Zivil-gesell- schaft 2020 - Brot für die Welt
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Impressum Herausgeber Brot für die Welt Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e. V. Caroline-Michaelis-Straße 1, 10115 Berlin Telefon +49 30 65211 0, Fax +49 30 65211 3333 info@brot-fuer-die-welt.de www.brot-fuer-die-welt-de www.brot-fuer-die-welt.de/atlas-zivilgesellschaft AutorInnen Christian Jakob, Christine Meissler, Carsta Neuenroth, Nils Utermöhlen Redaktion Maike Lukow Redaktionelle Mitarbeit Anne Dreyer, Silke Pfeiffer Idee und Konzept Anne Dreyer, Julia Duchrow V. i. S. d. P. Klaus Seitz Gestaltung KontextKommunikation GmbH, Berlin Satz Reihs Satzstudio, Lohmar Korrektorat Petra Kienle, Fürstenfeldbruck Infografiken und Illustrationen Esther Gonstalla Fotos Erhan Arik/NarPhotos/laif (S. 65), Maria Magdalena Arrellaga/NYT/ Redux/laif (S. 36), Umit Bektas (S. 42, 46), Hermann Bredehorst (S. 4), Josue Decavele (S. 54), Tuane Fernandes (S. 39, 40), Bettina Flitner (S. 68), Gleb Garanich (S. 60), Dai Kurokawa (S. 70), Willy Kurniawan (S. 48), Jessica Rinaldi (S. 66), Oswaldo Rivas (S. 57), Ulises Rodriguez (S. 59), Frank Schultze (S. 63), Tatan Suflan (S. 50), Darren Whiteside (S. 52) Lektorat Thorsten Herdickerhoff, Eva Rosenkranz Druck Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg Art. Nr. 119 113 430 Berlin, Februar 2020 Print ISBN 978-3-96238-171-4 E-PDF ISBN 978-3-96238-710-5 Dieses Werk wurde veröffentlicht unter der Lizenz "Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivates 4.0" (BY-NC-ND). Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de
Inhalt Kolumbien Venezuela Guyana Surinam Französisch- Guayana Peru Impressum 2 Brasilien Vorwort 4 Bolivien Zusammenfassung 5 Chile Paraguay Die Welt sieht rot: Weltkarte 8 Argentinien Uruguay 36 Teil 1: CIVICUS-Monitor Zivilgesellschaft weltweit stärker unter Druck 12 Libyen Ägypten Saudi- Arabien Die Lage in Europa / Veränderungen im Ranking gegenüber dem Vorjahr / Formen der Repression / Tödliches Engagement / Sudan Eritrea Repression verhindert Entwicklung / Betroffene Gruppen Tschad Jemen »Frauen sind Ziel von Repressionen«, 21 Djibouti Interview mit Marianna Belalba Barreto von CIVICUS Zentralafr. Süd- Somaliland Rep. sudan Äthiopien Shrinking Space betrifft vor allem Frauen 22 Kamerun und Frauenbewegungen Kongo DR Kongo Uganda Kenia Somalia 42 Der Trend: Angriffe auf die Gleichberechtigung / Die Lage der Menschenrechtsverteidigerinnen / Gewalt gegen Myanmar Thailand Laos Frauen / Erzwungene Einheit statt Vielfalt / Kein Recht Kambodscha Vietnam Philippinen auf Gerechtigkeit / Frauen kämpfen für Land- und Brunei Malaysia Papua- Umweltrechte / Populismus gegen Frauen und LGBTI / Neuguinea Frauenaktivismus im Netz / Besonders häufig attackiert: Indonesien Singapur Journalistinnen / Frauen und Arbeitskämpfe / Internationale Osttimor Organisationen / Formale politische Partizipation Einschränkung der Zivilgesellschaft nach Regionen 30 Australien 48 Teil 2: Zivilgesellschaft im Fokus. Bewegungen für die Rechte 35 Vereinigte Staaten von Amerika von Frauen und LGBTI in sechs Ländern Brasilien ‒ Massive Gefahr für die Zivilgesellschaft 36 Mexiko Bahamas Sudan ‒ Gesichter der Revolution 42 Kuba Jamaika Indonesien ‒ Am Ende der Reformbemühungen? 48 Belize Haiti Guatemala Zentralamerika ‒ Eine Region der Gewalt gegen Frauen 54 El Salvador Dom. Rep. Honduras Armenien ‒ Hohe Erwartungen an die neue Regierung 60 Nicaragua Venezuela Faktor 1,0 Costa Rica Uganda ‒ Wenn das Misstrauen regiert 66 Panama Kolumbien 54 Teil 3: Demokratie braucht Geschlechtergerechtigkeit 72 Russland Kasachstan Treiber des Backlash ‒ Weltfamilienkongress / Europäische Treiber des Backlash / Allianz der Familienschutz Georgien Turkmenistan organisationen mit rechtsextremen Parteien / Die Vereinten Aserbaidschan Türkei Armenien Nationen: Plattform für und gegen Frauenrechte / Der Kampf auf internationaler Ebene / Die Kraft der Netzwerke und Irak Bündnisse / Aufmerksamkeit durch soziale Medien und Syrien Iran Demonstrationen / Solidarität für die Vielfalt Libanon Jordanien 60 Empfehlungen an die Bundesregierung: Einsatz für eine 78 unabhängige Zivilgesellschaft und Geschlechtergerechtigkeit Zentralafr. Republik Südsudan Äthiopien Literatur 80 Abkürzungen 81 DR Kongo Uganda Kenia Quellen 82 Ruanda Burundi Tansania 66 2020 BfdW_AtlasDerZivilgesellschaft-Inhalt.indd 3 03.02.20 09:33
Vorwort G che gesellschaftliche Entwicklung wird dabei ebenso ignoriert wie die von Frauen einge- brachten Potenziale. Dabei sind es oft gerade Frauen, die friedliche Veränderungen in ihren emeinsam mit unseren zivil Ländern vorantreiben. So blicken wir in un- gesellschaftlichen und kirchlichen Partner- serem Länderbeispiel Sudan auf die mutigen organisationen in rund 90 Ländern arbeiten Frauen, die auf den Straßen Khartums pro- wir daran, Hunger, Armut und Ungerechtig- testierten, um die drei Jahrzehnte dauernde keit zu überwinden. Der sogenannte Shrin- autoritäre Herrschaft von Omar al-Bashir im king Space ‒ der schrumpfende Handlungs- Frühjahr 2019 zu beenden (S. 42 ff.). spielraum zivilgesellschaftlicher Organisationen ‒ bereitet Genau wie bei der Samtenen Revolution in Armenien, an der uns und unseren Partnern große Sorge. Denn in vielen Län- sich im Frühjahr 2018 Frauen in großer Zahl beteiligten. Al- dern schränken Regierungen die Grundrechte auf Meinungs-, lerdings haben sich ihre Erwartungen, dass Frauen nach dem Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit zunehmend ein ‒ Regierungswechsel in der Regierung besser repräsentiert sein auch in Europa. Dabei sind diese Menschen- und Bürgerrechte würden und insgesamt gleichberechtigter leben können, bis- essenziell für eine Demokratie und dafür, dass sich Bürgerin- her nicht erfüllt (S. 60 ff.). nen und Bürger an der politischen wie der sozialen Entwick- Eine besonders dramatische Entwicklung zeichnet sich in Bra- lung ihrer Länder beteiligen können. Vor diesem Hintergrund silien ab, einem Land, das wir im Atlas der Zivilgesellschaft veröffentlichen wir nun zum dritten Mal den Atlas der Zivil bereits zum zweiten Mal behandeln. Präsident Jair Bolsonaro gesellschaft gemeinsam mit CIVICUS, dem weltweiten Netz- propagiert mit vielen anderen fundamentalistischen und frau- werk für Bürgerbeteiligung. enfeindlichen Hardlinern ein antifeministisches Frauenbild Im Atlas der Zivilgesellschaft 2020 konzentrieren wir uns als christlich und bedroht Organisationen, die sich für Frauen- neben der weltweiten Analyse thematisch auf die