WEISS1_2021 - WEISS MAGAZIN
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Editorial „ DI Michael Allesch Nicht das Kind soll sich der Umgebung anpassen. Wir sollten die Umgebung dem Kind anpassen." Maria Montessori Das letzte Jahr hat uns allen einmal mehr gezeigt, wie wichtig hochwertige Gebäude für unser aller Leben sind – und zwar Tag für Tag und in allen Lebensbereichen. Arbeiten, Lernen und Leben haben sich zeitweise beinahe zur Gänze nach drinnen verlagert. Wer nicht daheim war, hat sich an der Arbeitsstelle, in der Schule oder auf der Universität aufgehalten. Das betraf und betrifft Jung und Alt in ganz Österreich und damit 8.921.789 Menschen. Und diese Zahl steigt weiter: Statistik Austria prognostiziert für 2030 eine Bevölkerungsgröße von 9.225.271 und bereits 2090 knacken wir die 10-Millionen-Marke. Jeweils rund ein Fünftel davon ist im Alter von 0 bis 19 Jahren und damit großteils schulpflichtig. Es steigt also nicht nur der Bedarf an Wohnraum, sondern eben- so an modernen Bildungsbauten. Die Bundesregierung investiert daher 2,4 Milliarden Euro in 270 Schulprojekte, die in den nächs- ten zehn Jahren nach hohen ökologischen Gesichtspunkten und energieeffizient neu gebaut oder saniert werden. All diese Projekte sollen den klimaaktiv Silber Standard erreichen: Sie erfüllen da- mit die höchsten Anforderungen hinsichtlich Energieeffizienz, verwenden umweltverträgliche Baustoffe und überzeugen durch ihre Raumluftqualität, Gesundheitsaspekte und Komfort. Ihre Ge- staltung soll unter dem Aspekt „Der Raum als dritter Pädagoge“ die Lehr- und Lernbedingungen für alle Beteiligten verbessern. Wir von Saint-Gobain tragen mit unseren innovativen Baustoffen einen wesentlichen Teil zum Erreichen dieser Ziele bei. Mit diesem Ansatz haben wir auch das neuartige Wärmedämmverbund- system webertherm freestyle GW entwickelt. Österreichs einzige Glaswolle-Dämmplatte besteht zu ca. 80 % aus Recyclingglas, wird zu 100 % mit Ökostrom produziert, ist zu 100 % recycelbar und enthält keine Biozide oder Brandhemmer. Als moderne Dämmstoffplatte weist sie hervorragende Werte im Brand-, Wärme- und Schallschutz auf und durch eine Vielzahl an Oberflächen und eine große Farb- auswahl sind den Gestaltungsmöglichkeiten fast keine Grenzen gesetzt. Dieses Beispiel zeigt: Die Basis, nämlich sinnvolle und nachhaltige Baustoffe, ist schon da – damit lässt sich Schule machen! Foto: Franz Pflügl Ihr Michael Allesch Quelle: STATISTIK AUSTRIA - Bevölkerungsprognose 2020. Erstellt am 09.11.2020 Weiss 1_2021 3
Inhalt 18 Werkschau Werkschau Por trät / Interview National & International Design Auf neuen Wegen in die Zukunft 6 Preisgekrönte Ingenieurbaukunst 18 Bildung braucht Raum 24 Die Karl Landsteiner Privatuniversität für Eine mehrfach preisgekrönte Konstruktion Für das Wiener Architekturbüro noncon- Gesundheitswissenschaften in Krems – aus Stahl und Glas bildet das neue Atrium form sind Bildungsbauten mehr als nur benannt nach einem österreichischen Aus- der Universität in Sheffield/UK. Zwischen Orte der Wissensvermittlung. Vielmehr nahmemediziner und Nobelpreisträger – die altehrwürdige Architektur setzte das sehen sie Schulzentren als Motoren für die setzt neue Maßstäbe im Bildungsbau und britische Architekturbüro Bond Bryan Ltd. Entwicklung eines Stadtquartiers oder die macht ihrem Namenspatron damit alle Ehre. einen zeitgenössischen baulichen Akzent. Belebung der Umgebung. Architektur der Gegensätze 12 Orte der Kraft 28 Als facettenreiches Spiel mit Kontrasten „Schulen, Kindergärten, Bibliotheken und konzipierte der Pariser Architekt Jean-Pierre Universitäten sind einzigartige Orte, an Lott die neue Mediathek „La Passerelle“ denen nicht nur Bildung stattfindet, son- nahe Marseille und setzt damit einen dern auch Freundschaft, Begegnung, sozia- architektonischen Kontrapunkt in die les Handeln und Denken – in einem Raum, Eintönigkeit der aus dem Boden gestampf- der einzigartig ist“, sagt Franz Hammerer ten Plattenbauten im Umfeld. von der Plattform raumbildung.at. 4 Weiss 1_2021
Inhalt 24 12 6 34 Fundstücke Tr e n d Einblick Wenn Akustik auf Schönheit trifft 32 Grüne Antwort auf die Klimakrise 34 Eine neue Ära der Fassadendämmung 40 In Zukunft ist das Hybride das Maß aller Grüne Inseln im Betondschungel der Mit dem neuartigen Fassaden-Dämm- Dinge. Von großer Bedeutung wird dies Großstadt leisten einen wesentlichen system freestyle GW übernimmt WEBER auch für neue Arbeitsformen sein, die Büro Beitrag zur Verbesserung der Luftqualität Terranova soziale Verantwortung und setzt und Homeoffice miteinander kombinieren und des städtischen Kleinklimas. Sie ein deutliches Zeichen in Richtung Ökologie werden. So liegt es auf der Hand, sich spenden Kühle und Schatten und helfen, und Nachhaltigkeit. zuhause einen entsprechenden Arbeitsplatz sommerliche Temperaturspitzen abzu- einzurichten, der es optisch erlaubt, auch federn. Angesichts des Klimawandels Blog dich schlau 43 Teil des privaten Wohnbereichs zu sein. gewinnt innerstädtisches Grün … mit den Experten von Saint-Gobain zunehmend an Bedeutung. Austria! Weiss 1_2021 5
Werkschau National Architektur der Pioniere. Der Serologe Karl Landsteiner machte bei seinen Forschungen eine bahn brechende Entdeckung, für die er 1930 den Nobelpreis für Medizin erhielt: Der österreichische Wissenschaftler hatte zuvor die Blutgruppen entschlüsselt und damit einen wichtigen Baustein für die Humanmedizin geliefert. Was liegt da näher, als eine neu geplante Universität nach ihm zu benennen, noch dazu eine, die ihrerseits ebenfalls völlig neue Maßstäbe setzt. Die Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften in Krems – kurz KLPU – macht ihrem Namens patron alle Ehre. Auch in architektonischer Hinsicht. Von Barbara Jahn Gold-Standard in jeder Hinsicht. Das Siegerprojekt Fotos: Daniel Hawelka / Delugan Meissl Associated Architects des Wettbewerbs 2013, den DMAA für sich entscheiden konnten, erfüllt architekto- Der Realisierung der Universität, an der nisch, technisch und scheiden konnte. Nach dem Baubeginn 2015 konn- sich heute rund 600 Studierende ein umfassen- energetisch höchste te der neue, Identität stiftende Gebäudekomplex Ansprüche. des Wissen in Health Sciences, Humanmedizin, bereits 2017 eröffnet werden. Psychotherapie- und Beratungswissenschaften sowie Neurorehabilitationswissenschaften an- TEIL EINES GANZEN eignen, war 2013 ein Wettbewerb mit insgesamt 13 Teilnehmern vorausgegangen, den das renom- Geplant als maßgeblicher Teil eines zukünftigen mierte österreichische Architekturbüro DMAA Gesamtensembles – die Erweiterungen sind be- Delugan Meissl Associated Architects für sich ent- reits in die Wege geleitet – erfüllt der als Weiss 1_2021 7
