AKRÜTZEL ALLES ONLINE ODER WAS? - Akrützel
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AKRÜTZEL Jenas führende HochschulZeitung seit 1989 ALLES ONLINE ODER WAS? WAS VON DER UNI ÜBRIG BLEIBT Gemahnt Gealtert Gebeeft Seebrücke Senioren im Studium Leserbriefe Nummer 407 I 29. Mai 2021 I 32. Jahrgang I www.akruetzel.de
2 / Editorial Liebe Leserinnen und Leser, Inhalt Das Semester hat gerade erst begonnen und alles nervt schon wieder nur. Irgendetwas ist zwischen 22 und 5 Uhr, es heißt noch einmal einmal die Zähne zusammenbeißen, und die Zahl 04 WIR MÜSSEN LEIDER DRAUSSEN 165 spielt eine Rolle. Jetzt halten wir also nochmal zwei, drei BLEIBEN Wochen durch. Und dann? Dann haben wir es geschafft? Es Wie das Digitalsemester weiter geplant wird. herrscht keine Corona-Müdigkeit. Das ist Corona-Wut, ja Coro- na-Hass. 06 „ICH HOFFE, DASS WIR NICHT Natürlich kann man diese beschissene Lage auch als Chance se- ALLZU VIELE STUDIERENDE hen. Man hat endlich Zeit, selber Brot zu backen oder mit dem VERLIEREN“ Rauchen anzufangen. Aber schmeckt nicht das vom Bäcker viel Im Interview mit dem Thüringer Staatssekretär besser? Es ist kompliziert. Schönere Lösungen als die jetzigen für Wissenschaft. haben wir nicht, das ist auch nicht unsere Aufgabe. Mit denen, deren Aufgabe das ist, haben wir in dieser Ausgabe gesprochen. 08 MIT 63 JAHREN, DA FÄNGT DAS Außerdem trafen wir einen Senior, den es im Alter nochmal STUDIUM AN in die Uni zog, der aber von den hohen Studiengebühren auf- Welche Hürden birgt ein Studium im gehalten wurde. Und der Oberbürgermeister hat uns für den Rentenalter? Fragebogen Zu Vino sag ich besucht, wollte aber eine Frage zur Kemmerich-Wahl partout nicht beantworten. 10 KOMMT DIE VERGANGENHEIT Naja, jetzt heißt es nochmal zwei Wochen aushalten, Zähne ZURÜCK? zusammenbeißen, dann kommt zumindest das nächste Akrüt- Neues Zuhause für Archäologen in der „Alten zel. Das ist sicher. Tim Große Universität” geplant. Chefredakton 11 WARUM SEID IHR HIER? Über die Forderungen der Dauermahnwache Jenas. 13 WHERE TO #STAY WITHOUT A Seit ihr #HOME? auch Obdachlosigkeit: Wenn die Parkbank das zu Hause ist. Kamerageil? 14 LILIS BESTE Rezension von „Influencer“ des Jenaer Studenten Ole Nymoen. Dann gehört ihr ins 16 LESERBRIEFE/LESERBEEFE Interessantes aus dem Akrützel-Postfach. Gründungsteam von Akrützel TV! 18 ZU VINO SAG ICH Diesmal mit Oberbürgermeister Thomas Nitzsche. Meldet euch unter: redaktion@akruetzel.de 19 FISCHERMAN´S FRIENDS Erste Ausgabe unserer neuen kessen Kultkolumne.
/3 Mal wieder an die Urne Spowis sauer Med-Club umgezogen DIESES UND JENAS Der Stura hat die Durchführung einer Urabstimmung zum Semesterticket be- schlossen. Es soll abgestimmt werden, ob das DB- und VMT-Semesterticket un- Der Med-Club, einer der letzten ehren- ter anderem mit einer Preiserhöhung Die Studierendenschaft des Instituts amtlich betriebenen Studentenclubs, hat und einer Einführung als E-Ticket wei- für Sportwissenschaft ist unzufrieden. am Johannisplatz eine neue Bleibe ge- tergeführt werden soll. Vom 10.5.2021 Mit einem weiteren Online-Semester funden. Nachdem den etwa 15 aktiven bis zum 12.5.2021 ist die Urnenabstim- bestand die Hoffnung auf einige Mitgliedern ihre letzte Heimstätte im mung in der Carl-Zeiss-Straße möglich. Regeländerungen und Anpassungen Jazzcafe des Kulturbahnhofes vom Ver- Falls sich weniger als zehn Prozent der bei Praktika und Kursteilnahmen. mieter gekündigt wurde, versucht der Studierenden beteiligen, wird das DB- Dies ist jedoch kaum bis gar 1972 gegründete Verein nun im Keller- sowie VMT-Ticket abgesetzt, was in die- nicht geschehen, was die Spowi- gewölbe der ehemaligen Standbar sein sem Fall bedeutet, dass der Thüringer Studierendenschaft dazu veranlasste, Glück. Dort will man das Konzept ver- Nah-und Fernverkehr nicht mehr in- einen offenen Brief an die Mitglieder ändern und statt Tanzveranstaltungen begriffen ist. des Institutsrates zu verfassen. Darin vermehrt auf Barbetrieb setzen. „Aus werden unter anderem die Anpassung wirtschaftlicher Perspektive war das Her mit der Kohle einiger verpflichtender Praktika Jazzcafe sinnlos, da wir an Tagen, wo kei- an Coronazeiten gefordert, sowie ner Zeit hat, Veranstaltungen gemacht realistischere Kursteilnehmerplätze haben, für die keiner Geld hat“, sagt Mar- in überfüllten Kursen. Beispielsweise ko Drüge. Er ist Vorstandsvorsitzender gab es nur zwölf Plätze für bis zu im Med-Club, und mittlerweile Physik- 80 Anmeldungen. Das kann für lehrer in Eisenberg. Generell bestehe Studierende die Einhaltung der der Club nicht nur aus Studenten, und Regelstudienzeit erschweren oder nur noch aus einem Mediziner, dessen Der EAH Stura fordert eine Aufwands- unmöglich machen und führte zu Fachrichtung den Verein einst ins Le- entschädigung von 160 € pro Vorstands- großem Unmut unter den Studierenden, ben rief und ihren Namen gab. Wenn mitglied und Monat. Laut Martin Sch- trotz einiger Anpassungen der die aktuellen Einschränkungen vorbei midt, Vorstandsmitglied des Sturas der Regelstudienzeit. Das FSU-Kanzleramt sind, will man regelmäßig, mindestens EAH, solle die Studierendenschaft auf- antwortete auf den Brief damit, dass zweimal in der Woche, Barbetrieb und grund fehlender Kenntnisse zum Ar- die Vermeidung einer Verzögerung Sonderveranstaltungen auf einer klei- beitsaufwand im Stura nicht am Ent- der Regelstudienzeit nun erst einmal nen Bühne anbieten. scheidungsprozess beteiligt werden. Zur im Vordergrund stünde. Über weitere Tim Große Piktogramme: Julia Keßler Finanzierung der Ehrenamtsentschädi- Maßnahmen, ob kurz- oder langfristig, gung sei eine Erhöhung des Semester- werde noch abgestimmt. beitrages vorgesehen. Hierzu wurden Leah Boege (3) Bedenken ausgesprochen, dass dies für einige Studierende gerade jetzt eine zu- sätzliche Belastung sein könnte. Die Dis- kussion wurde nach allgemeiner Ab- sprache vertagt. Anzeige
/4 WIR MÜSSEN LEIDER DRAUSSEN BLEIBEN von Tim Große Die FSU startet ins nunmehr dritte Digitalsemester. Ob es das bleibt, ist noch unklar. Hat die Hochschulleitung einen Plan? Foto: Dominik Itzigehl
Titel / 5 D er Bund hat die Notbremse gezo- Scania ist Mitglied im Senat der FSU und steht ein uni-eigenes Testzentrum zur Ver- gen, und auch wenn es sich nicht damit eine der wenigen studentischen Stim- fügung, das werktäglich von 8-10 Uhr geöff- so anfühlt, als wäre jetzt irgendein men im obersten Selbstverwaltungsgre- net hat. Dies seien keine bewusst studente- Zug stehen geblieben, hat sie die Pläne zur mium der Uni. Sie und Jonathan Schäfer nunfreundlichen Zeiten; sowohl Studieren- erweiterten Thulb-Öffnung durchkreuzt. zeigten sich im vergangenen Winterseme- de als auch Mitarbeiter hätten extra darum Parallel zur Einführung der Schnelltest- ster sehr unzufrieden mit dem Corona-Ma- gebeten, um sich vor dem Aufsuchen der zentren plante die FSU ab Mai alle nach nagement der Uni. Das habe sich aber mitt- Büros und Labors testen lassen zu können. Infektionsschutzkonzept zur Verfügung lerweile gebessert, Regelungen werden frü- stehenden Arbeitsplätze der Thulb an- her bekannt gegeben und die Kommunika- bieten zu können. „Die Bibliothek ist wie tion laufe im Allgemeinen besser. Nur ein Maskenverstoss die Universität abhängig