Weitersehen 2019 Schöne digitale Welt? - Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband eV

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Weitersehen 2019 Schöne digitale Welt? - Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband eV
Weitersehen 2019

Schöne digitale Welt?
Weitersehen 2019 Schöne digitale Welt? - Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband eV
Der Deutsche Blinden- und
Sehbehindertenverband e. V. (DBSV)

Als Spitzenverband der Selbsthilfevereine des Blinden-
und Sehbehindertenwesens bündelt und koordiniert
der DBSV die Aktivitäten von 20 Landesvereinen.
Die Landesvereine vertreten die Interessen von blinden
und sehbehinderten Menschen auf Länderebene.

Die Selbsthilfevereine informieren über medizinische
Fragen und helfen in sozialen und rechtlichen
Angelegenheiten. Zahlreiche spezialisierte Fachdienste
und Einrichtungen unterstützen im Berufsleben,
beraten zu Hilfsmitteln, verleihen Hörbücher, bieten
Veranstaltungen, Erholungsreisen und Kurse zur
Bewältigung des Alltags und zur Verbesserung
der Mobilität.

Das zentrale Angebot aber ist der Austausch unter
Betroffenen. Er ist das beste Mittel, um die Auswirkungen
einer Augenerkrankung zu verarbeiten.

Wenn Sie dazu Fragen haben oder uns Anregungen
geben möchten, sprechen Sie uns an!

2 01805 – 666 456
0,14 € /Min. aus dem Festnetz, Mobilfunk max. 0,42 € /Min. (Stand 07/2018)

Spendenkonto:
IBAN: DE55 1002 0500 0003 2733 05
BIC: BFSWDE33BER
Bank für Sozialwirtschaft
www.dbsv.org/spenden
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INHALT

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Seite 4                             Seite 46
Editorial von                       Der BITV-Test
Klaus Hahn
                                    Seite 48
Seite 6                             Abenteuer Online-Banking –
Grußwort von                        Hürden trotz Barrierefreiheit
Dr. Bernhard Rohleder
                                    Seite 53
Seite 8                             Bezahlen im Internet –
Digitale Lebenswelten –             Abrechnung mit Barrieren?
Eine Fiktion
                                    Seite 54
Seite 12                            Bringt ’s das? Wie barrierefrei
Mein Weg in die digitale Welt …     sind Online-Lebensmittelhändler?

Seite 18                            Seite 56
„Das Smartphone ist für Blinde      Die Stimme aus dem Off
so revolutionär wie die Erfindung
 der Braille-Schrift“               Seite 60
                                    Mediennutzung
Seite 22                            im Wandel der Zeit
Das Smartphone als
universeller Helfer                 Seite 64
                                    Die Arbeit der Zukunft ist digital
Seite 26
WhatsApp, Sprachnachricht           Seite 70
und Co. – Wie die Digitalisierung   3D-Druck – Be-greifbare Technik
die Kommunikation verändert
                                    Seite 76
Seite 30                            Inklusives Spiel dank 3D-Technik
„Deutschland bleibt hinter
 den Möglichkeiten zurück“          Seite 78
                                    Die Mutter der GuideLine
Seite 36
Digitale Barrierefreiheit –         Seite 82
Der Weg zu mehr Inklusion           Elektrofahrzeuge –
                                    Zukunft auf leisen Sohlen
Seite 42                            oder schleichende Gefahr?
„Grüß Gott bei der Stadt-
verwaltung München“ –               Seite 87
Einblicke in ein Bürgerportal       Infokasten AVAS
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EDITORIAL

Digitale Welt –
inklusiv oder exklusiv?
Wussten Sie, dass sehbehinderte          Höhen, aber noch mehr Tiefen
und blinde Menschen einmal               erlebt und durchlitten. Euphorisch
mit sehenden Nutzern gleichauf           schwärmten wir von neuen Hori-
waren, wenn es um das Arbeiten           zonten, bevor uns unerwartete
am Computer ging? Im Beruf               Barrieren auf den Boden der
hatten wir sogar die Nase vorn.          Tatsachen zurückholten. Unsere
Ich war 1986 in der ganzen               Autorinnen und Autoren schil-
Landesverwaltung von Nord-               dern, wie sie die Entwicklung
rhein-Westfalen der Erste, der           der modernen Technologie und
einen Arbeitsplatz-PC bekam.             die Adaption für sehbehinderte
                                         und blinde Menschen erlebt
Heute ist der Computer mit               haben, von den Anfängen bis
Grafiken und Animationen ein             zum Einsatz von Smartphones mit
Symbol unserer visuellen Welt.           Touchscreen und Sprachausgabe.
Aber das, was den PC und all seine       Sie beschreiben, wie barrierefreie
Ableger für sehende Menschen             Websites aussehen müssen und
so attraktiv macht, schließt uns         wie man diese Zugänglichkeit
zunächst aus. Es bedarf eines            feststellen kann.
hohen Aufwands, um die Darstel-
lungsformen auch für uns zugäng-         Es ist langwierig, Haushaltsgeräte
lich zu machen. Der DBSV muss            bedienbar zu gestalten, während
national und international politi-       sich als Abfallprodukt von Standard-
sche Überzeugungsarbeit leisten,         Anwendungen Möglichkeiten der
um Barrierefreiheit auch in Geset-       Teilhabe ergeben, ohne dass man
zen zu verankern. Gleichzeitig           zusätzliche Hilfsmittel benötigt.
wirbt er um die Einsicht, dass           Das ist auch der Ansatz von Bern-
Barrierefreiheit allen Kunden die        hard Rohleder in seinem Grußwort.
Bedienung erleichtert.                   Er ist überzeugt, dass die exponen-
                                         tielle Entwicklung digitaler Tech-
Seit der Computer in die Arbeits-        nologien gerade für Menschen mit
welt und den häuslichen Bereich          Seheinschränkung neue Problem-
Einzug gehalten und sich zur             lösungen eröffnen wird. Leider
Informationstechnologie weiter-          werden aktuelle Gesetzesentwürfe
entwickelt hat, haben wir einige         das Gegenteil bewirken, wenn sie

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trotz unserer eindringlichen
    Stellungnahmen unverändert
    verabschiedet werden.

    Sie, liebe Leserin, lieber Leser,
    erhalten viele Sachinformationen.
    Sie dürfen aber auch ein Stück weit
    in die Lebenswelt von Menschen
    eintauchen, die ein bisschen
    schlecht, sehr schlecht oder gar
    nicht sehen können. Sie erfahren,
    mit welchen Widrigkeiten sie
    zu kämpfen haben und wo sich
    unverhofft Lösungswege auf­
    zeigen. Schmunzeln Sie über die
    Situationskomik, die Ihnen hier
    und da begegnen wird, aber
    machen Sie sich auch den Frust
    und die Enttäuschung bewusst,
    gegen die wir anzukämpfen
    haben, wenn wir immer wieder
    auf neue Barrieren stoßen.

    Nun wünsche ich Ihnen eine
    spannende, nachdenkliche und
    aufschlussreiche Lektüre. Geben
    Sie Weitersehen gerne weiter,
    wenn Sie es gelesen haben.