National Werkschau Bürolandschaft mit Atmosphäre: Im Dach geschoß der sockelsanierten ehemaligen Frucht- und Mehlbörse am Schottenring bekommt man einen Einblick in die Zukunft der Arbeitswelten. Büro- und Seminargebäude konzipierte Komplex Leuchtturmprojekt für die von Anfang an eine Doppelfunktion. Ablesbar kommende Generation. Auch aus energetischer Sicht wird das nicht nur durch zwei eigene Eingänge, ist die Karl Landsteiner sondern auch in der Sprache des äußeren Erschei- Privatuniversität in Krems nungsbildes: Die Kubatur gliedert sich in zwei ein absolutes Vorzeige- beispiel. dreigeschoßige Baukörper, wobei die räumliche Anordnung und die inhaltliche Zuordnung der einzelnen Funktionen jeweils klar gegliedert wird. Durch die identische Anzahl der Geschoße und Wahl der Fassade entstehen keinerlei Hierarchien, im Gegenteil: Die beiden Trakte werden durch eine zweigeschoßige Brücke miteinander verbun- den, die aus den architektonischen „Geschwis- tern“ wieder eine harmonische Einheit macht. Das in eine Hülle aus Aluminium verpackte Ensemble, dessen Äußeres durch geschoßhohe Fensteröffnungen mit unterschiedlichen Forma- ten und Breiten durchbrochen ist, schmiegt sich so perfekt an seine städtebauliche und auch land- schaftliche Nachbarschaft. MASSSTAB MENSCH Im Inneren fokussiert die Architektur ganz auf die Studierenden. Helle Großzügigkeit dominiert die Räume und Säle, die von der lebendigen Unregel- mäßigkeit der Öffnungen nach außen profitieren. Schon die verglaste Eingangshalle signalisiert Of- fenheit und Transparenz: Das zweigeschoßige Foy- er beeindruckt mit doppelter Raumhöhe und gilt als zentrale Verkehrs- und Kommunikationsdreh- scheibe. Die einladenden Treffpunkte und Verweil- zonen lassen – auch durch die geschickt positionier Foto: Daniel Hawelka / Delugan Meissl Associated Architects ten Lichthöfe – viel Tageslicht ins Gebäude und beginnen mit den gestalteten Außenbereichen mit solitär gesetzten Bäumen, die in geschliffene Ort- betonsockel eingefasst und von Sitzgelegenheiten aus Holz begleitet werden, sowie ruhigen, ausglei- chenden Grasfeldern gleichsam einen visuell anre- genden Dialog. Das torartige Erscheinungsbild un- terhalb der Verbindungsbrücke zwischen den beiden Baukörpern vermittelt Durchlässigkeit und bietet der studentischen Betriebsamkeit viel Raum, auch als geschützter Bereich im Freien. 8 Weiss 1_2021
„ Werkschau National Gerade das Univer- sitätsgebäude über- nimmt als zentraler Schauplatz der neuen Generation eine Vorbildfunktion hin- sichtlich Architektur und Nachhaltigkeit. Es repräsentiert den Stand der Technik und zeigt, wie Zukunft schon heute seitens Foto: Daniel Hawelka / Delugan Meissl Associated Architects des Landes Nieder- österreich realisier- bar ist.“ Karl Dorninger, Gebäudeverwaltung beim Amt der NÖ Landesregierung Luft und Licht. Obwohl das Gebäude eher auf Fokus- siertheit und Konzentration RAUM IM FLUSS kleinere Seminarräume. Obwohl ganz bewusst ausgerichtet ist, spiegelt ein gewisser Raumfluss bedeutend zum Design sich im architektonischen Der scharfe Beobachter entdeckt dennoch einen beiträgt, so sind die einzelnen Bereiche dennoch Konzept von DMAA an vielen Orten der Gedanke markanten Unterschied: Der südseitige Trakt klar definiert und voneinander entkoppelt. des Weitblicks, der hat ein Geschoß weniger. Hier befinden sich Während sich die Fassade aus Alu-Sandwich- Offenheit und des unter anderem auch der Festsaal und die Hör- Paneelen in einem gedeckten, grau-braunen Freigeistes wider. säle, die durch die Raumhöhe und Größe für eine Farbton präsentiert, entfaltet sich das Innere große Personenzahl konzipiert wurden. Im ge- des Gebäudes in strahlendem Weiß, kombiniert genüberliegenden Trakt sind sämtliche Büro- mit verschiedenen Grautönen und Holzelemen- und Administrationsräume untergebracht sowie ten an Wänden und Decken. Ein Großteil der Weiss 1_2021 9
National Werkschau Böden sind in Cremeweiß gehalten, klar definiert mit deutlich sichtbaren Fugen als Gestaltungs- mittel. Sie bilden einen nuancierten Übergang zu den weiß verputzten Wänden der Treppen- häuser. VISIONÄRES KONZEPT Seit Ende letzten Jahres müssen Wohn- und Nichtwohngebäude gemäß den neuen EU-Ge- bäuderichtlinien umgesetzt werden. Eine große Spiel mit dem Licht. Herausforderung für die Architekten und ihre Die strengen baulichen Projektpartner, die die Privatuniversität gemein- Vorgaben, die vor allem für sam in weiser Voraussicht schon im Vorfeld öffentliche, stark frequen- unter vielen Gesichtspunkten zukunftsfit ge- tierte Bildungsbauten gelten, wurden hier mit plant haben. Um den heute vorgeschriebenen eleganten Details gelöst. Niedrigstenergiestatus zu erreichen, wurde auf Fa k t e n Karl Landsteiner Privatuniversität Krems, Dr.-Karl-Dorrek-Straße 30, 3500 Krems a. d. Donau Bauherr: Amt der Niederösterreichischen Landesregierung Architektur: DMAA – delugan meissl associated architects Wettbewerb 1. Preis Generalplanung: ARGE_DMAA/Vasko + Partner Bruttogeschoßfläche: 8 980 m², davon 1 807 m² bebaut Nutzfläche: 4 500 m² auf fünf Geschoßen Höhe: 23 Meter Freiraumplanung: Rajek Barosch Landschaftsarchitektur Örtliche Bauaufsicht: Pfaffenbichler ZT GmbH Tragwerksplanung, thermische Bauphysik, Gebäudetechnik: Vasko + Partner Bauzeit: 2015–2016 Auszeichnung: klimaaktiv Gold (988 von 1.000 Punkten) 10 Weiss 1_2021