von den bundes- und landesweit geltenden Regelungen „Das Präsidium interssiert Bei allen Präsenzangeboten sowie beim und die werden mit der sogenannten Mensa-Besuch, der weiterhin möglich bleibt, Notbremse gerade erneut justiert“, sagt sich mehr für die Meinung werden die Kontakte zudem mit QRoniton Kim Siebenhüner, Vizepräsidentin für der Dozierenden als der nachverfolgt. Seit Oktober seien mit diesem Studium und Lehre. Dabei ist es gerade Studierenden“ System mehr als 103.000 Scans durchge- die Bibliotheksöffnung, die sich viele Stu- führt wurden, wobei es bisher keinen In- dierende sehnsüchtig herbeiwünschen. „Besser ist ungleich gut. Das Präsidium fektionsausbruch an der Uni gegeben habe. beugt sich dem Druck der Mehrheit, inte- Lediglich zwei Kontaktfälle wurden durch Arbeitsplatznutzung ressiert sich aber mehr für die Meinung QRoniton nachverfolgt. Auch die Verstöße der Dozierenden als der Studierenden”, gegen Hygineauflagen hätten sich bisher in an der EAH-Bibliothek ergänzt Jonathan. Grenzen gehalten. Nur ein Verstoß gegen möglich Daran, dass die digitale Lehre bis Mitte die Maskenpflicht in einem Gemeinschafts- Mai mehr Präsenz weichen könnte, wie raum sei dem Präsidium gemeldet worden. Während in der Bibliothek der Ernst-Ab- von FSU-Präsident Walter Rosenthal in sei- Weiterhin bleibt vieles unklar: Wie wer- be-Hochschule die Arbeitsplatznutzung ner Rundmail angekündigt, glaube er nicht. den die Prüfungen abgehalten? Wird man schon lange wieder möglich ist, bietet die Auch Rosenthal selbst spricht von großer bei Digitalprüfungen per Webcam beobach- Thulb seit mehr als vier Monaten nur das Unklarheit. Lehrveranstaltungen vor Ort tet? Wie soll man Fragen in Live-Übertra- Angebot zur Ausleihe. „Momentan arbei- seien momentan einfach nicht drin: „Auch gungen aus dem Multi-Media-Zentrum stel- ten viele Leute in der Cafeteria oder ein- wenn wir denken, dass wir ein sehr gutes len, wenn diese mit teilweise 30 Minuten fach irgendwo im Gebäude, da wäre es Infektionsschutzkonzept haben, wäre es Latenzzeit den heimischen Rechner errei- doch besser, zum Beispiel die Carrels zu ein falsches Signal, in der Phase einer na- chen? „Zufrieden wäre ich, wenn ich sa- öffnen“, sagt Scania Steger. Sie wolle auch tionalen Notbremse über Präsenzlehre gen könnte, die Pandemie sei in dem Maß nicht, dass die Leute in die Thulb kämen, nachzudenken.“ bewältigt, in dem wir das Beste digitaler weil es da schöner als zu Hause sei, aber Erlaubt bleiben weiterhin inzidenzunab- Lehre mit der Universität als sozialem Ort für die Studierenden, die wirklich einen hängig Praktika, sportpraktische Übungen vereint hätten“, sagt Vizepräsidentin Sie- Arbeitsplatz benötigen, sei dies die bes- und Labortätigkeiten. Für Studierende, die benhüner. Und ja, wäre es kein Konjunk- sere Lösung. an diesen Präsenzelementen teilnehmen tiv, wäre das ganz schön. Grafik: Janina Gerhardt
6 / Titel „ICH HOFFE, DASS WIR NICHT ALLZU VIELE STUDIERENDE VERLIEREN“ Carsten Feller (SPD) ist Thüringer Staatssekretär für Wissenschaft und Hochschulen. Ein Gespräch über Studieren während Corona. Die Thüringer Strategie zur Digitali- Pandemie tatsächlich so lange andauern rinnen und Professoren, sondern auch sierung im Hochschulbereich wurde würde. Deswegen war es aus meiner zu den Kommilitonen, ist extrem wichtig. 2017 ins Leben gerufen. Das sind 51 Sicht damals das richtige Signal zu sagen, Viele Studiengänge leben von der inten- Jahre nach Erfindung des Internets. wir organisieren das so, dass der Studi- siven Diskussion – das geht online auch, Kam die Strategie etwas verspätet? enalltag möglichst ungestört stattfinden aber viel schlechter. Ein weiteres Thema Nein, das kann man nicht sagen. Bei kann, und nur wenn das nicht funktio- sind die Bibliotheken. Wir hatten vor 20 einer guten Kombination aus digitalen niert, dann wird das Semester nicht auf Jahren noch eine weitgehende Präsenz- Unterstützungselementen und Präsenz- die Regelstudienzeit angerechnet. Aber bibliothekslandschaft. Inzwischen geht veranstaltungen waren die Hochschulen in den meisten Fällen hat es eben funkti- viel mehr des Beschaffungsbudgets in in der Tat zögerlich. Aber es ist auch in oniert. Dann war es aus meiner Sicht ein digitale Zeitschriften und Literatur als Thüringen so, dass das erste Programm Erfolg, zu sagen, wir verlängern nicht in Präsenzbestände. Und wenn man zur Förderung von E-Learning um die pauschal. nochmal 20 Jahre weiterdenkt, ist mei- Jahrtausendwende kam und es trotz- ne Vermutung, dass alles elektronisch dem Vorbehalte gegen die Form der Und die Qualität des Studiums war publiziert werden wird. Und dann stellt Lehre gegeben hat und immer noch gibt. Ihnen egal? sich die Frage, ob man sehr große Biblio- Deswegen ist Corona eine riesige Chance Wir haben eine Regelung im Mantelge- theken mit Lesesälen noch braucht, oder für diesen Bereich. Meine Hoffnung ist, setz eingeführt, mit der die Studieren- ob diese umgebaut werden in Orte mit dass dadurch Berührungsängste abge- den, die glaubhaft machen können, dass Arbeitsplätzen und Gruppenräumen. baut werden und viele sagen, das ist ja sie wegen Corona das Semester nicht in keine schlechte Sache. vollem Umfang studieren konnten, das An der EAH fanden bis zuletzt alle nicht auf die Regelstudienzeit angerech- Prüfungen in Präsenz statt. Begrün- Also läuft in der Digitallehre alles net bekommen. Insgesamt haben etwa det wurde dies mit rechtlichen Un- spitze? 1200 von 50.000 Studierenden einen klarheiten. Was ist dran? Natürlich hat nicht alles funktioniert. solchen Antrag gestellt, was für mich Es gibt die gesetzlichen Grundlagen, Wir mussten an den Hochschulen die Di- bedeutet, dass der allergrößte Teil trotz Prüfungen datenschutzkonform digital gitalinfrastruktur neu aufbauen. Weder dieser Krise das Studium halbwegs or- durchzuführen. Dabei darf man, wie Sie war die Verwaltung darauf eingestellt, dentlich weiterführen konnte. sagen, auch über die Kamera des Laptops überwiegend im Homeoffice zu arbeiten, beobachtet werden. Dass alle Prüfungen noch hat digitale Lehre in dem nötigen Jetzt haben Sie festgestellt, dass es in Präsenz stattfinden, ist ein Punkt, der Umfang sofort geklappt. Wir haben das doch nicht so gut läuft und rückwir- schwierig ist. Wir haben in der letzten landesseitig mit 2,2 Millionen Euro im kend das Beste daraus gemacht? Runde mit den Präsidenten darauf ge- ersten Schritt und nochmal 2,8 Millionen Von Anfang an zu sagen, das macht drängt, dass möglichst viele Prüfungen Euro im zweiten Schritt unterstützt, um nichts, es gibt eine Verlängerung der digital stattfinden. Die Prüfung ist aber die digitale Lehre möglichst gut stattfin- Regelstudienzeit, wäre kein gutes Signal Teil der Lehre. Und diese steht unter den zu lassen. Im Ergebnis hat das gut gewesen. Irgendwann muss man aber einem besonderen grundgesetzlichen geklappt. zur Kenntnis nehmen, dass die Pande- Schutz der Freiheit von Forschung und mie deutlich länger dauert, als wir das Lehre. Und deshalb ist es schwierig, mit Das eingeschränkte Lehrangebot alle im März letzten Jahres geahnt ha- einer Maßgabe des Landes auf eine kon- macht ein Studium in der vorge- ben, und muss dann mit anderen Maß- krete Prüfungsentscheidung