Zurückdrän- und Gender-Themen einsetzen (S. 36 ff.). gung und Einschüchterung von Frauen und Bewegungen für Angesichts der weltweiten Einschränkungen, die die Zivil- Frauenrechte und Geschlechtergerechtigkeit. Frauen werden gesellschaft aktuell erlebt, ist es wichtig, dass die Bundes überproportional Opfer von digitaler, psychischer und physi- regierung handelt. Sie muss sich unmissverständlich gegen scher Gewalt ‒ im Globalen Süden wie in Europa. Die Öffent- die schwindenden Handlungsspielräume wenden, Einschrän- lichkeit nimmt wenig Notiz davon, weil beispielsweise die kungen benennen und in ihrer eigenen Politik den zivilgesell- Ermordung von Frauen nicht politisch eingeordnet wird, son- schaftlichen Handlungsspielraum schützen ‒ hierzulande dern als Beziehungstat. Ein Beispiel für die erfolgreiche Ein- und weltweit. Dabei muss sie die Gelegenheit des Peking+25- schüchterung von politisch aktiven Frauen in Europa ist die Prozess nutzen, um besonders die zunehmende Gewalt gegen Ankündigung von mehr als dreißig Parlamentarierinnen aus Frauen sowie die Lage von Frauen im öffentlichen Leben und Großbritannien, bei den nächsten Wahlen aufgrund massiver von Frauenorganisationen in den Blick zu nehmen. Sie muss Bedrohungen durch sexualisierte Gewalt nicht mehr antreten bei Kontakten auf internationaler Bühne nicht nur generell zu wollen. umfassenden Schutz für Menschenrechtsverteidigerinnen und Nationalistische Parteien, fundamentalistische politische und Menschenrechtsverteidiger einfordern, Diffamierungen und religiöse Strömungen und Gruppierungen sind global auf dem Gewalt verurteilen, sondern sollte sich weltweit speziell für Vormarsch und international hervorragend vernetzt. Sie ver- den Schutz von zivilgesellschaftlichem Engagement zuguns- suchen, tradierte Machtstrukturen und Geschlechterrollen ten von Frauenrechten und Geschlechtergerechtigkeit einset- wiederherzustellen und Frauen aus dem öffentlichen Raum zen und sexualisierte Gewalt auf allen Ebenen und in allen zu drängen. Sie stigmatisieren und delegitimieren die Errun- Ländern massiv verurteilen. genschaften der Frauenbewegungen und wollen damit errei- Nur eine handlungsfähige und aktive Zivilgesellschaft, an der chen, dass deren wichtige Forderungen die Unterstützung der alle Gruppen der Bevölkerung gleichberechtigt teilhaben, kann Bevölkerung verlieren. gesellschaftliche Veränderungen anstoßen. Ohne das Engage- In einigen Ländern werden Frauen nach wie vor so stark dis- ment von Frauen gibt es weder Entwicklung noch Frieden! kriminiert, dass sie vom öffentlichen Leben weitgehend aus- geschlossen sind. Die große Bedeutung von frauenrechtlichen Prof. Dr. h. c. Cornelia Füllkrug-Weitzel Errungenschaften für die wirtschaftliche, soziale und friedli- Präsidentin von Brot für die Welt 4 Atlas der Zivilgesellschaft 2020 2020 BfdW_AtlasDerZivilgesellschaft-Inhalt.indd 4 03.02.20 09:33
Zusammenfassung W Rede, Vereinigungen oder Versammlungen möglich, wo wer- den Menschenrechte geachtet und wo verfügt die Zivilgesell- schaft über demokratische Teilhabe? Mit diesen Fragen be- schäftigt sich der erste Teil des Atlas der Zivilgesellschaft. Die iderspruch kann tödlich sein, auch wenn er Daten dafür stammen von CIVICUS, der Weltallianz zur Bür- Selbstverständliches einfordert. Das Recht eines Menschen gerbeteiligung. Der CIVICUS-Monitor ist die umfassendste beispielsweise, gegen politische Entscheidungen zu demons- Dokumentation zum Zustand der globalen Zivilgesellschaft. trieren oder diese in den sozialen Medien infrage zu stellen. Aktuell leben lediglich rund drei Prozent der Weltbevölkerung Oder das Ackerland, von dem eine Familie lebt, nicht für in Staaten mit einer offenen Zivilgesellschaft. Im Vorjahr ein großes Infrastrukturprojekt hergeben zu müssen. Zent- waren es vier Prozent. Das heißt, aktuell genießen nur rund ralamerika etwa ist zu einer Region geworden, in der Recht 259 Millionen Menschen uneingeschränkte zivilgesellschaft- und Gerechtigkeit immer weniger zählen. Sie werden ver- liche Freiheiten. Sie leben in den 43 Staaten, die die Grund- drängt von Gewalt, Korruption, Kriminalität und Regierun- rechte respektieren und schützen. In ihnen wird der soge- gen, die sich mit kriminellen Banden zusammentun. Die nannte Civic Space, der Raum für zivilgesellschaftliches Zivilgesellschaft kann kaum noch Rechte einfordern und sich Handeln, als „offen“ eingestuft. 1,1 Milliarden Menschen leben in De batten einbringen. in 42 Staaten, in denen der 259 Trotzdem gibt es in der Civic Space beeinträch- Region Frauen wie Lydia tigt ist. Für acht von zehn Alpizar, die alles daranset- Menschen auf der Welt zen, dass politisches Han- ist diese Freiheit dagegen deln möglich bleibt. Und stark oder sehr stark be- Nur rund Millionen Menschen zu schützen, einträchtigt. Die Grund- die aufgrund ihres zivil Menschen weltweit genießen uneinge rechte von 1,2 Milliarden gesellschaftlichen Enga- schränkte zivilgesellschaftliche Freiheiten Menschen in 49 Staaten gements bedroht werden. werden laut CIVICUS „be- So bietet IM-Defensoras, das zentralamerikanische Netz- schränkt“. Weitere drei Milliarden Menschen müssen fürch- werk von Menschenrechtsverteidigerinnen, bei dem Alpizar ten, überwacht, drangsaliert, eingeschüchtert, inhaftiert, ver- arbeitet, jenen Frauen Zuflucht, die sich gegen korrupte Poli letzt oder sogar getötet zu werden, wenn sie die Machthaber in tikerinnen und Politiker, kriminelle Banden oder gewalttätige ihrem Land kritisieren. Das sind knapp 40 Prozent der Welt- Großgrundbesitzer stellen (→ Teil 2). bevölkerung. In den 38 Staaten, in denen sie leben, wird die Lydia Alpizar und IM-Defensoras sind Mosaiksteine einer Zivilgesellschaft „unterdrückt“. Vollständig „geschlossen“ ist globalen Zivilgesellschaft, die von international aufgestell- der Civic Space für zwei Milliarden Menschen, das ist mehr als ten Lobbybündnissen bei multinationalen Institutionen bis ein Viertel der Weltbevölkerung. Sie leben in 24 Staaten, in zu Kleinbauerninitiativen in entlegenen Dörfern reicht. Selbst denen zivilgesellschaftliches Handeln gewaltsam unterbun- wenn sie nicht alle das Gleiche wollen, kämpfen viele von den wird. ihnen für Freiheit, Gerechtigkeit und Teilhabe, für den Erhalt Allerdings erodieren gesellschaftliche Freiheiten selbst in der Natur und gegen autoritäre oder korrupte Regierungen. Weltregionen, in denen sie Teil des gesellschaftlichen Selbst- Diese Kämpfe brachten im Jahr 2019 weltweit Menschen auf verständnisses sind oder waren. In 13 der 28 EU-Staaten etwa die Straßen: im Sudan, in Russland, Ägypten, Chile, Ecuador, stuft CIVICUS die Handlungsspielräume der Zivilgesellschaft Irak, im Libanon, in Spanien, Hongkong, Bolivien, der Tür- heute als „beeinträchtigt“ ein. In die Kategorie der europäi- kei, Brasilien, Argentinien, bei den Frauenstreiks am 8. März schen Staaten mit „beschränktem“ Civic Space stieg 2019 Ser- oder bei den globalen Klimaprotesten. An einigen dieser Orte bien ab. Hass und Schmähkampagnen gegen Journalistin- hätte kaum jemand Proteste erwartet, wird doch die Zivil nen und Journalisten nehmen dort zu. Staatschef Aleksandar gesellschaft dort unterdrückt und die Reaktion der staatlichen Vučić bezeichnet kritische Berichterstatterinnen und Bericht- Kräfte ist unkalkulierbar. Abgeschreckt hat dies die Menschen erstatter als „Lügner“ oder „Spione“. Auch die Diffamierung von jedoch nicht. zivilgesellschaftlichen Organisationen ist in Serbien steigend. Der Atlas der Zivilgesellschaft 2020 zeigt die gegenwärtigen In Ungarn, dessen Präsident Viktor Orbán offen eine „illibe- Handlungsspielräume der Zivilgesellschaft auf. Wo sind freie rale Demokratie“ propagiert, sieht CIVICUS den Civic Space Vorwort / Zusammenfassung 5 2020 BfdW_AtlasDerZivilgesellschaft-Inhalt.indd 5 03.02.20 09:33
nach wie vor als „beschränkt“. Nationalismus und Autorita- rismus sowie ein wachsender Einfluss fundamentalistischer religiöser Gruppen untergraben in Teilen Europas spürbar die 1. November 2019 in Kraft trat und ein eigenes Internet unter Freiheit der Rede, zur Versammlung und Vereinigung. Und kompletter Staatskontrolle vorsieht. nach wie vor schlägt der Großkonflikt um die Migration dabei Regime lassen zudem oft Menschenrechtsverteidigerinnen durch. Auf Druck rechter Parteien sehen sich demokratische und -verteidiger oder Oppositionelle festnehmen. In Kamerun Akteure wie Beratungsstellen für Flüchtlinge, die sich Hass etwa kamen im Spätsommer 2019 eine Reihe von Kritikern des und Hetze entgegenstellen, plötzlich selbst dem Vorwurf des Präsidenten Paul Biya ins Gefängnis ‒ kurz bevor ein „Natio- Extremismus ausgesetzt ‒ auch in Deutschland. naler Dialog“ den Konflikt zwischen dem anglophonen und Den Terrorismusbegriff missbrauchen Regierungen und Kon- dem frankophonen Teil des Landes befrieden sollte. zerne weltweit und bezeichnen jene, die den Abbau sozialer Bei etwa jedem sechsten von CIVICUS untersuchten Fall han- Leistungen oder die Zerstörung natürlicher Ressourcen nicht delte es sich um übermäßige Gewalt gegen Protestierende. In hinnehmen wollen, als „Terroristen“. So wie Brasiliens Präsi- Guinea beispielsweise töteten staatliche Kräfte im Oktober dent Jair Bolsonaro, der unter anderem die Arbeit der klein- 2019 neun Menschen, die gegen eine Verfassungsänderung bäuerlichen Landlosenbewegung MST (Movimento dos Sem protestierten, mit der Präsident Alpha Condé sich eine dritte Terra) und der Obdachlosenbe- Amtszeit ermöglichen wollte. 83 % wegung MTST (Movimento dos In Konflikt mit dem Staat und pri- Trabalhadores Sem Teto) als „Ter- vaten Unternehmen geraten oft rorismus“ diffamiert. jene, die materielle Güter anders Solche Diffamierungen haben verteilen wollen: Gewerkschaf Folgen. 304 Morde an Menschen- terinnen und Gewerkschafter In der rechtsverteidigerinnen und -ver- sowie Arbeiterinnen und Arbei- teidigern in 31 Ländern zählte Staaten ist der Raum für die ter. Diese waren in jedem achten etwa die Organisation Frontline Zivilgesellschaft beschränkt, (12,7 Prozent) der von CIVICUS Defenders im Jahr 2019. Knapp ausgewerteten Fälle betroffen. unterdrückt oder geschlossen drei Viertel der getöteten Akti- In Jordanien etwa untersagt ein vistinnen und Aktivisten verteidigten Landrechte, Umwelt- im April 2019 beschlossenes Gesetz den 314.000 im Land schutzgesetze und die Rechte indigener Völker, die oft im Zuge registrierten Wanderarbeiterinnen und -arbeitern, Gewerk- staatlicher Infrastrukturprojekte und bei der Rohstoffausbeu- schaften zu gründen. tung verletzt wurden. Die Organisation Global Witness hat die Vom schrumpfenden Handlungsspielraum für die Zivilge- Angriffe auf Umweltschützerinnen und -schützer dokumen- sellschaft sind Frauen und Menschen, die lesbisch, schwul, tiert und im Jahr 2018 insgesamt 164 Morde an ihnen gezählt. bisexuell, transsexuell/transgender und intersexuell (LGBTI) Im November 2019 erschossen Holzfäller unter anderen den sind, besonders bedroht: körperlich, beispielsweise wenn Staa- prominenten indigenen Regenwaldschützer Paulo Paulino ten Abtreibung gesetzlich verbieten, sowie durch sexualisierte Guajajara. Gewalt oder Diffamierungen. Gleichzeitig erschwert die rück- Gesellschaftliche Freiheit und soziale Entwicklung sind un- wärtsgewandte Geschlechterpolitik Aktivistinnen und Akti- trennbar miteinander verbunden. Viele soziale Bewegungen visten, sich gegen Angriffe zu wehren. Frauen und Männer verfolgen Ziele, die jenen der Sustainable Development Goals sowie Organisationen, die sich für Gleichberechtigung und (SDGs), den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung, nahe eine Vielfalt der Geschlechter einsetzen, werden als „Gender- sind. Das zeigt auch der CIVICUS-Monitor. Wo der Civic Ideologen“ und ihre Arbeit als „Gender-Wahn“ verunglimpft Space „offen“ ist, liegt der Human Development Index (HDI) ‒ (→ Teil 1b). ein weltweit anerkanntes Maß für die menschliche Entwick- Frauen und Frauenbewegungen waren in mehr als jedem fünf- lung ‒ im Schnitt bei 0,859. Der Höchstwert ist 1,0. Je weiter ten (22 Prozent) der von CIVICUS registrierten Fälle von An- die gesellschaftlichen Freiheiten beschränkt werden, desto griffen auf die Zivilgesellschaft betroffen und stehen damit an geringer liegt die vom HDI gemessene menschliche Entwick- oberster Stelle der am stärksten von Verfolgung betroffenen lung. In Staaten mit „unterdrückter“ Zivilgesellschaft fällt die- Gruppen. Frauen sind nicht nur angreifbarer, weil der öffent- ser Wert auf 0,647 Punkte. liche Raum noch immer von Männern dominiert wird. Frauen Insgesamt 536 Meldungen über Angriffe auf zivilgesellschaft- werden auch angegriffen, weil sie Frauen sind und sich als solche liche Tätigkeiten zwischen 1. Oktober 2018 und 11. November engagieren. Was das für ihre Arbeit bedeutet, davon berichten 2019 hat CIVICUS zuletzt ausgewertet. Die Fälle sind nicht im Teil 2 dieses Atlas Vertreterinnen und Vertreter von Brot- repräsentativ, zeigen aber deutliche Muster politischer Repres- für-die-Welt-Partnerorganisationen in Brasilien, Sudan, Indo- sion. International besonders stark verbreitet ist demnach die nesien, Zentralamerika, Armenien und Uganda. staatliche Zensur von Medien ‒ einschließlich der Kontrolle Heute sind Frauen sichtbarer denn je in Kämpfen um so- des Internets und somit der sozialen Medien. Aufsehen erregte zialen Fortschritt. Die Revolution im Sudan etwa, die dem dabei etwa Russlands umstrittenes Internetgesetz, das am Kriegsverbrecher Omar al-Bashir die Macht entriss, wird auf 6 Atlas der Zivilgesellschaft 2020 2020 BfdW_AtlasDerZivilgesellschaft-Inhalt.indd 6 03.02.20 09:33