Werkschau National Gekommen, um zu bleiben. Die unterschiedlichen Bereiche und Begegnungs- zonen zeichnen sich durch eine besonders hohe Aufenthaltsqualität aus. thermische Bauteilaktivierung gesetzt. Dabei DIE ZUKUNFT IM BLICK sorgen wasserführende Rohre in den Decken für ausgeglichene, angenehme Temperaturverhält- Was heute Pflicht ist, war hier schon von Beginn an nisse in den Räumen und lassen so auf energie- Teil des Plans: Als signifikanter Teil eines ganzen intensive Kühlung und Heizung verzichten. Universitätskomplexes wird die Karl Landsteiner Zum Kühlen fließt im Sommer kaltes Wasser Privatuniversität schon in ihrem Kerngebäude zur durch das Rohrsystem, in der kalten Jahreszeit Schlüsselarchitektur einer neuen Generation. lässt sich die Grundlast des Heizwärmebedarfs Nicht nur das zu zeigen, was sein könnte, sondern decken, indem warmes Wasser die Rohrregister zu beweisen, wie wichtig es ist, rasch die Initiative durchströmt. Zusätzlich werden energieeffizien- zu ergreifen und Chancen zu nützen – das zeichnet Fotos: Daniel Hawelka / Delugan Meissl Associated Architects te Wärmepumpen und Kältemaschinen einge- dieses Projekt in seiner Vorbildfunktion aus. Und setzt, kombiniert mit einer Lüftungsanlage mit dieses Engagement wurde auch belohnt: klima- Wärmerückgewinnung, die die Zuluft entfeuch- aktiv bewertete die KLPU nach den Kategorien tet, Energieverluste reduziert und Tauwasserbil- Planung und Ausführung, Energie und Versorgung, dung vermeidet. Auch einige der Laborräume Baustoffe und Konstruktion sowie Komfort und sind mit der unterhalb der Bewehrung der Raumluftqualität mit 988 von 1 000 möglichen Betondecke liegenden Bauteilaktivierung aus- Punkten und damit mit dem Prädikat Gold, ebenso gerüstet. Schließlich sorgt eine hauseigene wie die Österreichische Gesellschaft für Nachhalti- Photovoltaikanlage auf dem Dach für die erfor- ge Immobilienwirtschaft (ÖGNI), die das Gebäude derliche Stromgewinnung für ein klimafreund- mit dem Gütesiegel Gold und damit mit der höchs- liches Erwärmen des Wassers. ten Qualitätsstufe zertifiziert hat. Weiss 1_2021 11
International Werkschau MEDIATHEK „LA PASSERELLE“, VITROLLES/FRANKREICH Architektur der Gegensätze Nur wenige vergleichbare Bauaufgaben vermögen es, so gekonnt mit Kontrasten zu spielen wie die neue Mediathek in der französischen Kleinstadt Vitrolles, nahe der Metropole Marseille im Süden von Frankreich. Auf einem fast fragil wirkenden Glaskubus setzte das Pariser Architektenteam rund um Jean-Pierre Lott einen Baukörper aus massivem Stahlbeton, dessen schwere Hülle eine kontinuierlich umlaufende Welle formt. So als hätte sie der vom Meer wehende Südwind in voluminöse Falten geworfen, die beim Aushärten in der Bewegung erstarrt sind. Eine große, stattliche Mediathek für eine vergleichbar kleine Stadt – das ist nur einer der Gegensätze, die „La Passerelle“ – die neue Haupt bibliothek von Vitrolles – in sich birgt. Die Motivation, die hinter dem imposanten Bauwerk steckt, ist nachvollziehbar, wenn man einen Blick in die Geschichte von Vitrolles wagt: Vor weniger als hundert Jahren zählte das ehemalige Dorf in der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur nur knapp 900 Einwohner. Das massive Wachstum setzte erst Anfang der 1960er Jahre ein. Seitdem hat sich die Bevölkerung auf aktuell rund 35.000 Einwohner nochmals vervielfacht. Mit der neuen Bibliothek im Zentrum der Stadt findet der vor knapp einem Jahrzehnt eingeleitete städtische (Re)Vitalisie- rungsprozess vorläufig seinen krönenden Ab- La Passerelle: Die neue schluss. Mediathek im südfranzösi- schen Vitrolles setzt mit ihrer geschwungenen Fassade auf einem VOM FISCHERDORF ZUR SCHLAFSTADT Fotos: Raphaël Demaret gläsernen Sockel einen designlastigen Kontrapunkt in die langweilige Das Kleine Fischerdorf gleich hinter dem Flugha- Rasterbebauung. fen, nur rund 15 Kilometer im Nordwesten von Marseille gelegen, ereilte dasselbe Schicksal 12 Weiss 1_2021
Werkschau International Der Innenraum präsentiert sich als geschwungener Parcours durch den Raum. Das zweigeschoßige Atrium wird durch eine Passerelle in zwei Hälften geteilt.
International Werkschau Seifenblase: Planerisch, baulich und für den trockenen Innenausbau eine der größten Herausforde- rungen ist der „Raum der Märchen“ ein Ellipsoid, das im Raum zu schweben scheint und das optische Highlight des Atriums bildet. Fotos: Raphaël Demaret
Werkschau International wie viele kleine Städte und Dörfer im Umfeld gro- Gebäude neu angelegte Park auf der anderen Seite ßer Metropolen. Städteplanerisch mehr oder weni- zur kontrastreichen Kulisse für die Innenraumge- ger ohne Konzept wurden innerhalb kürzester Zeit staltung. hunderte großvolumige Geschoßwohnungsbauten aus der Erde gestampft, die architektonisch im bes- ten Fall als anspruchslos bezeichnet werden kön- EINLADEND nen. Innerhalb weniger Jahre verwandelte sich da- mit das dörfliche Idyll in eine riesige Schlafstadt, Im Glaskubus sind erdgeschoßig die Leihstelle und die für die arbeitende Bevölkerung von Marseille die Kinderabteilung der Bibliothek untergebracht vergleichsweise günstigen Wohnraum zur Verfü- sowie ein öffentliches Café, ein Vortragsaal, ein gung stellt, der zudem vorwiegend in den Nacht- großzügiges Auditorium und ein Ausstellungsbe- stunden genutzt wird, wodurch die Stadt selbst reich für wechselnde Bespielung. Das Gebäude ist tagsüber ein kaum funktionierendes Stadtleben so konzipiert, dass der gesamte ebenerdige Bereich für ihre (abwesenden) Bewohner/innen bereithält. auch außerhalb der Bibliotheksöffnungszeiten unabhängig genutzt werden kann. Die sich nach oben hin verjüngende, frei im STADTREPARATUR doppelgeschoßigen Atrium stehende, geschwun- gene Freitreppe soll die Besucher ins Obergeschoß Die neue Mediathek mit einer Netto-Nutzfläche ziehen, wo sich der Großteil des Freihandbereichs von fast 4 000 Quadratmetern ist der Höhepunkt der Bibliothek befindet. Ebenfalls im Obergeschoß der knapp ein Jahrzehnt davor in Gang gesetzten befindet sich hinter der Betonfassade versteckt Stadtreparatur, die aus der „schlafenden Stadt“ und von ihr geschützt eine holzgedeckte Freiluft- eine Stadt mit einem aktiven Gemeinschafts- und terrasse, die über die unregelmäßig angeordne- Sozialleben machen soll. In der Stadtmitte und ten, polygonalen Einschnitte in die Hülle einen direkt an der nach Marseille führenden Haupt immer wieder anderen Ausblick auf die umlie- verkehrsachse gelegen, setzt Architekt Jean-Pierre gende Stadt bietet. Neben Freihandbereich und Lott ein deutliches und selbstbewusstes Zeichen, Terrasse befinden sich im ersten Obergeschoß welches das Stadtzentrum beleben und Identität auch mehrere Arbeits- bzw. Leseräume. Das zwei- stiften soll. Dazu trägt einerseits die Architektur te, zurückgesetzte Obergeschoß beherbergt aus- selbst bei, mit ihrem mächtigen amöbenartigen schließlich Büroräumlichkeiten und ist dem Ver- Oberbau auf einem sehr filigranen, gläsernen Ku- waltungspersonal vorbehalten. bus als Sockel, der sich noch ganz streng an den orthogonalen städtebaulichen Raster hält. Auf der anderen Seite ist es die Gebäudenutzung, die GANZ IN WEISS anziehen soll: Im Obergeschoß – zur Außenwelt durch massive Betonmauern gut abgeschottet – Weiß ist die dominante Farbe der Innenraumge- bildet die Mediathek einen geschützten, ruhigen staltung – sowohl in den offenen Sockelgescho- und weitläufigen Rückzugsort, während das Erd- ßen als auch in den Geschoßen darüber. Dem geschoß mit öffentlichen Funktionen dicht be- rechten Winkel der Stadtstruktur wird im gesam- stückt, die Passanten mit demonstrativer Offen- ten Gebäude eine fließende Raumlandschaft ent- heit und Durchlässigkeit geradezu in das Gebäude gegengesetzt: Treppen, Galerien, Brüstungen, locken soll. Hier verschwimmen die Grenzen zwi- Trennwände und selbst die Möblierung weisen schen Innenraum und Außenwelt, wird der Stra- geschwungene Formen auf, die mäandernd durch ßenverkehr auf der einen Seite und der vor dem das Gebäude geleiten. Um der ganzen Bewe- Weiss 1_2021 15