einzuwir- Foto: Greta Schlusche sehenen Regelstudienzeit schwer nahmen darauf reagieren. Deshalb gibt ken. Ich nehme zur Kenntnis, dass das möglich. Trotzdem hat sich Thü- es jetzt die pauschale Verlängerung der nicht überall gelungen ist. ringen erst Mitte März als letztes Regelstudienzeit. Bundesland dazu entschieden, diese An einigen sächsischen Hochschulen pauschal um zwei Semester zu ver- Wird der Präsenzlehre langfristig gibt es zumindest für Studienanfän- längern. Warum so spät? weniger Aufmerksamkeit geschenkt ger eine Rückkehr zu einem begrenz- Mir war wichtig, dass nicht der Eindruck werden? ten Präsenzangebot im Verbund mit entsteht, es gäbe eine Art Nullsemester, Ich bin kein Freund davon, jetzt kom- einem negativen Test. Wäre dies in das schon von vornherein als abgehakt plett auf digitale Lehre umzustellen, Thüringen momentan auch umsetz- betrachtet werden kann. Das wäre nicht denn dann würde sich – etwas zuge- bar? verantwortlich gewesen, da geht es auch spitzt – die Frage stellen, warum ich in Grundsätzlich schon. Alle Hochschulen um die Lebenszeit von Studierenden. Erfurt, Jena studieren soll oder ob nicht haben ja im geringen Maße Präsenzver- Zumal zu diesem Zeitpunkt niemand eine Uni deutschlandweit ausreicht. anstaltungen, und die kann man auswei- wirklich davon ausgegangen ist, dass die Der Kontakt, nicht nur zu den Professo- ten, wenn man sie mit Testkonzepten
Titel / 7 verbindet. Das neue Infektionsschutz- gesetz des Bundes setzt nun aber in ganz unguter Weise Hochschulen mit Schulen gleich; das besagt, dass ab ei- ner Inzidenz von 165 keinerlei Präsen- zangebote mehr stattfinden dürfen. Das ist aus unserer Sicht unsinnig, weil die Lehrveranstaltungen an Hochschulen überhaupt nicht mit denen an Schulen vergleichbar sind. Die FSU zeigt hier Initiative und hat ein eigenes Testzentrum in Betrieb genommen. Bekommt sie dafür zu- sätzliche Unterstützung von Land? Nein, das finanziert die Hochschule aus den eigenen Mitteln, dazu sind sie auch in der Lage. Zieht sich das Ministerium damit nicht aus der Verantwortung? Wir geben das nicht vor. Es gibt Regeln für die Beschäftigten an den Hochschu- len, das sind zwei Testangebote pro Wo- che. Und dann gibt es die Möglichkeit von Hochschulen, Tests in ihr Hygiene- konzept einzubauen, um beispielswei- se bestimmte Präsenzsituationen zu ermöglichen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Hochschulen das in ih- rer eigenen Verantwortung hinkriegen. Warum spielen Studierende in der öffentlichen Wahrnehmung eine kleinere Rolle als Schüler? Studierende sind im Unterschied zu Schülern ganz anders in der Lage, selbst zu lernen. Die Möglichkeit, Stoffe selbst zu erarbeiten, ist geradezu Inhalt des Studiums. Dass das Ganze zu psy- chischen Belastungen führt, ist aber Fotos: Dominik Itzigehl auch verständlich. mit den Steuergeldern so umgegangen zweimal gehört. Der Wunsch nach Nor- Wie stark wurden die Hilfspro- sind, wie sich das gehört. Und dann ist malität wird sicher bald wieder dazu gramme für Studierende in fina- eben ein zweckgebundener Nachweis führen, dass man in alte Verhaltens- zieller Not nachgefragt? erforderlich. weisen zurückkommt. Die Corona-Soforthilfe des Landes ist 367 mal bewilligt worden, das sind Welche nachhaltigen Folgen wird Momentan wird für Mitte Mai die knapp 300.000 Euro. Corona in der Hochschullandschaft Möglichkeit der Rückkehr zur teil- hinterlassen? weisen Präsenzlehre in Aussicht Bei dem Programm Studienstart- Ich hoffe, dass wir nicht allzu viele Stu- gestellt. Ist das wirklich realistisch? hilfePlus braucht es eine Verwen- dierende auf dem Weg verloren haben. Ich halte es für realistisch, dass mit dungsnachweisliste aller Ausgaben, Was Studienabbrüche anbelangt, kön- zwei bis drei Wochen harten Lock- sonst muss man die Unterstützung nen wir momentan noch nicht gut ge- downs und zunehmenden Impfquoten zurückzahlen. Das ist kein wirklich nug in den Statistiken sehen. Ich kann eine begrenzte Präsenzlehre ab Ende niederschwelliges Angebot. fast sagen, das ist jetzt meine dritte Mai möglich ist. Aber mit Sicherheit Wir haben lange überlegt, ob das nicht Pandemie. Ich habe schon Schweine- kann man das heute nicht sagen. einfacher geht. Aber wir sind da im pest und Geflügelgrippe in meinem ak- Bereich des Zuwendungsrechts, und tiven Berufsleben hinter mir. Sätze wie Das Interview führte Tim Große da kommt dann in zwei Jahren der „Das Leben ist danach nie mehr, wie es Landesrechnungshof und guckt, ob wir davor gewesen ist“ habe ich auch schon
8 / Uni & Stadt MIT 63 JAHREN, DA FÄNGT DAS STUDIUM AN Wer im Ruhestand noch einmal studiert und sich mit jungen Menschen austauscht, lebt eher diverses Miteinander als in einsamer Stille. Welche Hürden birgt ein Studium im betagten Alter? Auf dem Campus der FSU sind einige Studierende. Sie unterscheiden sich Siegfrieds Leidenschaft für das Recht hat selbst das BGB der DDR überdauert in ihrer Herkunft, Hautfarbe und Ge- Foto: Lars Materne schlecht. Als Siegfried Häuser zum Interview auf dem Ernst-Abbe-Platz erscheint, wird ersichtlich, dass Viel- falt an der Universität hauptsächlich von jungen Menschen repräsentiert wird. Ohne ein Gespräch mit dem 79-Jährigen bliebe Siegfried wohl eher ein zufälliger Senior auf dem Campus und wenigen käme in den Sinn, dass er ein Kommilitone ist oder gewesen sein könnte. Mangelt es an Vorstellungs- kraft, fehlt es den Älteren für ein Studi- um an Motivation oder gibt es materi- elle Hürden, die es verhindern, dass an der Universität das Miteinander durch mehr Senior:innen vielfältiger wird? Mit 63 Jahren und niedriger Rente wollte Siegfried für sich eine finanzi- ell bessere Perspektive entwickeln und setzte sich das Ziel, zumindest bis zum ersten Staatsexamen Jura in Jena zu stu- dieren, um bestenfalls danach freiberuf- lich als Jurist tätig zu sein oder sich we- nigsten beim Schreiben satirischer Texte vor rechtlichen Folgen selbst schützen zu können. An der FSU haben Senior:innen wie er unterschiedliche Angebote, um sich Wissen ganz nach dem Motto des „Lebenslangen Lernens“ anzueignen. Die ganze Fülle eines Studiengangs erhal- ten sie, wenn sie sich für ein Studium einschreiben. Dieses Semester sind sechs Senior:innen eingeschrieben. Wie alle anderen Studi- eninteressierte haben auch sie die Zu- gangsbedingungen zu erfüllen, müssen Leidenschaft, grosse dium angestrebt hatte. Nach dem abge- jedoch für das Lehrangebot zusätzlich Pläne und eine brochenen Studium waren ihm die sati- zum Semesterbeitrag eine Studiengebühr Studiengebühr, die rischen Texte dann auch zu heikel und von 250 Euro pro Semester zahlen. Seit ausbremst das freiberufliche Arbeiten schien zu 2006 ist im Thüringer Hochschulgesetz unrealistisch. Siegfrieds Wunsch, seine für alle Studierende über 60 Jahren eine Als die Studiengebühr eingeführt wur- Leidenschaft für das Rechtliche bei ei- Gebühr von mindestens 125 und höch- de, wollte Siegfried nicht gegen die zu- ner Tätigkeit schöpferisch zu verwirk- stens 500 Euro festgeschrieben. Die Hoch- sätzlichen Kosten klagen und beendete lichen, blieb somit unerfüllt. Seine Be- schulen haben somit zwar einen gesetz- sein Jurastudium nach drei Semestern. geisterung, die in der Schulzeit zu DDR- lichen Spielraum, das Studium im Alter Die damalige politische Argumentati- Zeiten begann, konnte er schon im ersten und Vielfalt unter den Studierenden gibt on für die Studiengebühr entrüstet ihn Studium nicht nachgehen, da er Ökono- es aber immer gegen eine Gebühr. Be- heute noch, da behauptet wurde, dass mie studiert hatte und dann in der Wirt- freit von der Gebühr werden nur Per- Menschen im Alter nicht mehr aus wirt- schaft bis zur Rente arbeitete. Sein Inte- sonen mit Grundsicherung oder wenn schaftlichen Gründen studieren, aber er resse für das Gesetz blieb währenddessen sie einen Härteantrag stellen. unter anderem genau deswegen das Stu- dennoch erhalten und so kam es, dass er
