Weißt du noch, wie es früher war? - Schwerpunkt Veränderung - LIST Gruppe
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Veränderung Editorial Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?* In dieser Frage schwingt die bittere Er- kenntnis des Nostalgikers mit, dass er am Ende auf verlorenem Posten steht. Morgen ist das Heute schon wieder Vergangenheit. Und liegt das Heute nur lange genug zu- rück, erscheint es uns in rosigerem Licht. Dies ahnt auch der Nostalgiker, obwohl er so gerne daran glauben würde, dass alles genau so gewesen sei. Um diese „Früher-war-alles-besser-Mär“ zu widerlegen, bräuchte es doch eigent- lich nur ein Wort: „Zahnheilkunde!“ Aber im Ernst: Werden viele Menschen nicht dann nostalgisch, wenn sie traurig, verunsichert oder romantisch gestimmt sind – also in psychologisch prekären Situationen? Da spendet die Idealisierung des Vergange- nen Trost und wirkt für kurze Zeit stim- mungsaufhellend. In solchen Fällen führt das bei hochdosierter Anwendung aber nur zu einem: Unglück. Denn, wenn es überhaupt über irgendetwas Gewissheit gibt, dann darüber, dass alles fließt und nichts bleibt, wie es ist. Dies ist der Aus- druck des Lebens an sich – Mühsal und Zauber zugleich. Die Beiträge dieser Ausgabe erzählen da- von: ermutigend, überraschend, hoffent- lich bereichernd – und ein ganz klein wenig * „ Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ – nostalgisch! Roman von Joachim Meyerhoff Entweder zelebrieren wir das Neue oder wir verfluchen es. Wer kennt das nicht? Ein Thema, das – wenn auch überspitzt oder ironisch – vielfach Einzug in die Musik findet. Weißt du noch, wies früher war? 2|3
Veränderung Inhalt S. 6 Gastbeitrag von Joey Kelly. S. 12 So kanns gehen Otto ist heute nicht mehr, was es einmal war. S. 16 Im Fokus S. 6 Der medizinische Fortschritt machts möglich: ein nach- S. 12 S. 28 wachsendes Ohr. S. 18 Hinter den Kulissen Die Veränderung ist auch unser ständiger Begleiter. S. 22 Andere Blickwinkel Steven Pinker ist sich sicher, dass die Welt immer besser wird. S. 28 S. 36 Schon gewusst? Nicht jedes eingedeutschte Wort hat sich bei uns durchgesetzt. S. 44 Standpunkt S. 30 Gerhard List über unseren Im Gespräch Einfluss auf Veränderung. Start-up-Coach Felix Thönnessen im Interview. S. 46 Fundstück S. 36 Ein Buch, das an konkreten Was geht? Beispielen zeigt, wo die Zukunft Ein Blick in den Lebensmittel- nicht verzockt wird. einzelhandel. S. 50 S. 40 Starke Partner Andere Blickwinkel Die QUACKERNACK Straßen- Den Shakern ging es bei ihren und Tiefbau GmbH & Co. KG Möbeln nur um eines: den Nutzen. baut auf Erfahrung. S. 42 Im Fokus S. 54 Nachgefragt S. 30 Der Geist von Woodstock lebt Andreas Fietze steht Rede bis heute. und Antwort. Bauwerk 03 | 2018 Früher war alles schlecht. 4|5
Veränderung Gastbeitrag Wer verändert hier wen? Ein Leben auf dem Kopf. Ich habe elf Geschwister. Acht von ihnen waren Mitglieder unserer Band. Sprich: Wir haben zu neunt tagtäglich aufeinander gehockt. Ich wurde oft gefragt, ob das dauerhaft gut geht. Nein, natürlich nicht. Wie in jeder normalen Familie gab es immer mal wieder Zoff. Und mit dem einen habe ich mich besser verstanden als dem anderen. Das gehört dazu. Autor Joey Kelly Joey Kelly ist in drei Wochen zu Fuß von Wilhelmshaven bis zur Zugspitze gelaufen. Dabei hat er von dem gelebt, was ihm die Natur bot, und nach einem Kampf mit sich selbst – wie er sagt – die Hysterie seines Körpers besiegt. Foto Joey Kelly Bauwerk 03 | 2018 Der Himmel grau, die Menschen mies. 6|7
Veränderung Gastbeitrag Damals war die „Kelly Family“ für uns mehr eine Selbstver- ständlichkeit als ein gemeinsames Projekt. Foto Thomas Stachelhaus Neun der elf Kelly-Geschwister waren Mitglied der Band und reisten gemeinsam von Auftritt M it dem Auflösen unserer Band war von jetzt auf gleich und können unsere Dickköpfe – die wir beide bis heute durch- Selbstsicher, ausdauernd und bekloppt zu Auftritt. alles anders. Die Verhältnisse zueinander haben sich ver- aus noch haben – auch mal zurücknehmen. Es ist in Ordnung, ändert. Zu einem meiner Brüder leider zum Negativen wenn der andere nicht der eigenen Meinung ist. Außerdem ist die Ich war fünf Jahr alt, als unsere Band gegründet wurde. Wir sind hin. Außer der Musik, die damals für uns mehr eine Selbstver- „Kelly Family“ diese Mal ein echtes Projekt für uns. Jeder hat sein durch ganz Europa gezogen und haben auf der Straße gespielt. ständlichkeit als ein gemeinsames Projekt war, hatten wir nicht eigenes Leben und hat sich bewusst für das Comeback entschie- Ein harter Kampf für ein großes Ziel: Wir wollten die Hallen dieser viel gemeinsam. Mit der räumlichen wurde auch die emotionale den. Wir alle Arbeiten voller Spaß und Leidenschaft für ein und Welt füllen. Auf der Bühne stehen und die Menschen mit unse- Distanz immer größer. Wir mussten nicht mehr notgedrungen mit- dieselbe Sache. Für uns ist das nicht nur ein Job, sondern viel rer Musik berühren. Wir haben immer und immer wieder alles auf einander klarkommen, also taten wir es auch nicht. mehr als das. Und dass wir dabei erfolgreich sind, trägt natürlich eine Karte gesetzt. So haben wir beispielsweise, als wir uns das enorm zur guten Stimmung bei. erste Mal von dem auf der Straße verdienten Geld etwas leisten konnten, ein eigenes Plattenlabel gegründet. Wir waren glaube Mehr als ein Comeback Ich muss ganz klar sagen: Zum Glück hat mich diese Verände- ich die ersten in Deutschland, die das taten. Aber wir hatten einen rung einfach „überrollt“. Ich weiß nicht, ob wir unsere Komfortzo- Traum. Und tatsächlich, nach 18 Jahren harter Arbeit und Exis- Im vergangenen Jahr haben wir als Familie unser Comeback ge- nen jemals verlassen und uns wieder angenähert hätten. Die Welt tenzkampf haben wir es im Jahr 2002 geschafft und mit unserem wagt. Ich bin offen an die Sache herangegangen, hatte aber kei- um uns herum verändert sich. Und das Beispiel zeigt, dass das Album „Over the Hump“ erstmals die Charts gestürmt. Es war ne allzu großen Erwartungen. Vor allem nicht die, dass sich das ohne unser Zutun unser Leben beeinflussen kann. Insofern ich einfach unglaublich. Aber ich muss auch ganz ehrlich zugeben: Verhältnis zu meinem Bruder wieder verbessert. Aber tatsächlich: meinen Lebensweg beeinflussen kann, pflege ich aber ein ganz Wir waren schon irgendwie bekloppt. Woher nahmen wir all die Wir gehen wieder ganz locker miteinander um und verstehen anderes Motto: „Wenn du etwas verändern willst, fang damit an.“ Jahre die Sicherheit, dass wir unser Ziel irgendwann erreichen? uns gut. Erst habe ich nicht verstanden, warum. Mittlerweile Sei es drum. Wir hatten das nötige Quäntchen Glück und haben glaube ich es zu wissen. Wir sind endlich erwachsen geworden die Veränderung selbst herbeigeführt. ‣ Bauwerk 03 | 2018 Die Welt war furchtbar ungerecht. 8|9
