WBZWBZWiesbadener Bildungszeitung, Zeitung des GEW-Kreisverbandes Wiesbaden-Rheingau - GEW Wiesbaden
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
WBZ Wiesbadener Bildungszeitung, Zeitung des GEW-Kreisverbandes Wiesbaden-Rheingau Nr. 2 / September 2021 39. Jahrgang Je stärker der Wind, je größer die Welle
INHALT Liebe/r WBZ-Leser*in, 02 Editorial wir freuen uns, heute mit Dir unsere Sommer-Edition der WBZ zu tei- len. Dank unserer kompetenten und vielseitig engagierten Autor*- 03 HGlG - Herzliche Ganz liebe Grüße, Dein innen können wir Dich heute an unseren derzeitigen Themen teilha- Frauenförderplan! ben lassen. Brandaktuell natürlich die - leider nicht flächendeckend erfolgte - Sommerferienbezahlung, der aktuelle Schulentwicklungs- 07 Inklusion geht besser - mehr plan für Wiesbaden sowie der neu erarbeitete Frauenförderplan. Ressource für die Sonderpädagogische Eine neue Welle, dieses Bild ruft seit Sommer 2020 nicht mehr die Förderung Assoziation mit Sommerferien, Sonne und Sonnenschein hervor, son- dern mit Corona die stetige Angst vor der nächsten Welle. Dennoch 09 IGS vor 50 Jahren möchten wir diese Metapher im positiven Sinne nutzen im Hinblick auf zunehmende Gleichberechtigung der Geschlechter, nicht nur im Bildungswesen. 10 Die Wiesbadener Schullandschaft : Vielfältig oder ungerecht? Eine neue Welle der Unterstützung im Hinblick auf die Sommerferi- Gespräch mit Christian Lahr enbezahlung für TV-H und andere langfristig in Bildung und Erzie- hung Beschäftigten - dafür werden wir weiter kämpfen und als GEW 14 Die Wiesbadener Schullandschaft einstehen. hat ein Problem - Stellungnahme Und da aller guten Dinge drei sind, möchten wir zu guter Letzt als zum Schulentwicklungsplan (SEP) Gewerkschaft auch auf Landesebene ordentlich (neue) Wellen schla- gen - mit und für Euch! 16 Von der endlosen Suche nach Aber auch auf unseren „alten Wellen“ - Gutes Lehren und Lernen Befristungsgründen und Inklusion an allen Schulformen - reiten wir weiterhin in Richtung Verbesserung und Transparenz und hoffen, dass Dir unsere Artikel hierzu einen guten Einblick in unsere Arbeit verschaffen. 18 GEW noch aktiver auf Landesebene Feedback und Anmerkungen immer gern an uns, elektronisch, tele- fonisch oder „in echt“ in unseren Kreisverbandssitzungen oder am 19 „Vor Allem: nicht schaden“ Für Anti- Stammtisch (aktuelle Termine unter www.gew-wiesbaden.de). Covid-19-Maßnahmen, die im Einklang mit dem obersten Grundsatz der Everybody welcome, Wir leben Inklusion, Diversität und Individualität. Medizin stehen Nun wünschen wir Dir viel Freude beim Lesen und einen guten Wie- dereinstieg nach der Sommerpause - erholt und gestärkt für alles, was kommen mag. Achte gut auf Dich und bleib gesund! GEW-erkschaftliche Grüße Chris und Johanna Titelbild aus dem Buch „Zu Besuch bei Meister Hokusai in Japan“, Abenteuer Kunst, Prestel, verbunden mit dem Hintergedanken, je mehr die Angst vor den nächsten (Corona-)Wellen geschürt wird, desto unüberlegter und panischer reagiert die Bevölkerung, wobei eine gewisse Absicht nicht von der Hand zu weisen ist. Impressum: WBZ, Herausgeber ist die Gewerkschaft Erzie- hung und Wissenschaft, Kreisverband Wies- baden-Rheingau; Gneisenaustraße 22, 65195 Wiesbaden, E-Mail: info@gew-wiesbaden.de; Homepage: www.gew-wiesbaden.de; Redaktion: Florian Pielert, Hajo Barth, Victoria Gulitz (Text), Thomas Eilers (Layout); Druck: Sheikh Digitalprin- ting Untere Albrechtstraße 5, 65185 Wiesbaden, Auflage: 1500. Namentlich gezeichnete Artikel ge- ben nicht unbedingt die Auffassung der Redaktion oder des Kreisvorstandes Wiesbaden-Rheingau der GEW wieder. 2 WBZ 2 • 2021
HGlG - Herzliche Ganz liebe Grüße, Dein Frauenförderplan! Gespräch im Lehrer*innenzimmer … eigentlich Hessisches Gleichberechtigungsgesetz… Short-version: Ü25, erwachsen aber entwicklungsfähig (mhm… ähnlich wie bei meinem Date 1 letzte Woche…), Grundlage für Gleichstellung von Frauen Gleichberechtigung von Frauen 4 und Männern durchsetzen, HGlG, was und Männern und zum Abbau die Vereinbarkeit von ist denn das von Diskriminierung in der Du weichst aus… Familie und Beruf schon wieder? öffentlichen Verwaltung sowie Aber erzähl mal: verbessern, Beseitigung Grundlage für den Frauenförder- Was soll der so, der von Unterrepräsentanz und Gleichstellungsplan. Frauenförderplan? von Frauen beispielsweise V in Leitungsfunktionen. V V V Noch nie gehört? Glaub, mir Pass mal auf: Ich erklär’s an es gibt ihn - auch an unserer einem Beispiel: Aufgrund von Schule! Daten werden Bereiche, in denen 2 Das Staatliche Schulamt Frauen unterrepräsentiert hat ihn mit der Frauen- und sind, ermittelt, z.B. A14- Gleichstellungsbeauftragten Schulleitungsfunktionen in Haupt- Frauenförder- und dem Gesamtpersonalrat und Realschulen: 29% Frauenanteil. What? V der Lehrerinnen und Lehrer (GPRLL) aufgestellt. Dann gibt es die Zielgröße 51% Frauenanteil in den V entsprechenden Funktionen. Entwicklungen bei zu besetzenden Personalstellen können so verfolgt und begleitet werden. Maßnahmen, um Frauen zu stärken, werden entwickelt. z.B. Fortbildungen, Potenzialerkennung und -förderung, 5 veränderte Personalauswahlkriterien, Teilzeitermöglichung auf allen Stellen, familienfreundliche Rückkehr- Okay…und und Rotationsmöglichkeiten, wie soll das geschlechtergerechte Alle 6 Jahre gibt es eine gehen? „Führungskultur“ und Beurteilungen. Neuaufstellung (aktuell: 2018-2023), alle 3 Jahre eine V V Fortschreibung mit aktuellen Daten und Prognosen. Bei Bedarf sind auch Änderungen 3 in kürzeren Abständen möglich. Maßnahmen sind Und? Hast du anzupassen, wenn es sich auch schon wieder herausstellt, dass es mit ‘nen Neuen? der Frauenförderung im Schulamtsbezirk V nicht so gut klappt. V Karikaturen von Marie Marcks aus: Meister der ko- mischen Kunst, Verlag Antje Kunstmann, ISBN 978-3-88897-717-6, Texte: Christine Dietz WBZ 2 • 2021 3
8 Hey, dann kannst du mir vielleicht auch helfen: Ich bin ja gerade in Der Frauenanteil liegt aktuell Elternzeit, war eben bei bei 44%, Zielgröße 51%. Es gibt der Schulleitung wegen aber keinen Automatismus, meiner Rückkehr zu euch. nach dem die Stelle mit einer Ich dachte, alles sei in Frau besetzt werden muss, trockenen Tüchern, aber Der da die „Bestenauslese“ gilt. mir wurde jetzt eine Frauenförder- und Sollen solche Stellen mit Abordnung nahegelegt! Gleichstellungsplan Männern besetzt werden, ist dies also nicht unmöglich. Aber der Frauenförder- und V sichert Dir die Rückkehr zu. 6 Gleichstellungsplan schreibt Danke! Schon mal gut, zu wissen. Hör‘ mal, ich hab folgendes vor: Die Amtsleitung prüft, ob zur Erweiterung des Das macht mich V da ‚ne Freundin… gleich stärker. Bewerber*innenfeldes eine die ist zufällig auch Berufsschullehrerin erneute Ausschreibung der Stelle erfolgen soll. Der Verzicht V und interessiert auf eine Neuausschreibung sich für eine bedarf einer Begründung. Bei Funktionsstelle in dreijähriger Nichterfüllung Schulleitung…ist die des Ziels muss bei jeder dann automatisch Stellenbesetzung mit einem drin, oder was? Mann das HKM zustimmen. V V 9 GEW … da gibt’s noch viele interessante Sachen mehr… Äh, und woher Zum Beispiel hat dich doch weißt du