Uni & Stadt / 9 als juristischer Laie noch kurz vor dem sensstand, meint Siegfried. „Außerdem Vielfalt unter den Studierenden bei di- Ende der DDR in Diskussion auf die Än- lohnt es sich, die Gedanken der Älteren gitalen Veranstaltungen noch niedriger derung eines Wahlgesetzes hinwirken nicht verschwinden zu lassen“, sagt er ist als vor der Pandemie. konnte. Es ist also eine gewisse tragische und weist auch auf die zunehmende Wendung daran zu erkennen, dass sei- Abhängigkeit von digitalem Wissen hin, ne Leidenschaft für das Rechtliche von das aus seiner Sicht schneller verloren politische Mehrheit einem Gesetz ausgebremst wurde. gehen kann. für gebührenfreies Ähnlich positiv beschreibt der Diversi- tätsbeauftragte der FSU, Dr. David Green, Studieren fehlt wie er die sinnstiftende Wirkung von Ein Studium ist gut für Weiterbildungsangeboten bei einem äl- Unabhängig vom erschwerten Zugang jung und alt teren Angehörigen im familiären Kreis durch die digitale Lehre bleiben die Stu- erlebt hat. Jedoch würden durch die kom- diengebühren für ältere Studierende Dennoch möchte Siegfried die Zeit an plizierten Vorschriften und Gesetze Wei- und Gasthörer:innen bestehen. Green der FSU nicht missen. „Das Verblüffen- terbildungen faktisch als Stiefkind be- schreibt, dass sich diesbezüglich der Je- de war für mich, vom ersten Tag an sog handelt. Hier sieht er politischen Hand- naer Studierendenrat schon 2016 für die mein Gehirn alles auf wie ein Schwamm“, lungsbedarf und rechtliche Änderungen Abschaffung aller Studiengebühren aus- sagt er rückblickend. Im Hörsaal saß er als notwendig an. Zudem bemängelt er gesprochen habe. Solle es ein besseres immer in der Mitte der fünften Reihe die beliebige Festlegung der Gebühren- Weiterbildungsangebot alte Menschen und schrieb fleißig mit. Insgesamt fühl- abgabe auf 60 Jahre und weist darauf hin, an der FSU geben, sieht er die Hochschu- te sich Siegfried aber in seiner Studien- dass dies mit Hilfe des Diskriminierungs- le in der Verantwortung, da mit Markt- zeit agiler. Doch manchmal hatte er ei- verbots im Gleichbehandlungsgesetz auf forschung sich durchaus die Bedarfe von nen Sekundenschlaf während den Vor- Bundesebene anfechtbar ist. Fühle sich Senior:innen genauer bestimmen zu kön- lesungen und mit den Prüfungen und eine Person wegen der Gebührenpflicht nen. Gleichzeitig ermutigt er die Thü- Hausarbeiten hatte er seine Schwierig- der Altersdiskriminierung ausgesetzt, ringer Bürger:innen, durch Mitarbeit in keiten, da ihm die „juristische Denke“ könne sie sich somit ans Diversitätsbü- Parteien und zivilgesellschaftlichen Ini- gefehlt habe. Wenn er an seine ehema- ro wenden. Dennoch konstatiert er, dass tiativen auf die Rahmenbedingen einzu- ligen Kommiliton:innen denkt, meint die Gebühren für ein Studium erhoben wirken, denn nur wenn der rechtliche er: „Obwohl ich so ein Oller bin, hatten werden müssen, da für Hochschulen das Rahmen es auch den Hochschulen zu- sie kein Problem mit mir und ich mit ih- Landesrecht bindend ist. lässt, kann ein besseres Weiterbildung- nen nicht.“ Nur folgerichtig war es für Ein Weiterbildungsangebot neben sangebote für ältere Menschen an den ihn, sich in einer Vorlesungspause vor dem klassischen Studium stellt die FSU geschaffen werden. Grundlegende den Studierenden im Hörsaal zu verab- Gasthörer:innenschaft dar. Hier belau- Voraussetzung ist also eine Mehrheit in schieden. „Viele haben nur mitbekom- fen sich die Gebühren auf bis zu 50 Euro der Bevölkerung, die das Lernen im Al- men, dass da so ein Oller vorne saß und pro Semester, es gibt keine notwendi- ter und Vielfalt unter den Studierende eifrig mitgemacht hatte und plötzlich – gen Voraussetzungen. Gasthörer:innen einfordert. oh, der wollte ja richtig studieren“; kom- und eingeschriebene Studierende jeden Nach dem Interview verlässt Siegfried mentiert Siegfried schmunzelnd die Re- Alters begegnen sich somit bei densel- den Campus. Er erzählte auch, dass er aktionen auf seinem Abschied. ben Veranstaltungen. Nach Informa- während des Studiums häufiger hier Im Allgemeinen findet er, dass auch tionen des Studierenden-Service-Zen- war als daheim. Wie wäre das Mitei- Senior:innen unabhängig ihrer finan- trum brach an der FSU die Anzahl der nander auf dem Campus, wenn häufiger ziellen Situation die Möglichkeiten zum älteren Gasthörer:innen um 80 Prozent Senior:innen erzählen könnten, sie seien Studieren haben sollten, denn wer Lei- im ersten digitalen Semester ein. Mitt- mehr im Hörsaal, in der Mensa und Bi- denschaft für ein Fachgebiet hat, soll lerweile hat sich die Anzahl bei um die bliothek gewesen als daheim und von auch die gesammelte Lebenserfahrung 40 älteren Gasthörer:innen in den letz- welchen Erfahrungen berichten dann und gewachsenen sozialen Beziehungen ten zwei Semester stabilisiert, was nur die jüngeren Studierenden? mit den jungen Menschen teilen. Einen knapp 30 Prozent der Teilnehmer:innen großen Nutzen sieht er darin für die Stu- sind, die vor der Pandemie als Gasthö- Lars Materne dierenden, denn wenn sie die Unterstüt- rende eingeschrieben waren. Es zeigt zung annehmen, müssten sie das Wis- sich also, dass nach der Digitalisierung sen weniger mühsam erarbeiten. Die der Lehre weniger Senior:innen in den meisten seien auf dem gleichen Wis- Veranstaltungen präsent sind und die
10 / Uni & Stadt KOMMT DIE VERGANGENHEIT ZURÜCK? Die „Alte Universität“ am Fürstengraben 23 ist über die Jahre in Vergessenheit geraten. Bald soll sie in neuem altem Glanz erstrahlen. Lost Places: Für die einen ein Synonym blieb im Familienbesitz, bis die Uni sich für geschichtsträchtige Romantik oder zu ihrem 300-jährigen Bestehen im Jahr Abenteuer, andere würden gerne jedes 1858 selbst beschenkte und das Grund- baufällige Bauwerk einstampfen, das stück kaufte. Türen und Fenster wur- ihr Sichtfeld kreuzt. Der Kulturkampf den erneuert, Dachbalken abgestützt und Alt gegen Neu wird insbesondere in Jena Hörsäle errichtet, um das neue Hauptge- ersichtlich, vielerorts gleicht die Stadt bäude der Universität fit für eine neue einer großen Baustelle. Und so hat sich Zeit zu machen. Knapp 50 Jahre lang wahrscheinlich schon der eine oder an- hielt die wohl ruhmreichste Ära dieses dere Gedanken darüber gemacht, was Bauwerks an, bevor es mit dem Umzug es mit dem Gebäude der „Alten Univer- ins neue Hauptgebäude schlagartig an sität“ am Fürstengraben 23 eigentlich Bedeutung verlor. Danach noch vom In- auf sich hat. stitut für Rechtsmedizin genutzt, steht Unscheinbar hinter hohen Birken ver- das Gebäude seit 2017 komplett