Veränderung Gastbeitrag Geliebte Unbeliebtheit Wie früher, aber anders Der Zeitraum, in dem wir richtig erfolgreich waren, betrug in etwa Heute steht meine Welt Kopf. Zum Teil, weil ich die Verände- sechs bis acht Jahre. Wir lebten wie in einer anderen Welt, in rung aktiv gesucht habe. Zum Teil, weil ich von der Veränderung der die normalen Gesetzmäßigkeiten nicht mehr galten. Und wir aufgesucht wurde. Früher war die Musik mein Leben und der rutschten da nach und nach rein. Die kreischenden Fans, die der Sport mein Ausgleich. Heute ist der Ausdauersport mein Leben. Reihe nach in Ohnmacht fielen. Die schier unendliche Berichter- Nachdem ich im Jahr 1998 acht Ironman gefinisht habe, sind die stattung. Und das viele Geld. Ich kann durchaus verstehen, wenn Wettkämpfe immer ausgefallener geworden. In meiner Vita ste- es Stars gibt, die da die Bodenhaftung verlieren. Vor allem wenn hen beispielsweise ein 5.000 km-Marsch ohne Geld quer durch man wie meine Brüder Paddy oder Angelo als Poster in jedem Amerika, ein 441 km langer Ultramarathon in Namibia und ein zweiten Mädchen-Zimmer hängt. Aber mir konnte das nicht pas- Wettlauf zum Südpol. Die Musik ist seit unserem Comeback mein sieren, wie die Bravo damals eindrucksvoll herausfand: Ich war Ausgleich. Ich übernehme im Gegensatz zu früher keine Manage- der unbeliebteste Kelly und erhielt bei einer Umfrage nicht einmal ment-Aufgabe mehr und kann heute jeden Auftritt voll genießen. einen Prozent der Fan-Stimmen. Aber naja, dafür konnte ich auch Ich nutze unsere Shows sogar, um herunterzukommen. Wer hätte einfach so und ohne belagert zu werden über die Straße laufen. das gedacht?! Und Glück im „Unglück“: Ende der neunziger habe ich den Sport für mich entdeckt, den ich deshalb problemlos ausüben konnte. Mal sehen, was mein Leben für mich und ich für mein Leben noch bereithalten. So viel sei verraten: Ich hätte riesig Lust, mir irgendwann einmal unsere Kelly-Lieder zu schnappen und sie im Leidenschaft auf den zweiten Blick Heavy Metal-Style auf Wacken zu spielen. Eine Idee, die mein Ro- cker-Herz höher schlagen lässt. • Wie ich zum Sport gekommen bin, haben Sie vielleicht schon mal gelesen: Meine Schwester hatte sich vorgenommen, an einem Triathlon teilzunehmen. Grund genug für mein etwas zu groß ge- ratenes Ego, vorzupreschen: Das, was sie kann, kann ich auch. Gesagt, getan. Ich rannte allen vorweg ins Wasser und wollte das Ding von vorne machen. Nicht die beste Idee, wie ich schmerzlich erfuhr. Nach rund 100 Metern fand ich mich nach Luft schnap- pend an einer Boje wieder. Ich war so fertig, dass ich nach einer gefühlten Ewigkeit umgedreht und wieder zurückgeschwommen bin. Aber wer mich kennt, weiß, dass das nicht mein Stil ist. Wie- der an Land musste ich meine Ehre retten. Ich ging ein zweites Mal ins Wasser und startete das Rennen erneut – in meinem Tem- po. Das Ende vom Lied: Ich habe es ins Ziel geschafft. Als Dritt- letzter. Und ich schwor mir an Ort und Stelle: Das machst du nie wieder. Zum Autor Wie wir heute wissen, ist das ebenfalls eine Veränderung, die mich Als Musiker und Mitglied der Band auch einfach überrollt hat. Ich hatte plötzlich eine neue Leiden- Kelly Family berühmt geworden, hat schaft: Ausdauersport. Irgendwie hat es mich doch „gepackt“. Joey Kelly mit Mitte zwanzig die Musik Wenn meine Geschwister nach einem Konzert schlafen gingen, erst einmal Musik sein lassen. Für eine zog ich mir nochmal die Laufschuhe an. Ich nahm an immer mehr Solokarriere hätte es nach eigenen Wettkämpfen teil. Hier erlebte ich plötzlich wieder die „echte“ Re- Aussagen nicht gereicht. Lieber hat alität. Ich erarbeitete mir jeden noch so kleinen Fortschritt selbst er sich dem Ausdauersport gewid- und konnte mich mit anderen messen. Und wenn ich schlecht met. Bis heute nimmt er weltweit an trainierte, spürte ich die Konsequenzen. Das war mein Ausgleich verschiedensten Wettbewerben teil. zum Musikerleben. Gefinisht hat er sie bislang alle – sogar In den Wettkämpfen er- einen Halbmarathon, bei dem er bei Kilometer sieben einen Muskelfaserriss lebte ich plötzlich wieder erlitt. Gerade sein eisener Wille und seine Selbstdisziplin erlauben es ihm, die „echte“ Realität. Dinge zu leisten wie kein anderer. Und auch in 20 Jahren will er noch Sport Foto Joey Kelly machen. Dann kann er aber damit leben, wenn seine Leistungen mit denen von heute nicht mehr mithalten können. Bauwerk 03 | 2018 Doch dann, dann kam die Wende. 10 | 11
Veränderung So kanns gehen Bei OTTO bleibt alles anders. 1949 – die Spuren des zweiten Weltkriegs sind noch allerorts zu sehen, das Grundgesetz tritt in Kraft und die Bilder von der Berliner Luftbrücke gehen um die Welt. Ein Jahr, das ganz im Zeichen des Wiederaufbaus steht. Und ein Jahr, in dem Kaufmann Werner Otto den „Werner Otto Versand- Der erste Otto Katalog erschien 1950 in 300 hand- handel“ gründet. Ein Unternehmen, das heute nicht mehr gebundenen Exemplaren mit eingeklebten Fotos und mit einer Kordel gebunden. Auf 14 Seiten das ist, was es einmal war. wurden 28 Paar Schuhe präsentiert. D er erste Katalog erschien im Jahr mal, betont Marc Opelt. „Das sind schöne ten, kann man nur sagen: Chapeau! Denn 1950 – handgebunden und mit ein- Erinnerungen. Aber – und das ist entschei- OTTO ist so etwas wie der letzte Mohika- geklebten Bildern. Auf 14 Seiten dend – auch nicht mehr als das. Die Welt ner. Quelle und Neckermann rutschten in wurden 28 Paar Schuhe präsentiert. Die hat sich verändert und wir uns auch. Wir die Pleite. Ihre Reste gehören heute zum erfolgreiche Entwicklung nahm schnell ih- verabschieden uns von einem Relikt ver- Otto-Imperium. Möglich gemacht haben ren Lauf. Aus gehefteten Seiten wurden gangener Tage, das seinen Dienst getan das verschiedene Anpassungen an das Kataloge, aus gemalten Bildern die ersten hat.“ veränderte Kaufverhalten der Kunden, Fotos, aus dem Sortiment Schuhe eine wie Marc Opelt weiß: „Wir haben neue Vielzahl an Sortimenten, aus einem kleinen Vertriebswege wie das Internet, das Mo- Unternehmen ein Imperium, aus drei Mitar- Wandel geglückt biltelefon und auch den Fernseher nicht beitern 53.000 und aus einem anfänglichen einfach nur mit aufgenommen, sondern Umsatz von einer Millionen D-Mark ist eine Okay, das haben wir verstanden, der Ka- diese auch immer weiterentwickelt.“ So Milliarden schwere Unternehmensgruppe talog ist Geschichte. Aber damit geben wurde der Katalog im ersten Step zu einem geworden. Nun wird Anfang nächsten Jah- wir uns natürlich nicht zufrieden. Und es Marketingtool, von dem sich die Verbrau- res ein Stück dieser Erfolgsstory begraben. scheint als sähe Marc Opelt uns genau cher inspirieren ließen, um nachfolgend auf Im Winter erscheint der dicke Hauptkata- das an: „Dieser Schritt ist die logische otto.de online zu bestellen. Im zweiten log von OTTO ein letztes Mal. Aber: „Das Konsequenz der schon seit Jahrzehnten Step wurde der Katalog dann durch das ist wirklich kein trauriger Anlass für uns“, anhaltenden Digitalisierung.“ Im Jahr 1995 digitale Marketing sogar ganz und gar zeigt sich Marc Opelt, Vorstandsvorsitzen- wurde otto.de ins Netz gestellt – für den überholt. „Unsere Kunden, die mittlerweile der und Marketing-Chef beim Onlinehänd- damaligen Versandhändler war das der zu 95 Prozent online bestellen, haben den ler OTTO, gut gelaunt. „Die meisten von Beginn einer neuen Zeitrechnung: „Wir Katalog mehr oder weniger selbst abge- uns haben ihre eigenen, individuellen Erin- wussten nicht, was auf uns zukommt. schafft“, beschreibt das Vorstandsmitglied Werner Otto in den 50er Jahren in seinem Büro. nerungen an die Zeit mit dem Wälzer. Das Heute wissen wir, dass der Onlinehandel die Entwicklung. „Wir haben das Wort gemeinsame Durchblättern mit der ganzen und die Digitalisierung die größte Chance ‚Versandhandel‘ nicht nur aus unserem Familie auf dem Wohnzimmersofa oder waren, die wir je bekommen haben.“ Unternehmensnamen gestrichen, sondern Fotos OTTO das Zusammenstellen von Wunschzetteln uns von unserem alten Unternehmens-Ich für Weihnachten mit Seitenangaben und Vergleicht man OTTO heute – gut 20 Jahre voll und ganz emanzipiert.“ ‣ ausgeschnittenen Bildchen.“ Das war ein- später – mit seinen einstigen Konkurren- Bauwerk 03 | 2018 Unser Leid war zu Ende. 12 | 13