    Ihr Klaus Hahn
    Präsident des DBSV

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GRUSSWORT

Liebe Leserinnen
und Leser,
die Digitalisierung ist eine der          Und es ist nur eine Frage der Zeit,
größten Herausforderungen unserer         bis Menschen mit einer elektro-
Zeit. Sie verändert unser Leben           nischen Linse oder digitalen Retina
in allen Bereichen, ob in der             besser sehen werden als Menschen
Wirtschaft, im Privaten oder in           mit gesunden Augen und
der Gesellschaft. Viele Menschen          gesunden Sehnerven.
wissen die Vorteile der Digitali-
sierung bereits für sich zu nutzen.       Noch ist das Zukunftsmusik, ja.
Unternehmen schöpfen Wert aus             Digitale Entwicklungen verlaufen
innovativen Geschäftsmodellen.            aber stets exponentiell. Es kündigt
Auch Senioren entdecken die digi-         sich eine neue Technologie an,
tale Kommunikation für sich. Und          zunächst bewegt sich alles unter-
zahlreiche Menschen profitieren           halb der Wahrnehmungsschwelle.
von digitalen Dienstleistungen wie        Und dann ist regelrecht von einem
Online-Banking und Car-Sharing.           auf den anderen Tag eine völlig
                                          neue Technologie da und verbreitet
Gerade Menschen mit körperlichen          sich in Windeseile. So war es mit
Einschränkungen können von der            dem Smartphone, das uns inzwi-
Digitalisierung enorm profitieren.        schen Meldungen vorliest. Und so
Digitale Technologien können ganz         war es mit der Smartwatch. Im April
neue Zugänge zu gesellschaftlicher        2015 kam die erste iWatch auf den
Teilhabe und zur Teilhabe am              Markt, im vierten Quartal 2017
Erwerbsleben öffnen. Sie können           verkaufte Apple weltweit mehr
die persönliche Autonomie stärken         Uhren als die gesamte schweizeri-
und unabhängiger machen von               sche Uhrenindustrie. Von null auf
externer Unterstützung. In immer          hundert in gerade einmal zwei-
mehr Fällen können sie körper-            einhalb Jahren. Und so wird es
liche Einschränkungen sogar               auch mit neuen Technologien sein,
unmittelbar ausgleichen. Gerade           die blinden und sehbehinderten
auch blinde und sehbehinderte             Menschen künftig jene Werkzeuge
Menschen werden dank digitaler            zur Verfügung stellen, um ihren
Technologien künftig mit Leichtig-        Aktionsradius in jeder Hinsicht
keit Grenzen überwinden, die              zu erweitern und gänzlich neue
ihnen derzeit noch gesteckt sind.         Sinneseindrücke zu erschließen.

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Es freut mich besonders, dass
der Deutsche Blinden- und Seh-
behindertenverband e. V. diesen
technologischen Entwicklungen
so offen begegnet und engagiert
an ihnen mitwirkt.

Dr. Bernhard Rohleder
Hauptgeschäftsführer Bitkom e. V.
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Digitale
    Lebenswelten
    Eine Fiktion

von Karsten Warnke                         konferenz zugeschaltet ist. Ihre
                                           Fragen können sie direkt online
Deutschland 2025. Der Blinden-             an ihn richten.
und Sehbehindertenverband
hat zu seiner Jahresmitglieder-            Einige Mitglieder sind mit autonom
versammlung eingeladen. Viele              gesteuerten Autos zur Versamm-
Mitglieder können erstmals von             lung gekommen. Der Verband
ihren Senioreneinrichtungen aus            hatte durchgesetzt, dass Elektro-
die Versammlung per Live-Stream            fahrzeuge mit einem hörbaren
via Internet verfolgen. Die Stimme         Sound ausgestattet werden. Das
für den neuen Vorstand haben               Ordern dieser Fahrzeuge geht ganz
sie bereits online abgegeben.              einfach online. So kann man auch
Der Verband hatte seine Satzung            in verkehrsarmen Zeiten ohne
entsprechend geändert. Mit spezi-          fremde Hilfe Freunde oder Kultur-
ellen Trainingsangeboten wurden            veranstaltungen besuchen.
die Mitglieder auf eine Teilnahme
an digitalen Willensbildungs-              Erfolgreich war auch der Einsatz
prozessen und -veranstaltungen             der Organisation für die Teilhabe
vorbereitet. Jetzt sind sie gespannt       am digitalisierten öffentlichen
auf den Sozialminister, der direkt         Nahverkehr. Mittels Smartphone-
aus seinem Ministerium per Video-          App können sich blinde und seh-

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behinderte Fahrgäste zur nächsten         Audiodeskription verfügen. Auch
Haltestelle leiten lassen. Dort ist       bei den öffentlich­rechtlichen und
es ihnen möglich, die digitalen           privaten Fernsehprogrammen
Fahrgastinformationen per Sprach-         werden alle Sendungen mit AD
ausgabe unmittelbar am Halte-             gezeigt. Die Bedienung der Fern-
stellenmast oder vom Fahrzeug             sehgeräte ist inzwischen sprach-
abzurufen. Irrfahrten gehören             unterstützt und die Menüs können
nun der Vergangenheit an.                 groß und kontrastreich angezeigt
                                          werden.
Jedes Kino ist barrierefrei. Eine
Inhouse-Navigation mittels Smart-         Die Digitalisierung der öffentlichen
phone macht dies möglich. Jede            Verwaltung schreitet weiter voran.
Reihen- und jede Platznummer              Durch die Vorgaben der Europäi-
wird von einer sympathischen              schen Union, die Barrierefreiheit
synthetischen weiblichen Stimme           von Websites und mobilen Apps
ins Ohr gesäuselt. Eine Szenen-           öffentlicher Anbieter zu über­
beschreibung (Audiodeskription,           wachen und nur noch barrierefreie
kurz AD) ist bei jedem Film selbst-       Informationstechnik zu beschaffen,
verständlich. Der Verein hatte            haben sich die Möglichkeiten
erreicht, dass Kinofilme nur noch         der Teilnahme u. a. an Bürger-
gefördert werden, wenn sie über           beteiligungen wesentlich

                                      9
verbessert. Viele sehbeein-          plattform, die gemeinsam von
      trächtigte Vereinsmitglieder         Lernenden und Lehrenden genutzt
nehmen unmittelbaren Einfluss              wird, endlich für alle zugänglich
darauf, dass die Anforderungen der         und nutzbar ist. Allen Schülerinnen
Barrierefreiheit bei der Planung           und Schülern stehen digitalisierte
von Straßen, Plätzen und Gebäuden          Unterrichtsmaterialien auf Tablet-
eingehalten werden. Durchgesetzt           PCs zur Verfügung. Möglich wurde
werden konnte, dass auch private           dies durch ein gemeinsames
Anbieter von öffentlichen Dienst-          Projekt mit dem Expertenwissen
leistungen, wie Krankenhäuser,             der Selbsthilfe. Auch die Orien-
Fitnessstudios, Buchungsportale            tierung in den Schulgebäuden
für Hotels und Reiseanbieter,              konnte mit Hilfe der Digitaltechnik
vollkommen barrierefrei sind.              verbessert werden. So erhalten
Der Bundestag hatte ein entspre-           blinde und sehbehinderte Schüle-
chendes Gesetz verabschiedet,              rinnen und Schüler eine Sprach-
das bei Nichtabbau von Barrieren           mitteilung, wenn sie einer Lehrkraft
Bußgelder in Millionenhöhe                 begegnen. Möglich macht dies
vorsieht. So ist es gelungen, die          eine Minikamera mit Gesichts-
UN-Behindertenrechtskonvention             erkennung. Sie hilft zudem beim
weitgehend umzusetzen.                     Identifizieren von Hinweis­ und
                                           Türschildern.
Ebenso gut hat sich die inklusive
Beschulung entwickelt, nachdem             Vieles in diesen digitalen Lebens-
eine Bürgerinitiative im Rahmen            welten kündigt sich bereits heute
eines Bürgerentscheids eine                an, manches ist noch Zukunfts-
bessere Ausstattung von Schulen            musik. In den hier beschriebenen
mit Personal und Computer-Hard-            Szenarien profitieren blinde und
und -software durchgesetzt hat.            sehbehinderte Menschen von der
Vereinsmitglieder haben Paten-             Digitalisierung. Denkt man an die
schaften mit Inklusionsschülerinnen        Geschichte der ersten industriellen
und -schülern übernommen. Sie              Revolution, die durch die Erfindung
berichten, dass die digitale Lern-         der Dampfmaschine ausgelöst

                                      10
wurde, so muss der Blick auch auf
Risiken und Nebenwirkungen des
Technikeinsatzes gelenkt werden.
Die Erwartungen der Wirtschaft
an gewaltige Produktivitäts- und
Profitsteigerungen lassen erahnen,
dass es darauf ankommt, wie Tech-
nik zugunsten einer für alle Men-
schen lebenswerteren, gerechten
Gesellschaft genutzt werden kann.