leer und borgen, in einer direkt am stark befah- scheint am Ende seiner Geschichte an- renen Fürstengraben gelegenen Häuser- gekommen zu sein. reihe gegenüber dem Botanischen Garten, thront ein Stück Universitätsgeschichte. Abgebröckelter Putz und die grün-gräu- Neues Leben in der Bude liche Färbung lassen darauf schließen, dass dieses Gebäude seine besten Zeiten Doch wer das glaubt, hat die Rechnung schon hinter sich hat. ohne Frau Demme und Herrn Otto vom Tatsächlich kann es auf eine lange Hi- Baudezernat der Uni gemacht. Ihr Ziel ist storie zurückblicken. Seit einem halben nichts weniger als die komplette Sanie- In die Jahre gekommen: Ansicht vom Jahrtausend besteht das Gebäude in sei- rung des Hauses, in dem zukünftig das In- Fürstengraben nem Fundament, Teile des Mauerwerks stitut für Orientalistik, Indogermanistik Foto: Alexander Nehls lassen sich bis auf das Jahr 1510 zurück- und ur- und frühgeschichtliche Archäo- führen. Im dunklen Kellergewölbe wurden logie mit einer bedeutenden Münzsamm- Reste der alten Stadtmauer, auf der das lung untergebracht werden soll. Projektlei- vor der Wendezeit nicht versucht wurde, Bauwerk einst errichtet wurde, gefunden. terin Demme führt mit Begeisterung durch die Fassade zu rekonstruieren. Die dama- Schon im 18. Jahrhundert wohnten Studie- die Gänge und Zimmer und schwärmt da- ligen Vorstellungen entsprächen schlicht rende in dem in Geschichtsbüchern auch bei von dem alten Fachwerk, den Dielen- nicht dem heutigen Denkmalschutz, zu- als Alte Wucherey bekannten Gebäude; vo- böden, Doppeltüren, Laubengängen und dem sei auch der Anspruch an eine Sanie- rausgesetzt, sie konnten sich ein Zimmer Fenstern aus dem 19. Jahrhundert. Beson- rung mittlerweile ein anderer. Statt einer im Haus der Familie Wucherer leisten. Es ders glücklich zeigt sie sich darüber, dass kompletten Wiederherstellung des alten Zustands sollen noch existente Teile rekon- struiert, fehlende dagegen sichtbar her- vorgehoben werden. „Wir wollen bewusst zeigen, was alt ist und was fehlt“, sagt De- zernent Otto. Einen niedrigen zweistelli- gen Millionenbetrag soll das ganze Projekt kosten, als erster Schritt solle die Fassade bereits in wenigen Jahren komplett saniert sein. Zu einer Prognose, wann die Bauar- beiten tatsächlich beginnen, geschwei- ge denn beendet sein könnten, lässt sich jedoch keiner der beiden hinreißen. So- mit dürfte das Gebäude noch für eine lan- ge Zeit leer stehen, bevor es der Wissen- schaft ein neues Zuhause werden kann. Alexander Nehls Bis vor wenigen Jahren wurde hier noch gewerkelt Foto: Tim Große
Uni & Stadt / 11 WARUM SEID IHR HIER? Seit anderthalb Monaten sticht mitten im Jenaer Zentrum eine Dauermahnwache ins Auge. Was bewegt die Initiative? Es ist Mittwoch, kurz vor 16 Uhr. In der ganz klar nicht der Versuch seien, ein Ge- Erstaufnahmeeinrichtungen für Geflüch- Stadt ist viel los, Eis essende Menschen flüchtetenlager oder die Situation darzu- tete, die noch auf das Ergebnis ihres Asyl- und Radfahrer:innen genießen die er- stellen. Auf die Frage, was die Mahnwa- antrags warten. Wobei Erstaufnahmeein- sten Sonnenstrahlen, zwischen denen che für die Beteiligten bedeute, antwortet richtung ein schöneres Wort für eine la- sich das Faulloch aufdrängt, das gerade der geflüchtete Interviewpartner: „Wenn gerähnliche Gemeinschaftsunterkünfte mehr als eine Freifläche zwischen Johan- ich einen Menschen sehe, der ein paar Mi- ist - in Suhl direkt neben einem Schieß- nistor und Pulverturm ist: Banner, Plakate nuten davor steht, die Plakate liest, Auf- platz, der noch in Betrieb ist. Für Geflüch- und Zelte füllen den Platz. Seit eineinhalb merksamkeit zeigt, dann finde ich das su- tete, die gerade aus den Lagern in Grie- Monaten, seit dem 5. März, ist der Platz per wichtig und das wird dann auch auf chenland kommen und durch Flucht und Kundgebungsort der Dauermahnwache. jeden Fall was verändern.” Krieg teilweise schwere Kriegstraumata Diese wurde von der Seebrücke initiiert. haben, ist die Situation dort nicht wirk- Aufmerksamkeit möchte die Mahnwache lich das, was man humanitäre Versor- nicht dadurch bekommen, indem darü- „Auch wenn Dinge legal gung und Unterbringung nennen kann. ber berichtet wird, wie unbequem es tat- sind, müssen sie illegal Die Einrichtung ist bei vielen wegen der sächlich ist, seit 47 Tagen auf dem Platz Umstände Auslöser für eine Retraumati- zu übernachten und dauerhaft präsent werden“ sierung. Die aktuelle gesetzliche Regelung zu sein, sondern vielmehr für das, wo- sieht vor, dass Geflüchtete bis zu 18 Mo- für die Mahnwache eigentlich steht und Die Stadt könne dazu beitragen, die Si- nate in der Erstaufnahme bleiben. Wäh- ihre Forderungen. Bunte Transparente tuation zu verbessern, indem sie, wie von rend der 18 Monate haben die Geflüchte- und die Infotafeln rufen vorbeischlen- der Mahnwache gefordert, die Kapazitäten ten keine Informationen darüber, wie ihr dernden Passant:innen entgegen: „Eva- in Jena und Thüringen ausnutzt und die nächster Tag aussieht oder wo sie im Fal- cEUateNow!” Geflüchteten nicht in Gemeinschaftsun- le eines genehmigten Asylantrags hinge- Aber wofür steht die Mahnwache? Von terkünften oder lagerähnlichen Einrich- schickt werden. Informationen oder Be- den Interviewpartner:innen, eine Aktivi- tungen, sondern in Wohnungen unter- ratungsangebote für Geflüchtete fehlen m n stin und ein Geflüchter, die lieber anonym bringt. Konkret könnten sich der Stadtrat komplett. Hinzu komme Alltagsrassis- s bleiben wollen, ist zu erfahren, dass mit und vor allem Bürgermeister Thomas Nitz- mus von Securityleuten, die Einschrän- dieser Aktionsform ein Zeichen gesetzt, sche dafür einsetzten, dass Jena einen Teil kung der Rechte von Geflüchteten, und aber auch real politische Änderungen ge- der 600 Geflüchteten aus der Erstaufnah- Corona. Ihre Rechte wurden schon vor schaffen werden sollen. „Es geht darum, meeinrichtung in Suhl aufnimmt. Der Ge- der Pandemie stark eingeschränkt. Eine ein Zeichen gegen das rassistische Sys- flüchtete erzählt uns von der Situation in der Aktivistinnen berichtet: „Ganz viel, tem zu setzen, weil Abschiebungen und Suhl, die er durch einen Bekannten kennt, was in Suhl gemacht wird, ist eigentlich die gesamte europäische Migrationspo- der momentan dort ist. Suhl ist eine der nicht legal. Von der Unterbringung, aber litik die direkte Konsequenz davon ist,” erklärt eine der Aktivistinnen. Als eine von vielen Aktions- oder Protestformen will die Mahnwache vor allem das The- ma Migration, Flüchtlingspolitik und Asyl wieder präsenter für Menschen machen und zum Beispiel durch Gespräche mit Passant:innen und Veranstaltungen wie Leserunden in die Mitte Jenas holen. Die Aktionsform ist auch Mittel um den For- derungen Druck zu verleihen. Eine ihrer großen Forderungen ist die Aufhebung und Abschaffung aller Lager, Bewegungs- freiheit für alle und ein Abschiebestopp. Diese beziehen sich dabei vor allem auf die menschenunwürdigen Zustände in den Lagern an den sogenannten Außen- grenzen wie in Moria oder Kara Tepe, aber auch in Bosnien. Die Form des Pro- tests soll ein Zeichen der Solidarität mit den Geflüchteten sein. Dabei wird betont, dass die Zelte und die Art der Mahnwache Mahnwache im Faulloch Foto: Greta Schlusche