Veränderung So kanns gehen Nach 68 Jahren hat der Print-Katalog ausgedient. Marc Opelt, Vorsitzender des Otto-Bereichsvorstands, hat ein klares Ziel: Von nun an ist Otto komplett digital unterwegs. Die Kunden von otto.de sollen echte Fans werden. Freiwilliger Kontrollverlust gehen gerade einen Weg, der uns auf der In der Testphase befinden sich gerade im einen Seite zukunftsfähig macht, aber auf eigenen Haus entwickelte Software-Lö- Auf dem Erreichten ausruhen darf und will der anderen Seite für alle natürlich auch sungen. „Otto Market“ soll zukünftig der sich OTTO natürlich nicht. Zum einen sind mit Unsicherheiten verbunden ist“, erzählt Anlaufpunkt für Händler sein und Partner- da die noch nicht erreichten Ziele der Otto der Vorstandsvorsitzende. „Und genau anfragen koordinieren. Das Portal „Brand Group: Eigentlich sollte schon vor zwei diesen Weg müssen wir weiterhin offen Connect“, als Bestandteil von „Otto Mar- Jahren im Online-Geschäft die Marke von gestalten. Diese Veränderungen brauchen ket“, wird als Self-Service-Tool für Marken Über OTTO acht Milliarden geknackt werden. Dazu, größtmögliche Denk-, Kreativitäts- und und Händler dienen, die ihre Produkte auf dass dieser Meilenstein schnellstmöglich Handlungsräume. Wir stellen alles Bisheri- otto.de verkaufen wollen. Es soll in naher Der Katalog, klar. Daran erinnern erreicht wird, will OTTO seinen Anteil bei- ge in Frage und lernen, nach und nach los- Zukunft alle Prozesse und Services an ei- sich alle. Aber was ist OTTO heute? tragen. Außerdem schläft die neu gewon- zulassen. Erst ein gelebter Kontrollverlust ner Stelle bündeln, die Verkäufern in Form Ein europaweit agierendes, erfolgrei- nene Online-Konkurrenz nicht. „Ganz oben setzt wahre Kräfte frei.“ einer Plattform zur Verfügung steht. „Das ches E-Commerce-Unternehmen. In auf unserer To-do-Liste steht der Punkt Backend bietet eine Vielzahl an Möglichkei- Deutschland ist es der größte Online- ‚digitale Transformation weiter vorantrei- ten. Von der Einsicht in Verkaufszahlen über händler für Möbel und Living. Und ben‘. Aber das ist natürlich leichter gesagt OTTO wird Plattform Analytics-Funktionen und die Buchung von die Entwicklung geht weiter: Die als getan“, gibt Opelt zu. „Wir sind Teil Werbung bis hin zu Warenwirtschaftsfunk- ersten Schritte zu einer Plattform eines Großkonzerns, der Otto Group, und Aber wie geht sie nun weiter – die digitale tionen ist alles möglich“, beschreibt er das – ganz Amazon-like – sind gemacht. stehen ganz am Anfang eines großen Transformation? „Der Wandel geht wei- neue Tool. „Wir sind bereit für die nächste OTTO ist Teil der Otto Group, eine Kulturwandels.“ ter“, sagt Marc Opelt, „wir werden unser Veränderung. Damit kennen wir uns inzwi- weltweit agierende Handels- und Geschäftsmodell zu einer Plattform weiter- schen ziemlich gut aus.“ • Dienstleistungsgruppe mit rund Der Startschuss für diesen Change-Pro- entwickeln und uns für mehr Marken und 53.000 Mitarbeitern. Die Gruppe ist zess wurde symbolisch mit einer Mail des Partner öffnen.“ Mehr als 100 Millionen mit 123 wesentlichen Unternehmen Konzernvorstandes gesetzt, in der allen Euro sollen in den Umbau zur Plattform in mehr als 30 Ländern Europas, 53.000 Kolleginnen und Kollegen das investiert werden. Außerdem sind mehr Nord- und Südamerikas und Asiens „Du“ angeboten wurde. Die gesamte Otto als ein Drittel der Stellen, die OTTO in den präsent. Ihre Geschäftstätigkeit Group will weg von langwieriger Bürokra- nächsten zwölf Monaten besetzen will, im erstreckt sich auf die Segmente Mul- tie hin zu schnellen, agilen und damit zu IT-Bereich angesiedelt. tichannel-Einzelhandel, Finanzdienst- innovativen Entscheidungsprozessen. „Wir leistungen und Service. Bauwerk 03 | 2018 Hip hip hurra! Alles ist super, alles ist wunderbar. Hip hip hurra! Alles ist besser als es damals war. 14 | 15
Veränderung Im Fokus Ein Ohr am Arm? Ja, das geht! Ein Ohr. Ein Unterarm. Beides fest verwachsen. Gewöhnungsbedürftig. Spektakulär. Und die persönliche Geschichte von Shamika Burrage. Die 21-jährige US-Soldatin Shamika Risiko einer Abstoßung möglichst gering Burrage war auf dem Rückweg von ei- zu halten, entschieden sich die Militärärzte nem Familienbesuch. Dann ging alles für die spektakuläre Variante, das Ohr an ganz schnell. Ein Reifen platzte, das den Gliedmaßen der Patientin wachsen zu Auto kam von der Straße ab und über- lassen. Und so nahm die Geschichte ihren schlug sich. Die Soldatin erlitt schwere Lauf. Die Ärzte entnahmen Knorpel aus Verletzungen und verlor unter anderem ihren Rippen und pflanzten das Gebilde ihr linkes Ohr. Shamika Burrage hatte unter die Haut ihres Unterarms. So konn- Glück im Unglück: Sie erholte sich gut ten sich Haut, Nerven und Blutgefäße und war nicht taub geworden. Sie hatte bilden. Im Frühjahr dieses Jahres trans- „nur“ das Außenohr, nicht aber die zum plantierten sie das neue Ohr an den Kopf. Hören wichtigen Teile des Ohrs verloren. Das Happy End für Burrage: „Es war ein langer Prozess für alles, aber ich bin Eines war schnell klar, das Ohr sollte wie- zurück.“ • Fotos picture allianca / U.S. Army photo / dpa der hergestellt werden. Aber wie? Um das In Shamika Burrages Unterarm wurde Knorpel in Form eines Ohrens verpflanzt. Dieses wurde mittlerweile an ihren Kopf transplantiert. Bauwerk 03 | 2018 Früher waren wir alle traurig, wir weinten jeden Tag. 16 | 17