Wie sich die Digitalisierung unserer
Gesellschaft insbesondere auf die
Teilhabebedingungen blinder und
sehbehinderter Menschen aus-
wirken wird, hängt entscheidend
davon ab, wie es uns gelingt,
auf konkrete Auswirkungen der
Digitalisierung auf die Arbeits-
und Lebensbedingungen Einfluss
zu nehmen. n
Mein Weg in die
digitale Welt ...
DBSV Weitersehen 2019

von Peter Brass                              1979 brachte TSI VersaBraille auf
                                             den Markt: ein kleines Kästchen
… begann während meines                      mit einer Brailletastatur, einigen
Studienaufenthalts in den                    weiteren Tasten und einem glatten
                                             Metallstreifen mit vielen kleinen
USA im Jahr 1976.
                                             Vertiefungen, die – nach dem
Eine Kommilitonin zeigte mir                 Einschalten des Geräts – Braille-
im Reha-Center der University                zeichen darstellten. Als Speicher-
of Illinois das Optacon der Firma            medium für Informationen diente
Telesensory Systems (TSI): ein Gerät,        eine herkömmliche Kompakt-
mit dem Schrift mithilfe einer               kassette. Das war zum damaligen
Handkamera und einer Konver-                 Zeitpunkt eine ausgereifte Tech-
tierungssoftware auf einem Display           nologie, da auch Verlage für
mit 144 vibrierenden Punkten                 die Speicherung und Übertragung
als fühlbare Abbilder der Druck-             der Texte bereits Datenerfassungs-
zeichen dargestellt wurde. Hier              plätze mit dieser Technologie
lernte ich auch erste Versuche               einsetzten. Kassetten mussten
kennen, blinden Menschen mittels             aber beim Suchen nach einer
einer Sprachausgabe das Arbeiten             bestimmten Information Sequenz
an Computern zu ermöglichen.                 für Sequenz überprüft werden,
Meine Begeisterung für Computer-             was einen erheblichen Zeitaufwand
technik war sofort geweckt.                  erforderte. Auch waren sie anfällig
                                             für Beschädigungen, vor allem
Nach meiner Rückkehr aus den USA             bei häufiger Nutzung. Diese
lernte ich den ersten sprechenden            Schwachstellen trübten jedoch
Computer, einen Apple IIe, kennen.           nicht die Begeisterung der Nutzer.
Auch konnte ich mich bei einem               Für mich war das Gerät mit einem
Bekannten mit dem Arbeiten                   Preis von 5.000 Dollar leider un-
an dem damals populären C64-                 erschwinglich. Aber ich konnte
Homecomputer vertraut machen.                es einmal für die Erstellung einer
Er hatte als Ausgabeeinheit die              Hausarbeit ausleihen. Was war
Braillezeile des Braillexgeräts.             das für eine Wohltat, plötzlich
Das System war zur Bearbeitung,              Fehler leicht korrigieren, Wörter
Speicherung und Ausgabe digitaler            und ganze Passagen austauschen
Daten in Blindenschrift entwickelt           oder im Text verschieben und
worden.                                      das Ganze dann sogar noch

                                        13
mit Hilfe einer angeschlos-           Erst 1983 hatte ich erstmals die
    senen elektrischen Schreib-           Möglichkeit, einen Computer
maschine ausdrucken zu können!            dauerhaft zu nutzen. Es war ein
                                          Osborne Computer mit dem
Als Student und später dann im            Betriebssystem CP/M (Control
Referendariat gab es in den späten        Program for Microcomputers).
siebziger und frühen achtziger            Man startete den Computer mit
Jahren noch keine Möglichkeit             einer sogenannten Floppy Disk,
zur Finanzierung der teuren               auf der sich das Betriebssystem
Braillehilfsmittel. So schaute ich        und meist noch ein anderes Pro-
mir bei Messen und Bekannten              gramm befanden. Bei mir war es
alles an, was auch nur im Entfern-        das Textverarbeitungsprogramm
testen mit Computern zu tun               WordStar. Die Dokumente,
hatte.                                    die man mit diesem Programm

                                     14
DBSV Weitersehen 2019

erzeugte, wurden auf weiteren            Meine erste DFÜ-Sitzung fand
Disketten im zweiten Laufwerk            noch mit einem Akustikkoppler
des Computers gespeichert. Es            statt, einem Gerät mit zwei Schalen,
war eine große Arbeitserleichte-         in die ein herkömmlicher Telefon-
rung, alle Texte, die zu einem           hörer gelegt wurde. Die digitalen
Projekt gehörten, auf einer Dis-         Daten wurden in Töne umgewan-
kette sammeln zu können. Das             delt, die dann über die Telefon-
Arbeiten mit dieser Technik war          leitung zum anderen Computer
für mich als Braillenutzer jedoch        übertragen wurden. Die Daten
zunächst etwas gewöhnungsbe-             schlichen aus heutiger Sicht durch
dürftig, da der Computer nur mit         die Leitung, aber es war beein-
einer Sprachausgabe ausgestattet         druckend, dass man einen Text
war. Wir blinde Computernutzer           über hunderte Kilometer über-
waren unseren sehenden                   tragen konnte.
Mitmenschen zu dieser Zeit
allerdings ein erhebliches Stück         Mein erstes Modem brachte es
voraus, zogen Computer doch              dann immerhin schon auf die
erst in den neunziger Jahren in          8-fache Geschwindigkeit im
größerem Stil in die Büros ein,          Vergleich zum Akustikkoppler.
und es sollte noch mehrere Jahre         In den späten achtziger Jahren
dauern, bis sie auch in den              bestand bereits ein Netzwerk
Haushalten zu Gegenständen               sogenannter Mailboxen, das Fido-
des täglichen Lebens wurden.             Net, das schon über Europa hinaus
                                         in die USA reichte. Man konnte
                                         elektronische Post per Telefon-
                                         leitung vom eigenen Computer
Mit meinem ersten eige-                  an den nächsten Fidoknotenpunkt
nen Computer lernte ich                  verschicken und in den Nächten,
gleich einen digitalen Mei-              wenn das Telefonieren billiger
lenstein kennen.                         war, wurden die Nachrichten von
                                         Knotenpunkt zu Knotenpunkt
                                         weitergereicht. So gelangten sie
Es war ein IBM PC mit dem Be-            nach ein bis drei Tagen zu ihrem
triebssystem MS-DOS: ein System,         Empfänger. Das Internet und
das Mitte der achtziger Jahre zum        sein Vorgänger, das ARPANET,
industriellen Standard wurde.            waren damals für Otto Normal-
Die innovative Technologie machte        verbraucher noch nicht nutzbar.
eine Datenfernübertragung (DFÜ)          Das sollte sich aber mit der
möglich, also die Kommunikation          Erfindung des World Wide
zwischen zwei Computern.                 Web (WWW) ändern, das

                                    15
Tim Berners-Lee im Jahr 1989          Anwendungen, die blinde
     am europäischen Forschungs-           und sehbehinderte
zentrum CERN in Genf entwickelte.          Nutzerinnen und Nutzer
                                           vor Probleme stellen.
Zu Beginn der neunziger Jahre
verbreitete das grafische Betriebs-
system Microsoft Windows großen
Schrecken unter blinden und                Eine strengere Gesetzgebung
sehbehinderten Computernut-                in Nordamerika und ein wachsen-
zern. Ich erinnere mich mit Grausen        des Verständnis für das Thema
daran, wie wir versuchten, mit             Barrierefreiheit im Bewusstsein
den ersten Screenreadern und               vieler Hard- und Softwarehersteller
Windows 3.1 zurechtzukommen.               setzten ermutigende Zeichen.
Wie sehr vermissten wir das ver-           So gibt es schon seit einigen
traute Betriebssystem DOS, mit             Jahren Zugangsmöglichkeiten
dessen Hilfe die Computer in den           zu Touchscreens, eine Technik,
letzten Jahren für viele von uns           deren Nutzung durch blinde
zu effektiven Arbeitsmitteln               und sehbehinderte Menschen
geworden waren. Doch mit dem               zunächst als unmöglich galt. n
Erscheinen von Windows 95 und
den inzwischen erheblich ausge-
reifteren Screenreadern wurde
auch diese Hürde genommen.
Plötzlich konnten wir mit mehre-
ren Programmen nebeneinander
arbeiten, problemlos Daten von
einer in die andere Anwendung
schieben und aufregende Dinge
tun, wie Soundbearbeitung oder             Peter Brass (* 1954) ist Ober-
Internetradio hören.                       studienrat und Sonderschullehrer
                                           für blinde und sehbehinderte
Mit den immer komplexe-                    Menschen. Er gehört seit 2007
ren Programmen wuchsen                     dem Vorstand des Allgemeinen
                                           Blinden- und Sehbehinderten-
die Herausforderungen
                                           vereins Berlin gegr. 1874 e. V.
an die Entwickler, aber auch               (ABSV) und seit 2010 dem Präsi-
an uns Nutzer. Heute sind                  dium des DBSV an. Peter Brass
es hauptsächlich unsach-                   ist Mitglied im Redaktionsteam
gemäß programmierte                        von „Weitersehen“.

