie in anderen deutschen Städ-        zunehmen. Wenn wir aufhören, hilfs-
  es sich als Ziel gesetzt, den Blick von Au-     ten, doch auch hier passiert es immer wie-    bedürftige Menschen zu ignorieren, sie
  ßenstehenden auf bestehende soziale Pro-        der, dass Menschen durch plötzliche Di-       zu übersehen und ihnen stattdessen ein
  bleme und Brennpunkte in und um Jena            agnosen, Unfälle oder weil sie aus unter-     einfaches Lächeln oder ein offenes Ohr
  zu schärfen. Damit versucht sie, soziale        schiedlichsten Gründen ihre Wohnung           schenken, können wir vieles in deren Le-
  Probleme begreifbar zu machen und lei-          verlassen müssen, vom einen auf den           ben und in unserer gemeinsamen Gesell-
  stet einen Beitrag dazu, diese abzubauen.       anderen Tag auf der Straße sitzen. „Wir       schaft ändern. Zwar ist das noch lange
                                                  sind natürlich auch nicht groß genug, um      nicht genug, um dem Problem wirklich
                                                  ein wirkliches Obdachlosenproblem zu          entgegenzuwirken und es bedarf viel ak-
    Probleme gab es schon                         haben“, sagt Wolf. Im Vergleich zu an-        tiver ehrenamtlicher Unterstützung um
         vor Corona                               deren Großstädten in Deutschland trifft       wirklich was zu ändern, dennoch können
                                                  das natürlich zu, dennoch stellt Obdach-      auch schon kleine Dinge, die wirklich je-
    Seit Corona habe sich laut der Stadt Jena     losigkeit für jeden, der unfreiwillig von     der in seinem Alltag umsetzen kann, un-
  und der Straßenzeitung NOTAusgang al-           ihr betroffen ist, ein großes Problem dar.    ter Umständen etwas bewirken.
  lerdings gar nicht so viel im Alltag mit        Zwar gebe sich die Stadt Jena große Mühe,
  den Hilfsbedürftigen geändert. „Auswir-         dem Problem strukturell und durch Ini-               Leonore Sörgel und Tabea Volz
  kungen der Pandemie auf die Zahl der            tiativen entgegen zu wirken, doch in den
  Obdachlosen konnten nicht festgestellt          meisten Fällen sind es die Freunde und

Nicht die bequemste Herberge.
Foto: Dominik Itzigehl
14 / Klassiker

               Lilis Beste                                                                            Klassiker
      Das Akrützel-Schwein heißt Lili und keiner weiß,                                       In dieser Serie widmen wir den vermeintlichen
     warum eigentlich. Darum bekommt es jetzt eine Auf-                                                 und echten Meisterwerken
      gabe und stellt den heißesten Scheiß aus Jena vor.                                      unsere Liebeserklärungen und Hasstiraden.
                                                                                                              Diesmal: Duft.
 Jan Böhmermann klärte sein Publikum
 vor kurzem in einer Folge seiner Sen-                                                    Staub bedeckt das Fläschchen, das nicht größer als ein
 dung über die Influencerinnen auf, die                                                   handelsüblicher kleiner Finger ist. Darunter verbirgt sich
 scheinbar in Scharen in die Vereinigten                                                  nicht die Juniorversion eines bekannten Kräuterschnapses,
 Arabischen Emirate auswandern. Um dort                                                   sondern ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten: Als man
 Werbung zu machen – für den achsogön-                                                    noch das Haus verließ, eine Jogginghose noch Kontrollver-
 nerhaften Staat beispielsweise („I like, I                                               lust bedeutete und man sich Menschen auf eine Distanz
 like, beauutiful“) und nebenbei von einer                                                näherte, die heute bei Risikopatienten einen Herzinfarkt

                                                                         Foto: Suhrkamp
 Menge Werbekooperationen profitieren.                                                    auslösen würde. Als der eigene Dunstkreis noch Menschen
 Steuern sparen, dem kühlen Pandemie-                                                     umfasste und nicht nur die eigene Inneneinrichtung. Als
 deutschland entfliehen, die Follower trotz-                                              nicht nur der eigene Riechkolben, sondern auch der po-