Veränderung Hinter den Kulissen Zeit zum Unsere Zukunft vorhersagen können wir nicht. Aber wir wissen, womit wir uns in puncto Veränderung in den nächsten Jahren beschäftigen möchten: Kultur, Digitalisie- rung und Entwicklung. Klingt so allgemein gehalten ziemlich öde. Gefühlt setzt sich Durchatmen. jedes zweite Unternehmen unseres Planeten mit diesen Dingen auseinander. Aber was steckt eigentlich konkret dahinter? S Kultur ist kein Selbstläufer Der Weg ist eit mittlerweile deutlich mehr als 100 Jahren beschäftigen wir uns nun mit der Schaffung von Immobilien. Dass sich seitdem um uns und bei uns einiges verändert hat, steht Ob wir wollen oder nicht: Eine Unternehmenskultur haben wir. außer Frage. Lässt man die ersten 110 Jahre unserer Unterneh- Aber wie sieht die aus? Was sind unsere ungeschriebenen Regeln mensgeschichte aber außen vor, bleiben sieben Jahre, auf die und Glaubenssätze? Was ist uns besonders wichtig und worauf wir gerne und stolz zurückblicken: Unsere Mitarbeiterzahl hat sich legen wir Wert? Wenn wir ganz ehrlich sind, können wir diese von 52 auf 280 Kollegen ungefähr verfünffacht. Unsere Betriebs- Fragen nur sehr subjektiv und damit nicht wirklich beantworten. leistung ist mit 220 Millionen Euro sogar mehr als fünf Mal so Uns ist aber durchaus bewusst, dass die Beschäftigung mit der das Ziel. hoch wie noch im Jahr 2011. Außerdem haben wir zehn Unter- Unternehmenskultur eine der wichtigsten strategischen Aufgaben nehmen gegründet und mit der AG als Holding unsere komplette zur Gestaltung des eigenen Unternehmenserfolges ist. Wir wollen Unternehmensstruktur neu gestaltet. Ein Ergebnis verschiedener den Fuß keinesfalls vom Gaspedal nehmen, uns aber Zeit dafür Veränderungen, über das wir uns freuen. Aber auch ein Ergebnis, einräumen, uns auf die Menschen zurückzubesinnen. Auf das, das im Grunde gar keines ist. Denn wir haben uns für einen kon- was uns ausmacht. tinuierlichen Veränderungsprozess entschieden, der unser dauer- hafter Wegbegleiter sein soll. Wir sind stets auf der Suche nach Bleibt die Frage nach dem wie. Wir haben uns dafür entschie- ungenutzten Potenzialen und so folgt auf eine Veränderung die den, die Bertelsmann Stiftung zu beauftragen. Sie soll heraus- nächste. Das ist nicht immer ganz leicht. Aber ein wichtiger Bau- finden, was unsere Kultur auszeichnet. Es werden qualitative In- stein für die Zukunft unserer Unternehmensgruppe. terviews mit Kollegen geführt, die – so hoffen wir – kein Blatt vor den Mund nehmen. Denn sie können am besten beurteilen, was unser tägliches Miteinander ausmacht. Gibt es Dinge, die man halt so macht, weil sie schon immer so gemacht werden? Wie Wachsen allein reicht nicht verhalten sich die Kollegen wann und wem gegenüber? Welche Macken begegnen einem auf den Fluren LIST Gruppe? Die Ant- Objektiv betrachtet ist unser Wachstum zwar ganz nett, aber nicht worten können unter anderem auch schmerzhaft werden. Das außergewöhnlich groß. Da haben andere Unternehmen schon wissen wir. Und vielleicht werden wir auch den einen oder an- ganz andere Kurven hingelegt. Subjektiv – aus der Sicht unserer deren falschen Schluss ziehen. Aber nur wenn wir es schaffen, Kollegen – betrachtet, sieht die Welt ganz anders aus. Auf neue unser subjektives Selbstbild hintenanzustellen und unsere „echte“ Gesellschaften folgten größere und komplexere Projekte, dafür Kultur – egal, ob wir diese für gut oder schlecht halten – kennen, mussten neue Stellen geschaffen und Programme implementiert haben wir überhaupt die Chance, diese mitzugestalten. Wohin werden. Die dadurch entstandenen neuen Möglichkeiten sorgten uns das führt? Wir werden es sehen. Auf jeden Fall darf und wird wiederum für eine Anpassung unseres Portfolios und, und, und… es bei der Auswertung allein nicht bleiben. Wenn unser Selbstbild Da kommt irgendwann berechtigterweise die Frage auf: Wer sind die Realität abbildet, können und wollen wir die nächsten Schritte wir eigentlich und was macht uns aus? Und ja, genau an diesem hin zu einer werteorientierten Unternehmenskultur gehen. ‣ Punkt stehen wir. 1901 1996 2011 2013 Die Geschichte unserer Unternehmensgruppe Mit der neu gegründeten LIST+WILBERS GmbH Die Gründung der LIST Bau Bielefeld GmbH ist Das Jahr, in dem unsere Gruppe organisatorisch zu dem wird, was sie nimmt mit LIST Bau als klassisches Bauunterneh- kommt die Projektentwicklung und damit erstmals so etwas wie der Auftakt der Entwicklungen der heute ist. Die LIST AG wird als Holding gegründet. Die LIST Bau GmbH men seinen Lauf. ein neues Geschäftsfeld hinzu. letzten Jahre. wird umfirmiert in die LIST Bau Nordhorn GmbH & Co. KG. Die neu gegrün- dete LIST Bau Rhein-Main GmbH ergänzt das Schlüsselfertigbau-Portfolio. Die LIST Ingenieure GmbH & Co. KG erschließt das Geschäftsfeld der Technischen Gebäudeausrüstung. Bauwerk 03 | 2018 Es nieselte, wir waren oft krank. 18 | 19
Veränderung Hinter den Kulissen Digitalisierung ist mehr als Entwicklung hat mit ein notwendiges Übel Bequemlichkeit nichts am Hut Dass uns die Digitalisierung eine ganz neue Welt eröffnet, hört Nichts bleibt wie es ist – das haben wir begriffen und akzeptiert. man an allen Ecken und Enden. BIM, Virtual Reality und Co. Und auch unser derzeit sehr erfolgreiches Geschäftsmodell wird werden in Zukunft alles einfacher und besser machen. Was das hiervon nach aller Lebenserfahrung nicht ausgenommen sein. Je aber ganz individuell für einzelne Unternehmen und Branchenteil- dynamischer die Veränderungen am Markt, desto entschiedener nehmer heißt, kann einem niemand so wirklich sagen. Müssen und klüger müssen wir unsere Strategien weiterentwickeln. Das wirklich alle Prozesse digitalisiert werden? Bleiben unsere Jobs durchzuziehen ist aber leichter gesagt als getan. Ist nicht alles bestehen? Wer ist für was zuständig? Geht die persönliche Kom- gut so wie es ist? Müssen wir immer Vollgas geben? Bislang munikation komplett verloren? Fragen über Fragen, denen wir mit hat unser innerer Schweinehund den Kampf immer wieder einem eigenen neuen Format begegnen: unser neugegründetes verloren. Und damit wir auch in Zukunft nicht einknicken, haben Unternehmen LIST Digital. wir uns Unterstützung geholt. Ab dem 1. Oktober dürfen wir Dr. Maximilian Ph. Mueller als Leiter Unternehmensentwicklung Wenn wir als Unternehmensgruppe Schwierigkeiten dabei haben, zu unserem Team zählen. Antworten auf diese Fragen zu finden, wird es anderen Unterneh- men unserer Branche ähnlich gehen. Eine Herausforderung, die Er soll unsere Zukunft aktiv gestalten und dafür sorgen, dass wir Chance und Marktlücke zugleich ist. Mit einem sehr erfahrenen auf den starken Anpassungs- und Veränderungsdruck des Mark- Team aus IT- und im Speziellen aus BIM-Experten wird LIST Digital tes nicht nur passiv reagieren. Hierfür soll Max Mueller – so die die Antworten nicht nur für uns erarbeiten, zusammentragen und Kurzform – Ideen und Strategien entwickeln. So die Theorie. Was in praktische Lösungen ummünzen. Sie wird die Beratungsleis- dann folgt und die größere Herausforderung ist, ist die Überfüh- Foto a|w|sobott tungen und digitalen Services auch im Markt anbieten. Mit wel- rung in die Praxis. Unser Führungsteam ist groß und nicht immer cher Reaktion wir rechnen können? Wir lassen uns überraschen. einer Meinung – zum Glück. Bei grundlegenden Veränderungen Ob Ansturm oder Zurückhaltung – wir orientieren uns an den be- auf einen Nenner zu kommen, war deshalb aber bislang nicht sonders innovativen Wirtschaftszweigen unseres Landes. Was die leicht und wird es auch in Zukunft nicht sein. Wir stehen voll und Automobilbranche kann, können wir auch. Die Immobilien- und ganz hinter unserer dezentralen Organisation, aber müssen beim Dr. Maximilian Ph. Mueller gestaltet als Leiter Unternehmensentwicklung Baubranche in Deutschland ist solide und erfahren und zeitgleich Treffen solcher Entscheidungen auch mit den Herausforderungen ab sofort die Zukunft unserer Unternehmensgruppe mit. stark technisch getrieben – beste Voraussetzungen für Innovation. leben, die diese Struktur mit sich bringt. Ganz