Hassbotschaften enthielt, war es bei schwarzen Frauen sogar jeder zehnte Beitrag. „Im gegenwärtigen politischen Klima, mit seinem Rollback gegen die Menschenrechte, sind Frauen, die diese Rechte verteidigen, oft die ersten, die angegriffen werden“, sagt Michel Forst, UN-Sonderberichterstatter für die ewig mit dem Bild der Studentin Alaa Salah verbunden sein. Situation von Menschenrechtsverteidigern. Auch die schwedische Schülerin Greta Thunberg vermochte Teil 3 des Atlas stellt die Strategien jener Gruppen dar, die Millionen junge Menschen dazu zu bringen, das Nichtstun dafür kämpfen, dass Frauen und LGBTI weniger Rechte zu- gegen die drohende Klimakatastrophe nicht länger hinzu- gestanden werden: religiöse Fundamentalisten, Antifeminis- nehmen. Die Seenotretterin Carola Rackete ließ sich nicht ten, Rechtspopulisten. Weltweit gewinnen ihre Ideen an Ak- beirren, als der damalige italienische Innenminister Matteo zeptanz, auch weil deren Vertreter sich strategisch aufstellen Salvini ihr für ihren Einsatz Gefängnis androhte. Ihr Mut be- und international vernetzen. Besonders deutlich wird das am eindruckte die Menschen. Für die Seenotretter im Mittelmeer Beispiel des Weltfamilienkongresses, der als ihr weltweit wich- gab es in der Folge Millionenspenden. Und natürlich gehören tigstes Treffen gilt. Er zeigt deutlich die Verknüpfung zwischen auch Frauen dazu, die der Öffentlichkeit unbekannt sind, wie rechtsnationalen Parteien und der Anti-Gender-Bewegung. die junge Chilenin, die im Oktober 2019 mit einem Schild auf Das wichtigste internationale Forum für die Durchsetzung die Straße ging, auf dem stand: „Der Neoliberalismus wurde von Frauenrechten sind die Vereinten Nationen. Frauenbewe- in Chile geboren und wird in Chile sterben.“ Bei den Protesten gungen und Gender-Aktivisten und -Aktivistinnen nutzen in- in Chile 2019 verletzte die Polizei über 1.300 Menschen, doch ternationale Organisationen wie die UN, um sich gegen den aufgrund des Drucks der Proteste bildete Präsident Sebastián Backlash zur Wehr zu setzen. Sie kritisieren beispielsweise Piñera sein Kabinett um und versprach soziale Reformen. in den Berichts- und Monitoring-Prozessen zur UN-Konven Der Einsatz für eine lebenswerte Zukunft für alle komme tion zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau „momentan hauptsächlich von jungen Frauen“ schreibt die (CEDAW) die Geschlechterpolitik ihrer jeweiligen Regierung. Journalistin Sonja Eismann. Diese Frauen haben viel zu Die internationale Anti-Gender-Bewegung hat die Relevanz gewinnen, denn bis heute werden sie auf allen Kontinenten der Vereinten Nationen jedoch ebenfalls für sich erkannt. Sie und in allen gesellschaftlichen Bereichen gegenüber Männern versucht, Menschenrechtsverträge zu untergraben, die Frauen- benachteiligt ‒ weniger Geld für gleiche Arbeit, weniger Land und LGBTI-Rechte explizit schützen, und schließt Allianzen besitz, weniger gesellschaftliche Mitsprache, weniger Sicher- über Religionen, Staaten und übliche Bündnisse hinweg. heit. Ihre Handlungsspielräume sind dabei stets gefährdeter Trotz ‒ oder vielleicht gerade wegen ‒ der Erfolge des Backlash als die von Männern. Manchmal ist es schon zu gefährlich, ist die Aufbruchstimmung an vielen Orten groß. Aktivistinnen den Begriff „feministisch“ als Eigenbezeichnung zu verwen- und Frauenbewegungen scheinen so aktiv wie nie. Regionale den, wie die Brot-für-die-Welt-Partnerorganisation Women und internationale Netzwerke nehmen dabei eine Schlüssel- for Development in Armenien funktion ein, wie Teil 3 be- schildert. Von sexualisierten schreibt. Genau wie ihre Geg- Beleidigungen über Angriffe auf Frauen und Frauenb ewegungen nerinnen und Gegner nutzen die vermeintliche „Ehre“ oder waren in mehr als jedem fünften auch Aktivistinnen und Akti- jene der Familie, von Untergra- visten für Frauen und LGBTI der von CIVICUS registrierten bung der oft prekären Existenz- die sozialen Medien, um auf grundlage bis hin zu sexualisier- Fälle von Angriffen auf ihre Themen aufmerksam zu ter Gewalt und Mord: In allen die Zivilgesellschaft betroffen machen. Das Hashtag #MeToo Teilen der Welt zahlen Frauen ist ein weltweit bekanntes Bei- einen besonders hohen Preis für ihr politisches und gesell- spiel. Außerdem suchen sie den Schulterschluss mit jenen, die schaftliches Handeln. Das gilt für landlose Bäuerinnen in außerhalb der Schusslinie stehen und gleichwohl Einfluss auf Indien ebenso wie für Kongressabgeordnete in den USA; es die öffentliche Meinung haben. So entstehen beispielsweise gilt für streikende Textilarbeiterinnen in Bangladesch wie für Bündnisse mit fortschrittlichen Kirchen. Journalistinnen in Deutschland. Auch die deutsche Bundesregierung ist gefragt. Sie muss sich Je stärker das Internet ein Ort ist, an dem eine globale Zivil- weltweit für eine unabhängige Zivilgesellschaft und für Ge- gesellschaft agiert, desto stärker wendet sich Hassrede dort schlechtergerechtigkeit einsetzen. Brot für die Welt fordert gegen Frauen. In der bislang größten Studie zum Thema deswegen, dass die Wirtschafts- und Sicherheitspolitik der untersuchten Forscherinnen und Forscher im Auftrag von Bundesregierung nicht zur Einschränkung des Civic Space Amnesty International Tweets aus dem Jahr 2018 an 778 briti- führt. Auf allen Ebenen sollen sich offizielle Vertreterinnen sche und US-amerikanische Politikerinnen und Journalistin- und Vertreter der Bundesregierung insbesondere für eine nen. Diese bekamen hochgerechnet 1,1 Millionen problemati- aktive, gleichberechtigte und demokratische Teilhabe von sche Tweets. Während einer von 15 Beiträgen an weiße Frauen Frauen einsetzen. Zusammenfassung 7 2020 BfdW_AtlasDerZivilgesellschaft-Inhalt.indd 7 03.02.20 09:33