International Werkschau Fa k t e n Mediathek „La Passerelle“ Avenue des Salyens, Vitrolles/Frankreich gung Ruhe zu verleihen, sind alle Oberflächen mit Bauherr: Ausnahme des Fußbodens, sämtliche Einbauten Stadt Vitrolles – vertreten durch Icade, und der überwiegende Großteil der Möblage in Vitrolles/FR Weiß gehalten. Vereinzelte, kräftige Farbakzente Architekt: in den Grundfarben Rot, Blau oder Grün setzen Jean-Pierre Lott, 75001 Paris lediglich die im Raum verteilten Polstermöbel Tragwerksplanung: bzw. die Unterseiten der abgehängten Deckenele- Oteis, Ais-en-Provence/FR mente, welche besondere Plätze wie die Info- Technische Gebäudeausrüstung (TGA): Oasiis, Aubagne/FR points oder Computerstationen kennzeichnen. Akustikplanung: Acoustb/Agence Sud, Saint-Martin-d'Hères/FR Trockenbau: INTIMZONE Denie la Stafferie, La Colle sur Loup, Provence- Alpes-Cote d’Azur/FR Namensgebend für das Gebäude und markantes Nutzfläche: ca. 4.000 m2 Designelement des zweigeschoßigen Atriums ist Fertigstellung: 2016 eine Passerelle – eine Brücke, die quer durchs Atri- Errichtungskosten: 10 Mio. Euro um verläuft und dieses in zwei Teile „schneidet“. In einen dieser Bereiche setzte das Architekten- team den markantesten und gleichzeitig intims- Sowohl im Außen- als auch ten Bereich des Gebäudes: den Raum der Mär- im Innenbereich wurde mit chenstunde. Ein weitgehend geschlossenes, im der Spachtelung in Ausführungsstufe 4 auf eine Raum schwebendes Ellipsoid dient als Rückzugs- extrem glatte und streif- raum für (Kinder-)Gruppen zum konzentrierten lichtfreie Oberfläche Vorlesen, Geschichten erzählen und Lauschen. Wert gelegt. Fotos: Raphaël Demaret 16 Weiss 1_2021
Werkschau International Foto: Raphaël Demar INNENAUSBAU MIT HÖCHSTEM ANSPRUCH „Der Raum der Märchenstunde“, oder auch „die Seifenblase“ genannt, steht stellvertretend für die Ansprüche, die in diesem Projekt an den trockenen Innenausbau gestellt wurden und ist gleichzeitig das „Masterpiece“ des ausführenden Trockenbau- unternehmens Denie la Stafferie. Den Designvor- stellungen des Architekten folgend soll der Innen- raum Bewegung und Leichtigkeit ausdrücken. Bewegung wird vor allem durch die geschwunge- nen Raumbegrenzungen und Einbauten vermit- telt, die gewünschte Leichtigkeit wird maßgeblich von der Farbgebung und den matten, glatten und vor allem streiflichtfreien Oberflächen erzeugt. Der „Raum der Märchen- Bei der Seifenblase arbeiteten Architekt, Stahl- stunde“ nennt sich das fast frei in der Eingangshalle bauer und Trockenbauunternehmen eng zusam- schwebende Oval, das nicht men und entwickelten eine Konstruktion, die ein nur an die Planung sondern Maximum an Vorfertigung ermöglichte. So konnte vor allem an das ausführen- die Errichtungszeit auf der Baustelle vergleichs de Trockenbauunternehmen höchste handwerkliche weise kurz gehalten werden. Die einzelnen faser- Anforderungen stellte. verstärkten Gips-Formteile der inneren und äuße- ren Schale wurden vom Trockenbauunternehmen in der Werkshalle vorgefertigt und vor Ort auf der Baustelle nur noch auf die Unterkonstruktion mon- tiert. Innen wie außen wurden die Formteile in gungen. Das Gebäude wurde nach den Nachhaltig Ausführungsstufe 4 verspachtelt. Analog dazu er- keitsprinzipien des französischen Umweltlabels folgte auch die Vorfertigung der abgehängten De- „Bâtiment Durable Méditérrannée“ (BDM) errich- ckenelemente, die sich im gesamten Gebäude wie- tet, wonach alle drei Nachhaltigkeitskomponen- derfinden und spezielle Plätze wie Infopoints oder ten – ökologisch, sozial, ökonomisch – erfüllt Computerstationen kennzeichnen. Hier galt es in werden mussten. Der Einsatz von umweltfreund- Zusammenarbeit mit dem Zimmerer eine mög- lichen und ökologisch unbedenklichen Gips- und lichst leichte, höchst stabile und statisch optimier- Gipsprodukten bringt in der BDM-Bewertung te Konstruktionslösung zu finden, auf die die vor- Pluspunkte. Bei der Stahlbetonhülle kam deshalb gefertigten Formteile montiert werden konnten. auch ein Portlandkomposit-Zement zum Einsatz, dem rund 30 Volumsprozent Hüttensand zuge- mischt werden. Da es sich beim Hüttensand um ÖKOLOGISCH VORBILDLICH ein Nebenprodukt aus der Stahlherstellung han- delt, fällt bei der Zementherstellung deutlich we- Mit ein Grund für den weitreichenden Einsatz von niger CO2 an, wodurch der verwendete Beton als Gips- und Gipsplatten im Innenraum waren nicht kohlenstoffdioxidarmes Produkt gewertet wird. nur die Optimierung des Bauablaufs und der Bau- Somit konnte in Summe das BDM-Umweltlabel zeit, sondern vor allem auch ökologische Überle- in Silber erreicht werden. Weiss 1_2021 17
Design Werkschau HEARTSPACE – UNIVERSITY OF SHEFFIELD/VEREINIGTES KÖNIGREICH Preisgekrönte Ingenieurbaukunst Einst völlig ungenutzt und lieblos (un)gestaltet wurde die ehemalige Restfläche zwischen zwei historischen Gebäuden der Universität Sheffield mit neuem Leben erfüllt. Da, wo noch bis vor kurzem nur das Unkraut aus dem Asphalt spross, sprießen jetzt die Ideen. Das neue Atrium macht’s möglich, denn es verbindet nicht nur die beiden Baukörper auf allen vier bestehenden Ebenen, sondern schafft neben neuen Verbindungen ein zusätzliches Raumangebot zum Lernen, Forschen, Studieren und Kommunizieren – umhüllt von einer spektakulären, mehr fach preisgekrönten Konstruktion aus Stahl. ZEITREISE DURCH DIE ARCHITEKTUR Die Universität von Sheffield ist weit über die Landesgrenzen des Vereinigten König- Seit ihrer Gründung ist die Universität von reichs hinaus bekannt, unter anderem für ihre Sheffield stets gewachsen – sowohl inhaltlich Ingenieurforschung und ihre hochkarätigen als auch räumlich. Heute besteht sie aus 50 aka- Forschungspartnerschaften mit Branchenfüh- demischen Abteilungen, aufgeteilt auf fünf rern wie beispielsweise Rolls-Royce, McLaren, Fachfakultäten und eine internationale Fakultät. Siemens, Unilever oder BAE Systems. Unter den Die einzelnen Gebäude bilden keinen geschlos- Absolvent/innen und ehemaligen Mitarbeiter/ senen Campus, wie er bei größeren Universitäts- innen der Universität finden sich neben sechs komplexen im englischsprachigen Raum sonst Nobelpreisträgern, auch mehrere Staatsober- üblich ist. Der Großteil der insgesamt rund 430 häupter, britische Innenminister, Astronauten Gebäude liegt aber trotzdem unmittelbar ne- oder olympische Goldmedaillengewinner. Die beneinander. Die Architektur wurde stets dem Gründung der Universität von Sheffield geht Zeitgeist und dem baulichen Stil der jeweiligen auf die Eröffnung der Sheffield Medical School Epoche entsprechend errichtet und zeigt heute im Jahr 1828 zurück. Zur Universität erhoben ein zeitliches Portfolio vom viktorianischen Stil wurde sie unter Edward VII. im Jahre 1905. über die Moderne bis in die Gegenwart. 18 Weiss 1_2021