schön was los Das Beispiel zeigt, dass nicht nur eine Veränderung auf die nächs- te folgt. Sondern auch, dass auch eine Veränderung die nächste beeinflussen kann. Die Zusammenhänge sind komplex und jede Die Zusammenhänge sind komplex Sackgasse zu vermeiden, scheint schier unmöglich. Aber an die- ser Stelle ist tatsächlich mal der Weg das Ziel. Und um diesen und jede Sackgasse zu vermeiden, nicht aus den Augen zu verlieren, nehmen wir uns bei all dem Tempo und Fortschritt ab und an die Zeit, durchzuatmen. Unsere scheint schier unmöglich. Art, zu reflektieren, welchen Weg wir schon gegangen sind, wo wir gerade stehen und was vor uns liegt. Was dabei immer wieder zusammenkommt, überrascht uns manchmal selbst. • 2014 2015 2016 2017 2018 Die auf Handels- und Gewerbeimmobilien spezia- Es kommt erneut ein Geschäftsfeld hinzu: Die LIST Bau München GmbH & Co. KG Zwei Neugründungen tragen zu einem größeren Mit LIST Digital GmbH & Co KG wird ein neues lisierte LIST Develop Commercial GmbH & Co. Die LIST Invest GmbH & Co. KG verantwortet geht an den Start und ergänzt damit das Spektrum bei. Die LIST BiB Bielefeld GmbH Format gegründet, das der Digitalisierung Rech- KG wird gegründet und führt die Geschäfte der von nun an die Finanzierungsstrukturierung der Schlüsselfertigbau-Portfolio. & Co. KG baut von nun an schlüsselfertig im nung trägt und einen weiteren Schritt in Richtung LIST+WILBERS Projektentwicklung GmbH fort. Projekte der Projektentwicklung. Bestand. Die LIST Develop Residential GmbH & Zukunft geht. Co. KG entwickelt Wohnimmobilien. Bauwerk 03 | 2018 Jetzt ist alles total stark. 20 | 21
Veränderung Andere Blickwinkel Dem Terrorismus und dem Populismus, den Kriegen und dem Klimawandel zum Trotz – Harvard-Professor und Bestsellerautor Steven Pinker ist sich sicher: Der Menschheit geht es so gut wie noch nie zuvor. Eine These, die für Gesprächsstoff sorgt. Der Otto Normalverbraucher nimmt nur das wahr, was ihn per- sönlich betrifft. Außerdem lebt er im Hier und Jetzt. Ein Tag, eine Woche oder vielleicht ein Jahr – die Zeiträume, in denen wir uns gedanklich bewegen, sind relativ kurz. Eigentlich kein Problem. Es Steven Pinker hat die langfristige Entwicklung sei denn, man spricht über die langfristige Entwicklung unserer unserer Welt untersucht und überraschende Welt. Denn was wir sehen, sind vor allem die vielen reißerischen Ergebnisse zusammengetragen. und negativen Nachrichten in den Medien. Und die lassen eigent- lich nur einen Schluss zu: Die Welt wird immer schlechter. Der kanadische Experimentalpsychologe und Kognitionswis- senschaftler Steven Pinker wünscht sich mehr Distanz und Ob- Die Welt wird immer besser. jektivität. Mit seinem Buch „Enlightenment Now“ sagt er dem Pessimismus der Menschheit jetzt den Kampf an. Er hat die Ent- wicklung der vergangenen Jahrhunderte gründlich untersucht und Steven Pinker hat genug in einer groß angelegten Studie zusammengetragen. Damit will er Mut zu konstruktivem Handeln machen und Licht ins Dunkle brin- gen. Und die Ergebnisse habe es in sich. Wer hätte zum Beispiel vom ewigen Pessimismus. gedacht, dass US-Amerikaner und Westeuropäer im Jahr 1870 durchschnittlich 50 Prozent mehr gearbeitet haben als wir es heute tun? Aber schauen Sie selbst. ‣ Fotos picture alliance / ZumaPress Bauwerk 03 | 2018 Jetzt lachen immer alle und reißen ständig Witze. 22 | 23
Veränderung Andere Blickwinkel Insgesamt ist der Teil der Welt, der Die Lebenserwartung ist seit dem Jahr in „extremer Armut“ lebt von fast 1830 im Schnitt von weniger als 30 90 Prozent im Jahr 1820 auf heute Jahren auf 72 Jahre gestiegen. 10 Prozent gefallen. 2.000 Tote durch Naturkatastrophen 7 016 ist zwar bekanntlich ein 2 waren per Annum in den Jahren 2010 schreckliches Jahr des Terrorismus bis 2016 zu verzeichnen, in den 30er in Westeuropa gewesen, insgesamt Jahren des vergangenen Jahrhunderts 238 Menschen starben, doch 30 verloren im Jahr dagegen 971.000 Jahre zuvor hat es noch 440 Todes- Menschen durch Fluten, Erdbeben opfer gegeben. oder Überschwemmungen ihr Leben. berall auf der Welt gehen Kinder Ü Die Welt ist etwa 50 mal weniger länger zur Schule und die Alphabeti- gewalttätig als im Mittelalter, wo sierung nimmt zu. die Wahrscheinlichkeit, von einem Mitmenschen erschlagen zu werden, etwa bei 1 zu 1.000 stand, während sie im heutigen Westeuropa etwa ie Hausarbeit ist von 58 Stunden pro D bei 1 zu 50.000 liegt. Woche im Jahr 1900 auf 15,5 Stun- den im Jahr 2011 zurückgegangen. ie Mordrate in Europa ist – im D Vergleich zum 14. Jahrhundert – wei Drittel der Weltbevölkerung Z drastisch gesunken, und zwar von lebt heute in „freien oder relativ freien 100 Morden pro Jahr je 100.000 Gesellschaften“. Im Jahr 1816 war Einwohner auf bloß noch einen es nur ein Prozent. einzigen. Mehr als die Hälfte der Mensch- heit kann sich über das Internet informieren. Es gehen 90 Prozent der Mädchen wenigstens in eine Grundschule – 1970 waren es erst 65 Prozent. Die Arbeitsstunden sind von über 60 Stunden pro Woche sowohl in den USA als auch Fotos Fotolia: ptnphotof, Olivier Le Moal in Westeuropa im Jahr 1870 auf heute etwa 40 Stunden gesunken. ‣ Bauwerk 03 | 2018 Wir sind nur noch am Baden gehen, wegen die Hitze. 24 | 25
Veränderung Andere Blickwinkel 970 war noch fast jeder dritte Mensch auf der Welt 1 unterernährt. Mittlerweile sind es „nur“ noch elf Prozent. Straftäter sperren wir ganz zivil und gesittet ein, statt sie zu foltern und zu verstümmeln. eute haben die Menschen Zugang zu durchschnittlich 2.500 H Kalorien pro Tag. Und das zusätzliche Essen geht nicht nur an die Reichen. In einigen der ärmsten Regionen der Welt ist die Unterernährung rückläufig. odesfälle allein durch Autounfälle sind seit 1921 T um das 24-fache gesunken. Weiter diskutieren auf Sklaverei ist heutzutage verboten. www.list-gruppe.de/journal Insbesondere die Kindersterblichkeit und die Müttersterblich- keit wurden drastisch reduziert. So war beispielsweise für eine Amerikanerin die Schwangerschaft vor einem Jahrhundert fast so gefährlich wie heute Brustkrebs. Die Gefahr von Infektionskrankheiten wurde durch Desinfektion, Sterilisation, Impfungen, Antibiotika und andere wissenschaftliche und medizinische Fortschritte stark reduziert. So wurden Milliarden von Leben gerettet. Fast 90 Prozent der Menschen haben mittler- weile Wasser aus einer Fotos Fotolia: Jan, pinkomelet geschützten Quelle. • Bauwerk 03 | 2018 Und ich find es wirklich stark, dass ich das noch erleben darf. 26 | 27