CIVICUS-Einstufungen offen beeinträchtigt beschränkt unterdrückt geschlossen Länder, zu denen CIVICUS keine Daten erhebt Siehe auch www.brot-fuer-die-welt.de/atlas-zivilgesellschaft Die Welt sieht rot: Zivilgesellschaft weiter unter Druck 153 Staaten behindern die Freiheit der Meinungsäußerung, das Recht auf fried- liche Versammlung und auf Vereinigung. Das globale Netzwerk CIVICUS doku- mentiert auf Basis umfangreicher, selbst erhobener Daten sowie Zahlen von Nichtregierungsorganisationen die Gefahren für die Entwicklung der Zivil- gesellschaft. Der sogenannte Civic Space ist der Raum für zivilgesellschaftli- ches Handeln, der in 196 Staaten beobachtet wird. Die laufend aktualisierten 8 Atlas der Zivilgesellschaft 2020 2020 BfdW_AtlasDerZivilgesellschaft-Inhalt.indd 8 03.02.20 09:33
Analysen fließen in Indexwerten für jedes Land zusammen, die CIVICUS in die fünf Kategorien „offen“, „beeinträchtigt“, „beschränkt“, „unterdrückt“ und „geschlossen“ unterteilt. Heute leben nur drei Prozent der Weltbevölkerung in Staaten mit einer offenen Zivilgesellschaft ‒ gegenüber im Vorjahr vier Prozent. Vor allem Frauen und Frauenorganisationen bekommen die Beschränkungen des Civic Space zu spüren. Die Welt sieht rot: Zivilgesellschaft weiter unter Druck 9 2020 BfdW_AtlasDerZivilgesellschaft-Inhalt.indd 9 03.02.20 09:33
Die fünf Kategorien von CIVICUS-Monitor entsprechen folgenden Definitionen: offen (open)* 43 Staaten Der Staat ermöglicht und garantiert allen Menschen zivil- Andorra, Antigua und Barbuda, Barbados, Belgien, gesellschaftliche Freiheiten. Sie können ohne rechtliche oder Costa Rica, Dänemark, Deutschland, Dominica, Estland, praktische Hürden Vereinigungen bilden, im öffentlichen Finnland, Grenada, Irland, Island, Kanada, Kap Verde, Raum Demonstrationen abhalten, sie bekommen Informatio- Kiribati, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Marshallinseln, nen und dürfen diese auch verbreiten. Autoritäten sind offen Mikronesien, Monaco, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, für Kritik von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Palau, Portugal, Salomonen, Samoa, San Marino, São Tomé bieten Plattformen für intensiven und konstruktiven Dialog und Príncipe, Schweden, Schweiz, Slowenien, St. Kitts und mit Bürgerinnen und Bürgern. Demonstrierende werden Nevis, St. Lucia, St. Vincent und die Grenadinen, Surinam, von der Polizei grundsätzlich geschützt und die Gesetze Taiwan ‒ Province of China (offizielle UN-Bezeichnung), zur Regelung des Versammlungsrechts entsprechen inter- Tschechien, Tuvalu, Uruguay, Zypern nationalen Standards. Es gibt freie Medien, Internetinhalte werden nicht zensiert und Regierungsinformationen sind leicht zugänglich. beeinträchtigt (narrowed)* 42 Staaten Einzelpersonen und zivilgesellschaftlichen Organisationen Albanien, Argentinien, Australien, Bahamas, Belize, ist es überwiegend gestattet, ihre Rechte zur Vereinigungs-, Bosnien-Herzegowina, Botswana, Bulgarien, Chile, Versammlungs- und Meinungsfreiheit auszuüben. Trotzdem Dominikanische Republik, Ecuador, Frankreich, Georgien, kommen Verletzungen dieser Rechte vor. Menschen können Ghana, Griechenland, Großbritannien, Guyana, Italien, Vereinigungen mit einer ganzen Bandbreite von Zielen Jamaica, Japan, Kosovo, Kroatien, Lettland, Malta, bilden. Es gibt aber Fälle, in denen als regierungskritisch Mauritius, Nordmazedonien, Republik Moldau, Montenegro, geltende Vereinigungen juristisch verfolgt oder anderweitig Namibia, Österreich, Panama, Polen, Rumänien, Seychellen, schikaniert werden. Demonstrationen verlaufen weitgehend Slowakei, Spanien, Südafrika, Südkorea, Tonga, Trinidad ungestört, werden von den Behörden aber teilweise unter und Tobago, Vanuatu, Vereinigte Staaten von Amerika Verweis auf Sicherheitsbedenken verboten. Es kommt auch vor, dass unverhältnismäßige Gewalt wie Tränengas oder Gummigeschosse gegen friedliche Demonstrierende eingesetzt wird. Die Medien haben die Freiheit, ein großes Spektrum von Informationen zu verbreiten. Eine völlig freie Entfaltung der Presse wird aber entweder durch strikte Regulierung oder Ausübung von politischem Druck auf Medienschaffende verhindert. * englische Bezeichnung der Kategorie im CIVICUS-Monitor 10 Atlas der Zivilgesellschaft 2020 2020 BfdW_AtlasDerZivilgesellschaft-Inhalt.indd 10 03.02.20 09:33
beschränkt (obstructed)* 49 Staaten Die Regierenden beschneiden eine freie Grundrechtsentfal Armenien, Benin, Bhutan, Bolivien, Brasilien, Burkina tung durch eine Kombination aus rechtlichen und prakti- Faso, Elfenbeinküste, El Salvador, Fidschi, Gambia, schen Einschränkungen. Zivilgesellschaftliche Organisatio- Guatemala, Guinea, Guinea-Bissau, Haiti, Indonesien, nen existieren zwar, doch staatliche Stellen versuchen sie zu Israel, Jordanien, Kasachstan, Kenia, Kirgisistan, zersetzen, unter anderem durch Überwachung, bürokratische Komoren, Lesotho, Libanon, Liberia, Malawi, Malaysia, Schikane und öffentliche Demütigung. Bürgerinnen und Malediven, Mali, Marokko, Mongolei, Mosambik, Nauru, Bürger können sich friedlich versammeln, werden aber Nepal, Niger, Osttimor, Papua-Neuguinea, Paraguay, häufig von Polizeikräften unter Einsatz exzessiver Gewalt Peru, Philippinen, Sambia, Senegal, Serbien, Sierra Leone, auseinandergetrieben, etwa mit Gummigeschossen, Tränen- Singapur, Sri Lanka, Togo, Tunesien, Ukraine, Ungarn gas und Schlagstöcken. Es gibt Raum für nicht staatliche Medien und redaktionelle Unabhängigkeit, aber Journalis- tinnen und Journalisten sind von körperlichen Übergriffen und Verleumdungsklagen betroffen. Sie sehen sich daher zur Selbstzensur genötigt. unterdrückt (repressed)* 38 Staaten Der zivilgesellschaftliche Handlungsspielraum ist stark Afghanistan, Algerien, Angola, Äthiopien, Bangladesch, eingeschränkt. Aktivistinnen und Aktivisten, die Macht Belarus, Brunei, Eswatini, Gabun, Honduras, Indien, habende kritisieren, werden überwacht, drangsaliert, einge- Irak, Kambodscha, Kamerun, Katar, Kolumbien, Kongo schüchtert, inhaftiert, verletzt oder sogar getötet. Obwohl es (Brazzaville), Kuwait, Madagaskar, Mauretanien, Mexiko, einige zivilgesellschaftliche Organisationen gibt, wird deren Myanmar, Nicaragua, Nigeria, Oman, Pakistan, Palästina, Advocacy-Arbeit regelmäßig verhindert. Die Organisationen Ruanda, Russland, Simbabwe, Somalia, Tadschikistan, sind von Deregistrierungen und Schließungen betroffen. Tansania, Thailand, Tschad, Türkei, Uganda, Venezuela Menschen, die friedliche Demonstrationen organisieren oder daran teilnehmen, werden häufig durch staatliche Kräfte mit scharfer Munition beschossen oder in Gewahrsam genommen, es gibt Massenverhaftungen. Die Medien geben typischerweise die Sicht der Regierung wieder. Unabhängige Stimmen werden routinemäßig durch Razzien, körperliche Übergriffe oder langwierige Strafverfahren verfolgt. Kritische Websites und soziale Medien