                                      16
„Das Smartphone ist
für Blinde so revolutionär
wie die Erfindung
  der Braille-Schrift“
DBSV Weitersehen 2019

von Robbie Sandberg                        und Lebensqualität noch einmal
                                           steigerten. Ein Farberkennungs-
Diese Aussage eines blinden                gerät ermöglichte es, sich farblich
Bekannten erschien mir                     abgestimmt anzuziehen oder
                                           rote von gelben Paprika zu unter-
noch vor wenigen Jahren
                                           scheiden. Eine elektronische
vermessen. Immerhin hatte                  Einkaufshilfe konnte Barcodes
Louis Braille mit seiner                   scannen und Produktinformationen
Erfindung nichts weniger                   vorlesen. Erste Handhelds halfen
als den Zugang zu Bildung                  beim Navigieren von Routen.
für blinde Menschen möglich
gemacht. Mittels der Braille-              Als 2009, genau 200 Jahre nach
                                           Louis Brailles Geburt, mit dem
Schrift wurden Bücher,
                                           iPhone 3 GS das erste Smartphone
Zeitschriften, Speisekarten                mit einer aktivierbaren Sprach-
und vieles mehr lesbar.                    ausgabe erschien, zeichnete sich
Auch konnten Menschen                      ein Paradigmenwechsel ab, der
mit Seheinschränkung nun                   der Erfindung der Braille­Schrift
schriftlich kommunizieren.                 an Bedeutung nahekommt.
Ebenso bahnbrechend sollte
                                           Mit den Apps, die auf Smartphones
also das Smartphone sein?                  beliebig installiert werden können,
                                           steht uns heute ein breit gefächer-
Als in den Achtizgern der PC Einzug        tes Angebot technischer Hilfen
hielt, ermöglichten Sprach- und            in einem Gerät zur Verfügung.
Braille-Ausgaben blinden Menschen          Nutzerinnen und Nutzer des Smart-
die Teilhabe an den Vorzügen               phones sparen so das ein oder
des Computers. Im Internet kam             andere Hilfsmitttel ein.
man an Informationen, die vorher
nur in Printmedien verfügbar               Apps für Texterkennung ersetzen
und damit unzugänglich waren.              den Flachbettscanner, Barcode-
Mit einem Scanner konnte man               Apps liefern Produktinformationen
erstmals die eigene Post lesen:            auch ohne Hardware in der Ein-
ein bedeutender Gewinn an                  kaufstasche, Farberkennungs-Apps
Lebensqualität.                            lösen die teuren Batteriefresser ab,
                                           E-Books können auf einer mit dem
In den neunziger Jahren kamen              Smartphone verbundenen Braille-
viele technische Hilfsmittel auf           Ausgabe gelesen werden,
den Markt, die Selbstständigkeit           ganz im Sinne des Erfinders.

                                      19
Darüber hinaus wurden durch
     das Smartphone Hilfszwecke
möglich, an die früher nicht zu
denken war: das Erkennen von
Texten im öffentlichen Raum, etwa
Schilder oder Plakate, Videochat
mit sehenden Personen, die blin-
den Nutzern per Kamera ihr Auge
leihen, Berechnung und Beschrei-
bung von Navigationsrouten.

„Ohne mein Smartphone fühle ich
mich verloren“, sagen viele blinde        Robbie Sandberg (* 1970) ist
Menschen. Nicht, weil es wie für          Vorstandsmitglied beim Blinden-
Sehende Bequemlichkeit bietet,            und Sehbehindertenverein
sondern weil es Unabhängigkeit            Hamburg e.V. (BSVH), wo er viele
und Teilhabe in einem Ausmaß              Jahre die Technik-Gruppe leitete.
ermöglicht, das Louis Braille sich        Seit 2017 ist er als Jugendreferent
nicht hätte träumen lassen. n             beim DBSV tätig.

                                     20
Blickpunkt Auge
Das Leben mit einer Sehbeeinträchti-
gung ist mit vielen Herausforderungen
verbunden, egal, ob man damit aufge-
wachsen ist oder erst seit Kurzem damit
zurechtkommen muss. Menschen, die         Unsere Berater leben meist selbst mit
gerade erst von einer chronischen         einer Seheinschränkung. Ihnen muss
Augenerkrankung erfahren haben,           man seine Situation nicht lange
stehen vor einer besonders schwierigen    erklären. Sie helfen, neue Wege zu
Lebenssituation. Meist suchen sie         finden und Probleme anzugehen.
zunächst nach Informationen zu ihrer
Erkrankung und zu Behandlungs-            Unsere Partner sind Augenärzte,
möglichkeiten. Daneben sind viele         spezialisierte Augenoptiker, Hilfs-
Fragen zum Leben mit einer Sehbe-         mittelanbieter, andere Fachkräfte rund
einträchtigung zu beantworten.            ums Sehen, Selbsthilfeorganisationen,
                                          Behörden etc.
„Blickpunkt Auge“, ein Angebot des
DBSV, informiert, berät und unterstützt   Blickpunkt Auge gibt es in 13 Bundes-
Betroffene und ihre Angehörigen           ländern. Deutschlandweite Angebote
unabhängig und kostenfrei zu              sind vorgesehen.
Themen wie:
• grundlegende Fragen zu den
   häufigsten Augenerkrankungen
• Sehhilfen und andere Hilfsmittel        Überregionale Ansprechpartnerin:
• rechtliche und
   finanzielle Ansprüche                  Angelika Ostrowski
• Tipps, Tricks und Schulungen            Tel.: 0 30 / 28 53 87-287
  zur Alltagsbewältigung und              a.ostrowski@blickpunkt-auge.de
  sicheren Orientierung
• Bildung und berufliche Teilhabe         www.blickpunkt-auge.de
• Freizeitgestaltung
• weitere Angebote der Selbsthilfe

Wir ermöglichen zudem den Austausch
mit Gleichbetroffenen und vermitteln
bei Bedarf an Experten verschiedener
Fachrichtungen.
DBSV Weitersehen 2019

Das Smartphone
als universeller
Helfer
von Lisa Gödde                            Bahngleis erwische, mache ich mir
                                          wenig Gedanken. Wenn ich die
Meine Tochter ruft mich an                Nummern und Anzeigen nicht
                                          lesen kann, fotografiere ich einfach
und fragt, ob ich in zwei
                                          den kompletten Bahnsteig und
Tagen ihre Abschlussprüfung               sehe mir die Aufnahme mit
zur Ärztin mit ihr, ihren                 Lupenfunktion in der für mich
Kolleginnen und Kollegen                  erforderlichen Größe an.
und der kompletten Familie                So kann ich mich trotz meiner
in Aachen feiern möchte.                  Seheinschränkung komfortabel
                                          orientieren, ohne ständig jemanden
Na klar!
                                          fragen zu müssen.

Also Smartphone raus und die              Das Hotel reserviere
Fahrt organisieren. Ich kläre über        ich über mein iPhone, die
die Stadtwerke- und die DB-App            Reservierungsbestätigung
                                                         ­
meine Fahrt mit dem Bus zum               erhalte ich per E-Mail.
Bahnhof, meine Zugverbindung
von Münster nach Aachen und               So habe ich die Reservierungsnum-
zurück und den Weg zum Hotel,             mer jederzeit zur Hand, wenn ich
das mir meine Tochter per Whats-          sie brauche: zum Beispiel beim
App vorgeschlagen hat.                    Einchecken im Hotel. Dort werde
                                          ich am Check-in-Automaten meine
Darüber, ob ich den richtigen Bus         Zimmernummer und die
oder richtigen Zug am richtigen           Codenummer als Schlüssel

                                     23
für mein Hotelzimmer erhal-
      ten. Den Ausdruck am Auto-
maten fotografiere ich, damit
ich die Codenummer vergrößern
und auf der Tastatur zum Öffnen
meiner Zimmertür eingeben kann.

Unterkunft und Wege sind
also geklärt. Aber wie wird
das Wetter in Aachen?
Das frage ich Siri. Ich will schließlich
wissen, was ich einpacken muss.
Die App in meinem Handy kündigt
wechselhaftes Wetter mit mögli-
chen zwischenzeitlichen Schauern
bei 22 Grad an.