Veränderung Schon gewusst? Der Grizzly ist kein Grisli. Vor ziemlich genau 20 Jahren – am 1. August 1998 – trat die große Rechtschreibreform in Kraft. Es gab viel Protest. Nach und nach wurde es aber still um die Reformgegner. Im vergan- genen Jahr haben diese – ohne, dass es jemand mitbekommen hat – doch noch einen kleinen Sieg „errungen“: Eingedeutschte Schreibvarianten, die die Rechtschreibreformer dem allgemei- nen Schreibvolk als Alternative zum Fremdwort anboten, sind seit letztem Jahr nicht mehr erlaubt. Die insgeheime Hoffnung, dass sich die neuen Schreibweisen durchsetzen, wurde nicht erfüllt. Im Gegenteil: Vermutlich wissen die meisten nicht ein- mal, dass man fast 20 Jahre den Grizzlybär auch als Grislibär bezeichnen durfte. Das sollte wohl nicht sein. Aber machen wir die Probe aufs Exempel. Hätten Sie gewusst, dass folgende Schreibweisen erlaubt waren? Eine Pommes mit Majonäse & Ketschup bitte. Diese Bestellung wäre bis letztes Jahr so durchgegangen. Heute bestellt man besser Mayonnaise und Ketchup dazu. Und auch in der Kurzform Mayo hat das „j“ nichts mehr zu suchen. Die Prüfung hat er mit Bravur bestanden. Heute gäbe es für diese Aussage einen Punkt Abzug. Denn bravourös schneidet nur noch derjenige ab, der Bravour mit „ou“ schreibt. Ein guter Jockei muss vorher kein Pferd gewesen sein. Ja ne, ist klar. Und ein Trainer muss auch nie ein guter Spieler gewesen sein. Eine Redewendung, die so nicht mehr viel Sinn ergibt. Auch im Deutschen hat sich der Jockey nun ganz durchgesetzt. Immer dieser Wandalismus. Bis vor einem Jahr hätte man wegen dieser Straftat festge- nommen werden können. Als Wandale muss man sich heute aber nicht mehr vor der Polizei fürchten. Die verfolgt nur noch echten Vandalismus. • Foto Fotolia: Olga Itina Bauwerk 03 | 2018 Hip hip hurra! Alles ist super, alles ist wunderbar. Hip hip hurra! Alles ist besser als es damals war. 28 | 29
Veränderung Im Gespräch Begeisterung ist der Beginn Start-up-Coach Felix Thönnessen von Neuem. im Interview. Kodak, ist Ihnen ein Begriff, oder? 1975 entwickelte Steven J. Sasson, junger Ingenieur bei dem damals weltgrößten Produzent von Fotofilmen, die erste digitale Kamera. Was für eine Innovation! Das riecht doch förmlich nach Erfolg, nach einem Durchbruch in der Branche! Kodak sah das seiner Zeit anscheinend vollkommen anders. Kaum zu glauben, aber der Markenhersteller zögerte und lies die Innovation einfach links liegen. Lassen Sie sich das mal auf der Zunge zergehen… Jetzt fragen Sie sich zu Recht: warum? Der einstige Pionier hielt die Erfindung zurück, weil er sein Geschäft nicht gefährden wollte. Er setzte akribisch auf sein Steckenpferd, die analoge Fotogra- fie. Ein fataler Fehler. Von dieser Entscheidung erholte sich Kodak langfristig nicht mehr – die Konkurrenz zog vorbei, 2012 meldete der Konzern Insolvenz an. Chance vertan. Zum Autor Aber es geht auch anders: Dinge hinterfragen, in jeder Minute Nach seinem Marketingstudium Mut, Enthusiasmus und Leidenschaft zeigen – es sind die Entre- startete Felix Thönnessen in die preneure, die gewillt sind, genau das zu tun. Sie nutzen Möglich- Arbeitswelt – wie man das eben so keiten, anstatt Veränderung zu verweigern. Sie kreieren Trends, macht. Aber schnell war klar, dass anstatt ihnen hinterherzulaufen. Das kann doch nicht so schwer er die Dinge lieber selbst in die Hand sein, oder? Wie tickt diese Szene eigentlich und was können wir nimmt. Heute – drei veröffentlichte von ihr lernen? Felix Thönnessen, Deutschlands bekanntester Bücher, 23 gegründete Unternehmen Start-up Coach und TV-Experte, verrät uns mehr. ‣ und über 1.200 beratene Start-ups später – ist Felix Thönnessen Deutsch- lands bekanntester Start-up-Coach und TV-Experte. Mit seinen Erfah- rungen aus mittlerweile zehn Jahren Gründungsberatung hat er seit 2014 die Kandidaten der VOX Gründershow „Die Höhle der Löwen“ perfekt auf Foto Felix Thönnessen ihren Pitch vorbereitet. Als Keynote Speaker, Moderator und Mentor tourt Felix Thönnessen rät Unternehmen, dass er durch ganz Europa, begeistert Men- sie sich beispielsweise die kurzen Entschei- dungswege und beschleunigten Prozesse von schen und unterstützt sie dabei, ihren Starp-ups zum Vorbild nehmen sollten. eigenen Traum zu verwirklichen. Bauwerk 03 | 2018 Alle sind happy, alle sind glücklich, alle sind froh. 30 | 31
Veränderung Im Gespräch Kennen Sie den Begriff „Kawuppdich“? Herr Thönnessen, Sie beraten und coa- lung gehört also auf jeden Fall dazu. tung oder ähnliches doch überhaupt erst einer Problemsituation um und wie komme chen Gründer tagtäglich – mit welchem Würden Sie sagen, dass man das Grün- der Beginn von Neuem. Ich lege den Grün- ich gestärkt wieder aus ihr heraus. Darauf Typ Mensch haben Sie es dort zu tun? derdasein auch lernen kann? dern daher oft ans Herz, sich aktiv – auch müssen Gründer eine Antwort wissen. Wenn man sich die Gründerszene in In der Tat. Es ist nicht so, dass ein mit anderen Start-ups – auszutauschen. Deutschland anschaut, dann ist der An- Start-upler mit bestimmten Charakterzü- Dieser Reifeprozess, den Jungunterneh- Was uns jetzt noch brennend interes- teil an den 20- bis 40-jährigen Gründern gen geboren wird. Ganz im Gegenteil so- mer an dieser Stelle durchmachen, ist im- siert: Was glauben Sie, können sich Un- überproportional hoch. Und es gründen gar: Es gehören viele Eigenschaften dazu, mens wichtig. Sie wachsen wortwörtlich ternehmen von Start-ups abgucken? definitiv mehr Männer als Frauen ihr eige- die man sich erst einmal aneignen muss. an ihren Aufgaben und entwickeln ihr Un- Tatsächlich eine ganze Menge. Nehmen nes Start-up. Nichts desto trotz würde ich So eine Unternehmensgründung bedeutet ternehmen weiter. wir das Stichwort Geschwindigkeit: Die hier nicht von dem einen Typ Mensch spre- vor allem, sich als Gründer persönlich wei- kurzen Entscheidungswege und beschleu- chen. Natürlich gibt es ganz klischeehaft terzuentwickeln. Kommen wir zu dem, was Gründer nigten Prozesse von Start-ups haben viele die jungen, hippen, Sneaker tragenden überhaupt erst antreibt: ihre Idee. Muss Vorteile. Sie erkennen Trends und Innovati- Typen in Berlin. In den Bereichen Hoch- Man bleibt also nicht der, der man ein- das Rad immer neu erfunden werden onen schneller und machen diese nutzbar. technologie, Natur und Medizin sind da- mal war. Verstehe ich Sie da richtig? oder können Start-ups auch auf Altbe- Im Bereich Human Resources ist es die gegen aber auch Gründer weit über 40 Die meisten Gründer machen sich mit währtes setzen? gelebte Mentalität – agile Arbeitsmetho- Jahren zu finden. Die Start-up-Szene ist ihrem Start-up zum ersten Mal selbst- Viele junge Gründer wachsen heute mit den, das Abschaffen von Jobtiteln oder vielfältig – kein Gründer, den ich bisher ge- ständig. Da ist die Veränderung natürlich der Digitalisierung auf und stehen unmit- transparente Löhne –, die den Unterschied coacht habe, gleicht einem anderen. sehr groß. Der Gang zum Gewerbeamt ist telbar mit ihr in Berührung. Da lassen sich macht. Allein strukturbedingt lassen sich vergleichsweise einfach, wenn man den ei- einige Innovationen kreieren, aber es sind solche Modelle nicht auf alle Unterneh- Was macht einen Gründer aus Ihrer genen Entwicklungsprozess dagegenhält, eben nicht alle digital getrieben. Ein Food- men übertragen, aber es gibt auch andere Sicht aus? der mit dieser Entscheidung – ein eigenes Start-up kann beispielsweise mit einem Möglichkeiten, vom Start-up-Spirit zu pro- Kennen Sie den Begriff „Kawuppdich“? Business zu gründen – losgetreten wird. innovativen Package an den Markt gehen. fitieren. Das sagen wir bei uns im Rheinland. Es Man verlässt seinen bisherigen Job, gibt Und ein anderes simples Produkt kann mit ist ein Synonym für Stärke und bedeutet, die finanzielle Sicherheit auf und stellt sich den richtigen Marketingmaßnahmen eben- Und die wären? dass man mit Leidenschaft und Energie an mit seiner Geschäftsidee einer ganz neuen falls erfolgreich sein – die Jungs von „Little Beispielsweise indem Start-up Units im ei- ein Projekt herangeht. Es ist wichtig, dass Herausforderung. Und auf eine andere Sei- Lunch“ sind mit ihren Bio-Suppen im Glas genen Unternehmen geschaffen werden. * Mehr über „Little Lunch“ und Start-ups für ihre Idee brennen. Und zwar te. Plötzlich verliert man den „risikofreien“ der Renner. Es muss nicht immer die eine Es sind aber auch langfristige Koopera- das weitere Paradebeispiel langfristig. Angestelltenstatus. Das ist ein extrem emo- neue Erfindung sein.