das gestört, wie die letzte alles? Abstimmung in der GeKo gelaufen ist. Das könnten wir V mal bei ‘nem Kaffee als GEW- Schulgruppe besprechen. Da gibt’s nämlich ‘ne gute Probier’s doch einfach! GEW-Info zu unseren Der Frauenförder- und Klingt gut, Rechten der GeKo…. Gleichstellungsplan schreibt Montag in vor, dass alle Stellen grundsätzlich teilbar sind, einer Woche? Ich bring noch V 7 auch wenn sie als Vollzeit Kuchen mit! Prima, herzliche, ausgeschrieben werden. Bei ganz liebe Grüße! Ja, auf Leitung habe der Dienstlichen Beurteilungen sind zusätzlich übernommene V Und bis dann! ich mittlerweile auch Lust, fühle mich aber Aufgaben in Teilzeit in Relation V chancenlos wegen meiner zu Vollzeitbeschäftigten Teilzeitbeschäftigung zu gewichten. Geleistete und erst wenig Familienarbeit und Ehrenamt Berufserfahrung werden positiv gewürdigt. wegen der ganzen Geringe Berufsdauer wegen langwierigen familiären Kindererziehungs- und Pflegetätigkeiten… Pflegetätigkeiten dürfen keinen Bewerbungsnachteil darstellen. V V Wichtig für Dich: Wenn Du etwas willst, kontaktiere Deine GEW (www.gew-wiesbaden.de). Wir beraten Dich zu Fra- gen der Frauenförderung, der Teilzeit und der Fra- gen des Einstiegs in den Beruf nach der Elternzeit. Christine Dietz, Martina Krämer und Katja Pla- zikowsky (Ansprechpartnerinnen für Frauenthe- men, Frauen- und Gleichstellungsförderung) 4 WBZ 2 • 2021
Wenn Du weiterliest, findest Du die konkreten Forderungen der GEW Schule vor Vergabe aufgeschlüsselt nach Ge- Fraktion im Gesamtpersonalrat der Lehrerinnen und schlecht aufzunehmen (wie in diesem Jahr). Lehrer am Staatlichen Schulamt des Rheingau-Tau- b. Die Vergabe der A14-Stellen durch das Staatliche nus-Kreises und der Landeshauptstadt Wiesbaden. Schulamt und den GPRLL berücksichtigt im An- Den zurzeit gültigen Frauenförderplan inkl. Zwischen- schluss an die anderen Vergabekriterien (Anglei- bericht zur Zielerreichung zum 1.1.21 findest Du auf chung des Anteils) auch folgenden Aspekt. Wenn https://schulaemter.hessen.de/sites/schulaem- und soweit Schulen der Repräsentanz des Frau- ter.hessen.de/files/A.%20Textteil_0_0.pdf enanteils bereits entsprochen haben, wird durch die bevorzugte Vergabe einer A14-Stelle dies über https://schulaemter.hessen.de/sites/schulaemter.hes- die Setzung eines positiven Anreizes unterstützt. sen.de/files/2021_05_27_Zwischenbericht_0_1.pdf c) Fortbildungsmaßnahmen a. Regelmäßige Fortbildungen nicht nur für poten- Vorstellen können wir uns viel mehr. zielle Führungsaufgaben, sondern auch zu Themen Wir fordern die Weiterentwicklung und Konkreti- der Vereinbarkeit von Familie/Karriere/Beruf sierung von Maßnahmen zur Frauenförderung, weil z.B. Elternzeit Mutterschutz- und Stillverordnung die bisherigen Mechanismen nicht ausreichend oder über den Frauenförder- und Gleichstel- Wirkung zeigen. Die Tendenz zeigt, dass Frauen in lungsplan selbst sind anzubieten. Führungsposition zunehmend weniger zu finden d) Übertragung von qualifizierenden Auf- sind. Hierzu schrieben wir in der letzten WBZ. gaben, wie Leitungen von Arbeitsgrup- Wir stehen in Verhandlungen mit dem Staatli- pen und Stellvertretungsfunktionen chen Schulamt über folgende Maßnahmen: a. Bei der Übertragung von qualifizierenden Aufga- 1) Maßnahmen zur Verbesserung von Arbeits- ben, wie Leitung von Arbeitsgruppen und Stell- bedingungen von Kolleg*innen in Teilzeit vertretungsfunktionen durch Schulleitung auf a) Teilung von Klassenleitungs-, Tutoren*innen- Kolleg*innen sind die Prozesse so transparent zu und Mentor*innenämtern (Teamstrukturen), machen, dass mehrere Kolleg*innen die Chance b) Keine doppelte Klassenführung haben, sich zu bewerben. Schulleitungen sollen für Teilzeitkolleg*innen, Frauen i.S. des HGlG dabei besonders anspre- chen. Zeitlich zur Berichtspflicht der Frauenför- 2) Geschlechtergerechte Personalentwicklung derung werden Schulleitungen aufgefordert, a) Potenzialerkennung und -förderung kurz ihre Bemühungen bekanntzugeben, damit a. In anonymisierter Form erfolgt die Publika- diese dem Bericht angefügt werden können. tion von voraussichtlich freiwerdenden Stel- e) Erprobung und Weiterentwicklung von Teil- len auf der Homepage-Seite der Frauen- und zeitbeschäftigung in Führungsfunktionen Gleichstellungsbeauftragten für die kommen- a. Der Satz „Alle Stellen sind grundsätzliche teilbar“ den zwei Jahre und ist alle halbe Jahre zu ak- ist in jede Ausschreibung explizit aufzunehmen. tualisieren (z.B. Jahr 2022: drei A15-Stellen Ein Verweis auf eine Verlinkung reicht nicht aus. im Bereich Schulleitung Gesamtschule). b. Neben der Formulierung Beschäftigungsumfang b. Bei Pensionierungen/Verrentungen oder ander- „Vollzeit“ ist auch die Formulierung „Teilzeit“ weitig freiwerdenden Funktionsstellen erfolgt standardmäßig in Ausschreibungen aufzunehmen. unmittelbar nach Genehmigung des Gesuches das Stellenbesetzungsverfahren. Bei regulärer c. Konkrete Modelle sind zu kommunizieren Pensionierung/Verrentung wird das Stellenbeset- und bei Bedarf zu erproben: z.B. bei Teilung zungsverfahren ein Jahr im Voraus eingeleitet. von Funktionsstellen „Leiten im Team“. c. Die im SSA an Lehrkräfte zu delegieren- f) Familienfreundliche Rotationsmöglichkeiten den Aufgaben sind konsequent in Rund- a. Anträge auf Versetzungen, die familienpolitisch verfügungen auszschreiben. oder mit Schwangerschaft/Elternzeit begründet b) Entwicklung von Personalauswahlkriterien werden, sind bei Ablehnung von Amtswegen gesondert darzulegen (ca. ½ Seite, inhaltlich a. Verteilung der A14-Beförderungsstellen: Im auf konkreten Fall bezogen). Das Amt macht Übersichtsplan ist routinemäßig die entspre- es sich zur Aufgabe, diese Anträge besonders chende Frauen-/Männerquote jeweils für das sorgfältig zu prüfen, so dass die Ablehnun- Gesamtkollegium der Schule (unabhängig gen soweit wie möglich gar nicht notwen- von der jeweiligen Vergütung) zu erheben. dig werden. Die Personallenkungslisten der Weiterhin ist der Anteil der A14-Stellen je WBZ 2 • 2021 5
betroffenen Schulen sind in diesen Fällen dem c. Die Information, dass bei Fragen zur Durchfüh- GPRLL unverzüglich zur Verfügung zu stellen. rung des Mutterschutzgesetzes, Stillverord- g) Verbesserung der Integration während und nungen und Beratungsmöglichkeiten SSA und nach der Rückkehr aus Beurlaubungen zur Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte als Wahrnehmung von Familienaufgaben Ansprechpartner*innen unterstützend zur Ver- fügung stehen, ist mit Kontaktdaten und hilf- a. Personallenkungsmaßnahmen, die in die Berei- reichen Links auf die Homepage des SSA RTWI che „Familienpolitische Gründe/Schwanger- zu stellen. Willkommen wären auch konkrete schaft/Elternzeit“ fallen, sind, wenn das Amt Best-Practice-Beispiele oder praktische Tipps. entgegen den Vorgaben des Frauenförderplans diese zu realisieren beabsichtigt, von Amts- h) Veränderung des Beurteilungswesens unter wegen gesondert zu begründen (ca. ½ Seite, Anerkennung der Unterschiede in den Er- inhaltlich auf konkreten Fall bezogen). Die Per- werbsbiografien von Frauen und Männern sonallenkungslisten sind in diesen Fällen dem a. In die Begründung des Gesamturteils aller Kol- GPRLL unverzüglich zur Verfügung zu stellen. leg*innen muss, wenn und soweit sie Famili- b. Bedarfsorientierte Stundenpläne in Teilzeit en- oder ehrenamtliche Arbeit geleistet haben, müssen gewährt werden. So dürfen beispiels- ein würdigender Textbeitrag eingearbeitet weise die Stundenpläne Springstunden (d.h. werden. Dieser hat in die Beurteilung insofern Unterbrechungen im Stundenplan) nur im einzufließen, dass er die Bewertung positiv %-Anteil zur Vollzeitstelle enthalten (Vollzeit = 3 beeinflusst. Entsprechendes gilt für zusätz- Springstunden im Maximum pro Woche). Wird lich übernommene Aufgaben bei Teilzeitarbeit bei der Stundenplanung von dieser Vorgabe in Relation zum Vollzeitarbeitsverhältnis. abgewichen, ist dies mit dem örtlichen Perso- Christine Dietz nalrat zu besprechen und ein Einvernehmen mit diesem über die Abweichung herzustellen. 6 WBZ 2 • 2021