Da ich mitten im Umzug in eine
kleinere Wohnung stecke, in der                         Created by Jenie Tomboc
                                                        from the Noun Project

ich auch mit einem zunehmend
verminderten Sehvermögen alleine
zurechtkomme, bin ich noch dabei,
mich zu organisieren. Es stehen
gerade einmal die ersten Kleider-               Etuikleid zielsicher heraus, streife
schrank-Elemente, die ich auf                   es zur Kontrolle über und fotogra-
meine eigene Weise organisiert                  fiere mich im Spiegel, von vorn und
einrichte. Mit diesem System finde              hinten. So kann ich mich direkt über
ich jedes Kleidungsstück und kann               die Lupenfunktion vergewissern,
es nach Farbe, Material oder                    ob es gut sitzt und sauber ist. Nach
Anlass selbstständig auswählen.                 und nach stelle ich auf diese Weise
Noch sind die Kleidungsstücke                   meine Reisegarderobe zusammen.
aber weitgehend unsortiert und
nur zum Teil aufgehängt. Ist dies               Bevor ich zu meiner Tochter
also sicher das blaue Etuikleid                 reise, gibt es noch einiges
und nicht das schwarze? Ich greife              zu organisieren.
zu meinem iPhone und tippe
die Taschenlampe an. Glücklicher-               Kann meine liebe Blumenoma ein
weise leuchtet sie mir so hell, dass            paar üppige dunkelrote, hellrote
ich Dunkelblau auch mit wenig                   und roséfarbene Pfingstrosen für
Kontrast von Schwarz unterschei-                einen Strauß zusammenstellen?
den kann. So greife ich mein blaues             Ich bitte Siri, die Blumenoma an-

                                           24
DBSV Weitersehen 2019

zurufen, und bestelle den Strauß.          Ich vergrößere mein letztes Foto
In einer Stunde kann ich ihn               und sie sucht sich damit die benö-
abholen. Was benötige ich noch,            tigte Größe heraus. Das Gleiche
um den Abschluss meiner Tochter            machen wir mit den Dübeln und
gebührend zu feiern?                       meine Nachbarin ist nach drei
                                           Minuten zufrieden wieder in ihrer
Wenn es schnell gehen                      Wohnung. Ich freue mich, dass die
muss oder ich aufgeregt                    Nachbarschaftshilfe so unkompli-
                                           ziert funktioniert.
bin, kann ich oft noch etwas
schlechter sehen und meine
                                           Am nächsten Tag trete ich
eigene Schrift nicht mehr
                                           gut vorbereitet die Reise
gut lesen.
                                           zu meiner Tochter an.
Also diktiere ich eine Erinnerungs-
                                           Dank meiner Organisation
notiz in mein iPhone: Sektgläser,          klappt alles reibungslos.
Sekt, Knabberzeug, Früchte und             Mein iPhone als Hilfsmittel
Servietten einpacken, Kühlpacks            gibt mir Sicherheit und
für die Kühltasche vorbereiten,            Unterstützung bei der Orien-
eine Glückwunschkarte besorgen.            tierung, so dass ich mir solche
                                           Unternehmungen alleine
Es klingelt an der Tür. Eine Nach-
barin bittet mich um einen Beton-          zutraue und sie mich nicht
bohrereinsatz Nummer fünf und              übermäßig anstrengen.
einen Dübel Nummer 4,5. Wie gut,
dass durch den Umzug noch mein             Während ich nach zwei gelunge-
Werkzeug-OP-Tisch aufgestellt ist.         nen Tagen in Aachen glücklich
Auf ihm sortiere ich alles thema-          die Sektgläser spüle, diktiere ich
tisch, um schnell zu finden, was           diesen Artikel in mein iPhone –
ich benötige. Akkuschrauber,               wunderbar! n
Bohrmaschine mit Metall-, Holz-
und Betonbohrereinsätzen,
verschiedene Schraubenzieher,
Sägen, Dübel und Schrauben aller
Art. Die Betonbohrereinsätze unter-
scheide ich von den Holzbohrer-            Lisa Gödde (* 1960)
einsätzen vorab nach Gefühl.               ist Dipl.-Biologin und Dipl.-Gesund-
Ich fotografiere das Betonbohrer-          heitswissenschaftlerin. Bis 2013
Ensemble mit den Größen, die               war sie als Lehrerin tätig. Seit 2015
ich nicht lesen kann, und bringe           arbeitet sie als Museumspädagogin
es zur Nachbarin, die ihre Brille          am LWL-Museum für Naturkunde
vergessen hat. Kein Problem:               in Münster.

                                      25
DBSV Weitersehen 2019

WhatsApp,
Sprachnachricht und Co.
Wie die Digitalisierung die
Kommunikation verändert

von Christiane Bernshausen                  die Finger meiner Familien-
                                            mitglieder über den Bildschirm,
„Können wir heute besprechen,               sie holen sich Informationen
wie wir alle zum Familientreffen            aus dem Internet und beschäftigen
kommen? Papa und ich fahren                 sich mit Spielen. „So Leute, jetzt
schon am Mittwoch, aber ihr habt            mal stopp! Legt sofort die Handys
ja bis Freitag noch Uni“, werfe ich         beiseite.“ Ich fordere eine echte
in die Runde der Familie am Früh-           Kommunikation ein.
stückstisch ein und erwarte die
Antwort meiner Kinder. „Level 5,            Natürlich sehe ich ein, dass sich
ich habe schon Level 5 erreicht!“,          die Kommunikation mit dem
schreit der Jüngere. Mein Mann              Medium Smartphone verändert
sagt: „Ich habe es, eine Grapefruit         hat. Da muss ich als blinde Frau
ist eine Kreuzung aus einer Pam-            auf meine Weise und nach meinen
pelmuse und einer Orange.                   Möglichkeiten eben mithalten.
Da waren wir uns doch nicht sicher.“        Das ist kein Problem, wenn ich
„Mit den Zugverbindungen sieht              alleine bin und mich in Ruhe damit
es aber schwierig aus. Wie heißt            beschäftige. Schwierig ist es nur,
der Zielbahnhof?“, fragt die Ältere.        wenn ich die Situation nicht ein-
Die Familie brütet über ihren               schätzen kann oder ein Gespräch
Smartphones, wir kommen bei                 suche. Die Wandlung des Kom-
unserem seltenen Sonntagmorgen-             munikationsverhaltens durch die
frühstück mit der Überlegung                Digitalisierung ist, wie bei vielen
nicht weiter und ich fühle mich             Neuerungen in unserem Leben,
ausgeschlossen. Schnell, lautlos            Fluch und Segen zugleich.
und für mich nicht sichtbar gleiten         Aber für mich als blinder

                                       27
Mensch ist sie auch ein Segen          Mein heutiges neues Tor zur Welt –
     und eine echte Bereicherung!           die Kommunikation via Smartphone
Und diese möchte ich bei allen              – ist auch kein Hexenwerk. Ein
Nachteilen auf keinen Fall mehr             wunderbares Kommunikationsmit-
missen!                                     tel sind hierbei die Text- und
                                            Sprachnachrichten durch soge-
Aber was heißt Digitalisie-                 nannte Messengerdienste, die
rung in dem Zusammen-                       auch von blinden und sehbehin-
                                            derten Menschen leicht zu bedie-
hang überhaupt, und
                                            nen sind. Der Messengerdienst
was ist der Nutzen für                      WhatsApp ist aus meinem Alltag
blinde und sehbehinderte                    nicht mehr wegzudenken. Sprach-
Menschen?                                   nachrichten, die mir wichtig sind,
                                            speichere ich, so dass ich auch
Hier sind nicht die visuellen, digi-        später noch Freude daran habe.
talen Entwicklungen der Zukunft
gemeint, wie das autonome Auto-             An der Stimme einer mir wichtigen
fahren oder die Telemedizin.                Person erfahre ich bei einer Sprach-
Obwohl ich mir hier insgeheim               nachricht auch etwas über ihre
in der Zukunft gravierende Ver-             Gefühlslage. Ich weiß dann, ob es
besserungen für mich und meinen             demjenigen gut geht oder ob ihn
Alltag erhoffe. Vielleicht sitze            vielleicht etwas bedrückt. Ich kann
ich doch noch mal am Steuer                 so an vielen Dingen der Außenwelt
eines Autos? Oder ich spare mir             teilhaben und das ist für mich
manchen lästigen Weg zum Arzt?              grandios. „Mach das Gequatsche
                                            aus, das nervt!“, sagt dann gerne
Für mich als blinde Computernut-            meine Ältere, wenn ich auf diese
zerin hielt die Digitalisierung vor         Weise mit jemandem Nachrichten
vielen Jahren mit der Sprachsteue-          austausche. „Quakquakquak, noch
rung am PC Einzug. Die Möglich-             lauter! Noch schneller!“, amüsiert
keit, E-Mails und Texte per Sprach-         sich mein Mann. Auch hier sage
eingabe zu schreiben, sie sich              ich wieder „Stopp!“. Denn zu
anschließend über die Sprachaus-            Hause nutze ich mein Smartphone
gabe anzuhören und im Internet              so, wie ich es möchte.
auf barrierefreien Seiten zu surfen,
war für mich seinerzeit eine un-            Etwas Wunderbares sind für mich
glaubliche Revolution und eine              auch WhatsApp-Gruppen.
neue Tür zur kommunikativen                 Die Dynamik in der Kommuni-
Welt. Meinen Mitmenschen muss               kation, die dabei entsteht, finde
ich noch heute oft erklären, dass           ich ganz besonders spannend.
der PC ohne Bildschirm und ohne             Wie schnell wird ein Thema
Maus kein Hexenwerk ist.                    von mehreren Seiten betrachtet,