* Mit Blick auf den tionen, Arbeiten auf Projektbasis oder „einhorn“ erfahren Sie auf der tionaler Punkt, der zum alltäglichen Wahn- Markt sind die meisten Start-Up-Ideen oh- Nachwuchsförderungen in diesem Gebiet nächsten Seite. Dann ist natürlich der Vertrieb das A und O. sinn dazukommt. Einige Gründer gehen nehin keine Neuheiten, sondern Weiterent- denkbar, um diesen besonderen Spirit Eine gute Idee ist das eine, aber der gut und gestärkt aus dieser Anfangsphase wicklungen von bestehenden Produkten. und Enthusiasmus als Innovationsmotor Verkauf das andere. Leider haben die heraus, vielen macht es aber durchaus zu zu nutzen. So hat ein regionaler Energie- wenigsten Gründer davon eine Ahnung. schaffen und sie zerbrechen daran. Experten sagen, dass nur eines von konzern, mit dem ich zusammengearbeitet Sie müssen die notwendigen Fähigkeiten zehn Start-ups richtig erfolgreich wird. habe, seine Innovationsbereitschaft sig- erlernen oder Profis auf diesem Gebiet Und wie schaffen es Jungunternehmer, Was raten Sie Gründern, wenn einmal nalisiert, indem er bei einem Wettbewerb dazuholen. Das verlangt Wissbegierde, mit dieser neuen Situation umzugehen? nicht alles nach Plan läuft? Gründer aus dem Bereich Elektrizität und Lernbereitschaft und Offenheit. Entschei- Sie müssen offen sein. Für konstruktive Es ist die Regel, dass nicht alles nach E-Mobilität gesucht hat. Ein Paradebeispiel dend ist darüber hinaus, dass Gründer mit Kritik, Ratschläge oder sogar externe Part- Plan läuft. Selbst wenn man jegliche Even- dafür, dass Unternehmen Start-ups nicht Rückschlägen umgehen können. Klingt ner. Es ist doch vollkommen normal, dass tualitäten berücksichtigt und „was wäre als Gefahr, sondern viel mehr als Chance banal, aber das kommt in diesem Busi- ungewohnte Situationen uns verängstigen, wenn“-Fälle durchspielt (und das sollte man betrachten sollten. ness zwangsläufig auf sie zu. aber Gründer sollten nie das Potenzial aus definitiv tun!), kann man nicht alles vorher- den Augen verlieren. Schließlich ist ihre Be- sehen oder gar wissen. Das gehört eben Danke für Ihre Zeit Herr Thönnessen. • Verstehe, eine gewisse Lebenseinstel- geisterung für ein Produkt, eine Dienstleis- dazu. Die Frage ist eher, wie gehe ich mit Bauwerk 03 | 2018 Und überall wo man hinguckt: Liebe und Frieden und so. 32 | 33
Veränderung Im Gespräch Zwei Start-ups, zwei Paradebeispiele. Die Little Lunch-Gründer und Brüder Denis und Daniel Gibisch waren „früher“ Schlechtesser und Bürohocker – aber das war einmal. einhorn – die faire Kondom Revolution Die Gründer Klaus und Waldemar sind nicht nur Waldemar Zeler und Philip Siefer kennen sich aus der erfolgreiche Gründer, sondern auch Berliner Start-up-Szene und waren vor einhorn im als Berater viel gebucht. digitalen Sektor unterwegs. Die Idee Den „peinlichen“ Kauf von Kondomen hinter Alibikäufen wie Chipstüten oder Ähnlichem verstecken? Mit ein- horn condoms war das einmal. Die fair und nachhaltig produzierten Kondome kommen ganz unkonventionell in Little Lunch: Chipstüten daher – namenhafte Designer legen bei der Gestaltung Hand an. Bio-Suppen revolutionieren Übrigens die Mittagspause! einhorn condoms ist das Vorzeigeprojekt des Entrepre- neur’s Pledge. Unterzeichner des Pledge versprechen, Die Gründer ein soziales und nachhaltiges Unternehmen zu gründen Denis und Daniel Gibisch sind seit 2014 selbsternannte Suppen- und die Gewinne zur Hälfte in den sozialen oder öko- kasper und mittlerweile auch erfolgreiche Smoothie-Vertreiber. logischen Sektor zu reinvestieren – dahinter steckt die ehrgeizige Vision der beiden einhorn-Gründer, dass jedes Die Idee Produkt im Supermarkt fair ist und jeder Kauf ein guter. Weg mit dem ungesunden Fast Food, her mit der bewussten und leckeren Alternative: schnelle Bio-Suppen mit außerge- www.einhorn.my wöhnlichen Rezepturen vom Sternekoch Gerhard Frauen- schuh – serviert im Glas. Übrigens Vor drei Jahren präsentierten die Brüder ihre Idee bei „Die Höhle der Löwen“. Seither sind sie das erfolgreichste Start-up der Show. Und erst vor kurzem wurde Little Lunch von der Lebens- mittel Zeitung zur „Top-Marke des Jahres 2018“ gekürt – kein Wunder, dass das Produkt es auch in die Büros der LIST Gruppe geschafft hat. www.littlelunch.de Fotos Little Lunch Fotos einhorn Bauwerk 03 | 2018 Gestern ging es allen dreckig, heute geht es steil bergauf. 34 | 35
Veränderung Was geht? Treibt der Wandel den Handel? Das deftige Mittagessen mit der ganzen Familie, der Snack zwischen- durch oder einfach mal ein Eis, weil gerade die Sonne scheint – die Auf- nahme von Lebensmitteln wird wohl immer ein fester Bestandteil unseres Lebens bleiben. So viel steht fest. Aber über welchen Weg werden diese in Zukunft zu uns gelangen? Kaufen wir Lebensmittel vielleicht nur noch online ein? Oder ist für die Märkte, die uns kein Unterhaltungsprogramm anbieten, Hopfen und Malz verloren? Illustrationen Fotolia: Svetlana, mast3r Bauwerk 03 | 2018 Jeder hat sechs Richtige. 36 | 37
Veränderung Was geht? D ie Edeka-Gruppe, die REWE Group, die Schwarz-Grup- REWE setzt Die Pflicht ruft nicht mehr Quartiere auf dem pe und Aldi – das sind sie: die glorreichen Vier des LEHs. Mit zusammen 67 Prozent Marktanteil dominieren sie eine auf Online-Handel Im Inneren der Einkaufswelten erleben wir eine Anpassung der Vormarsch Markt-Konzepte. Noch ist dem Lebensmitteleinkauf das Stigma Branche, die in 2016 rund 177 Milliarden Euro umgesetzt und REWE ist im deutschen Markt einer der „Monostrukturelle Nutzungen sind auf der Pflicht auferlegt. Das soll in den Augen verschiedenster Markt- in den vergangenen zehn Jahren ein Umsatzwachstum von 23 Vorreiter im Online-Handel mit Lebensmit- dem Rückzug, Vielfalt ist gefragt. Für die teilnehmer schon bald der Vergangenheit angehören. Der Kunde Prozent verzeichnet hat. Es läuft. Aber kein Grund zum Verweilen: teln. Rechnen tut sich das jedoch noch Entwicklung gemischt genutzter urbaner bekommt Raum zum Verweilen und Schlendern. Das Einkaufen Themen wie die Digitalisierung oder die hybride Stadtentwicklung nicht, gab Lionel Souque, Vorstandsvorsit- Quartiere und Einzelhandelsobjekte kön- soll für ihn zu einem Vergnügen werden. Zu den Vorreitern, die schlagen ihre Wellen voraus. zender der REWE Group, der Deutschen nen sich daraus neue Chancen und Pers- diesen Ansatz bereits leben, zählt die Kaufmannsfamilie Zurheide. Presse-Agentur gegenüber im Juni offen pektiven ergeben, sofern diese über die In einer revitalisierten, ehemaligen Kaufhalle in Düsseldorf finden zu: „Wir verdienen zurzeit noch kein Geld notwendige Flexibilität verfügen.