12 / Uni & Stadt auch bei persönlichen Gegenständen. Ei- gentlich dürfen sie nicht einfach die Ge- WHERE TO #STAY genstände anschauen oder durchsuchen, wenn sie keinen Grund dafür haben. Das wird ständig gemacht.” Durch die Pande- WITHOUT A #HOME? mie kommen neue Einschränkungen hinzu: Der Hashtag #stayhome wurde zu Beginn von Corona Den Geflüchteten ist es nicht erlaubt, län- vielfach in den sozialen Medien geteilt. Gute Idee mit dem ger als 24 Stunden das Camp zu verlassen, zu Hause bleiben, nur wohin, wenn man kein „Home“ hat? andernfalls sind sie trotz negativem Test- ergebnis dazu gezwungen, für 14 Tage in das „Quarantänehaus“ zu gehen. „Das ist Es ist vielleicht nicht so offensichtlich aus? Welche Hilfsangebote gibt es und wie ein Haus, das mit einem Seil abgesperrt wie in manchen Metropolen, aber auch werden diese umgesetzt? wurde. Wer darin ist, darf das Seil nicht in Jena gibt es Menschen, die sich kei- verlassen. So sieht ein Quarantänehaus aus. nen festen Wohnsitz leisten können Es ist ein Raum mit einem Bett und einem oder wollen. Es ist für die meisten Men- “Wir wurden behandelt Tisch. Mehr nicht”, sagt der Geflüchtete. schen unvorstellbar, keinen sicheren wie der Abfallhaufen” In einem Zimmer werden dort bis zu acht Schlafplatz zu haben. Doch wie wird einander unbekannte Personen unterge- man obdachlos, kann es theoretisch je- Auf die Frage, wie viel Unterstützung da- bracht. Pandemiebedingt finden Freizeit- den treffen? Kurz und knapp: Ja. Frank mals seitens der Stadt Jena kam, sagt Frank aktivitäten und wichtige Integrationsmaß- Peter wurde von seinen Ärzten als ar- Peter: „Die denken da alle nur an sich. Wir nahmen wie Deutschkurse oder Kinderbe- beitsunfähig erklärt, musste schon mit wurden behandelt wie der Abfallhaufen.“ treuung nicht statt. Anfang 40 in Rente und konnte sich Mittlerweile gibt es in der Stadt Jena Ini- Nach dem Bericht des Interviewpartners seine derzeitige Wohnung nicht mehr tiativen gegen Obdachlosigkeit, sie unter- fügt er noch hinzu: „Auch wenn Dinge le- leisten. Das Jahr 2008 verbrachte er auf stütze wo sie könne. gal sind, müssen sie illegal werden, dann der Straße und versuchte damals täg- Es gibt zum einen zwei Obdachlosen- muss sich etwas ändern. Es muss haupt- lich die 3,10 Euro für das Obdachlosen- heime, in denen Menschen übergangs- sächlich menschlich oder unmenschlich heim zusammen zu bekommen. Den weise wohnen können. Ein Heim am Stei- sein. Es müssen Umstände sein, wo die Men- Tag mussten die Obdachlosen von 09:00 ger ist lediglich für Männer gedacht, das schen gut leben, wo es wirklich Hoffnung - 18:00 Uhr draußen verbringen, auch andere Heim ist für Frauen und Familien macht, weil der Mensch, der da ankommt, im Winter. „Das ist kein Leben, das ist eingerichtet. Hier können die Menschen ist sowieso hoffnungslos durch das, was Überleben“, sagte Frank Peter. wohnen, schlafen, kochen, waschen und davor erlebt wurde. Die Situation macht Ullrich Becks Theorie der Risikogesell- duschen. Laut Barbara Wolf, Fachdienst- es umso schlimmer.“ Da Thüringen genü- schaft, dass unsere Gesellschaft Krisen leiterin für Soziales der Stadt Jena: „Alles, gend Kapazitäten hat und sich bereit er- ausgesetzt ist, die jeden treffen können, was man sich vorstellen kann.“ Seit einigen klärt, mehr Geflüchtete aufzunehmen, als klingt zwar in der Theorie nachvollzieh- Jahren müssen die Bewohner:innen das es nach dem Verteilungsschlüssel eigent- bar und bei einer Pandemie erstmal lo- Heim tagsüber auch nicht mehr verlassen, lich müsste, läuft derzeit eine Petition dazu, gisch. In der aktuellen Situation wirkt sondern können Tag und Nacht dort blei- die die Landesregierung auffordert, dem der Virus allerdings nicht sehr demokra- ben. Dennoch ist es wohl alles andere als nachzukommen und sich gegen die Blo- tisch, schließlich kann nicht jeder in ein angenehm, mit mehreren Menschen dau- ckade des Bundesinnenministeriums und gemütliches Homeoffice flüchten. Der erhaft zusammen in einem Raum schlafen des zuständigen Ministers zu stellen. Um Virus, beziehungsweise die politischen zu müssen und keinen eigenen Rückzugs- die Hauptforderung durchzusetzen, die eu- Maßnahmen, die für die Eindämmung ort zu haben. Einzelzimmer gibt es ledig- ropäische Abschottungspolitik zu stoppen, getroffen worden sind, trifft die Men- lich für kranke Bewohner:innen. fordert die Mahnwache das Thüringer Mi- schen in unterschiedlichem Ausmaß. Klar, Zusätzlich gibt es Beratungsangebote. grationsministerium auf, die Möglichkeit, dass alle zu Hause bleiben sollen, ist für Wenn jemandem beispielsweise droht, einen Abschiebestopp für sechs Monate zu alle gleich, aber wenn man sich die ver- seine Wohnung zu verlieren, schaue man, verhängen, zu nutzen. schiedenen „Zu Hause“ anschaut, liegen ob es Möglichkeiten gibt, den Wohnraum Die Mahnwache organisiert immer wieder Welten dazwischen. Im Jahr 2019 lebten zu erhalten und eine Obdachlosigkeit ir- Infoveranstaltungen, in denen sie Spielräu- in Deutschland 650.000 Menschen ohne gendwie umgangen werden kann. Falls me für Interventionen aufzeigt und dazu Wohnsitz. Während der Pandemie im der Wohnraum aus bestimmten Gründen aufruft, Brücken zwischen Menschen zu Jahr 2020 hat sich die Zahl fast verdop- nicht erhalten werden kann, werde eben- bauen. Mehr über die Veranstaltungen, die pelt. Laut Schätzungen der Bundesar- falls dabei geholfen, nach anderen Unter- erwähnte Petition oder Möglichkeiten, die beitsgemeinschaft Wohnungshilfe leben bringungsmöglichkeiten zu schauen und Mahnwache zu unterstützen und sich ein- zur Zeit etwa eine Million Menschen in zur Not ein Platz im Obdachlosenheim zur zubringen, erfährt man vor Ort. Deutschland ohne festen Wohnsitz. Wie Verfügung gestellt. sieht es in der Hinsicht eigentlich in Jena Ähnliches leistet auch der private Träger Sophia Hümmer und Greta Schlusche
Uni & Stadt / 13 Ein Dach für Alle in Jena. Der Verein bie- werden. Die Befürchtung, dass viele Men- Familie, das soziale Kapital, welches die tet Wohnungslosen und von Wohnungslo- schen ihre Wohnung verlieren, weil sie Menschen aus den Krisen holt. Ohne die sigkeit bedrohten Menschen Wohnraum die Miete nicht zahlen können, hat sich Hilfe seiner Mutter hätte er es damals und versucht, bestehende Mietverhält- bislang in Jena noch nicht bestätigt,“ sagt nicht aus der Obdachlosigkeit rausge- nisse zu sichern. Die Wohnprojektarbeit Barbara Wolf. Das, was an Fällen gerade schafft, erzählt Frank Peter. Das ist kein ist bei ihnen in der Regel an eine soziale in der Stadt Jena aufschlage, da wären Einzelfall und auch nicht verwunder- Betreuung geknüpft. oft die Problemlagen gar nicht mal un- lich. Die Hürde, Hilfe von fremden Men- Um hilfsbedürftigen Menschen eine Per- bedingt Corona. Sondern Dinge, die vor- schen anzunehmen, ist oft ziemlich groß. spektive und Aufgabe zu schenken, leistet her schon da waren. Hilfsangebote seitens der Stadt Jena gibt auch die Straßenzeitung NOTAusgang eine Auch die Straßenzeitung lasse sich noch es zwar, wenn man Hilfe will, kann man wichtige Arbeit. Seit 1997 bieten sie ein Fo- immer gut verkaufen und hätte lediglich Hilfe bekommen. Nur ist es für viele eine rum, in dem sich Bedürftige wie z.B. Zei- eine Ausgabe