Inklusion geht besser, mehr Ressourcen für die Sonderpädagogische Förderung Das Dogma der systemischen Zuweisung bei auch tatsächlich umzusetzen, ist aus Sicht der GEW gleichzeitig viel zu wenig hinterlegter Ressource das Mindeste, um dieser besonderen Schülergruppe führt zu massiven Ungleichbehandlungen ein wenig gerecht zu werden. … nicht nur der BFZ-Beschäftigten, sondern Aber der eigentliche Bedarf der einzelnen auch der Regelschullehrkräfte. Schüler*innen spielt kaum eine Rolle. Der Bezug des Staatlichen Schulamts für seine Stun- Jahr für Jahr aufs Neue gehen Förderschulkolleg*innen denverteilung ist im Wesentlichen die Anzahl der aus den jeweiligen Beratungs- und Förderschulzentren Schüler*innen im Zuständigkeitsbereichs der BFZs. an die Regelschulen. Dies immer mit zu wenig Ressour- Allerdings bedeutet, Schüler*in im Einzugsgebiet ce im Gepäck. eines Beratungs- und Förderzentrums zu sein, nicht Wie viele Stunden das jeweilige BFZ erhält, legt das gleichzeitig einen Bedarf an besonderer Förderung zu Staatlichen Schulamt fest. Mit dieser Vorentscheidung haben. Die GEW hält diese Bezugsgröße für verfehlt. geht bereits die Entscheidung über die unterschiedli- Der Bedarf ist das Entscheidende solange die Ressour- che Belastung der Kolleg*innen einher. Nach Angaben ce knapp ist. des Staatlichen Schulamtes werden auf die vier BFZs Daher sind die festgestellten Bedarfe (IB-SuS) /vM) im folgende Lehrer*innen- Stunden verteilt: Erich-Käst- Einzugsbereich eines BFZ ein deutlich validerer Hin- ner-Schule 427,52 Stunden, Leopold-Bausinger-Schule weis und sollten relevanter Bezugspunkt für die Ent- 422,95 Stunden, Janusz-Korczak-Schule 475,77 Stun- scheidung über die Aufteilung der Stunden aus der Zu- den und an die Albert-Schweitzer-Schule 2680,65. weisung der sonderpädagogischen Ressourcen auf die Letztere ist zuständig für ganz Wiesbaden und hat ent- unterschiedlichen BFZs im Schulamtsbezirk sein. Auch sprechend mehr Zuweisung. die Verteilung der Ressource auf die Schulen sollte Auf der Grundlage der Beschlüsse der Inklusiven Schul- dies beachten. Nur so können die Vorgaben der VOSB bündnisse – kurz ISB (im Wesentlichen ein Zusammen- überhaupt umgesetzt werden. schluss von Schulleiter*innen, Staatlichem Schulamt Ungleiche Belastung der Kolleg*innen und den BFZ-Leitungen) wird diese zugewiesene Ver- Die Begründungen, die das Staatlichen Schulamt an- teilmenge nach einem Verteilschlüssel den Regelschu- führt, um sich eben nicht an den konkreten Bedarfen len zugeordnet. Die Schulen erhalten im Wesentlichen orientieren zu müssen, sind: Man wolle die Schüler 70% für vorbeugende Maßnahmen (vM), 20% für die nicht labeln, keiner solle mit einem Stempel versehen inklusiv zu beschulenden Kinder und Jugendlichen werden etc. pp. Außerdem könnten Schulleitung und (Maßnahmenart IB) und 10% für Projekte. Kolleg*innen auf die Idee kommen, den Bedarf künst- Damit steht durchschnittlich jedem IB-Kind aus den ca. lich hochzufahren, um mehr Ressource zu erhalten. 20% für die Maßnahmenart IB im Einzugsgebiet der Al- Letzteres unterstellt unzulässige Bedarfstreiberei, an- bert-Schweitzer-Schule 2,3 Stunden im Schnitt zur Ver- statt von realem Bedarf, der mit zu wenig Ressource fügung (981,58 geteilt durch 420 SuS). Dies ergibt sich gedeckt ist, auszugehen. aus dem zugewiesen Anteil für die inklusive Beschu- Die GEW hält dagegen: Der Weisheit, dass gute Förde- lung geteilt durch die Anzahl der IB-SUS. Im Einzugs- rung allen gut tut und deswegen auch nicht diagnos- gebiet der Janusz-Korczak-Schule stehen 2 Stunden tizierte Kinder von Förderschullehrkräften profitieren, (82,56 Stunden geteilt durch 40 SuS), im Einzugsge- können wir nachkommen, wenn so viel Ressource da biet der Leopold-Bausinger-Schule 1,8 (73,49 Stunden ist, dass es für alle reicht. Die GEW fordert hierzu die geteilt durch 40 SuS) und im Einzugsgebiet der Er- Formel 3:1:1: Pro drei Regelschulklassen, eine Förder- ich-Kästner-Schule 1,5 Stunden (39,6 geteilt durch 27 schullehrkraft und eine sozialpädagogische Vollzeit- SuS) zur Verfügung. stelle, was beim Bildungsgipfel 2016 vom HKM als „un- Gegen bestehende Verordnungen bezahlbar“ abgetan wurde. Diese Unterversorgung, die sich aus dem Durchschnitt Wenn aber nur der Mangel verteilt wird, dann benöti- der zugewiesenen Ressource für inklusiv zu beschulen- gen es diejenigen Kinder, die diese Förderung am drin- de SuS ergibt, widerspricht eindeutig der Verordnung gendsten brauchen, damit die Kolleg*innen so viel Zeit über Unterricht, Erziehung und sonderpädagogische haben, wie sie brauchen, um gut zu unterstützen. Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Beein- Denn dieses wohlklingende „Man wolle nicht labeln, trächtigungen oder Behinderungen (VOSB § 13 (2)). nicht etikettieren“ führt in der Realität zu massiven Diese sieht vor, dass 3,9 Stunden (§13 (2)) pro IB-SuS Ungleichgewichten und damit zu sehr unterschiedli- vorzusehen sind. Für den Förderschwerpunkt GE und chen Belastungen sowohl von Förderschul- wie auch Sehen sind pro Kind 4,9 Stunden zu vergeben. Dies von Regelschullehrkräften. WBZ 2 • 2021 7
Wird mal rein mathematisch auf die Effekte der vom vM-Maßnahmen bewusst „übersehen“ oder noch Staatlichen Schulamt weitestgehend im theoretischen nicht bearbeitet werden, um den Mangel in die Zu- aufgeladenen Gießkannenprinzip verteilten Ressource kunft zu verschieben. geschaut, bedeutet dies folgendes: Für die Kolleg*in- In jedem Fall führt eine falsche Verteilung zur Belas- nen, die im BFZ Albert-Schweitzer-Schule arbeiten, tung entweder der anderen BFZ-Kolleg*innen oder der stellt sich die Belastungssituation recht unterschied- Regelschullehrkräfte. Es handelt sich nun einmal um lich dar. An der Konrad-Duden-Schule befinden sich eine gedeckelte Ressource, die dann zumindest gleich beispielsweise nur 5 Schüler*innen im inklusiven Un- schlecht zu verteilen wäre. Als „kommunizierende terricht (dies sind nur 2 % von der gesamten Schü- Röhren“ führt die Zuweisung überdurchschnittlicher lerzahl). Somit stehen diesen Schüler*innen 342 min Stunden an einer Stelle zur Zuweisung unterdurch- pro Woche Förderung zur Verfügung. An der Adal- schnittlicher Stunden an anderer Stelle. bert-Stifter-Schule sind dagegen 44 Schüler*innen Inklusion