 dem mitnehmen und bewundert werden,                                                      tentiell paarungswilliger Personen vor ekelerregender Pe-
 die habens gut.                                                                          netration durch Achselsaft verschont werden sollte. Was
   Diese manipulativ und antiaufklärerisch                                                nicht selten in einer Bedieselung nach dem Motto: „Wieso
 agierenden Sozialfiguren, wie die Autoren die Influencer schon im                        nur ein Schluck, wenn man gleich das ganze Fass haben
 Vorwort betiteln, sind, wie ihre Berufsbezeichnung schon vermu-                          kann?“ resultierte. „Viel hilft viel“, schien die Devise zu
 ten lässt, prägende Phänomene der heutigen Pop- und Konsumkul-                           sein, wenn einen auf der Straße immer noch eine Fahne
 tur. Ole Nymoen, ein Jenaer Wirtschaftsstudent, und Wolfgang M.                          Dior Homme umflorte, obwohl der mutmaßliche Träger
 Schmitt erläutern das gesellschaftspolitische Dilemma des Influen-                       dieser Reviermarkierung schon seit geraumer Zeit an
 certums und beleuchten viele Aspekte dessen in hohem Maße berech-                        einem vorbeigesteppt war. Die Frage aller Fragen: Welcher
 tigt kritisch. Der deutlich größere Anteil des Publikums der Influen-                    Duft ist nun der Richtige für mich? Das erste Selektions-
 cer kann nicht zwischen dem ehrlichen Beleuchten über ein Her-                           kriterium: Das Preisschild. Wenn ich ehrlich bin, kommen
 zensthema und dem antialtruistischen, werbepartnerfinanzierten                           eigentlich nur die Schnäppchen infrage. Oder stehe ich zu
„Ich-verrate-euch-mal-was-Besonderes“-Aufklären unterscheiden.                            meinem Geiz und suche gleich bei den Deodorants, den
 Die Welt ist so komplex geworden, dass über Aufklärer aufgeklärt                         billigen kleinen Brüdern des Parfums? No way, so tief bin
 wird, die dafür widerum selbst in kritisches Licht gerückt werden.                       ich noch nicht gesunken. Nicht, dass ich mir eines Tages
 Es ist nicht mehr zu erkennen, wer es nun wirklich noch gut mit                          noch ein Duftbäumchen in den BH klemme. Der nächste
 einem meint, und der sogenannte Influencer trägt nicht unbedingt                         Schritt erfordert schon psychologische Expertise: Welche
 einen entwirrenden Anteil dazu bei. Allerdings stellen sich die Au-                      Duft-Persönlichkeit bin ich? Eher der blumig-feminine
 toren des Sachbuches mit ihrer unempathischen Art zu schreiben                           oder der sportlich-frische Typ? Zeige ich klare Kante mit
 weit über die Leserin. In jedem Satz schwingt mit, dass sie offenbar                     markantem Moschus oder dufte mein Gegenüber mit dem
 als einzige durchschaut haben, dass diese „wandelnden Litfaßsäu-                         Mon Cheri unter den Parfums, dem Kölnisch Wasser, ins
 len“ als Retter des Kapitalismus auftreten, um nur den eigenen Ruf                       Koma? Wild schnüffele ich mich durch die Essenzen. Nach
 und Kontostand aufzubessern. Es ist keineswegs zu widersprechen,                         zweieinhalb Stunden, drei Mülleimern voll triefender Test-
 dass dieses konsumförderde Phänomen „Influencer“ eine Gefahr für                         Pappstreifen, einer genervten Verkäuferin und einer totge-
 eine selbstbestimmte, progressive Generation Z darstellt. Aber man                       rochenen Nasenschleimhaut verlasse ich fluchtartig den
 kann auch nicht alle Figuren, die Einfluss auf das Denken und Han-                       Laden. Wer mich mag, mag mich auch stinkend. Oder trifft
 deln einer Gesellschaft haben, über den bitteren Kamm des Dubai-                         mich per Zoom.
 Influencers von Böhmermann scheren. Das wird einer Greta Thun-                                                                     Carolin Lehmann
 berg einfach nicht gerecht. Über die Sprache selbst bleibt noch zu
 sagen, dass man beim Lesen den Eindruck hat, dass einfache Sach-
 verhalte bewusst so komplex wie möglich beschrieben werden, um
 sich vom nicht-akademisch-vorbelastetem Publikum möglichst ab-
 zugrenzen. Die Autoren verlieren sich in unpassenden Literaturver-
 gleichen; ob Brecht oder Marx - dem Leser wird die Meinung qua-
 si aufgebunden und es bleibt wenig Raum für Eigeninterpretation.