sind blockiert und die Internet- nutzung wird stark überwacht. geschlossen (closed)* 24 Staaten Der zivilgesellschaftliche Handlungsspielraum ist ‒ in recht- Ägypten, Äquatorialguinea, Aserbaidschan, Bahrain, licher und praktischer Hinsicht ‒ komplett geschlossen. Burundi, China, Djibouti, Eritrea, Iran, Jemen, Demokra Es herrscht eine Atmosphäre der Furcht, in der staatliche tische Republik Kongo, Kuba, Laos, Libyen, Nordkorea, und mächtige nicht staatliche Akteure ungestraft davon- Saudi-Arabien, Sudan, Südsudan, Syrien, Turkmenistan, kommen, wenn sie Menschen für die Wahrnehmung ihrer Usbekistan, Vereinigte Arabische Emirate, Vietnam, Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheiten Zentralafrikanische Republik inhaftieren, körperlich misshandeln oder töten. Jegliche Kritik am herrschenden Regime wird schwer bestraft. Es gibt keine Medienfreiheit. Das Internet wird stark zensiert und die meisten Websites sind blockiert. Die Erhebungen des CIVICUS-Monitors werden laufend aktualisiert. Diesem Bericht liegen die Daten vom 4. Dezember 2019 zugrunde. Tagesaktuelle Daten unter monitor.civicus.org. Die Welt sieht rot: Zivilgesellschaft weiter unter Druck 11 2020 BfdW_AtlasDerZivilgesellschaft-Inhalt.indd 11 03.02.20 09:33
Teil 1 CIVICUS-Monitor: Zivilgesellschaft weltweit stärker unter Druck Das Jahr 2019 hat gezeigt, wie fragil staatliche Systeme sind, die auf Machtmissbrauch beruhen, mit Gewalt abgesichert sind und unantastbar erschienen. Sie wurden von ihren Bürgerinnen und Bürgern sowie zivilgesellschaftlichen Organisationen herausgefordert. Die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, die Klimakrise, Korruption, Kriege, soziale Unge- rechtigkeit oder schlicht der Wunsch nach Freiheit trieben die Menschen auf die Straße. Die Zivilgesellschaft zeigte, welche Kraft sie im Kampf um Demokratie und Menschenrechte haben kann. Und sie bewies Mut. In vielen Ländern der Welt ist es tödlich, sich gegen die Mächtigen zu stellen. In anderen drohen der Verlust des Arbeitsplatzes, körperliche Verlet- zungen oder Gefängnis. In sechs von zehn Staaten unterdrücken Regierungen friedliches zivilgesellschaftliches Engagement. Verstärkt wird dieser Trend durch den politischen Auf- stieg, den Populisten und Nationalisten seit einigen Jahren global erleben. Für eine aktive und selbstbewusste Zivilgesellschaft ist in ihren autoritären Systemen kein Platz. Besonders Frauen und zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für die Rechte von Frauen und LGBTI einsetzen, leiden darunter. 12 Atlas der Zivilgesellschaft 2020 2020 BfdW_AtlasDerZivilgesellschaft-Inhalt.indd 12 03.02.20 09:33
I m Sudan jagte das Volk 2019 den Diktator und Kriegs- 67% verbrecher Omar al-Bashir aus dem Amt. In Moskau gab es die größten Proteste seit dem Amtsantritt von Präsident Wladi- mir Putin im Jahr 2000. Weder Demonstrationsverbote noch Massenverhaftungen hielten seine Gegnerinnen und Geg- ner davon ab, für faire Wahlen auf die Straßen zu gehen. In der Welt- Hongkong legten Kundgebungen über Wochen das öffentliche bevölkerung leben in Staaten mit Leben lahm. Millionen Bewohnerinnen und Bewohner der Sonderverwaltungszone boten ihrer Regierung die Stirn, weil unterdrückten und geschlossenen sie wegen des wachsenden Einflusses Chinas um ihre Freiheit Gesellschaften. fürchteten. Auch in Ägypten, Chile, Ecuador, Irak, Iran, Liba- Das sind rund fünf Milliarden Menschen. non, Spanien und der Türkei gingen Menschen in Massen auf Nur 259 Millionen Menschen leben in Staaten die Straße. In Brasilien wehrten sich Arbeiterinnen und Arbei- mit offener Zivilgesellschaft. ter, LGBTI, Indigene und Umweltschützerinnen mit General- streiks und Massenprotesten gegen den rechtspopulistischen 3% Präsidenten Jair Bolsonaro. Im Mittelmeer retteten Aktivis- offen tinnen und Aktivisten Menschen aus Seenot, obwohl Italiens 259 Mio. Regierung dies mit aller Macht zu unterbinden versuchte. 14 % All diese Menschen engagierten sich unter großer Gefahr beeinträchtigt gegen soziale Ungerechtigkeit und Repression. Menschen- 1.080 Mio. und Bürgerrechte sollen sie bei ihren Protesten und Kämp- fen schützen, Institutionen sollen die Einhaltung dieser Rechte garantieren. Doch die Macht der Institutionen ero- diert und damit schrumpft der Freiraum für die Zivilgesell- 16 % schaft weltweit. Besonders häufig zu spüren bekommen dies beschränkt Frauen, Studierende, Journalistinnen und Journalisten, Ge- 1.203 Mio. werkschafterinnen und Gewerkschafter, Oppositionelle oder Umweltschützerinnen und -schützer ‒ kurzum alle, die für so- zialen Fortschritt eintreten. In Ländern wie Ägypten, Aserbai- dschan, Kuba oder China versuchen die Machthaber, die Zivil- 40 % gesellschaft fast vollständig zu unterdrücken. Aber auch in unterdrückt immer mehr Ländern, in denen demokratische Freiheiten seit 3.023 Mio. Langem als etabliert gelten, wie in Ungarn, Indien oder den USA, schrumpft der zivilgesellschaftliche Freiraum. Selbst in einigen der offensten Länder der Welt, etwa in Westeuropa, erodieren bürgerliche Freiheiten. Das ist ein Alarmsignal. Die jüngsten Daten des CIVICUS-Monitors zeigen, dass die Zivilgesellschaft in 153 von 196 Ländern schweren An- 27 % geschlossen griffen ausgesetzt ist. 2.027 Mio. Nur 259 Millionen Menschen (rund drei Prozent der Weltbe- völkerung) leben derzeit in den 43 Staaten, deren Regierungen die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit an- gemessen achten (CIVICUS-Kategorie 1, „offen“). Im Vorjahr waren es vier Prozent. Etwa jeder siebte Mensch (14 Prozent) lebt in einem der 42 Staaten, in denen der Civic Space „beein- Quelle: CIVICUS CIVICUS-Monitor 13 2020 BfdW_AtlasDerZivilgesellschaft-Inhalt.indd 13 03.02.20 09:33