Werkschau Design Weiss 1_2021 Foto: Waagner Biro steel & glass GmbH 19
Design Werkschau In den bis zu viergeschoßi- gen Einbauten unter dem gläsernen Dach wurden neue Labore und Büros für die Fakultätsmitglieder untergebracht. Das Erdgeschoß bildet eine großzügige Kommunika- tions- und Pausenzone. VERBINDUNGSGLIED Die bislang jüngste bauliche Erweiterung wurde im vergangenen Frühjahr eröffnet und stellt kein eigenständiges Gebäude im eigentlichen Sinn dar, sondern ist vielmehr das neue Verbin- dungsglied zweier historischer Baukörper im viktorianischen Stil. Zwischen die aus rotem Ziegel und Steinelementen bestehenden Fassa- den setzte das Architekturbüro Bond Bryan Ltd. ein bis zu viergeschoßiges Atrium aus Stahl und Glas, das den Eindruck erweckt, als hätte eine gigantische Wasserwelle den ehemals ungenutz- ten Innenhof zwischen den beiden Gebäuden gerade eben geflutet und würde noch zwischen deren Traufenkanten hin- und herschwappen. Das neue Atrium löst das bis dahin bestehende Problem der Unverbundenheit zwischen dem unter Denkmalschutz stehenden Frederick Mappin Building und dem Central Wing im Her- zen des Universitätskomplexes. Heartspace lau- tet so auch der Name für dieses Bindeglied, das zusammenbringt, was bis dato getrennt war und die Kommunikation und Zusammenarbeit zwi- schen den Nutzer/innen lange Zeit erschwerte. INSPIRATION ÜBER KOPF Foto: Waagner Biro steel & glass GmbH Sehr passend beherbergen die beiden – nun mit einer sympathischen architektonischen Geste verbundenen – historischen Gebäude die Fakul- tät für Ingenieurwesen, die für ihre Expertisen und Forschungen weltweit höchstes Ansehen genießt. Die Lehrenden, Studentinnen und Studenten können sich nun tagtäglich von einer außergewöhnlichen Konstruktion und in- 20 Weiss 1_2021
„ Werkschau Design genieursmäßigen Meisterleistung über ihren Köpfen inspirieren lassen. Das Projekt ist ein ausge- Das neu errichtete Atrium beherbergt unter zeichnetes Beispiel für Bauen im historischen seinem gläsernen Dach mit einer Fläche von rund 1 400 Quadratmetern nicht nur eine groß- Bestand mit Stahl und Glas zügige Eingangs- und Empfangszone direkt an der Portobello Road, sondern auch eine Cafeteria für das Universitätspersonal und die Studieren- den sowie weitere Sozialräume, Hörsäle, neue als konträre Materialien zu Labore und Büros für die Fakultätsmitglieder in zwei einander gegenüberliegenden bis zu vier- Ziegel und Stein.“ Jury-Begründung beim Österreichischen Stahlbaupreis 2021 geschoßigen Einbauten. TRANSFORMATION Heartspace überdacht den bis dahin ungenutz- ten Innenhof und transformiert die wenig ansprechende Gebäudeschlucht in ein voll funk- Riesige Stahlsäulen, die sich tionsfähiges Bauvolumen, das Universität und wie Bäume verzweigen, Stadt um ein neues architektonisches Highlight tragen das Glasdach, das statisch unabhängig von bereichert. den angrenzenden Die größte Herausforderung für Architekten Gebäuden konstruiert und Statiker stellte die Abstützung der wurde. Foto: John Kees Photography SAINT-GOBAIN
Design Werkschau BAULICHE HERAUSFORDERUNGEN In unmittelbarer Nähe des dicht verbauten Stadtzentrums, auf einem unter Denkmalschutz stehenden Grundstück im Innenhof zwischen zwei historisch wertvollen Gebäuden in luftiger Höhe eine doppelt gekrümmte Dachkonstruk tion zu errichten, stellte nicht nur die Planer, son- dern in erster Linie auch die ausführenden Un- ternehmen vor gewaltige Herausforderungen. So flossen in die Planung der einzelnen Dachseg- Foto: Waagner Biro steel & glass GmbH mente nicht nur gestalterische, sondern auch logistische und transport- sowie krantechnische Überlegungen mit ein. Eingehende Studien zur optimalen Größe der Glasscheiben beeinfluss- ten die Stückzahl, den Abstand sowie die Dicke der einzelnen Glaselemente. Über 900 dreieckige Glaspaneele bilden das neue Dach, das Ästhetik und Funktionalität ver- eint. Zum Einsatz kam das Sonnenschutzglas Die Verbindungen zwischen den Baumsäulen und den Climaplus Cool-Lite Xtreme, das dank seiner Ästen sind so gestaltet, dass hervorragenden Isolierung eine Überhitzung sie die vorhandenen der Innenräume vermeidet, dabei aber gleich historischen Elemente der Dachkonstruktion dar. Um eine klare Trennung zeitig viel Licht hindurchlässt und so eine licht- Ziegelfassaden nicht zwischen historischem Bestand und baulicher verdecken. durchflutete Atmosphäre schafft. Zusätzlichen Erweiterung zu schaffen, vor allem aber um eine Sonnenschutz und Blendfreiheit im Innenraum Überlastung der angrenzenden Gebäude zu ver- bieten die in Siebdrucktechnik auf das Glas auf- hindern, musste die gesamte Dachkonstruktion gebrachten kleinen weißen Punkte. An der rund statisch unabhängig von den angrenzenden Ge- 600 Quadratmeter umfassenden Fassade wur- bäuden selbstragend ausgeführt werden. Die de ebenfalls hochselektives Sonnenschutzglas – Lösung fand sich in stählernen „Baumsäulen“, allerdings ohne Siebbedruckung – verwendet, die als charakteristische Designelemente in das um die klare Sicht auf die dahinterliegenden Atrium integriert wurden. Dabei sind die Ver- Bestandsfassaden nicht zu beeinträchtigen. bindungen zwischen den Säulen und die Anord- Die Baumstützen wurden so konstruiert, dass nung der einzelnen Äste so gewählt, dass sie die sie unmittelbar nach dem Aufstellen freitra- historisch wertvollen Elemente der Fassade gend sind. So konnten temporäre Sicherungs- nicht verdecken, sondern ihnen vielmehr einen maßnahmen entfallen und die Arbeiten vor Ort Rahmen verleihen. auf der Baustelle minimiert werden. Um auch Anstelle klassischer Hohlprofile für die Ferti- die Anzahl der Einzelteile auf der Baustelle sowie gung der Säulen wurden sich nach oben verjün- die anfallenden Schweißarbeiten zu reduzieren, gende Stahlprofile verwendet. Damit erscheinen wurde das Dach zudem in Einzelteilen in der die Säulen deutlich schlanker und zusätzlich Werkshalle vorgefertigt. Die einzelnen Dach- können die unschönen Schweißnähte beim An- elemente sind über Knotenpunkte aus dickem einanderfügen der Hohlprofile im Bereich der Stahlblech miteinander verbunden. Um die „Baumäste“ vermieden werden. Und auch wirt- optimale Passform sicherzustellen wurden die schaftlich weiß die Speziallösung mit einem einzelnen Knoten mittels Laserschnitttechnik deutlich geringeren Stahlverbrauch zu punkten. millimetergenau gefertigt. 22 Weiss 1_2021