geht besser (20% der gesamten Schülerzahl) im inklusiven Unter- richt. Für jede/n dieser Schüler*in stehen nur 27 min Seit Jahren fordert die GEW bessere Bedingungen für pro Woche zur Verfügung. Für die Kolleg*innen der die Inklusion. Ein zentraler Ansatzpunkt wäre, die Rah- Janusz-Korczak-Schule stellt sich die Situation wie menbedingungen für diese Profession zu verbessern folgt dar. An der Astrid-Lindgren-Schule stehen für und so zu gestalten, dass sie den Anforderungen an jede/n Schüler*in nur 59 min pro Woche zur Verfü- den Beruf genügen und mensch so das Kind adäquat gung. Die NAOS hat dagegen hat 127 min pro Woche unterstützen kann. zur Verfügung. Für die Kolleg*innen der Leopold-Bau- Die Realität sieht anders aus: mangelnde Zeit für Ko- singer-Schule stellt sich die Situation wie folgt dar: Die operation und Team-Teaching, viel zu viel Dokumenta- Wisperschule hat für jede/n Schüler*in 27 min pro tion, Verwaltungsarbeit und Bürokratie. Dazu das brei- Woche zur Verfügung. Die Gutenbergschule in Eltvil- te Aufgabenspektrum als Förderschullehrkraft und der le erhält dagegen für jede/n Schüler*in 201 min pro ständige Wandel durch Veränderungen Woche. Für die Kolleg*innen der Erich-Kästner-Schule der gesetzlichen Rahmenbedingungen. Die Zufrie- stellt sich die Situation wie folgt dar: Die Grundschule denheit mit der eigenen Wirksamkeit ist vielfach auf der Au hat für jede/n Schüler*in 49 min pro Woche beschädigt. zur Verfügung. Die Theißtalschule erhält dagegen für In der Realität wird, um es den Kindern recht zu ma- jede/n Schüler*in 142 min pro Woche. chen und es überhaupt leisten zu können, geschaut, Zudem sind es die immer gleichen Schulen, in den dass die unzureichende Ressource nicht rein mathe- immer gleichen Stadtteilen, die besonders viele IB-Kin- matisch aufgeteilt wird. Aber wohin mensch die Decke der haben. Gleiches gilt für die Schulformen. Alle Kin- auch zieht, sie ist immer zu kurz. Für die einen deutlich der mit besonderen Bedarfen werden vom Schulamt zu kurz, für die anderen etwas weniger. jedes Jahr aufs Neue in die Gesamtschulen, wenige Die GEW setzt sich für bedarfsgerechte Zuweisung der den HR-Schulen, zugewiesen. In Gymnasien findet die Ressource ein. Sind mehr Kinder mit besonderen Be- Inklusion faktisch nicht statt. darfen an Schulen, so müssen diese auch mehr Res- Kommunizierende Röhren und source erhalten. Ganz unabhängig davon, wie viele eine gedeckelte Ressource Kinder sonst noch auf diese Schule gehen. Grundsätzlich gilt: Werden Kolleg*innen in die Inklusi- Mehr Inklusion bitte ve Beschulung abgeordnet und verfügen sie über ein Vielleicht ist es genau diese Verteilung, die immer wie- zu viel an Abordnungsstunden führt dies notgedrun- der dazu führt, dass Kolleg*innen zerrieben werden. gen zu einem zu wenig für andere BFZ-Kolleg*innen, Zerrieben zwischen ihren Ansprüchen und der Realität. die in den IB abgeordnet werden. Verfügen Kolleg*in- Und vielleicht ist es genau dieser Umstand, dass gerade nen über zu wenig Ressource für die inklusive Beschu- in unserem Schulamtsbezirk die Inklusion als Möglich- lung, so führt dies immer zur Belastung der Regel- keit für das eigene Kind von den Eltern nicht gewählt schullehrkräfte (an der jeweiligen Schule, der der/die wird. Schauen wir auch wieder auf Zahlen, so sehen Kolleg*in aus dem BFZ zugeordnet ist), die den Bedarf wir, dass in Wiesbaden mit lediglich 30,6 % viel weni- kompensieren müssen. ger Kinder inklusiv beschult werden als beispielsweise Dieser Mangel in der inklusiven Beschulung weitet sich in Frankfurt mit 43,7%, oder auch im Rheingau-Taun- aber notwendig auch auf die vM-Maßnahmen aus. Ist us-Kreis mit 22,5% im Vergleich zum Vogelsbergkreis zu wenig Ressource für den IB vorhanden, werden ei- mit 60,3% (Statisches Landesamt 2020). gentlich notwendige vM-Maßnahmen nicht begleitet. Regelschulkolleg*innen (an der Schule mit zu gerin- Manon Tuckfeld ger BFZ-Abordnung) werden dadurch benachteiligt. Teilweise führt dies schlicht dazu, dass notwendige 8 WBZ 2 • 2021
„IGS vor 50 Jahren“ „Integrierte Gesamtschule“ als Schulform ist schon lange, immer noch und immer wieder ein Thema in der GEW Hessen....so auch im Kreisverband Wiesbaden/ Rheingau z.B. am 13.7.21 im Zusammenhang mit der Frage, ob wir eine neue Gesamtschule in Wiesbaden brauchen und warum manche Gesamtschulen „über- wählt“, andere nicht nachgefragt sind. Ein spannen- des Thema für mich, Katja Plazikowsky, auch als Pen- sionärin noch gerne in der GEW aktiv und in der Zeit von 1965 bis 1971 selbst Schülerin an der Ernst-Reu- ter-Schule – zu Anfang noch eine additive Gesamt- schule, später eine IGS, - eine Zeit, die mich sehr ge- prägt hat. Die Ernst-Reuter-Schule in Frankfurt war die erste hessische IGS; als „Modellschule“ spielte sie v.a. in den 1970er- und 1980er-Jahren eine wichtige Rolle als Vorreiter für diese Schulform und stand deshalb oft im Kreuzfeuer der hessischen Bildungspolitik. So wurde im Jahre 1972 der Ernst-Reuter-Schule vom Ernst-Reuter-Schule 1 in Frankfurt am Main hessischen Kultusministerium das Recht gewährt, eine eigene Schulverfassung zu beschließen, die vorsah, • „... auch ich war ja in der 5./6. Klasse an einem Mäd- dass das Direktorium künftig auf Zeit vom Lehrerkolle- chengymnasium in Frankfurt, bevor ich zu meinem gium gewählt wurde, anstelle des bisherigen Modells Glück!! durch Umzug in die Nordweststadt an die von Schulleitungen auf Lebenszeit. Während dieses ERS kam ... habe mich da ebenso immer sehr wohl Modell der Kollegialen Schulleitung an der Ernst-Reu- gefühlt. „ ter-Schule I in den 1980er-Jahren aufgrund innerer • „... auch für mich war die Schulzeit in der ERS prä- und äußerer Konflikte scheiterte und für öffentlichen gend.Vor allem hat sie mir den Übergang an die Uni Unmut sorgte, bestand die Kollegiale Schulleitung an sehr erleichtert, da wir irgendwie gewöhnt waren, der Ernst-Reuter-Schule II bis zum Jahr 2004. Als dann uns selbst zurecht zu finden ... In meinem Arbeits- der Landtag mit der absoluten Mehrheit der CDU das bereich hatte ich mit Schüler*innen unterschied- „Dritte Qualitätssicherungsgesetz“ verabschiedete, licher Schularten zu tun. Aufgefallen ist mir, dass wurde auch die kollegiale Schulleitung abgeschafft. gerade Schüler*innen von Gesamtschulen eher Ab 1989 werden behinderte und nichtbehinderte politisch oder sozial engagiert waren.“ SchülerInnen inklusiv, also gemeinsam unterrichtet; • „Ich kam 1964 an die ERS und wechselte vom ehr- ein Leitbild ist u.a. die individuelle Förderung der würdigen humanistischen Ludwigsgymnasium in SchülerInnen sowie die multiprofessionelle Zusam- München (nur Knaben) zur ersten Gesamtschule in menarbeit der Lehrkräfte. Hierfür wurden u.a. auch Deutschland. Heute würde man sagen: ein echter die Räume der Schule bautechnisch entsprechend Paradigmenwechsel!“ umgestaltet. • Wir haben damals selbständig denken gelernt und Zu meiner persönlichen Situation: Mit einigen meiner nicht nur auswendig lernen. So etwas wie Mobbing ehemaligen MitschülerInnen stehe ich auch nach die- gab es auch nicht unter uns, jeder wurde so ange- ser langen Zeit immer noch in Kontakt; so laden wir zu nommen, wie er oder sie ist. Bis heute empfinde ich Treffen ein, um uns auszutauschen und natürlich auch Wertschätzung unter einander.“ von den „guten alten Zeiten“ zu sprechen ... hier eini- • „Zusammenhalt und gegenseitige Hilfe - kein Wett- gen Zitate von MitschülerInnen: bewerb um bessere Noten ... Gelassenheit im Um- • „Da ich von dem traditionellen Gymnasium „Zie- gang mit eigenem Scheitern - wir wurden immer henschule“ kam, war ich das erste halbe Jahr etwas ernst genommen und es gab eine Diskussion auf verwirrt, ich sollte plötzlich sagen was ich will und Augenhöhe ….“ mich dann eigenständig zu Kursen, oder Arbeits- • „Bin bis heute fest davon überzeugt, dass mir diese gruppen entscheiden ... das hatte ich bis dahin nicht Gesamtschule mein weiteres Leben vorbestimmt gelernt ...“ hat, auch deswegen, weil ich mehrmals vorher die gymnasiale Ausbildung abgebrochen habe, aus WBZ 2 • 2021 9