im letzten Jahr ausfallen Überwindung, diese anzufordern. Kön- tungsverkäufer, Hilfesuchende oder Lang- lassen müssen. nen wir als Gesellschaft etwas daran än- zeitarbeitslose und Nicht-Bedürftige wie- dern? Ja, würde Frank Peter sagen. Das derfinden können. Zudem wird versucht, Gefühl, gesehen und als Teil der Gesell- die Hilfsbedürftigen mit Menschen bezie- Keine wirkliche schaft wahrgenommen zu werden hat hungsweise Vereinen zu verbinden, die Obdachlosigkeit in Jena? schon einen großen positiven Einfluss helfen können, wie zum Beispiel Selbst- auf das Selbstwertgefühl. Mit ihm kann hilfegruppen, Freiwilligenarbeit und so- Obdachlosigkeit ist in Jena zwar nicht so auch der Mut wachsen, fremde Hilfe an- zialen Vereinen. Die Straßenzeitung hat präsent wie in anderen deutschen Städ- zunehmen. Wenn wir aufhören, hilfs- es sich als Ziel gesetzt, den Blick von Au- ten, doch auch hier passiert es immer wie- bedürftige Menschen zu ignorieren, sie ßenstehenden auf bestehende soziale Pro- der, dass Menschen durch plötzliche Di- zu übersehen und ihnen stattdessen ein bleme und Brennpunkte in und um Jena agnosen, Unfälle oder weil sie aus unter- einfaches Lächeln oder ein offenes Ohr zu schärfen. Damit versucht sie, soziale schiedlichsten Gründen ihre Wohnung schenken, können wir vieles in deren Le- Probleme begreifbar zu machen und lei- verlassen müssen, vom einen auf den ben und in unserer gemeinsamen Gesell- stet einen Beitrag dazu, diese abzubauen. anderen Tag auf der Straße sitzen. „Wir schaft ändern. Zwar ist das noch lange sind natürlich auch nicht groß genug, um nicht genug, um dem Problem wirklich ein wirkliches Obdachlosenproblem zu entgegenzuwirken und es bedarf viel ak- Probleme gab es schon haben“, sagt Wolf. Im Vergleich zu an- tiver ehrenamtlicher Unterstützung um vor Corona deren Großstädten in Deutschland trifft wirklich was zu ändern, dennoch können das natürlich zu, dennoch stellt Obdach- auch schon kleine Dinge, die wirklich je- Seit Corona habe sich laut der Stadt Jena losigkeit für jeden, der unfreiwillig von der in seinem Alltag umsetzen kann, un- und der Straßenzeitung NOTAusgang al- ihr betroffen ist, ein großes Problem dar. ter Umständen etwas bewirken. lerdings gar nicht so viel im Alltag mit Zwar gebe sich die Stadt Jena große Mühe, den Hilfsbedürftigen geändert. „Auswir- dem Problem strukturell und durch Ini- Leonore Sörgel und Tabea Volz kungen der Pandemie auf die Zahl der tiativen entgegen zu wirken, doch in den Obdachlosen konnten nicht festgestellt meisten Fällen sind es die Freunde und Nicht die bequemste Herberge. Foto: Dominik Itzigehl
14 / Klassiker Lilis Beste Klassiker Das Akrützel-Schwein heißt Lili und keiner weiß, In dieser Serie widmen wir den vermeintlichen warum eigentlich. Darum bekommt es jetzt eine Auf- und echten Meisterwerken gabe und stellt den heißesten Scheiß aus Jena vor. unsere Liebeserklärungen und Hasstiraden. Diesmal: Duft. Jan Böhmermann klärte sein Publikum vor kurzem in einer Folge seiner Sen- Staub bedeckt das Fläschchen, das nicht größer als ein dung über die Influencerinnen auf, die handelsüblicher kleiner Finger ist. Darunter verbirgt sich scheinbar in Scharen in die Vereinigten nicht die Juniorversion eines bekannten Kräuterschnapses, Arabischen Emirate auswandern. Um dort sondern ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten: Als man Werbung zu machen – für den achsogön- noch das Haus verließ, eine Jogginghose noch Kontrollver- nerhaften Staat beispielsweise („I like, I lust bedeutete und man sich Menschen auf eine Distanz like, beauutiful“) und nebenbei von einer näherte, die heute bei Risikopatienten einen Herzinfarkt Foto: Suhrkamp Menge Werbekooperationen profitieren. auslösen würde. Als der eigene Dunstkreis noch Menschen Steuern sparen, dem kühlen Pandemie- umfasste und nicht nur die eigene Inneneinrichtung. Als deutschland entfliehen, die Follower trotz- nicht nur der eigene Riechkolben, sondern auch der po- dem mitnehmen und bewundert werden, tentiell paarungswilliger Personen vor ekelerregender Pe- die habens gut. netration durch Achselsaft verschont werden sollte. Was Diese manipulativ und antiaufklärerisch nicht selten in einer Bedieselung nach dem Motto: „Wieso agierenden Sozialfiguren, wie die Autoren die Influencer schon im nur ein Schluck, wenn man gleich das ganze Fass haben Vorwort betiteln, sind, wie ihre Berufsbezeichnung schon vermu- kann?“ resultierte. „Viel hilft viel“, schien die Devise zu ten lässt, prägende Phänomene der heutigen Pop- und Konsumkul- sein, wenn einen auf der Straße immer noch eine Fahne tur. Ole Nymoen, ein Jenaer Wirtschaftsstudent, und Wolfgang M. Dior Homme umflorte, obwohl der mutmaßliche Träger Schmitt erläutern das gesellschaftspolitische Dilemma des Influen- dieser Reviermarkierung schon seit geraumer Zeit an certums und beleuchten viele Aspekte dessen in hohem Maße berech- einem vorbeigesteppt war. Die Frage aller Fragen: Welcher tigt kritisch. Der deutlich größere Anteil des Publikums der Influen- Duft ist nun der Richtige für mich? Das erste Selektions- cer kann nicht zwischen dem ehrlichen Beleuchten über ein Her- kriterium: Das Preisschild. Wenn ich ehrlich bin, kommen zensthema und dem antialtruistischen, werbepartnerfinanzierten eigentlich nur die Schnäppchen infrage. Oder stehe ich zu „Ich-verrate-euch-mal-was-Besonderes“-Aufklären unterscheiden. meinem Geiz und suche gleich bei den Deodorants, den Die Welt ist so komplex geworden, dass über Aufklärer aufgeklärt billigen kleinen Brüdern des Parfums? No way, so tief bin wird, die dafür widerum selbst in kritisches Licht gerückt werden. ich noch nicht gesunken. Nicht, dass ich mir eines Tages Es ist nicht mehr zu erkennen, wer es nun wirklich noch gut mit noch ein Duftbäumchen in den BH klemme. Der nächste einem meint, und der sogenannte Influencer trägt nicht unbedingt Schritt erfordert schon psychologische Expertise: Welche einen entwirrenden Anteil dazu bei. Allerdings stellen sich die Au- Duft-Persönlichkeit bin ich? Eher der blumig-feminine toren des Sachbuches mit ihrer unempathischen Art zu schreiben oder der sportlich-frische Typ? Zeige ich klare Kante mit weit über die Leserin. In jedem Satz schwingt mit, dass sie offenbar markantem Moschus oder dufte mein Gegenüber mit dem als einzige durchschaut haben, dass diese „wandelnden Litfaßsäu- Mon Cheri unter den Parfums, dem Kölnisch Wasser, ins len“ als Retter des Kapitalismus auftreten, um nur den eigenen Ruf Koma? Wild schnüffele ich mich durch die Essenzen. Nach und Kontostand aufzubessern. Es ist keineswegs zu widersprechen, zweieinhalb Stunden, drei Mülleimern voll triefender Test- dass dieses konsumförderde Phänomen „Influencer“ eine Gefahr für Pappstreifen, einer genervten Verkäuferin und einer totge- eine selbstbestimmte, progressive Generation Z darstellt. Aber man rochenen Nasenschleimhaut verlasse ich fluchtartig den kann auch nicht alle Figuren, die Einfluss auf das Denken und Han- Laden. Wer mich mag, mag mich auch stinkend. Oder trifft deln einer Gesellschaft haben, über den bitteren Kamm des Dubai- mich per Zoom. Influencers von Böhmermann scheren. Das wird einer Greta Thun- Carolin Lehmann berg einfach nicht gerecht. Über die Sprache selbst bleibt noch zu sagen, dass man beim Lesen den Eindruck hat, dass einfache Sach- verhalte bewusst so komplex wie möglich beschrieben werden, um sich vom nicht-akademisch-vorbelastetem Publikum möglichst ab- zugrenzen. Die Autoren verlieren sich in unpassenden Literaturver- gleichen; ob Brecht oder Marx - dem Leser wird die Meinung qua- si aufgebunden und es bleibt wenig Raum für Eigeninterpretation. Dennoch erhält man durch das Buch einen gut recherchierten, ideo- logiekritischen Überblick über ein Thema, dass jede und jeden nach- Collage: Carolin Lehmann denklich stimmen sollte. Wenngleich auch spektakuläre Erkenntnisse ausbleiben, strukturieren die beiden Autoren den Inhalt klar und ordnen ihn in größere Zusammenhänge, wobei sie fokussiert blei- ben und polemisch auf dem Fundament berechtigter Kritik stehen. Johanna Hungerer