Werkschau Design PREISGEKRÖNT Fa k t e n Sowohl die Architektur als auch die hochkom Heartspace – University of Sheffield Vereinigtes Königreich plexen technischen Lösungen bei der baulichen Umsetzung des Heartspace überzeugten die Bauherr: Jury bei der Wahl zum Sieger in der Kategorie University of Sheffield, Sheffield/United Kingdom „Hochbau“ beim diesjährigen Österreichischen Architektur: Stahlbaupreis. „Das Projekt ist ein ausgezeichne Bond Bryan Ltd., London, Sheffield, Westerham, tes Beispiel für Bauen im historischen Bestand Birmingham/United Kingdom mit Stahl und Glas als konträre Materialien zu Glasverarbeiter – Dach: Saint-Gobain Glassolutions Austria/ Ziegel und Stein. Durch die leichte und groß- Eckelt Glas, Steyr zügige Stahlkonstruktion entstand ein neues Glasverarbeiter – Eingangsfassade: Raumgefüge, welches aufgrund seiner Trans- Saint-Gobain Glassolutions Objektcenter parenz und Leichtigkeit zugleich als Innen- wie Radeburg/Deutschland Außenraum wahrgenommen wird. Die stahl- Stahlbaukonstruktion: Wagner Biro, Wien bautechnischen Details zeugen von hoher Nutzfläche Einbauten: Planungs- und Fertigungskompetenz und bil- ca. 12 500 m2 den gemeinsam mit den sauber gelösten Dachfläche: 1 370 m2 Anschlüssen an den Altbau ein einheitliches Baubeginn: Mai 2017 Ganzes“, heißt es in der abschließenden Jury- Fertigstellung: Frühjahr 2020 Begründung. Auszeichnung: Österreichischer Stahlbaupreis, Kategorie Hochbau Spiel mit Kontrasten: Der Hauptzugang erfolgt über die Portobello Road, an der Alt und Neu harmonisch aufeinandertreffen, ohne sich gegenseitig die Show zu stehlen. SAINT-GOBAIN Foto: John Kees Photography SAINT-GOBAIN Weiss 1_2021 23
Por trät Foto: Leonhard Hilzensauer Nonconform ist kein klassisches Archi- tekturbüro. Es ist eine Denkfabrik, die sich sämt- licher Aspekte rund um das Wohnen, Arbeiten, Leben – kurz des Miteinanders – annimmt. NONCONFORM „Die aktuellen sozioökonomischen und klima- ökologischen Fragestellungen stellen unsere Gesellschaft vor große Herausforderungen. Vor diesem Hintergrund entwickeln wir gemein- sam Zukunftsbilder für Orte, Unternehmen und Bildung braucht Bildungsinstitutionen. Wir stoßen Veränderun- gen im Großen wie im Kleinen an und begleiten sie mit Prozess- und Planungskompetenz. Dabei Raum ermöglichen wir es den betroffenen Menschen, denen es ein Anliegen ist, sich bei der Entwick- Sie beteiligen Menschen und begleiten Veränderung: lung ihres Umfeldes einzubringen“, sagen die Architektinnen Johanna Treberspurg und Caren Das Wiener Architekturbüro nonconform hat eine Ohrhallinger. „Mit analogen und digitalen Betei- klare Haltung zur Beteiligungskultur und zum ligungs- und Planungswerkzeugen und Metho- Umgang mit sozialer und räumlicher Umwelt. Dabei den schaffen wir eine kreative Arbeitsatmo- sphäre und klare Rahmenbedingungen, in vermittelt das kreative Kollektiv seine Sichtweisen, denen Veränderung gewagt und von vielen stellt diese zur Diskussion und lebt das, was auch in mitgetragen wird. Wir sorgen für Transparenz der eigenen selbstorganisierten Arbeitskultur im Büro sowie interdisziplinäre Vernetzung und geben vermittelt wird. unser Wissen gerne weiter – auf Konferenzen, in Vorträgen und mit unserer Akademie.“ Von Barbara Jahn 24 Weiss 1_2021
Por trät MEHR LEBEN GEBEN darf, wenn es darum geht, im Schulgebäude räumliche Synergien zu finden und die Räume Apropos Bildung: Ein heiß diskutiertes Thema, bestmöglich zu nutzen. „Unser Anspruch ist es, auch bei nonconform, denn es gibt viel zu tun. ein Ergebnis zu entwickeln, wobei durch die Die Linie ist jedoch klar. „Es tut sich definitiv Mehrfachnutzung mehr Raum für alle entsteht etwas in der Bildungslandschaft. Wir beobach- und dadurch etwa Erschließungsbereiche oder ten, dass Bildungszentren als Bauaufgabe räum- Treffpunkte wie das Foyer großzügiger gestaltet lich durchaus auf Basis der zeitgemäßen päda- werden können, sodass attraktive Lern- und gogischen Konzepte errichtet werden, und man Lebensräume entstehen“, sagt Johanna Treber- erkennt, dass sie großes Potenzial in sich bergen, spurg und ihre Kollegin ergänzt: „‚Lernen‘ findet soziale Treffpunkte für Gemeinden, Stadtteile ja nicht nach Stundenplan statt, sondern rund oder Quartiere zu werden“, ist Caren Ohrhallin- um die Uhr, wenn es die Umgebung – sowohl die ger überzeugt. „Es geht vor allem darum, den pädagogische als auch die räumliche – zulässt. Begriff Bildungszentrum über die Schultore Aber genau das ist ein Punkt, der meistens noch hinaus zu denken und Vernetzungen mit der stiefmütterlich betrachtet wird. Das betrifft Umgebung zu schaffen.“ So sollte zum Beispiel auch die Möblierung, die Materialien und somit die Gestaltung von Foyer-Flächen so angelegt die Atmosphäre in einem Schulgebäude. Wenn werden, dass auch öffentliche Veranstaltungen es der Anspruch ist, dass Schule nicht nur Lern-, in der Schule stattfinden können, Bibliotheken sondern auch Lebensraum sein soll, dann müs- als Synergie aus Schul- und öffentlicher Biblio- sen wir uns nur fragen, welche Vorstellungen thek gedacht werden oder Freiflächen auch Behutsam umgestaltet und von Materialien und Atmosphäre wir für unser außerhalb der Schulöffnungszeiten zugänglich an ausgewählten Stellen eigenes Wohnzimmer haben. Was brauchen wir, sind. Der Beobachtung der beiden Expertinnen geöffnet: So wurden im um uns wohlzufühlen? Was ist der Anspruch an Leobener Bildungszentrum nach gibt es dennoch einige Möglichkeiten in die Ausstattung? ‚Putzbar‘ oder ‚nutzbar‘?“ Pestalozzi Licht und der bestmöglichen räumlichen und zeitlichen Sichtbeziehungen zwischen Nutzung der Schulräume, die noch nicht zur Klassenraum und Erschlie- ßungsfläche möglich. Gänze ausgeschöpft sind. „Die meisten Schulen MITEINANDER STATT NEBENEINANDER Herzstück ist ein groß stehen in Wahrheit über drei Viertel der Zeit leer, zügiger, heller Raum über wenn man über die Schultage (Ferienzeit) und mehrere Ebenen, eine Lern- Geht es nach den beiden erfahrenen Architek- Unterrichtszeiten hinausdenkt. Oft gibt es noch und Pausenlandschaft mit tinnen, so sind soziale Infrastrukturen wie Schu- Bibliothek für das Zusam- ein „Mascherl“-Denken, dass Räume nur für eine len oder Bildungscampusse die Motoren für die menarbeiten und -leben Funktion oder ein Fach genutzt werden können.“ unterschiedlicher Schul Entwicklung eines Quartieres beziehungsweise Genau hier sehen sie großen Entwicklungsbe- typen und Altersstufen. auch für die Belebung ihrer Umgebung – Fotos: Kurt Hörbst Weiss 1_2021 25