verschiedenen Gründen. Erstmals konnte ich nach- Seiten des städtischen Schulamtes die Vielfalt der vollziehen, dass sich Engagement lohnt. Innerhalb Wiesbadener Schullandschaft gelobt, aus dem Publi- kurzer Zeit besserten sich meine Noten entspre- kum heraus aber auch fehlende Bildungsgerechtigkeit chend meinem Arbeitseinsatz. Das habe ich vorher moniert. Die GEW Wiesbaden begrüßt nun einzelne so noch nie erlebt. Es gab mir Selbstvertrauen und geplante Maßnahmen des mittlerweile vorliegenden das erstmals in meiner schulischen Laufbahn. Mein SEP, wie zum Beispiel die beabsichtigte Oberstufe für weiterer akademischer Weg war nur so möglich. Ich die Wilhelm-Leuschner-Schule oder den Vorschlag kann nur positiv auf die Gesamtschulzeit zurück bli- für einen Sozialindex, kritisiert aber weiterhin beste- cken ...“ hende grundlegende Probleme in der Wiesbadener • Und zu guter Letzt ein ehemaliger Lehrer der ERS: Schulstruktur. „Ich denke auch mit guten Gefühlen an die dama- Der Schulplaner der Lan- lige Zusammenarbeit und Lehrtätigkeit zurück. Die deshauptstadt Wiesbaden, Schülerinnen und Schüler, die ich damals erlebte, Christian Lahr, lud Mitte Juli waren ein recht bunter Kreis in Hinsicht auf ihr anlässlich der Veröffentli- schulisches Herkommen, zum Teil aus der Realschu- chung des aktuellen SEP, der le und der neuen Sekundarstufe I und Gymnasien für die Jahre 2022-2026 gel- kommend, auch manche Opfer einer festgefahre- ten wird, eine Delegation der nen Bildungspolitik, manche persönlich belastet GEW-Wiesbaden in das Städ- mit Entwicklungs- und Lernstörungen. Hinzu kam tische Schulamt zur Diskussi- eine hochpolitisierte gesellschaftliche Umwelt, be- on ein. Für die GEW nahmen sonders im Raum der Universität und im Bildungs- Jeanette Seib, Manon Tuck- wesen („die 68er“), die auch manche Schülerinnen feld, Chris Hahn, Florian Pie- und Schüler in der ERS - neben den Lehrenden lert und René Scheppler teil. Wir danken Herrn Lahr - erfasste, dort Bildung eines „Sozialistischen Leh- für das konstruktive Gespräch. rerbundes“ und einer mehr sozial-liberalen freien Gruppierung ... die Schülerinnen und Schüler trafen Florian Pielert: Insgesamt ist die Sicht der GEW Wies- sich in informellen linken Gruppen oder pflegten z. baden, dass sich durch die einzelnen zum Teil durchaus T. einen individuellen halb-politischen Linksstil mit positiven Maßnahmen des SEP nicht viel an der allge- spontanen Aufrufen und Klein-Demonstrationen. meinen Schulstruktur ändern wird: Weiterhin wird fast Ich hatte mich zum staatlichen Schuldienst gemel- die Hälfte der Kinder an den Gymnasien angemeldet, det, um am Aufbau einer Gesamtschule mitzuwir- wahrscheinlich sogar in Zukunft noch mehr. Wenn es ken. Mir schien das Konzept für diesen neuen Schul- für das Gymnasium nicht reicht, kommt die IGS als typ recht verlockend ...“ Alternative ins Spiel, Realschulen werden – mit weni- Ich bin auch heute noch froh, meine Schulzeit an einer gen Ausnahmen – immer seltener angewählt. Für alle solchen Schule verbracht zu haben; sie hat mich positiv Schulformen und auch für die Schüler*innen (Stichwort geprägt und vor allem: Ich bin auch deswegen gerne Abschulung) hat diese Entwicklung negative Konse- zur Schule gegangen ... quenzen. Unser Anliegen ist, dass das Städtische Schul- amt stärker bildungspolitische Lenkungsfunktionen Katja Plazikowsky übernimmt, um nicht nur passiv dem vermeintlichen Elternwunsch entsprechend Schulbau zu betreiben und bestehende Probleme, die wir ja jetzt bestimmt konkretisieren werden, zu zementieren. Das mal vorab sozusagen als Überschrift unseres Gespräches. Die Wiesbadener Schullandschaft: Vielfältig Christian Lahr: Der SEP setzt durchaus bildungspoliti- oder ungerecht? sche Akzente. Aber sowohl die Lehrerinnen und Lehrer als auch die Verwaltung sind in bestimmte Rahmen- bedingungen eingebunden. Berechtigterweise sagen Ein Gespräch über den neuen Schulentwicklungsplan Sie von der GEW nun von ihrem Standpunkt aus, dass und Bildungsgerechtigkeit in Wiesbaden wir uns nicht nur auf rechtliche Vorgaben stützen, sondern auch eine schulpolitische Funktion überneh- Im August vergangenen Jahres nahm die GEW Wies- men sollen. Trotzdem können wir mit unserem SEP baden mit einer kleinen Gruppe an der Auftaktver- nicht alle Widersprüche auflösen. Der Elternwille muss anstaltung für die Erarbeitung des zukünftigen Schul- – so sieht es das Hessische Schulgesetzt vor - berück- entwicklungsplanes (SEP) teil. Damals wurde von sichtigt werden und ist maßgeblich für die Wahl der 10 WBZ 2 • 2021
weiterführenden Schule. Wir haben uns basiert auf Zahlen und unter Maßgabe der politischen Überzeu- gungen von Schuldezernent Axel Imholz aber in eine bestimmte Richtung aufgemacht. Wir stärken die Idee der IGS mit der beabsichtigten Oberstufe für die Wil- helm-Leuschner-Schule oder dem Neubau einer wei- teren Gesamtschule in den nächsten Jahren. Der SEP entsteht darüber hinaus in einem offenen, partizipa- tiven Verfahren: Wir haben einen Aufschlag gemacht und Leitlinien gesetzt, nun sind Sie, die Interessenver- bände und Bürger*innen dran. Dann entscheidet die Stadtverordnetenversammlung und das HKM muss am Ende natürlich auch zustimmen. Die Rolle der Gesamtschulen und die Politik des Schuldezernenten, Gymnasialplätze künst- Wiesbadener Schulstruktur lich zu verknappen. René Scheppler: Die Frage ist, ob die angedachten René Scheppler: Es sollte schon klar werden, ob die Maßnahmen tatsächlich Förderungsmaßnahmen für Stadt Wiesbaden sagt, die Gymnasien und die IGS als Gesamtschulen sind, oder nicht vielmehr direkt in die Alternative dazu sind unsere starken Player, das wäre Zweigliedrigkeit führen: Der SEP diagnostiziert prak- die de facto Zweigliedrigkeit, oder ob das städtische tisch das Ende für Real- und Hauptschulen. Das Modell Schulamt ausreichend Signale sendet, um klarzustel- der integrativen Gesamtschulen, das eigentlich paral- len, dass es einerseits das dreigliedrige Schulsystem lel und als Alternative zum dreigliedrigen Schulsystem gibt und andererseits daneben die IGS als Alternative. gedacht war, dient nun als Auffangbecken für alle Kin- Im zweiten Falle müsste man die bestehenden Gesamt- der ohne Gymnasialempfehlung. Wenn nun in dieser