   Dennoch erhält man durch das Buch einen gut recherchierten, ideo-
 logiekritischen Überblick über ein Thema, dass jede und jeden nach-
                                                                                                                                                        Collage: Carolin Lehmann

 denklich stimmen sollte. Wenngleich auch spektakuläre Erkenntnisse
 ausbleiben, strukturieren die beiden Autoren den Inhalt klar und
 ordnen ihn in größere Zusammenhänge, wobei sie fokussiert blei-
 ben und polemisch auf dem Fundament berechtigter Kritik stehen.
                                                  Johanna Hungerer
FÜR DIESE SEITE IST DER FSU-STURA VERANTWORTLICH   Titel / 15
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                                                    Leserbriefe
 Zum Kommentar: „Politisch verdäch- ein Grund, dieser auch selbst zuzustimmen. rer Teilnehmer, einen stets unabgeschlos-
 tig? Der Triumph der Neigung über die           Wir sollen also erwachsen werden, heißt senen und erweiterbaren Teilnehmerkreis
 Form“ im Akrützel Nr. 406, S. 9.:              es – und am besten mit Carl Schmitt und ir- und: Die Problematisierung bis dahin un-
 Wie erfreulich, dass das Akrützel kri- gendwelchen Medienwissenschaftlern, die problematisierter Bereiche. Der Ansatz der
 tischen Stimmen zum Thema genderge- den politischen Moralismus anklagen. Der gendersensiblen Sprachkritik stellt sich
 rechte Sprache einen Platz einräumt. Jede von sovielen lebenspraktischen Ratschlä- in diese Tradition. Hier wird der Versuch
 Infragestellung und Kritik – beispielswei- gen und pathetischen Ausrufezeichen schon unternommen, unsere alltägliche Sprach-
 se an bestimmten Strukturen der Spra- überforderte, dumme und kindische Leser, praxis auf ihre immanenten Wertungen,
 che und der Verwendung von Begriffen sollte aber unbedingt bis zum eigentlichen ihr konnotatives und assoziatives Verwei-
– kann ja ihrerseits wieder in Orthodoxie Herzstück der Aufführung abwarten: Die sungssystem hin zu untersuchen sowie be-
 und blindes Regelwerk umschlagen – zu Forderung nach einer trennscharfen Un- stimmte Terminologien auf ihr Geworden-
 Recht sollten sie daher immer wieder terscheidung zwischen Privatem und Öf- sein hin offenzulegen, um sie ihrer Selbst-
 hinterfragt und kritisiert werden. Wie fentlichem.                                          verständlichkeit zu entkleiden. Der Ansatz
 bedauerlich jedoch, dass ausgerechnet           Sollte das 2006 in Kraft getretene Allge- der Sprachkritik besteht demgemäß gera-
 im kritischen Kommentar ein frappanter meine Gleichbehandlungsgesetz aufgeho- dezu in einem Angriff auf die Fraglosigkeit
 Mangel an Argumenten ins Auge fällt.           ben werden, weil es sich bei dem Leiden – hierin besteht der Sinn und Zweck einer
   Zunächst wird offenbar im Dienste der Wi- diskriminierter Personengruppen nur um öffentlichen, demokratischen Streitkultur.
 derständigen gesprochen, die sich „auf brei- – in Schwinds Worten –»unpolitische, per- Das gesellschaftliche Miteinander in einer
 ter Front“ gegen eine gendergerechte Spra- sönliche Befindlichkeiten« handelt? Sollten Demokratie sollte sich primär nicht durch
 che zur Wehr setzen. Diese von Schwind alle Interventionen des Staates in ehemals „Kooperation und Ausgleich“ auszeichnen,
 sogenannten fortschrittskritischen »Ande- gesellschaftliche Bereiche – sollten Sozial-, sondern dadurch, dass jeder ihrer Teilneh-
 ren« empfinden die Sprachregelungen als Kirchen- oder Bildungspolitik abgeschafft mer und Teilnehmerinnen sich selbst im
 deplatziert. Aha. Warum eigentlich? Darü- werden?                                           Anderen und diesen als den Gleichen, bei-
 ber erfahren wir zunächst nichts. Aber: Sie     Die bürgerlich-politische Öffentlichkeit, de als zwei Besonderungen eines Allgemei-
 sind im Recht – soviel steht fest. Ein Schelm, auf die Schwind in seiner Polemik referiert, nen – der Menschheit – versteht.