Por trät zum einen auf sozialer Ebene als Vernetzung getrennte Eingänge der Schulstufen, sondern zwischen verschiedenen Bildungsangeboten so- auch die Orientierung im ganzen Haus.“ Im wie damit potenziell verbundenen Zielgruppen Bildungszentrum Pestalozzi in Leoben konnten zwischen Schule und Unternehmen und zum die Architektinnen gemeinsam mit den Nutzern anderen ganz generell zwischen Bildungsein- die Frage beantworten, wie ein zeitgemäßer richtungen und dem Rest der Gesellschaft. „Auf Bildungscampus in einer alten Schulkaserne der konkret räumlichen Ebene wirkt es ganz un- umgesetzt werden kann. Konkret ging es darum, mittelbar auf die Sichtbarkeit der Kinder und Ju- ein gemeinsames Zuhause für eine Volksschule, gendlichen im Stadtraum und damit auf die eine Neue Mittelschule und eine polytechnische Sichtbarkeit und Wertschätzung von Bildung in Schule in einer unter Denkmalschutz stehenden der Gesellschaft, wenn sich die Schule dem Gangschule zu schaffen. Die Einbindung des Stadtraum öffnet“, so Johanna Treberspurg. „Es Schulpersonals und der Schüler im Rahmen der gibt jedoch einige wichtige Aspekte, die bei der Ideenwerkstatt hat nicht nur räumliche Syner- Entwicklung von einem Bildungscampus zu be- gien gebracht, sondern war der Grundstein für achten sind. Auch wenn man sich viele Flächen ein lebendiges Zusammenwachsen der drei teilt, braucht jeder Schultyp eine klare Zuord- Schulen in einem Gebäude. nung – so wie es in einer WG immer das „Eigene“ und das „Gemeinsame“ gibt. Besonders bei den Kleinen ist es wichtig, dass sie eine eigene „Hei- WENN RAUM BILDET mat“ und einen geschützten Bereich haben, der sich in der Maßstäblichkeit und der räumlichen Dass gerade die beiden sich besonders für den Gestaltung an sie anpasst. Dazu zählen nicht nur Bildungsbau interessieren, kommt nicht von ungefähr. Das erste Projekt entstand aus einer Der Bürgermeister reagierte Initiative in Moosburg, dem Heimatort eines der schnell: Aus einer Studie für nonconform-Partner. Der Impuls war das Fehlen die Erweiterung des Kindergartens entwickelte von Kinderbetreuungsplätzen und die hohe sich der erste Bildungsbau Nachfrage danach. „Dem ersten erfolgreich ab- und eine langjährige gewickelten Projekt sind weitere Anfragen Begleitung der Gemeinde gefolgt, und wir haben schnell gemerkt, dass bei der Erarbeitung eines räumlichen Masterplans für uns die Entwicklung von Bildungsbauten liegt. den Bildungscampus Die Aufgabe ist genauso vielseitig wie unsere Moosburg. Arbeitsweisen und Interessensgebiete“, erzählt Johanna Treberspurg. Sie hat neben dem Archi- tekturstudium Kunstpädagogik studiert – das Interesse an der Entwicklung und Gestaltung von Bildungsbauten ist so von Beginn der Aus- bildung an mitgewachsen. „Die Schule bezie- hungsweise der Lernraum ist für viele ein wich- tiger und prägender Raum – im positiven und negativen Sinn. Hier einen Beitrag zu leisten, diesen Raum an die Bedürfnisse der Nutzer an- zupassen und einen Ort zu schaffen, wo man sich wohlfühlt und der das Lernen unterstützt, Fotos: Astrid Meyer finde ich eine sehr schöne Aufgabe.“ Caren Ohr- hallingers Sensibilität für das Thema hingegen hat sich parallel zum Schulweg ihrer Tochter ent- 26 Weiss 1_2021
Por trät NONCONFORM wickelt. Aber auch von den lieblos, einheitlich und oft steril eingerichteten Räumen, in denen Architektin Johanna Treberspurg seit 2013 Mitarbeiterin, seit 2020 Partnerin ein Kind jeden Tag sieben bis acht Stunden ver- bei nonconform bringen sollte, war sie nicht angetan. „Was ich Studium an der TU Wien und an der IUAV vermisste, waren räumliche Freiheit, Wohnzim- Venedig sowie an der Akademie der meratmosphäre, Gemütlichkeit.“ bildenden Künste (Kunstpädagogik) Foto 2008–2012 regelmäßige Mitarbeit in der :K Architekturvermittlung Biennale di at ar h ina Ros sboth Architettura Venezia und im AZW WISSEN UND TEILEN Persönlicher Schwerpunkt: gemeinschaftliche Wohnformen (Baugruppe B.R.O.T. Pressbaum) Als fachliche Unterstützung haben sie mit dem Schulbau-Experten und Gründer der Plattform Architektin Caren Ohrhallinger schulRAUMkultur Professor Michael Zinner eine 2003 Partnerin und Geschäftsführerin Kooperation gestartet und die Expertise sukzes- bei nonconform sive mit neuem Wissen und Methoden angerei- 2006 Entwicklung der partizipativen Planungs- methode nonconform ideenwerkstatt chert. „Ich denke, das A und O ist das Kennen der 2016 Entwicklung der nonconform Nutzungsbedürfnisse der Menschen, die täglich akademie als Weiterbildungsangebot für an diesem Ort lehren, lernen und arbeiten. Und innovative Bürgerbeteiligung diese Anforderungen an den Arbeitsraum und Persönliche Schwerpunkte: Zukunftsent- Foto „ die Alltagsabläufe lernt man nur kennen, wenn wicklung für Raum und Organisation in : Ju lia Pu man in dem Entwicklungs- und Planungs- ch egg Unternehmen, regelmäßige Tätigkeit als er Vortragende prozess intensiv mit allen Menschen, die das Gemeinsame Schwerpunkte: Moderation, Gebäude nutzen, zusammenarbeitet und ihnen Prozessbegleitung, partizipative Planungsprozes- zuhört“, sagt Johanna Treberspurg. Caren se im ländlichen und urbanen Raum in der Ohrhallinger fügt hinzu: „Gerade bei einer Welt, Bildungs- und Schulraumentwicklung in der man selbst nicht unbedingt drinnen ist, ist es wichtig, zur eigenen Fach- eben diese Nut- zungsexpertise abzuholen. Wir haben dazu ein Beteiligungsformat entwickelt, die nonconform ideenwerkstatt, in der wir in drei Tagen kompakt Die Campus-Idee bietet die und vor Ort ein räumliches Konzept für die Aufgabenstellung erstellen. Das haben wir mit Möglichkeit, sanfte Über- Michael Zinner gemeinsam weiterentwickelt und an die Anforderungen eines Schulplanungs- prozesses angepasst. Dabei sprechen wir nicht nur mit den Lehrenden, sondern auch mit den gänge zwischen den Alters- Schülern und dem gesamten Schulpersonal. Die- ses Eintauchen in die Welt der Nutzer und das stufen und Schultypen zu gemeinsame Entwickeln ist ein ganz wichtiger schaffen und das Potential von Flächensynergien Bestandteil, der Vertrauen und Akzeptanz für das Ergebnis und neue pädagogische Ansätze zwischen den Bildungsein- schafft. Es ermöglicht uns, mit unserer Schul- bau-Expertise nicht nur ein maßgeschneidertes räumliches Konzept zu entwickeln, sondern eben auch den Nutzern, sich dieses aneignen zu richtungen zu entwickeln." können.“ Caren Ohrhallinger Weiss 1_2021 27