Wie sich der CIVICUS-Monitor zusammensetzt Umfang Staaten zivilgesellschaftliche Freiheiten respektieren. Rund zwei Dutzend Analystinnen und Analysten bei Der zentrale Begriff dabei ist der Civic Space, der Freiraum für CIVICUS werten laufend Berichte von Hunderten die Zivilgesellschaft. CIVICUS beobachtet den Civic Space in lokalen Nichtregierungsorganisationen, mehr als 20 allen 193 Mitgliedsstaaten der UN sowie im Kosovo, in Paläs- internationalen Partnerorganisationen und öffent tina und Taiwan ‒ Province of China (offizielle UN-Bezeich- liche Quellen aus, die über Angriffe auf den Civic nung). Space berichten. Dabei handelt es sich meist um Als zivilgesellschaftliches Engagement wird jede Handlung regionale Netzwerke wie das West African Human verstanden, die jenseits von Staat, Wirtschaft und Privatem Rights Defenders Network, das Red Latinoameri liegt. Dieses Engagement schafft den öffentlichen politischen cana y del Caribe para la Democracia oder die Civil Raum, in dem Vereine, Initiativen und Non-Profit-Organisa- Liberties Union for Europe. Die Quellen werden in tionen aktiv sind. Diese können eine formelle Struktur haben einem standardisierten Verfahren evaluiert und die wie Nichtregierungsorganisationen (NGOs) oder Stiftungen. Ergebnisse von externen Expertinnen und Experten Sie können aber auch informell konstituiert sein wie viele so- geprüft. CIVICUS misst den Einschätzungen loka ziale Bewegungen. ler und regionaler Akteure dabei stärkere Bedeutung Die Zivilgesellschaft operiert zwar jenseits des Staats, sie bei als jenen internationaler Gremien. Daten staatli kann jedoch nur existieren, wenn der Staat individuelle und cher Stellen werden nicht berücksichtigt. Am Ende kollektive Freiheiten gewährt. Demokratische Staaten müssen steht ein Indexwert für jedes Land, der die zivilgesell den zivilgesellschaftlichen Akteuren also Versammlungs-, Ver- schaftlichen Handlungsmöglichkeiten beschreibt. einigungs- und Meinungsfreiheit garantieren. Darüber hinaus Theoretisch könnte auf dieser Basis eine Rangliste sollten Staaten zivilgesellschaftliches Engagement aktiv er- aufgestellt werden, wie sie etwa Reporter ohne Gren möglichen, indem sie die Mitwirkung der Zivilgesellschaft an zen für die Pressefreiheit erstellt. CIVICUS hat sich politischen Prozessen gewährleisten, zivilgesellschaftliches allerdings dagegen entschieden: Zu groß sind regio Handeln öffentlich wertschätzen und Verbrechen gegen Men- nale Besonderheiten und zu dynamisch die politi schenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger sowie zivilgesell- schen Prozesse, als dass ein numerischer Wert exakte schaftliche Akteure strafrechtlich verfolgen. Aussagekraft beanspruchen könnte. Die Staaten wer Der Non-Profit-Sektor, zu dem alle zivilgesellschaftlichen den stattdessen in fünf Gruppen eingeteilt: Länder, Gruppen zählen, sollte freiwilliges Engagement als Teil seiner in denen der Raum für zivilgesellschaftliches Han Arbeit begreifen und offen für selbstorganisierte bürgerschaft- deln „offen“ (Indexwert 100 bis 81), „beeinträchtigt“ liche Gruppierungen sein. Die Zivilgesellschaft ist die Sum- (80 bis 61), „beschränkt“ (60 bis 41), „unterdrückt“ me aus einer politischen Kultur, die für die Werte Toleranz, (21 bis 40) oder „geschlossen“ (20 bis 0) ist. Menschlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und Pluralität steht, aus einem politischen Raum, der diese Kultur ermöglicht, und aus den in diesem Raum handelnden Menschen. Schrumpft der Handlungsspielraum, ist die Zivilgesellschaft in Gefahr. trächtigt“ ist (CIVICUS-Kategorie 2). 49 Staaten „beschränken“ nach den CIVICUS-Daten die Zivilgesellschaft (CIVICUS-Ka- Die Lage in Europa tegorie 3). Sie haben 1,2 Milliarden Einwohnerinnen und Ein- wohner, das ist weltweit etwas mehr als jeder sechste Mensch. Einschränkungen des Freiraums für die Zivilgesellschaft sind Weitere drei Milliarden Menschen lebten 2019 in 38 Staaten, längst auch in Europa spürbar: Nur rund ein Drittel der etwa die die Freiheitsrechte „unterdrücken“ (CIVICUS-Kategorie 4), 511 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger (167 Millionen) das sind knapp 40 Prozent der Weltbevölkerung. Keinerlei leben 2019 in den 14 EU-Staaten, die uneingeschränkte Frei- Freiheitsrechte haben nach Einschätzung von CIVICUS zwei heiten gewährten. Rund zwei Drittel (334 Millionen) hingegen Milliarden Menschen und damit rund 27 Prozent der Weltbe- sind Bürgerinnen und Bürger der 13 EU-Staaten, deren Civic völkerung. Sie sind Bürgerinnen und Bürger der 24 Staaten, Space „beeinträchtigt“ war. Die wachsende Zustimmung für in denen der Handlungsspielraum für zivilgesellschaftliches autoritäre, rechtspopulistische Parteien wirkt sich hier unmit- Handeln „geschlossen“ ist. telbar auf die Zivilgesellschaft aus. Die knapp zehn Millio Der Atlas der Zivilgesellschaft basiert auf den Daten des nen Einwohnerinnen und Einwohner Ungarns müssen laut CIVICUS-Monitors, einer fortwährend aktualisierten Online- CIVICUS weiterhin Einschränkungen ihrer zivilgesellschaft- Dokumentation von Berichten über Beeinträchtigungen und lichen Handlungsspielräume fürchten. Ungarn fiel erneut in Angriffe auf den Civic Space weltweit. Der CIVICUS-Monitor die CIVICUS-Kategorie der Länder, in denen die Regierung dokumentiert als globale Forschungskooperation, in welchem die Zivilgesellschaft „beschränkt“. 14 Atlas der Zivilgesellschaft 2020 2020 BfdW_AtlasDerZivilgesellschaft-Inhalt.indd 14 03.02.20 09:33
Veränderungen im Ranking gegenüber dem Vorjahr In die Gruppe der europäischen Staaten mit „beschränktem“ Weltweit hat sich über das Jahr 2019 im CIVICUS-Monitor das Civic Space stieg 2019 Serbien ab. Seit Dezember 2018 protes- Ranking verschiedener Staaten verändert. Besonders schwer tieren in Serbien Menschen gegen den Staatschef Aleksandar wiegt im Vergleich zum Vorjahr die Herabstufung der bevöl- Vučić. Sie werfen ihm Korruption und die Einschränkung der kerungsreichen Staaten Indien und Nigeria. Medienfreiheit vor. Als Reaktion darauf nehmen Hass und Der Handlungsspielraum für die Zivilgesellschaft in Indien ‒ Schmähkampagnen gegen Journalistinnen und Journalis- der größten Demokratie der Erde ‒ war von CIVICUS im Vor- ten zu, Vučić bezeichnet kritische Berichterstatterinnen und jahr noch als „beschränkt“ eingestuft worden. Mit den Wah- Berichterstatter als „Lügner“ oder „Spione“. Auf den Investi- len im Mai 2019 festigte die hindunationalistische Bharatiya gativ-Reporter Milan Jovanović wurden mehrere Anschläge Janata Party (BJP) von Premierminister Narendra Modi ihre verübt. Auch zivilgesellschaftliche Organisationen werden Macht. Seither wurden unter anderem die Häuser und Büros zunehmend diffamiert. So bezeichnete Vučić 2019 unter ande- bekannter indischer Menschenrechtsverteidigerinnen und An- rem zwei zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich mit wälte durchsucht. Die Regierung hat die Kommunikation per Wahlbeobachtung und Good Governance beschäftigen, als SMS und Messenger-Diensten in den Provinzen Jammu und „Lügner“ und „Betrügerorganisationen“. Kaschmir eingeschränkt sowie politische Führer in der um- Italien zählt zu den weltweit 44 Staaten mit als „beeinträch- kämpften Region verhaftet. CIVICUS stuft den Handlungs- tigt“ eingestuftem Civic Space. Die einjährige Regierungsbe- spielraum für die Zivilgesellschaft deshalb aktuell als „unter- teiligung der rechten Lega ab Sommer 2018 hat die Gesell- drückt“ ein. schaft polarisiert. Die Repressalien gegen Nichtregierungs- Ebenfalls von „beschränkt“ zu „unterdrückt“ abgewertet wur- organisationen weiteten sich aus und richteten sich vor allem de Nigeria. In einer Stellungnahme vom März 2019 vor den gegen Gruppen und Einzelpersonen, die sich für Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten einsetzen. Gegen diese gin- gen italienische Polizei und Justiz auch mit Instrumenten der Strafverfolgung vor. Journalistinnen und Journalisten sowie Grundfreiheiten weltweit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wurden beispiels- In drei von vier Staaten der Erde ergreift die Regie- weise daran gehindert, über die Situation in den Aufnahme- rung Maßnahmen gegen Journalist*innen, Menschen- zentren zu berichten. rechtsverteidiger*innen und andere Aktivist*innen. Auch Österreich wird von CIVICUS als „beeinträchtigt“ ein- gestuft. Die 16 Monate währende Koalition zwischen konser- vativer ÖVP und rechtspopulistischer FPÖ ab Dezember 2017 hatte sich in vielen Bereichen geweigert, mit der Zivilgesell- 12,2 % schaft in den Dialog zu treten. Unter anderem drängte sie geschlossen Umweltschutzorganisationen aus den Verfahren zur Prüfung 24 Staaten der Umweltverträglichkeit großer Bauvorhaben. Auch die Mei- 22,0 % nungsfreiheit ist in Österreich unter Beschuss geraten. Laut offen CIVICUS haben Minister Journalistinnen und Journalisten 43 Staaten verunglimpft und „besorgniserregende Schritte“ zur Schwä- chung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks eingeleitet. Malta ist 2019 in die Kategorie „beeinträchtigt“ abgestiegen. 19,4 % Hier wurde im Jahr 2017 die Investigativ-Journalistin Daphne unterdrückt Caruana Galizia von Unbekannten mit einer Autobombe getö- 38 Staaten tet. Sie berichtete über Korruption in den Reihen der Regie- rung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Joseph Muscat. Zuletzt hatte Caruana Galizia zu den Panama Papers recherchiert und herausgefunden, dass Mitarbeitende des Prä- sidenten Briefkastenfirmen in Panama unterhalten. Zivilge- 25,0 % 21,4 % sellschaftliche Organisationen und ihre Angehörigen werfen beschränkt beeinträchtigt der Regierung vor, auch im Jahr 2019 noch keine ausreichen- 49 Staaten 42 Staaten den Schritte zur Aufklärung des Falls unternommen zu haben, sondern ihn zu vertuschen. Die Aussage eines am Mord betei- Berechnung nach Staaten, ligten Mittelsmanns nährte Ende 2019 den Verdacht, dass 196 Staaten = 100 % möglicherweise Regierungsmitglieder in den Auftragsmord verwickelt sind. Quelle: CIVICUS (2019): People Power Under Attack. CIVICUS-Monitor 15 2020 BfdW_AtlasDerZivilgesellschaft-Inhalt.indd 15 03.02.20 09:33
zur Einschränkung des zivilgesellschaftlichen Handlungs- spielraums einzuführen, und äußert sich in verschiedenen Statements immer wieder negativ über zivilgesellschaftliche Organisationen. Vereinten Nationen kritisierten CIVICUS und das Nigeria Auch die Dominikanische Republik verbesserte sich nach Network of NGOs, dass es weiterhin „Verhaftungen und Schi- dem CIVICUS-Ranking in die Kategorie der Staaten mit „be- kanen von Menschenrechtsaktivisten“ in Nigeria gäbe. So sei einträchtigtem“ Civic Space. Zweimal bekamen im Jahr 2019 beispielsweise Maryam Awaisu, eine der Führerinnen der zivilgesellschaftliche Organisationen von dem Verfassungs- Bewegung #ArewaMeToo, im Februar 2019 in ihrem Büro ver- gericht ihres Landes Recht, als sie gegen vermeintliche Ver- haftet worden. Im Januar 2019 seien außerdem die Büros der leumdungsgesetze der Regierung klagten. Die Gesetze wür- Herausgeber der „Daily Trust“-Zeitungen von Soldaten über- den die Meinungsfreiheit einschränken und seien ein Verstoß fallen und Journalistinnen und Journalisten verhaftet wor- gegen die Verfassung, so das Gericht. Zudem zeigten die Pro- den. Die nigerianische Regierung ergreife kaum Maßnahmen, teste gegen eine Verfassungsänderung, die Präsident Danilo um die „anhaltenden Schikanen gegen die Presse und die Or- Medina eine dritte Amtszeit ermöglicht hätte, dass die in der ganisationen der Zivilgesellschaft“ zu unterbinden, heißt es in Dominikanischen Republik lebenden Menschen in der Lage der Stellungnahme. Zudem sei ein Gesetz in Planung, um die sind, zu Protesten zu mobilisieren und friedlich zu demons Freiheiten von NGOs einzuschränken. trieren. Verbessert hat sich die Lage in der Republik Moldau und der Dominikanischen Republik. Die Republik Moldau stieg aus Formen der Repression der CIVICUS-Kategorie „beschränkt“ in „beeinträchtigt“ auf. Doch nach wie vor bleiben die Herausforderungen für die 536 Meldungen über Angriffe auf zivilgesellschaftliche Tätig- Zivilgesellschaft hier groß. Die Regierung versucht, Gesetze keiten zwischen 1. Oktober 2018 und 11. November 2019 hat CIVICUS ausgewertet. Die Auswahl dieser Meldungen und Berichte ist nicht repräsentativ, sie zeigt aber klare Muster politischer Repression, und zwar relativ unabhängig von Welt- Veränderungen im Rating region und politischer Ausrichtung der jeweiligen Regierung. Länder, die von November 2018 bis November 2019 Am häufigsten (33 Prozent aller untersuchten Fälle) war dem- die Kategorie gewechselt haben. nach die staatliche Zensur. Am 23. September 2019 etwa ver- urteilte ein Gericht in N’Djamena, der Hauptstadt der Re- Verbesserung publik Tschad, den Journalisten Martin Inoua Doulguet zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und einer hohen Geld- Beeinträchtigt: Dominikanische Republik, strafe von zwei Millionen CFA-Francs (umgerechnet etwa Republik Moldau 3.000 Euro). Doulguet und ein weiterer ebenfalls inhaftier- ter Journalist wurden unter anderem verfolgt, weil sie berich- Verschlechterung tet hatten, dass gegen den ehemaligen Gesundheitsminister des Landes eine Beschwerde wegen eines sexuellen Übergriffs Beeinträchtigt: Australien, Malta vorlag. Beschränkt: Komoren, Serbien Wenn Staaten freie Medien zensieren oder gar schließen, neh- men sie oft auch die sozialen Medien ins Visier. Teils werden Unterdrückt: Brunei, Indien, Nigeria, Madagaskar Menschen verfolgt, die dort abseits der staatlich kontrollier- Geschlossen: Djibouti ten Medien über Korruption oder staatliche Gewalt zu berich- ten versuchen, teils werden die Kanäle komplett gesperrt. Auf- fällig ist, dass Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten 16 Atlas der Zivilgesellschaft 2020 2020 BfdW_AtlasDerZivilgesellschaft-Inhalt.indd 16 03.02.20 09:33
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