                                       28
heute aus dem Urlaub und von
                                          besonderen Situationen versendet
                                          werden und die dann alle beschrie-
                                          ben werden müssen, haben wir
                                          eine große Teilhabe am Leben der
                                          anderen.

                                          Begeistert kommuniziere ich
                                          mit dem Smartphone – und auf
                                          meine Weise – über Text- und
                                          Sprachnachrichten, höre meine
                                          E-Mails ab, surfe im Internet.
                                          Hörend lese ich die Tageszeitung,
                                          informiere mich über Neuigkeiten,
                                          recherchiere auf einer Kochseite
                                          ein Kuchenrezept oder lausche
                                          einem Podcast.

                                          Was bringt die Zukunft? Ich wün-
                                          sche mir sehr, dass wir Menschen
                                          mit Seheinschränkung auch weiter-
                                          hin in unserer schnelllebigen Zeit
                                          mithalten können – über welchen
werden Termine abgesprochen               digitalen Kanal auch immer. Und
und koordiniert, fließen Informa­         wer weiß, vielleicht sitze ich doch
tionen in alle Richtungen, finden         noch mal am Steuer eines Autos?
sich Ideen und Lösungen manches           Oder ich spare mir manchen
Mal wie von selbst.                       lästigen Weg zum Arzt und nutze
                                          stattdessen die barrierefrei
In den Gruppen mit Familienmit-           zugängliche Telemedizin? n
gliedern, in den verschiedenen
Freundeskreisen, in den Freizeit-,
Hobby- und Ehrenamtskreisen
oder in themenspezifischen und
Alltagsgruppen findet ein reger
Austausch statt, für den ich sehr         Christiane Bernshausen (* 1967)
dankbar bin.                              engagiert sich seit vielen Jahren
                                          ehrenamtlich beratend und aktiv
Bei Fotos und Videos von Angehö-          in verschiedensten örtlichen
rigen oder Freunden bin ich natür-        Ausschüssen und vor allem in
lich auf sehende Hilfe angewiesen.        der Blinden- und Sehbehinderten-
Aber durch die vielen Fotos, die          selbsthilfe.

                                     29
DBSV Weitersehen 2019

„Deutschland
		 bleibt hinter
den Möglichkeiten
  zurück“

Freiwillig und von ganz              linien, Verordnungen und
allein wird die schöne neue          Gesetze zu gießen. Oliver
digitale Welt für Menschen           Nadig vom Gemeinsamen
mit Sehbehinderung und               Fachausschuss für Informa-
Blindheit nicht barrierefrei.        tions- und Telekommuni-
Anforderungen an die Zu-             kationssysteme (FIT) sprach
gänglichkeit und Nutzbar-            mit Dr. Steinbrück über
keit von Dokumenten,                 die mangelhafte deutsche
Webseiten, Programmen                Umsetzung der EU-Richtlinie
und Geräten müssen gesetz-           zu barrierefreien Websites
lich festgeschrieben sein.           und Apps öffentlicher
Der blinde Jurist Dr. Joachim        Stellen, über barrierefreies
Steinbrück ist Behinderten-          E-Government und weitere
beauftragter des Landes              notwendige Schritte für
Bremen und steht immer               mehr digitale Teilhabe.
in der ersten Reihe, wenn
                                     Oliver Nadig: Herr Dr. Steinbrück,
es darum geht, Forderungen
                                     In den letzten eineinhalb Jahren
zur Teilhabe blinder und             haben Sie sich bei der Umsetzung
sehbehinderter Menschen              der EU-Richtlinie 2016/2102
am digitalen Leben in Richt-         über den barrierefreien

                                31
Zugang zu Websites und                 Ganz allgemein betrachtet
     mobilen Anwendungen
                       ­                    ist das Internet eine grenz-
öffentlicher Stellen in deutsches
                                            übergreifende Angelegen-
Recht engagiert. Was hat sich
die Selbsthilfe von der Richtlinie
                                            heit.
erhofft?

Dr. Joachim Steinbrück: In der
EU-Richtlinie ist der barrierefreie         Schon allein deshalb ist es zu
Zugang zu digitalen Angeboten               begrüßen, dass Anforderungen an
öffentlicher Stellen umfassender            die Internetzugänglichkeit inter-
geregelt als in den bisherigen              national geregelt werden, auch
deutschen Gleichstellungsgesetzen.          wenn alle EU-Staaten die Richtlinie
Diese galten bislang nur für Bundes-        noch in landesspezifisches Recht
institutionen und häufig nur auf            umsetzen müssen.
Landesebene, die EU-Richtlinie
hingegen nimmt auch die öffent­             ON: Die Frist für diese Umsetzung
lichen Stellen der Kommunen in              läuft am 23. September 2018 ab.
die Pflicht. Damit müssen erstmals          In einem ersten Schritt hat die
auch die Webseiten von Gemein-              Bundesregierung deshalb am
den, der Kommunalverwaltung                 14. Juni 2018 das Behinderten-
und die Internetauftritte von               gleichstellungsgesetz des Bundes
Kindergärten und Schulen                    (BGG) angepasst. Die Selbsthilfe
barrierefrei werden. Es muss eine           zeigte sich vom Ergebnis bitter
Barrierefreiheitserklärung geben,           enttäuscht. Corinna Rüffer, die
und für Anwender, die Barriere-             Sprecherin für Behindertenpolitik
                                                                      ­
freiheitsmängel entdecken oder              der Bundestagsfraktion von
Probleme mit der Nutzung der                BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fasste
Seiten haben, muss ein fester               die Umsetzung und den Weg
Ansprechpartner benannt sein.               dahin mit den Worten zusam-
Diese Ansprechpartner sind ver-             men: „Im ‚Schweinsgalopp‘ und
pflichtet, dafür zu sorgen, dass            mit unzureichender Beteiligung
Beschwerden hinsichtlich man-               von behindertenpolitischen
gelnder Barrierefreiheit in einem           Verbänden hat die Bundesregie-
bestimmten Zeitraum beantwortet             rung den Gesetzentwurf durch
werden. Unabhängig davon,                   das parlamentarische Verfahren
wie viele Barrieren tatsächlich             geprügelt. Damit hat sie die
gemeldet werden, fordert die                Chance verpasst, die zugrunde-
EU-Richtlinie eine Überwachungs-            liegende EU-Richtlinie in ein
stelle, die kontrolliert, wie gut           gutes und zukunftsweisendes
Deutschland die Anforderungen               Gesetz zu gießen.“ Sind Sie
umsetzt.                                    persönlich auch verärgert?