Interview INTERVIEW MAG. DR. FRANZ HAMMERER/RAUMBILDUNG.AT Orte der Kraft Bildungseinrichtungen wie Schulen, Kindergärten, Bibliotheken und Univer- sitäten sind mehr als nur eine Hülle, in der Wissen vermittelt wird. Hier finden Freundschaft, Begegnung, soziales Handeln und Denken statt, in einem Raum, der einzigartig ist. Oder es sein sollte. Dr. Franz Hammerer beschäftigt sich seit Jahren mit der Beziehung von Lernen und Raum und unterstützt Schulen bei Neu- oder Umbauten in der Entwicklung eines pädagogisch-räumli chen Konzepts. Im Interview erzählt er, warum es so wichtig ist, die Architektur in die Bildung miteinzubeziehen. Foto: privat Von Barbara Jahn Weiss: Bildung und alles, was damit zusammen Dies erfordert jedoch eine Neuinterpretation und hängt, hat schon immer die Gemüter gespalten. Neugestaltung von Lernräumen. Das betrifft natürlich auch die Architektur. Was Weiss: Sie waren selbst lange Pädagoge und in braucht es Ihrer Meinung nach ganz grundsätzlich, der Lehrerausbildung tätig. Warum hat sich das um den idealen Rahmen für Menschen – egal ob Klassenzimmer in den letzten 100 Jahren – bis auf groß oder klein – zu schaffen, denen man Wissen wenige Ausnahmen – so wenig weiterentwickelt? vermitteln will? Franz Hammerer: Ja, das ist wirklich erstaunlich, Franz Hammerer: Ausgehend von der Grund- denn es gab bereits um 1900 reformpädagogi- einsicht, dass Bildung immer den ganzen Men- sche Ansätze, wie z. B. die Montessori-Pädagogik schen im Auge haben muss, also Hand, Herz oder die Freinet-Pädagogik, die für ihre neuen und Verstand formen soll, gilt es, einen Rahmen Bildungskonzepte veränderte Räume forderten zu schaffen, der inspirierend ist für vielfältige und auch realisierten. In Amerika fand in den Lernaktivitäten. Bildungseinrichtungen können späten 1960er Jahren das Konzept des „Open Kraftorte für Lebensgestaltung sein, wenn wir Classroom“ eine Umsetzung. In Österreich wur- sie als Arbeits- und Lernlandschaften, als Orte de lange Zeit als gegeben hingenommen, wie zum Verweilen, als Orte der Begegnung gestalten. Schulen gebaut und Klassenzimmer eingerichtet 28 Weiss 1_2021
Interview waren. Sie waren an Kasernenbauten orientiert und pädagogisch auf Einordnung und Unterord- nung ausgerichtet. Auch die ab den 1960er Jahren gebauten Gangschulen sind keine Lernlandschaf- ten, sondern hintereinander aufgefädelte Klassen- räume, davor weiträumige Gänge. Pädagogisch wurde das Konzept des Lernens nach dem „Nürn- Foto: Herta Hurnaus berger Trichter“ – alle sollen zur gleichen Zeit mit den gleichen Methoden das Gleiche lernen – an- gestrebt. In solchen Schulen, es gibt sie leider nach wie vor, besteht der einzige Drang darin, mög- lichst schnell wieder hinauszukommen. Das Schulzentrum Weiss: Muss Schule neu gedacht werden? Feldkirchen an der Donau beeindruckt schon beim Franz Hammerer: Viele Beispiele im In- und Aus- Eintreten in die Aula – ein land zeigen, Schule wird schon neu gedacht und pulsierendes Zentrum mit gelebt. Ich denke z. B. an die vielen Schulen, die im offener Bibliothek, einer Lesestiege als auch einem Rahmen der Initiative „Schule im Aufbruch“ neue multifunktionalen Wege beschreiten, die Schulen zu kindorientierten Essbereich – und zeigt Lern- und Lebenswelten umgestalten – inhaltlich Foto: Herta Hurnaus deutlich, dass hier Schule und räumlich. Schulentwicklung, Unterrichtsent- neu gedacht und gelebt wird. wicklung und eine neue räumliche Gestaltung gehen hier Hand in Hand. Das Bild vom Kind und seiner Entwicklung hat sich verändert und findet in Lernkonzepten, die auf Aktivität, Selbständig- keit und Selbsttätigkeit ausgerichtet sind, eine -konzepte nicht automatisch eine deutlich wahr Entsprechung. Trotzdem besteht diesbezüglich in nehmbare Weiterentwicklung nach sich ziehen vielen Schulen noch ein großer Nachholbedarf. müssen? Weiss: Sehen Sie mit diesem „Stillstand“ einen Franz Hammerer: Auf jeden Fall! Wir verstehen Zusammenhang mit einer doch eher trägen Weiter heute Lernen als einen aktiven, selbstgesteuer- entwicklung der Pädagogik? ten Prozess, der sich individuell und in sozialen Franz Hammerer: Ja, die Schule ist als eine große Bezügen vollzieht. Im Lernprozess ist der Raum und mächtige Institution von verschiedenen ge- neben den anderen Kindern und der Lehrper- sellschaftlichen Ansprüchen durchdrungen – das son der „dritte Erzieher“. Was heute die pädago- Schulsystem ist ein träger Dampfer. Die Pädago- gische Arbeit in einer Schule erfordert, ist nicht gik jedoch, und hier besonders die Grundschulpä- mehr über einen traditionellen Klassenraum mit dagogik, aber auch die Psychologie haben in den 63 m2 zu bewältigen. Schulen als „Treibhäuser der letzten Jahrzehnten Konzepte entwickelt, die neu- Zukunft“, wie Reinhard Kahl zukunftsweisende este Erkenntnisse zur Entfaltung von Potentialen, Schulen bezeichnet, müssen vielfältig differen- Neigungen und Fähigkeiten von Kindern und zierte und ästhetisch anspruchsvoll gestaltete Jugendlichen aufgreifen und pädagogisch-didak- Lebens- und Erfahrungsräume sein. Es gibt jedoch tisch fruchtbar machen. Die Lehrerbildung müsste Innovationsantreiber im Bildungsdiskurs, die hier noch konsequenter an der Implementation auch Raumveränderungen unabdingbar machen: ins Schulwesen arbeiten. Zum Stillstand in Bezug Ganztagsschule, eine neue Lernkultur mit einer auf Raumgestaltung: Lange Zeit war in der Päda- großen Vielfalt an Lern- und Unterrichtsformen, gogik der Raum kein Thema – das ändert sich jetzt. Inklusion, vermehrte Arbeit im Lehrerteam. Weiss: Hätten neue, innovative Lehransätze und Weiss:Welche Empfehlungen geben Sie Weiss 1_2021 29
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