“ auf 10.000 qm nicht nur 60.000 Artikel, sondern auch neun Kon- mit dem Online-Lebensmittelhandel. Das Ein großer Player betritt die Bühne ist eine Investition in die Zukunft.“ Ein Ur- zessionäre und Eigenformate Platz. Für die Kunden wird das Ein- Dr. Joseph Frechen, Leiter der Hamburger bulwien- kaufen hier tatsächlich zu einem Erlebnis. gesa-Niederlassung. Auszug aus seinem Blog-Beitrag Im Gegensatz zu den meisten anderen Handelssegmenten zeigt teil darüber, wie es im E-Food-Segment „das gemischt genutzte Quartier als Wohnzimmer für sich der LEH stabil. Eine Abwanderung der Kaufkraft aus der Off- weitergeht, konnte er nicht fällen: „Kein jedermann“ Und selbst Aldi bewegt sich langsam aber sicher weg vom Billig- line- in die Online-Warenwelt ist kaum zu spüren. Trotzdem ver- Mensch weiß, wie sich der Online-Handel image. Der Discounter hat in Australien testweise vier Edel-Filialen suchen die etablierten Offline-Händler, eine Brücke in die digitale mit Lebensmitteln in den nächsten Jah- eröffnet, die kaum noch etwas mit den Ladenflächen zu tun ha- Welt zu schlagen. ren entwickelt. Alle zwei Jahre werden alle ben, die wir hierzulande kennen. Aber auch in Deutschland wagt Anders und vielleicht Prognosen dazu wieder über den Hau- Außerdem sorgt ein großer Player für Verunsicherung: Amazon. fen geworfen.“ Sicher sei aber, der On- sich vor allem Aldi Süd immer mehr in die Erlebniswelt hinein. Die auch deshalb gut in 2015 in Kirchseeon (Bayern) eröffnete Filiale dient dabei wohl Der E-Commerce-Gigant baut sein Food-Segment gleich in zwei line-Handel mit Lebensmitteln werde nicht „Ich war vor gut einem Jahr das erste Mal als eine Art Versuchslabor: In ihr werden seit drei Jahren nicht nur verschiedenen Sparten massiv aus. Am 4. Mai 2017 wurde in so klein bleiben, wie er heute ist. „Er wird im Düsseldorfer Zurheide-Markt im The – wie in anderen Aldi-Filialen – einzelne Elemente, sondern gleich Deutschland der Startschuss für „Amazon Fresh“, einem Liefer- wachsen, aber wie schnell und wie stark, Crown und gebe gerne zu: Seitdem bin das ganze Repertoire an Aldi-Neuerungen getestet. Von Kun- dienst für Lebensmittel, gesetzt. Seitdem haben die Kunden, die das kann keiner sagen.“ ich Fan! Nicht nur, dass ein ehemaliger dentoiletten über einen Kaffeeautomaten bis hin zu jeder Menge in den Verbreitungsgebieten Berlin, Hamburg und München leben, Kaufhof von nur einem einzelnen Handels- Tageslicht – dem Kunden wird einiges an Aufenthaltsqualität ge- Zugriff auf 85.000 Produkte. Außerdem hat Amazon mit „Amazon mieter auf einer so großen Flächen bezo- boten. Die Atmosphäre ist mit neuen Fliesen und Holzoptik heller Go“ in Seattle Anfang dieses Jahres den ersten Supermarkt ganz Über Picnic und freundlicher als in den alten Märkten. Vor dem Eingang zeigt gen wird, sondern auch, dass Handel und ohne Kassen eröffnet. Das lästige Aus- und Einpacken am Band Gastronomie im Untergeschoss so gut Der niederländische Lebensmittel-Liefer- ein digitales Display die aktuellen Angebote, lokale Informationen kann sich der Kunde hier sparen. funktionieren. Großartig. Erst einmal habe dienst Picnic hat im Frühjahr dieses Jahres und das Wetter. Und wer nicht weiß, was er kochen soll, kann sich ich den Markt in Ruhe auf mich wirken sein Angebot in den deutschen Städten an einem Automaten per Knopfdruck die Zutatenliste für Rezep- lassen. Dann habe ich mir ein Plätzchen Kaarst, Neuss, Meerbusch und Düssel- te ausdrucken lassen, für die er ausschließlich die Produkte des Neue Konkurrenz dorf-Oberkassel gelauncht. In den Nie- Discounters braucht. in der Beef-Bar gesucht. Das gastronomi- sche Angebot ist spitze – von Fleisch und Und auch weitere Anbieter versuchen, ihren Platz zu finden und zu derlanden beliefert der Online-Supermarkt Fisch über Bier und Wein bis hin zu Käse definieren. So drängt zum Beispiel von unseren niederländischen bereits 100.000 Kunden in 37 Städten. und frischer Pasta ist alles dabei. Ich ken- Nachbarn das Unternehmen Picnic in den deutschen Markt. Der Ein klassisches Umschlagszentrum be- Der Kunde ist König ne die Zahlen zwar nicht und kann auch Bringservice liefert seit diesen Frühjahr in ausgewählten Städten treibt das noch junge Unternehmen dabei Der Konkurrenzkampf ist in vollem Gange, gemeinsame Wege nicht hellsehen und garantieren, dass hier nahe der niederländischen Grenze Lebensmittel bis an die Haus- nicht. Die Produkte werden nicht in einem werden gesucht und bestehende Konzepte überarbeitet. Zeit das Konzept der Zukunft umgesetzt ist. türen – ohne Versandkosten und innerhalb eines zwanzigminüti- Lager vorgehalten, sondern jeden Tag in zum Verschnaufen bleibt da kaum. Und das alles, weil der Wandel Aber hier wird ein ganz neuer Weg gegan- gen Zeitfensters. Dahinter versteckt sich eine Milchmann-Strate- dieses „just in time“ geliefert. Die Kunden den Handel treibt. Oder? Eigentlich ist der Ursprung allen „Übels“ gen und Offenheit für Veränderung gelebt. gie. Noch steht das Unternehmen eher im Schatten der „Großen“, bestellen die gewünschten Produkte über der Kunde selbst. Klingt blöd. Aber ist es das auch? Werden die Davon sollten wir uns alle eine Scheibe ab- aber das Konzept halten viele Experten für sehr vielversprechend. eine App und bekommen die Ware dann Marktteilnehmer so nicht irgendwie auch ein Stück weit zu ihrem schneiden.“ nach Hause geliefert. Wer bis 22 Uhr or- Glück gezwungen? • dert, bekommt die Ware noch am nächs- Michael Garstka, Geschäftsführer von Erfolgreiche Partnersuche ten Tag. Die Auslieferung erfolgt in einem LIST Develop Commercial und Jury-Mitglied Elektro-Van nach dem Milchmann-Prinzip. des Preises „Fachmarkt Stars 2018“ Neben den digital getriebenen Entwicklungen und den technolo- Algorithmen bestimmen die effizienteste gischen Errungenschaften verändert ein weiterer Trend den LEH: Lieferroute. Dabei kann Picnic auf zwan- die Mischnutzung. Es entstehen Quartiere mit hybriden Konzep- zig Minuten genau ankündigen, wann die ten. Kurze Wege stehen hier auf der Tagesordnung. Leben, Arbei- Ware ankommt. Eine deutlich kleinere und Weiter diskutieren auf ten und Einkaufen an einem Ort – das ist vielerorts bereits Alltag. attraktivere Spanne als die der Konkurrenz. www.list-gruppe.de/journal Die Projektentwickler und Händler sind auf diesen Zug bereits Einen Haken aus Verbrauchersicht gibt es aufgesprungen. Die Investoren ziehen mittlerweile selbstbewusst aber auch: Welche zwanzig Minuten des nach. Galt früher die Mononutzung einer Immobilie als gesetzt, Folgetages das sein werden, können sich ist heute ein deutlicher Trend in die entgegengesetzte Richtung die Kunden nicht selbst aussuchen. zu erkennen. Die Mischnutzung einzelner Gebäude oder ganzer Stadtviertel ist salonfähig geworden, weil Synergieeffekte entste- hen und die einzelnen Nutzungen voneinander profitieren. Bauwerk 03 | 2018 Alle sind total gut drauf. 38 | 39
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