                                       32
JS: Absolut. Seit dem Inkrafttreten          men haben die Stadt und ihre
der Richtlinie im Herbst 2016 hat            Behörden hierfür ergriffen?
die Selbsthilfe Vorschläge für die
notwendigen Gesetzesänderungen               JS: Die europäische Richtlinie,
erarbeitet und im Mai 2017 eine              von der wir gesprochen haben,
fundierte Stellungnahme abge-                stellt vor allem die Barrierefreiheit
geben. Die ganze Zeit über gab               digitaler Information nach außen
es Gespräche mit dem Bundes-                 sicher. Bremen hat ein Landes-
ministerium für Arbeit und Soziales.         E-Government-Gesetz erarbeitet,
Im Februar 2018 haben wir in der             das den Blick sozusagen auch
Bremer Landesvertretung in Berlin            nach innen richtet. Beispielsweise
gemeinsam mit unserer Senatorin              wird darin festgeschrieben, dass
für Finanzen, Bürgermeisterin                Software, mit der behördenintern
Karoline Linnert, und Staatsrat              Vorgänge bearbeitet, Akten
Hans-Henning Lühr eine Fachta-               geführt und Bescheide erstellt
gung mit rund 100 Teilnehmern                werden, schrittweise barrierefrei
durchgeführt und damit meine                 bedienbar wird, so dass auch
Amtskollegen aus den anderen                 blinde und sehbehinderte Men-
Bundesländern und die Fachöffent-            schen mit diesen Programmen
lichkeit für das Thema nochmals              arbeiten können.
sensibilisiert. Nahezu zeitgleich
veröffentlichte die Bundesregie-
rung ihren Entwurf für die Ände-
rung des BGG. Daraus ging klar
hervor, dass die Bundesregierung             Das erhält bestehende
nur eine Minimalumsetzung                    und schafft unter Umstän-
anstreben würde. Trotz lächerlich
                                             den neue Arbeitsplätze
kurzer Fristen zur Stellungnahme
hat die Selbsthilfe den Entwurf              für schwerbehinderte
detailliert kritisiert und konkrete          Menschen. Zukünftig wird
Vorschläge zur Verbesserung                  die Barrierefreiheit bei der
gemacht. Letztlich konnte eine               Entwicklung, Ausschreibung
Verbändeanhörung am 11. Juni
                                             und Beschaffung von
noch kleinere Verbesserungen
bewirken, aber insgesamt bleibt
                                             Behördensoftware
                                                           ­      berück-
die deutsche Umsetzung weit                  sichtigt.
hinter den Möglichkeiten zurück,
die die EU­Richtlinie eröffnet hätte.        Aber auch an die barrierefreie
                                             Kommunikation zwischen Ämtern
ON: Bremen sieht sich auch                   und Bürgerinnen und Bürgern ist
als Innovator für barrierefreies             gedacht: Die Webseiten und
E-Government. Welche Maßnah-                 Bescheide unserer Verwaltung

                                        33
sollen nicht nur barrierefrei        Natürlich kann man auch Anreiz-
      erstellt werden – sie sollen         systeme wie Barrierefreiheitspreise
natürlich auch selbst barrierefrei         und dergleichen schaffen oder –
lesbar sein. Ebenso werden die             wie dies in der Vergangenheit
Voraussetzungen für eine barriere-         schon einige Male versucht wurde –
freie Akteneinsicht geschaffen.            das Instrument der Zielverein-
Hier werden das neue E-Govern-             barung zwischen der Selbsthilfe
ment-Gesetz und das bremische              und Wirtschaftsunternehmen
       ­
Behindertengleichstellungsgesetz           nutzen. Das war bisher aber eher
koordiniert. Unser Bremer BGG              wirkungslos.
wird übrigens in naher Zukunft an
die europäische Zugänglichkeits-           ON: Der 2010 verabschiedete
richtlinie angepasst. So ist beim          IT-Staatsvertrag und der in dem
Landesbehindertenbeauftragten              Zusammenhang gegründete
eine unabhängige Zentralstelle für         IT-Planungsrat hat das Ziel,
barrierefreie Informationstechnik          die digitale Infrastruktur
und ein Kontrollmechanismus                der Länder und des Bundes zu
vorgesehen, demzufolge der Bremi-          vereinheitlichen. Zum Ende des
sche Senat bis zum 31. Januar 2021         Jahres wird Bremen den Vorsitz
einen Bericht über den Stand der           im IT-Planungsrat übernehmen.
Barrierefreiheit vorlegen muss.            Staatsrat Hans-Henning Lühr
Zusätzlich kann bei Streitfragen           versprach, das Thema barrierefreie
rund um die Barrierefreiheit die           Digitalisierung auf die Agenda
Schlichtungsstelle angerufen               zu setzen. Welche Akzente
werden, die mit der Novellierung           will Bremen setzen?
des bremischen Behindertengleich-
stellungsgesetzes neu geschaffen
wird.

ON: Sie sagten im Rahmen der
                                           JS: Wir wollen vor allem
Fachtagung in Berlin, eine wichtige
Aufgabe sei die Verpflichtung zur          auf die Barrierefreiheit
Barrierefreiheit auch für private          solcher informationstech-
Websites. Wie gehen Sie vor,               nischer Systeme hinwirken,
um dieses Ziel zu erreichen?               die im Zusammenhang
                                           mit dem E-Government
JS: Das wird letztendlich nur              stehen. Bei den Internet-
durch gesetzliche Regelungen
                                           funktionen des neuen
erreicht werden können. Deshalb
machen wir uns Gedanken über               Personalausweises,
eine Erweiterung des Allgemeinen           der qualifizierten elektro-
Gleichbehandlungsgesetzes.                 nischen Signatur und
                                      34
Dr. Joachim Steinbrück (* 1956)
                                    ist Landesbehindertenbeauftragter
                                    der Freien Hansestadt Bremen.
                                    Bis 2005 war er als Richter am
                                    Arbeitsgericht Bremen tätig.
                                    Darüber hinaus übte er mehrere
                                    Lehrtätigkeiten an der Universität
                                    und der Hochschule Bremen aus.

der rasant fortschreitenden         Oliver Nadig (* 1973) arbeitet
Digitalisierung im Gesund-          seit 1997 für die Deutsche Blinden-
heitssystem gibt es da              studienanstalt (blista), seit 2001
ja genügend Baustellen.             als Rehabilitationslehrer für EDV
Geplant ist, in Zusammen-           und elektronische Hilfsmittel.
arbeit mit unserer Selbst-          Er ist Leiter des Gemeinsamen
                                    Fachausschusses für Informations-
hilfe im Herbst ein Arbeits-        und Telekommunikationssysteme
programm für den                    (FIT) der überregionalen Blinden-
einjährigen Vorsitz im IT-          und Sehbehindertenselbsthilfe-
Planungsrat zu erstellen. n         organisationen.

                               35
Digitale
Barrierefreiheit
Der Weg zu mehr Inklusion
DBSV Weitersehen 2019

von Jan Hellbusch                           Stellen in Deutschland und Europa
                                            wird Konformitätsstufe AA ver-
Bei der Entstehung von barriere-            pflichtend – ein realistisches Ziel
freien digitalen Inhalten sind viele        in jedem Webprojekt.
Personen beteiligt. Webdesigner
oder Redakteure verantworten                In Deutschland gilt bereits seit 2011
ebenso die Barrierefreiheit wie             die Barrierefreie-Informations-
Anbieter von Redaktionssystemen             technik-Verordnung – BITV 2.0,
oder Projektleiter. Die einzelnen           allerdings gilt sie zunächst nur
Anforderungen selbst sind zwar              für öffentliche Stellen des Bundes.
vielfältig, aber barrierefreies             Auf Länder- und kommunaler
Webdesign ist immer umsetzbar.              Ebene sind die Regelungen
                                            derzeit uneinheitlich. Sowohl
Barrierefreiheitsrichtlinien                die BITV 2.0 als auch die weiteren
für Webseiten                               Vorgaben für öffentliche Stellen
                                            sollen in diesem Jahr noch an die
Die Barrierefreiheit von Web-               WCAG 2.0 angeglichen werden.
inhalten ist gleichbedeutend mit
der Erfüllung der Kriterien aus             Nutzeranforderungen
den Web Content Accessibility               und Barrierefreiheit
Guidelines (WCAG) 2.0, die 2008
vom World Wide Web Consortium               Die WCAG 2.0 stellen auf formaler
(W3C) veröffentlicht wurden. Diese          Ebene die Messlatte für Barriere-
Richtlinien spielen eine zentrale           freiheit in Webinhalten dar, aber
Rolle in zahlreichen internationalen        in vielen konkreten Situationen
und europäischen Normen zur                 werden die Nutzeranforderungen
Barrierefreiheit von digitalen              darüber hinausgehen. Das liegt
Inhalten. Dazu zählt insbesondere           zum Teil an einzelnen Kriterien
die DIN EN 301 549, die zukünftig           der WCAG 2.0, die oft Minimal-
von allen öffentlichen Stellen in           anforderungen an den barriere-
Deutschland einzuhalten ist.                freien Zugang darstellen, und zum
                                            Teil an veralteter Software oder
Die WCAG 2.0 formulieren 61                 fehlenden Schulungen im Umgang
Erfolgskriterien für barrierefreies         mit Hilfsmitteln. Vor allem aber
Webdesign. Sie sind auf drei                umfassen die WCAG 2.0 nur solche
Konformitätsstufen verteilt (Kon-           Kriterien, die technisch (objektiv)
formitätsstufe A, AA und AAA),              überprüfbar sind. Aus diesen und
wobei Erfolgskriterien auf der              anderen Gründen darf die Erfüllung
Stufe A die wichtigsten Kriterien           der Kriterien aus den WCAG
darstellen. Für die öffentlichen            2.0 lediglich als Ausgangs-