FÜR DIESE SEITE IST DER FSU-STURA VERANTWORTLICH Titel / 15
16 / Leserbriefe Zum Kommentar: „Politisch verdäch- ein Grund, dieser auch selbst zuzustimmen. rer Teilnehmer, einen stets unabgeschlos- tig? Der Triumph der Neigung über die Wir sollen also erwachsen werden, heißt senen und erweiterbaren Teilnehmerkreis Form“ im Akrützel Nr. 406, S. 9.: es – und am besten mit Carl Schmitt und ir- und: Die Problematisierung bis dahin un- Wie erfreulich, dass das Akrützel kri- gendwelchen Medienwissenschaftlern, die problematisierter Bereiche. Der Ansatz der tischen Stimmen zum Thema genderge- den politischen Moralismus anklagen. Der gendersensiblen Sprachkritik stellt sich rechte Sprache einen Platz einräumt. Jede von sovielen lebenspraktischen Ratschlä- in diese Tradition. Hier wird der Versuch Infragestellung und Kritik – beispielswei- gen und pathetischen Ausrufezeichen schon unternommen, unsere alltägliche Sprach- se an bestimmten Strukturen der Spra- überforderte, dumme und kindische Leser, praxis auf ihre immanenten Wertungen, che und der Verwendung von Begriffen sollte aber unbedingt bis zum eigentlichen ihr konnotatives und assoziatives Verwei- – kann ja ihrerseits wieder in Orthodoxie Herzstück der Aufführung abwarten: Die sungssystem hin zu untersuchen sowie be- und blindes Regelwerk umschlagen – zu Forderung nach einer trennscharfen Un- stimmte Terminologien auf ihr Geworden- Recht sollten sie daher immer wieder terscheidung zwischen Privatem und Öf- sein hin offenzulegen, um sie ihrer Selbst- hinterfragt und kritisiert werden. Wie fentlichem. verständlichkeit zu entkleiden. Der Ansatz bedauerlich jedoch, dass ausgerechnet Sollte das 2006 in Kraft getretene Allge- der Sprachkritik besteht demgemäß gera- im kritischen Kommentar ein frappanter meine Gleichbehandlungsgesetz aufgeho- dezu in einem Angriff auf die Fraglosigkeit Mangel an Argumenten ins Auge fällt. ben werden, weil es sich bei dem Leiden – hierin besteht der Sinn und Zweck einer Zunächst wird offenbar im Dienste der Wi- diskriminierter Personengruppen nur um öffentlichen, demokratischen Streitkultur. derständigen gesprochen, die sich „auf brei- – in Schwinds Worten –»unpolitische, per- Das gesellschaftliche Miteinander in einer ter Front“ gegen eine gendergerechte Spra- sönliche Befindlichkeiten« handelt? Sollten Demokratie sollte sich primär nicht durch che zur Wehr setzen. Diese von Schwind alle Interventionen des Staates in ehemals „Kooperation und Ausgleich“ auszeichnen, sogenannten fortschrittskritischen »Ande- gesellschaftliche Bereiche – sollten Sozial-, sondern dadurch, dass jeder ihrer Teilneh- ren« empfinden die Sprachregelungen als Kirchen- oder Bildungspolitik abgeschafft mer und Teilnehmerinnen sich selbst im deplatziert. Aha. Warum eigentlich? Darü- werden? Anderen und diesen als den Gleichen, bei- ber erfahren wir zunächst nichts. Aber: Sie Die bürgerlich-politische Öffentlichkeit, de als zwei Besonderungen eines Allgemei- sind im Recht – soviel steht fest. Ein Schelm, auf die Schwind in seiner Polemik referiert, nen – der Menschheit – versteht. wer dabei denkt, allein der Fakt, dass die hatte drei Grundpfeiler zur Bedingung: breite Masse irgendeine Meinung hat, wäre Die Gleichheit und Gleichbehandlung ih- Helen Akin (gekürzt) Zum Interview: „Ich habe das Gefühl, Nebenbei bemerkt wurden seit der Staats- Zum Interview: „Ich habe das Gefühl, dass ich besetzt bin“ im Akrützel Nr. gründung des heutigen Israel ca. 850.000 dass ich besetzt bin“: 406, S. 14-15.: jüdische Menschen aus arabischen Staaten Ich finde das Interview sehr gelungen. Das Interview mit der palästinensischen vertrieben, die in Israel Zuflucht gefunden Selten lese ich Interviews oder Berichte Studierenden Balqees Adla hat bei mir haben. Auch der Begriff „Intifada“ wird über die Schüler:Innen und Studierenden einen schalen Beigeschmack hinterlassen. grob verfälscht und vor allem verharmlo- in dem palästinensischen Gebiet. Es zeigt Nicht so sehr, wegen dem was sie sagte, st. Intifada waren nicht „gewaltsame Akti- sehr gelungen die realistische Situation daran ist sie ja frei, aber wohl wegen des onen gegen die israelische Besatzung“. „In- in dem besetzen Areal. Besonders inte- redaktionellen Umgangs damit. So spricht tifada“ war Terror. Intifada waren Molo- ressant finde ich die Einschränkung in sie beispielsweise davon, direkt unter der towcocktails, Benzinbomben und gezielte der Bewegungsfreiheit, besonders für Besatzung zu leben. Nur gehört ihr Studi- Angriffe mit anderen improvisierten Waf- Menschen ohne israelischem Pass. Für enort Ramallah gar nicht dazu, sondern ist fen auf jüdische Israelis. Das Märchen der Studierende ist diese Einschränkung na- palästinensisches Autonomiegebiet. Das Besatzungsmacht soll auch hier den blan- türlich besonders schwer, vor allem da Narrativ von Israel als grundsätzlicher ken Judenhass kaschieren, der der Gewalt die Verbindung zu anderen Studierenden, Besatzungsmacht ist eines, das anknüpft zugrunde liegt. Zu guter Letzt bleibt noch auch außerhalb der eigenen Universität, an alten antisemitischen Hass und das im daran zu erinnern, warum das heutige Isra- sehr wichtig ist. Es wird einem gut vor Kontext des Israel-Palästina-Konflikts nur el unter anderem existiert. Es existiert un- Augen geführt, dass dies genauso jeden allzu gerne als Propaganda verwendet ter anderem als eine Konsequenz aus jahr- Studierenden wie generell schon jeden wird. So ist der Jude mal wieder Schuld. hundertelangem Antijudaismus und Anti- Jugendlichen und jedes Kind betrifft. Alle Die Anknüpfung fällt manchen semitismus, der in das deutschen Verbre- weiteren Aspekte bezogen auf Corona, Aktivist*innen nur allzu leicht, wo sich chen der Shoah mündete. Grade deshalb waren sehr interessant zu lesen. doch auch vermeintlich gemäßigte Orga- muss man besonders kritisch mit denen nisationen wie die Fatah wieder mit den umgehen, die Israel zerstören oder ihm Sirin Abuelhaija Terroristen der Hamas aussöhnen, deren seine Existenzgrundlage entziehen wollen, erklärtes Ziel die Vernichtung Israels und so wie es offenbar die Interviewte und der jüdischen Lebens ist. Interviewer intendieren. Die Begriffserläuterungen am Ende des Artikels lassen einen Erschauern. Bei der Konrad Erben (gekürzt) „Nakba“ handelt es sich schlicht um einen Propagandamythos.
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