schulen attraktiver machen, als Leuchttürme in der sich anbahnenden Zweigliedrigkeit, die wir als GEW Schullandschaft mit kleineren Klassen, multiprofessi- entschieden ablehnen, weitere Gesamtschulen gebaut onellen Teams, mehr Schulsozialarbeit usw., anstatt werden, stärkt das nicht die eigentliche Idee dieser nur neue zu bauen. Mit einer qualitativen Verbesse- Schulform, sondern degradiert sie vielmehr zum Aus- rung steigen dann automatisch auch die Anwahlzah- putzer des dreigliedrigen Schulsystems. Wir haben len. Ein qualitativer statt quantitativer Ausbau würde jetzt schon massive Abschulungstendenzen an den also in die richtige Richtung weisen. Darüber hinaus Gymnasien mit sehr nachteiligen Folgen für die betrof- müssten die drei daneben bestehenden Schulformen fenen Schüler*innen, das wird sogar noch zunehmen. sich selbst tragen, anstatt die IGS als Ausputzer für Ab- Es würde mich nicht wundern, wenn wir 2026 hier ste- schulungsprozesse zu nutzen. Das dreigliedrige System hen und 60% Anwahl für die Gymnasien feststellen. würde damit sogar in sich stabilisiert. Alle Eltern wüss- Christian Lahr: Die knapp 50 Prozent für die Gymnasi- ten dann, die IGS muss zur Klassenstufe 5 angewählt en sind schon eine ziemlich gesicherte und konstante werden und diesen Platz hat man dann exklusiv und im Zahlenreihe. Für Abweichungen treffen wir selbstver- Sinne des eigentlichen Modells der IGS, die dann nicht ständlich auch Vorkehrungen und schaffen zusätzli- mehr für die Probleme der anderen Schulformen zu- che Kapazitäten an unterschiedlichen Schulformen. ständig ist. Dann wäre auch die ursprüngliche Idee der Ich muss mich aber schon am Ist-Zustand ausrichten Gesamtschulen als Alternative zur Dreigliedrigkeit wie- und kann keinen Wunschzustand formulieren. Das der hergestellt und die Wiesbadener Schullandschaft kann die GEW machen und das ist auch legitim. Fakt hätte mittelfristig weniger Probleme. Langfristig aber, ist aber, dass die Einrichtung einer Oberstufe für die das wissen Sie, denn Sie sitzen hier ja mit Vertreter*in- Wilhelm-Leuschner-Schule eine Stärkung der Gesamt- nen der GEW, ist unsere Forderung weiterhin die eine schulen bedeutet, das können Sie nicht abstreiten. Ich Schule für alle. sage ganz offen, wir versuchen als Schulträger im Rah- Christian Lahr: Das ist eine interessante These zur Rolle men der Dreigliedrigkeit, die durch landespolitische der IGS, über diesen Vorschlag werde ich nachdenken. Vorgaben festgelegt ist, das Modell der IGS zu stärken, Aber am qualitativen Ausbau der Gesamtschulen ar- um genau der von Ihnen beschriebenen Entwicklung beiten wir ja auch jetzt schon. Die Wilhelm-Heinrich- entgegenzuwirken. Die Oberstufe ist für Eltern aus von-Riehl-Schule hat zum Beispiel eine 1-zu-1-Aus- meiner Sicht schon ein Anreiz, sich bei der Anmeldung stattung mit IPads, da hat uns einfach das IT-Konzept ihrer Kinder für diese Schulform zu entscheiden, weil überzeugt und wir als Schulträger haben das trotz der es dort nun bessere Möglichkeiten gibt. Nichtsdesto- finanziellen Anstrengung möglich gemacht. Da kämpft trotz gibt es die freie Schulwahl und es ist nicht die das neue Gymnasium der Elisabeth-Selbert-Schule in WBZ 2 • 2021 11
jedem Jahrgang noch für, weil dieses Konzept noch werden für Kinder mit Schwerpunkt geistige Entwick- nicht stadtweit festgelegt ist. Es ist also doch so, dass lung (GE) nach der Klasse 10. Aber wo sind die Stand- wir auch in schon bestehenden Gesamtschulen die orte für den Schwerpunkt Körperliche und Motorische Qualität verbessern. Das Problem ist, wir haben trotz- Entwicklung (KME)? Ich bin an der Friedrich-von-Bo- dem eine Abstimmung mit den Füßen, sodass wir ei- delschwingh-Schule tätig, arbeite dort auch im BFZ gentlich gar kein richtiges dreigliedriges Schulsystem und bin beim Gesamtpersonalrat, habe also einen mehr haben. Das Land Hessen hat die Hauptschulen Überblick sowohl auf das stationäre als auch auf das ja abgeschafft. Inklusionssystem. Ich versuche in den inklusiven Schulbündnissen immer durchzusetzen, dass endlich die Standorte für die KME-Schüler*innen festgelegt Inklusion – eine Aufgabe für alle Schulen? werden. Nur Barrierefreiheit reicht hier nicht aus. Wir Manon Tuckfeld: Ja, aber der Bildungsgang besteht haben viele Schulneubauten ohne Konzepte für die In- ja noch. Letztes Jahr wurden ziemlich unvorbereitet klusion, und auf einmal wird dann in einigen Räumen Haupt- und Realschulen gebildet, indem zwei Real- festgestellt, dass gar keine Liege hineinpasst. Da müss- schulen einfach Hauptschulklassen zugeordnet wur- ten endlich mal vorher ausgefeilte Konzepte aufge- den. Das hat zu keiner positiven Entwicklung geführt, stellt werden, bevor die Neubauten beginnen. Hierzu was die Anwahlzahlen für die betroffenen Schulen be- haben wir von der Friedrich-von-Bodelschwingh-Schu- trifft, ganz abgesehen von der zusätzlichen Belastung le und aus unserem BFZ heraus unsere Erfahrung für die Kollegien. Auch Oberbürgermeister Mende hat und Expertise angeboten, auch für den Neubau von immer wieder darauf hingewiesen, dass es um Qua- Schulen. Wir wurden nicht angehört und die Fried- lität der Schulen gehen muss, so wie René Scheppler rich-von-Bodelschwingh-Schule verliert sogar immer das gerade beschrieben hat. Zu ergänzen wäre auch mehr Differenzierungsräume, sodass ich mich frage, noch der baulich schlechte Zustand einiger Schulen, wo die KME-Schüler*innen überhaupt noch beschult hier braucht es mehr Investitionen. Dann muss den werden sollen. Bei jedem Neubau müssten eigentlich UBUS-Kräften ein eigener Raum zugestanden werden. immer auch die KME-Schüler*innen berücksichtigt Das nächste Thema wären konkrete Lernkonzepte. werden. Stattdessen wird aber den Real- und Gesamtschulen Manon Tuckfeld: Die Stadt müsste jedenfalls darauf noch die ganze Inklusion aufgebürdet, während die bestehen, dass in den inklusiven Schulbündnissen die Gymnasien sich aus dieser riesigen Aufgabe komplett Schulen für die verschiedenen Förderschwerpunkte heraushalten. festgelegt werden. Da müsste eigentlich der Schulträ- Christian Lahr: Das ist nicht ganz richtig. Inklusion im ger tätig werden. weiteren Sinne findet auch am Gymnasium Mosbacher Christian Lahr: Ja, das machen wir. Die Standortfestle- Berg für Kinder mit Hörschädigung statt. gung soll nach den Ferien in der ersten Sitzung bei den Jeanette Seib: Das sind aber lernzielgleiche Schüler inklusiven Schulbündnissen eingebracht und diskutiert und Schülerinnen. werden. Sie wird von uns unterstützt. Die Festlegung Christian Lahr: Mag sein, aber wir als Schulträger ver- von Schwerpunktschulen wäre wünschenswert, damit hindern keine Inklusion an Gymnasien aufgrund feh- Schüler*innen mit entsprechender Beeinträchtigung lender Eignung oder anderer Lernziele. In dieser Frage zugewiesen werden können. Entscheiden werden das sind wir gar nicht zuständig. Wir maßen uns kein Urteil letztendlich aber natürlich die einzelnen Bündnisse. über die Eignung der Kinder für eine bestimmte Schul- form an, wir weisen die Schüler*innen nicht zu. Wenn Die Zukunft der Berufsschulen ein Kind mit Beeinträchtigung sagt, ich möchte im Re- gelunterricht