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punkt für eine nutzbare                - Manche Nutzer mit körperlichen
    Webseite für möglichst alle              Einschränkungen können die
Nutzer angesehen werden.                     Tastatur (oder den Mauszeiger)
                                             nicht benutzen. Wichtig für das
Damit Nutzerinnen und Nutzer mit             Webdesign ist, dass alle Funktio-
Behinderungen nicht nur Zugang               nen auf Webseiten auch per
zu digitalen Inhalten erhalten,              Tastatur nutzbar sind.
sondern im Sinne von Inklusion
auch ein positives Nutzungserlebnis        - Menschen mit Lernbehinde-
bekommen, muss bei der Gestal-               rungen benötigen u. a. Leichte
tung und Entwicklung von Web-                Sprache. Anforderungen hierzu
seiten, Software, Apps und Doku-             finden sich in den Webstandards
menten auf die behinderungs-                 zur Barrierefreiheit nicht. Die
bedingten Bedürfnisse dieser                 Richtlinien umfassen mehrere
Nutzer zusätzlich eingegangen                Kriterien zur Fehlerbehandlung
werden. Einige Nutzergruppen                 in Formularen und umfassen
und ihre Besonderheiten:                     darüber hinaus einige Anforde-
                                             rungen zur ablenkungsfreien
- Sehbehinderte Nutzer stellen               Interaktion. Diese Anforderungen
  eine heterogene Nutzergruppe               sind für fast alle Nutzer hilfreich.
  dar. Wichtige Aspekte für
  die Webentwicklung sind die              - Für gehörlose Nutzer sind ins-
  Berücksichtigung angepasster               besondere akustische Informa-
  Bildschirmeinstellungen und                tionen auch in Textform anzu-
  ausreichender Kontrastverhält-             bieten. Obwohl große Anbieter
  nisse.                                     wie Youtube gesprochenen
                                             Text in Multimedia automatisch
- Blinde Nutzer verwenden                    erkennen können, müssen
  Screenreader, um Bildschirm-               die daraus entstehenden Unter-
  inhalte mithilfe nicht-visueller           titel dennoch redaktionell über-
  Ausgabegeräte (akustisch                   prüft werden.
  über eine Sprachausgabe oder
  haptisch über eine Braillezeile)         Wer sich mit den unterschiedlichen
  zu erfassen. Screenreader                Nutzergruppen auseinandersetzt,
  wiederum sind abhängig von               wird schnell feststellen, dass sie
  den Informationen, die z. B. ein         sich erweitern und weiter diffe-
  Browser in den Accessibility-Tree        renzieren lassen. Der Unterschied
  eines Betriebssystems ablegt,            zwischen der Erfüllung der Min-
  wo Alternativtexte für Grafiken          destanforderungen (Kriterien der
  oder die Semantik im Code                Konformitätsstufe AA der WCAG
  übertragen werden.                       2.0) und individuellen positiven

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DBSV Weitersehen 2019

Nutzungserlebnissen kann unter                 einschließlich Senioren besser
Umständen beachtlich sein.                     nutzbar zu machen.

Accessibility first                            3. Inklusion und somit auch
                                               Barrierefreiheit müssen als Ziel
Barrierefreie Webinhalte entstehen             formuliert werden. Digitale Inhalte
nicht von selbst. Es ist Aufgabe aller         müssen kontinuierlich und in einem
an einem Webprojekt Beteiligten,               inklusiven Entstehungsprozess
bereits während des Entstehungs-               geplant und regelmäßig mit den
prozesses ihren Teil der Barrierefrei-         betroffenen Nutzern evaluiert
heit zu verantworten. Projektleiter            werden, damit möglichst wenige
müssen Schulungen organisieren,                Nutzer ausgegrenzt werden.
Designer müssen sich mit der
Farbgestaltung befassen und                    Die Erfüllung der Kriterien aus
Entwickler mit der Tastaturbedie-              den WCAG 2.0 wird nicht „frei
nung sowie der Übertragung                     Haus“ geliefert, sondern setzt
von Informationen an Hilfsmittel               Sensibilisierung, Schulungen und
wie Screenreader. Auch die Redak-              Investitionen in neue Software
tion muss ihren Teil zur Barriere-             voraus. Barrierefreiheit ist dabei
freiheit beitragen, etwa durch                 ein Minimalstandard und gleich-
die Strukturierung von Inhalten                zeitig der Schlüssel zu Inklusion
und Formulierung von Alternativ-               in der digitalen Welt.
texten für Grafiken.

Barrierefreiheit ist dabei ein erreich-          Weitere Informationen
bares Ziel für jede Organisation,                unter: www.barrierefreies-
aber:                                            webdesign.de

1. Digitale Inhalte sind erst dann
für die meisten Nutzer zugänglich,
wenn die Mindestkriterien der
Konformitätsstufe AA aus den
WCAG 2.0 erfüllt werden.
                                               Jan Hellbusch (* 1967)
2. Erst mit barrierefreien Inhalten            ist freiberuflicher Accessibility
können weitere Aspekte wie ein                 Consultant, Gutachter und Tester
positives Nutzungserlebnis und                 für barrierefreies Webdesign.
mehr Inklusion sinnvoll angestrebt             Darüber hinaus teilt er sein Wissen
werden. Der Ausbau der Barriere-               in Büchern wie „Barrierefreiheit
freiheit erlaubt es auch, Inhalte für          verstehen und umsetzen“ und
zahlreiche weitere Nutzergruppen               „Barrierefreies Webdesign“.

                                          39
Datenschutz
von Günter Nehm

Zwei Daten saßen liebeskrank
vereint auf einer Datenbank
mit heißem, innigem Begehren,
sich durch Befruchtung zu vermehren.

Ein Datenschützer war empört
und fand die Absicht unerhört;
er schloss die beiden, wie gemein,
in streng getrennte Speicher ein.

Das hat die Daten sehr erschreckt,
doch später zeigte sich versteckt
ein Notausgang zum Separée
im Gästehaus des MAD.

Bald rühmte das verliebte Paar
sich einer stolzen Kinderschar,
die mancherlei Erkenntnis brachte
und vieles transparenter machte.

Der Datenschützer hat beklommen
und resigniert den Hut genommen;
statt über Datenschutz zu brüten
will er in Zukunft Flöhe hüten.

                            40
Das Magazin des
                                      Deutschen Blinden-
                                      und Sehbehinderten-
                                      verbandes (DBSV)

Ein Design für Alle                   Mehr, als man sieht
Sehbehindertengerechte Gestal-        Die „Sichtweisen“ informieren
tung und Ästhetik schließen sich      darüber, wie der DBSV sich für
nicht aus. Das beweisen die           Teilhabe und Barrierefreiheit
„Sichtweisen“, deren neues Design     einsetzt. Sie zeigen, wie Menschen
im Rahmen des DBSV-Projekts           mit einer Sehbeeinträchtigung
„Inklusives Design“ entstanden ist.   leben, und bieten wertvolle Hin-
Markante Farbflächen bilden einen     weise aus den Bereichen Recht,
spannenden Kontrast zu den            Medizin und Rehabilitation sowie
Schwarz-Weiß-Fotos.                   zahlreiche Tipps.
Jeder Rubrik sind eine Farbe und
                                      Zum Hören, Fühlen, Sehen
ein Piktogramm zugeordnet.
Die Beitragstexte sind zweispaltig    Das Mitgliedermagazin des DBSV
in Schwarz auf Weiß gedruckt.         erscheint als Printausgabe,
Flattersatz und der Einsatz von       in Punktschrift und auf DAISY-CD.
Weißraum geben dem Layout
einen großzügigen Eindruck.
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misch und freundlich und ist für      2 0 30 / 28 53 87-220
sehbehinderte Menschen gut            zeitschriftenverlag@dbsv.org
lesbar.                               www.dbsv.org/sichtweisen
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