 wer dabei denkt, allein der Fakt, dass die hatte drei Grundpfeiler zur Bedingung:
 breite Masse irgendeine Meinung hat, wäre Die Gleichheit und Gleichbehandlung ih-                                Helen Akin (gekürzt)

 Zum Interview: „Ich habe das Gefühl,           Nebenbei bemerkt wurden seit der Staats-     Zum Interview: „Ich habe das Gefühl,
 dass ich besetzt bin“ im Akrützel Nr.        gründung des heutigen Israel ca. 850.000       dass ich besetzt bin“:
 406, S. 14-15.:                              jüdische Menschen aus arabischen Staaten       Ich finde das Interview sehr gelungen.
 Das Interview mit der palästinensischen      vertrieben, die in Israel Zuflucht gefunden    Selten lese ich Interviews oder Berichte
 Studierenden Balqees Adla hat bei mir        haben. Auch der Begriff „Intifada“ wird        über die Schüler:Innen und Studierenden
 einen schalen Beigeschmack hinterlassen.     grob verfälscht und vor allem verharmlo-       in dem palästinensischen Gebiet. Es zeigt
 Nicht so sehr, wegen dem was sie sagte,      st. Intifada waren nicht „gewaltsame Akti-     sehr gelungen die realistische Situation
 daran ist sie ja frei, aber wohl wegen des   onen gegen die israelische Besatzung“. „In-    in dem besetzen Areal. Besonders inte-
 redaktionellen Umgangs damit. So spricht     tifada“ war Terror. Intifada waren Molo-       ressant finde ich die Einschränkung in
 sie beispielsweise davon, direkt unter der   towcocktails, Benzinbomben und gezielte        der Bewegungsfreiheit, besonders für
 Besatzung zu leben. Nur gehört ihr Studi-    Angriffe mit anderen improvisierten Waf-       Menschen ohne israelischem Pass. Für
 enort Ramallah gar nicht dazu, sondern ist   fen auf jüdische Israelis. Das Märchen der     Studierende ist diese Einschränkung na-
 palästinensisches Autonomiegebiet. Das       Besatzungsmacht soll auch hier den blan-       türlich besonders schwer, vor allem da
 Narrativ von Israel als grundsätzlicher      ken Judenhass kaschieren, der der Gewalt       die Verbindung zu anderen Studierenden,
 Besatzungsmacht ist eines, das anknüpft      zugrunde liegt. Zu guter Letzt bleibt noch     auch außerhalb der eigenen Universität,
 an alten antisemitischen Hass und das im     daran zu erinnern, warum das heutige Isra-     sehr wichtig ist. Es wird einem gut vor
 Kontext des Israel-Palästina-Konflikts nur   el unter anderem existiert. Es existiert un-   Augen geführt, dass dies genauso jeden
 allzu gerne als Propaganda verwendet         ter anderem als eine Konsequenz aus jahr-      Studierenden wie generell schon jeden
 wird. So ist der Jude mal wieder Schuld.     hundertelangem Antijudaismus und Anti-         Jugendlichen und jedes Kind betrifft. Alle
   Die Anknüpfung fällt manchen               semitismus, der in das deutschen Verbre-       weiteren Aspekte bezogen auf Corona,
 Aktivist*innen nur allzu leicht, wo sich     chen der Shoah mündete. Grade deshalb          waren sehr interessant zu lesen.
 doch auch vermeintlich gemäßigte Orga-       muss man besonders kritisch mit denen
 nisationen wie die Fatah wieder mit den      umgehen, die Israel zerstören oder ihm                                Sirin Abuelhaija
 Terroristen der Hamas aussöhnen, deren       seine Existenzgrundlage entziehen wollen,
 erklärtes Ziel die Vernichtung Israels und   so wie es offenbar die Interviewte und der
 jüdischen Lebens ist.                        Interviewer intendieren.
   Die Begriffserläuterungen am Ende des
 Artikels lassen einen Erschauern. Bei der                     Konrad Erben (gekürzt)
„Nakba“ handelt es sich schlicht um einen
 Propagandamythos.
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