beschult werden, wendet es sich an das Chris Hahn: Im HKM wird gerade der Zukunftsplan Staatliche Schulamt. Unsere Aufgabe für die Inklusion für Berufsschulen entwickelt. Die Überlegungen sind ist es, die Rahmenbedingungen durch den Schulbau zu schon im Netz einsehbar und wir werden in Wiesba- verbessern. Wir planen jetzt Gebäude für die nächsten den absehbar Ausbildungsberufe verlieren. Auch die 30-50 Jahre. Und alle neuen Schulen, auch die neuen ländlichen Berufsschulen werden geschwächt. Wenn Gymnasien, sind barrierefrei. Diese Schulen sind bau- die Fachklassen zu klein sind, ist die Schließung ge- lich genauso für Inklusion geeignet und wir schreiben plant. Beim Modellprojekt BÜA (Berufsfachschule auch im SEP fest, dass Gymnasien stärker in die Inklusi- zum Übergang in Ausbildung) muss eine Überlastung on eingebunden werden sollen. der Berufsschulen verhindert werden. Der Ansatz ist sicherlich eine Alternative für Hauptschüler, wie sie Jeanette Seib: Der Schulträger ist schon noch an wei- nach dem Abschluss weitermachen können. Allerdings teren Stellen gefragt, nämlich wenn es konkret um sollten keine Schüler*innen nach Stufe 1 verlorenge- Standortfestlegung für die Inklusion geht. Die neue hen. Wenn sich die BÜA etabliert und auch stufenfrei gymnasiale Elisabeth-Selbert-Schule soll ja Standort 12 WBZ 2 • 2021
ist, kann man sie sicher gut mit dem Konzept der Mit- Privatschulen und das Sonderungsverbot telstufenschule verbinden und kombinieren. Florian Pielert: Im SEP wird auch das Thema Privat- Christian Lahr: Wir machen uns gerade gemeinsam mit schulen angesprochen, die ja nicht ganz so privat sind, dem Rheingau-Taunus-Kreis zu einem gemeinsamen weil sie durch das Land Förderung erfahren. 10% der SEP nur für die Berufsschulen auf den Weg. Da spielen Wiesbadener Kinder- und Jugendlichen gehen schon genau diese Fragestellungen dann eine wichtige Rolle. auf eine Privatschule, Tendenz steigend. Im Grundge- Sie haben meine volle Zustimmung, die Mittelstufen- setz, in der hessischen Verfassung und auch im hessi- schule in Zusammenarbeit mit den Berufsschulen zu schen Schulgesetz wird der Betrieb von Privatschulen stärken, ist ein sehr wichtiger Punkt. an das Sonderungsverbot geknüpft: Die Ersatzschulen Chris Hahn: Wir haben hier in Wiesbaden in den letz- dürfen Kinder nicht nach den Besitzverhältnissen der ten Jahren ein massives Sterben von Ausbildungsbe- Eltern aussuchen. Ein Argument, warum Privatschulen rufen: Maurer weg, Dachdecker weg, usw. Das freut trotz hoher Schulgelder betrieben werden dürfen, sind natürlich auch die lokalen Gewerke nicht. Und genau meist Regelungen zur Stipendienvergabe, die auch diese Entwicklung wir durch den Zukunftsplan des einkommensschwachen Schüler*innen den Besuch HKM noch verstärkt werden. Zwar wird behauptet, ermöglichen sollen. Aus der Antwort einer Anfrage dass bei größeren Klassen die einzelnen Ausbildungs- der LINKEN im Landtag geht hervor, dass auch Wies- berufe wieder eingeführt werden könnten, aber da badener Privatschulen das Sonderungsverbot kaum sind wir doch alle realistisch genug, um zu erkennen, beachten: Bei Schulgeldern, die bei Zubuchung ver- dass einmal abgebaute Kapazitäten nicht so einfach schiedener Nachmittagskurse schnell über 600 € mo- reaktiviert werden können. Was weg ist, wird wohl natlich betragen können, haben im Schuljahr 2015/16 auch nicht wiederkommen. Stattdessen bräuchte es (neuere Zahlen liegen leider nicht vor) z.B. die Berufs- ein Konzept, zum Beispiel mit einer Modellregion, mit schule Europaschule Dr. Obermayr oder die Montes- einer kleinen ländlichen Berufsschule, nach Möglich- sorischule in Wiesbaden nur einen bzw. gar keinen keit unter Einbeziehung einer Mittelstufenschule, um Schüler, der nicht das volle Schulgeld zahlt. Die Hum- bedrohte Ausbildungsberufe zu stärken. boldtschule erhebt solche Zahlen nicht einmal. Bei einigen anderen der 12 Privatschulen im Stadtgebiet Christian Lahr: Ja, wir sehen diese Entwicklung. Ange- sieht es ähnlich aus. Was tut die Stadt, damit hier das hende Dachdecker müssen nach Limburg-Weilburg. Grundrecht auf Sonderungsverbot eingehalten wird? Das ist die Zentralisierung, völlig klar. Das kann man Anscheinend gibt es keine Vorgaben zur Einhaltung nur bedauern. Diese Entwicklung ist allerdings nicht des Sonderungsverbotes. spezifisch für Wiesbaden oder Hessen, sondern ein bundesweites Problem. In Wiesbaden sind die Proble- Christian Lahr: Da bin ich inhaltlich völlig bei Ihnen, das me noch nicht so groß. Aber bitte machen Sie konkrete ist aber eine Frage für die Schulaufsicht. Ersatzschu- Vorschläge. Wir sind da für neue Ideen offen, machen len profitieren von der staatlichen Förderung und das Sie von der Mitbestimmungsmöglichkeit zum SEP Ge- staatliche Schulamt hat demnach die Aufsichtspflicht. brauch und schicken uns Ihre Ideen. Wenn das Sonderungsverbot nicht eingehalten wird, dann muss von dieser Stelle aus eingegriffen werden. Verschriftlich von Florian Pielert Aus dem Peanuts Wochenplaner 2021, Athesia Kalenderverlag GmbH WBZ 2 • 2021 13
In diesem Schuljahr haben 1233 Kinder mit Erstwunsch ein Gymnasium angewählt. 845 Schüler*innen wähl- ten in erster Präferenz eine Gesamtschule. In 296 Fäl- len war eine Realschule der Erstwunsch. Für die Haupt- schule gab es noch 24 Erstanwahlen. Und die einzige Mittelstufenschule erhielt 64-mal das Erstvotum der Kinder.Der gymnasiale Erstwunsch macht mit 50,09% somit mehr als die Hälfte der Schüler*innen aus. 2018 lag der Anteil der Schulabgänger*innen mit Hochschulreife in Wiesbaden bei 38,1% (https:// de.statista.com/statistik/daten/studie/1190760/um- frage/anteil-abiturienten-landkreise-metropolregi- on-frankfurt-rhein-main). Daraus ergibt sich bereits das erste Problem, dass die Gymnasien im Laufe der Klasse 5-13 einen erheblichen Anteil der Schülerschaft verlieren. Man spricht dabei vom „Abschulen“, dieser Prozess erfolgt zu nicht unwesentlichen Teilen in den Jahrgangsstufen 5-9. Im letzten Schuljahr wurde dies besonders sichtbar, als Gesamtschulen im Jahrgang 9 plötzlich neue Klassen bilden mussten, um diese Schü- ler*innen aufzufangen. Die Wiesbadener Die zweite problematische Offensichtlichkeit ist ein schnell schrumpfender Anteil der Anwahlen bei den Schullandschaft hat Real- und Hauptschulen. Dieser Trend besteht seit ein Problem Jahren. Den 320 Erstanwahlen der Haupt- und Real- schulen (ohne Mittelstufenschule) stehen 529 ver- fügbare Schulplätze in den 5. Klassen dieser Schulen Davon betroffen sind alle Schulformen gegenüber. Einzig überwählt ist die reine Realschule Werner-von-Siemens (147 Erstwünsche auf 90 Plätze). Andere Schulen erhalten im Extremfall bei 102 ver- Die aktuellen Anwahlzahlen im Übergang von Klasse fügbaren Plätzen gerade einmal 17 Erstwünsche. Das 4 der Grundschulen zur Klasse 5 der weiterführenden kann man schon als existenziell bezeichnen. Schulen zeichnen das Bild einer aus den Fugen gerate- nen Schulstruktur. Die Entwicklung hat sich die letzten Bei den Gesamtschulen sind für 45 Kinder nicht aus- Jahre bereits angedeutet, alle politisch Beteiligten und reichend Schulplätze in den 5. Klassen vorhanden. Verantwortlichen waren sich dieser bewusst und die- Hier steht diesen Schüler*innen eine Lenkung in eine ses Jahr überschreitet sie einen merklichen Kipppunkt. Haupt- und/oder Realschule bevor. Die Überwahl der Gymnasien beträgt im Verhältnis zu den verfügbaren Beschreibung Plätzen 15 Kinder. Vorab gilt es einen Blick auf die hessische Schulstruk- Dabei stehen drei überwählten Gesamtschulen fünf un- tur zu werfen: terwählte Gesamtschulen gegenüber. Bei den Haupt- Die Grundschulen führen als echte Gesamtschulen und Realschulen ist dies im Verhältnis eins zu vier ge- von Klasse 1 bis zur Klasse 4 alle Kinder nach dem geben. Die Gymnasien sind in fünf Fällen über- und in Kriterium der Wohnortnähe zusammen . Die weiter- vier Fällen unterwählt. Was hieraus deutlich wird, ist, führenden Schulen bilden drei Bildungsgänge ab: den dass offenbar zu dem deutlichen Ungleichgewicht hin gymnasialen, den Real- und den Hauptschulgang. Für zu den Gymnasien ein weiteres Missverhältnis zwi- diese Bildungsgänge gibt es jeweils eine gleichnamige schen einzelnen Schulen der gleichen Schulformen Schulform (Gymnasien, Realschulen und Hauptschu- hinzukommt. Offenbar gelingt es somit in Wiesbaden len). Die Gesamtschulen bilden eine Alternative zu nicht mehr, die 2. und 3. Säule des Schulsystem attrak- diesem dreigliedrigen System, indem sie alle Bildungs- tiv auszugestalten, so dass es sogar innerhalb der Bil- gänge abbilden. In Wiesbaden mit der Besonderheit, dungsgänge unter den Schulen derselben Schulform dass es sich durchgehend um integrierte Gesamtschu- zu einem erheblichen Gefälle kommt. len handelt, die erst zu den Abschlüssen in Klasse 9 Diese nun vorliegende Zahlenlage ist zudem dadurch (Hauptschule) und 10 (Realschule) überhaupt die Bil- in diesem Jahr von besonderem Interesse, da die Hele- dungsgänge deutlich abbilden. Zuvor lernen dort alle ne-Lange-Schule erstmalig am regulären Verteilverfah- Schüler*innen gemeinsam. ren teilnimmt - ihr vorgezogenes Anmeldeverfahren 14 WBZ 2 • 2021
mit teils massiver Überwahl also verloren hat. Hinzu keine einzige Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe kommt die Schulpolitik der Stadt Wiesbaden, die von gibt. Für diejenigen Schüler*innen dieses nach Klasse 4 jedem strukturellen oder steuernden Eingreifen ab- angestrebten Bildungsgangs wird die Anwahl einer Ge- sieht und vollständig und einzig auf die Anwahlzahlen samtschule mit Aussicht auf einen weiteren, unsiche- bezugnehmend Schulentwicklung betreibt. ren Schulwechsel nach Klasse 10 zusätzlich unattraktiv. Analyse Vor Jahren haben die Gesamtschulen auch das „Slow- Diese unregulierte Entwicklung führt für alle Schulfor- Abi“ verloren, als die G8-Gymnasien vollständig zu G9 men zu Konflikten. Die durchgehende Problematik in zurückgekehrt sind. Hier konnten die Gesamtschulen - allen Säulen, dass einzelne Schulen offenbar deutlich zusätzlich zu ihren oft besonderen Lernformen und pä- attraktiver wirken als andere mit den einhergehenden dagogischen Ansätzen - mit der Möglichkeit des etwas Über- und Unterwahleffekten, steht über allem und stressfreieren Wegs zum Abitur punkten. wird nicht mehr separat analysiert. Grundschulen: Gymnasien: Die Grundschulen klagen bereits seit langem über den Für die Gymnasien zeichnet sich ab, dass die Erstan- enormen Kampf in der 4. Klasse (teils schon in Klasse wahlen weiter steigen werden. Es ist hingegen nicht 3 beginnend) um die meist begehrte Gymnasialemp- damit zu rechnen, dass die Abiturient*innenquote in fehlung, gepaart mit einer zunehmenden Entwertung den Jahrgängen im gleichen Verhältnis steigen wird. eben dieser Empfehlungen der Grundschulen. Denn Damit wird der Abschulprozess intensiviert und die letztlich entscheidet der Elternwille allein. Und of- Gymnasien werden sich dieser Herausforderung ver- fenbar wird die Empfehlung der Grundschulen auch stärkt stellen müssen. zunehmend ignoriert, was sich bereits vorab auf die pädagogische Arbeit dort auswirkt und nicht selten zu Auch in den unteren gymnasialen Klassen werden sich Konflikten mit den Eltern führt. für diese Schulen immer weitere Anforderungen einer zunehmend heterogen Schüler*innenschaft herausbil- Schulentwicklungsplan den. Mit verstärkter Sogwirkung durch die Überreprä- Die wesentliche Herausforderung wird somit sehr sentanz (>50%) werden es immer mehr Schüler*innen grundlegend und schulstrukturell werden. Und Wies- dort zunächst versuchen wollen. baden wird dies teils deutlich früher treffen als andere Haupt- und Realschulen: hessische Regionen. Denn wenn man diese Entwick- lung derart ungesteuert weiterlaufen lässt, wie man Für diese Schulformen wird es zu einem existenziellen dies in Wiesbaden mit dem Verweis auf den angebli- Kampf kommen, den sie bisher dadurch zu überstehen chen Elternwillen tut, wird es zu massiven Problemen in der Lage sind, dass sie im Laufe der Jahrgangsstu- zwischen den Schulformen kommen - aber eben auch fen weitere Schüler*innen hinzubekommen, die an wie bereits erkennbar unter den einzelnen Schulen. anderen Schulformen absehbar nicht erfolgreich zum Wenn diese damit allein gelassen werden, werden die Abschluss gelangen. Mit der Planung einer weiteren Verdrängungskämpfe zunehmen. Gesamtschule ab 2024 wird dies aber immer proble- matischer, da zu erwarten ist, dass insbesondere die Statt die Schulformen und ihre Rollen im (gescheiter- an den Gymnasien gescheiterten Schüler*innen die ten) gegliederten Schulsystem schärfend in den Blick Gesamtschulen als attraktivere Schulform erkennen. zu nehmen, statt die Schulen derselben Schulform mit- Hier treffen sie auf Mitschüler*innen, die von Anfang einander zu harmonisieren, statt das Anmeldeverfah- an über den Gesamtschulweg den gymnasialen Ab- ren nach Klasse 4 für die weiterführenden Schulen neu schluss anstreben. zu strukturieren, werden seitens der Stadt Wiesbaden Schulen isoliert auf sich selber gestellt, Schulformen Gesamtschulen: zusammengelegt und die Schulstruktur funktional der- Für diese Schulform steht mit Überschreiten der 50%- art überdehnt und -fordert, dass letztlich keine Schul- Marke der Erstanwahlen an Gymnasien und einem form (selbst das Gymnasium in einer massiven Über- erkennbaren Abfallen der Anwahlen an Haupt- und forderung insbesondere in den Jahrgängen 5-7) mehr Realschulen die Gretchenfrage bevor: Sind die Ge- als solche erkennbar bleibt. Und noch schlimmer: dass samtschulen noch echte Gesamtschulen? Stellen sie sogar innerhalb der Schulformen schulscharfe Ver- tatsächlich noch eine Alternative zum dreigliedrigen drängungs- und Abgrenzungskämpfe entstehen. Schulsystem dar und können sie noch eine entspre- Wir werden nicht bis zum Ende des aktuell vorgelegten chende Schüler*innenschaft abbilden? Oder werden Schulentwicklungsplans 2026 warten müssen, um die sie zur Alternative zum Gymnasium in einem letztlich Verschärfung der oben skizzierte Verschiebungen und zweigliedrigen Schulsystem? Verzerrungen in der Wiesbadener Schullandschaft be- Die Gesamtschulen treffen die Probleme der Wiesba- obachten zu können. dener Schulstruktur besonders intensiv, da es bisher René Scheppler WBZ 2 • 2021 15
Sie können auch lesen