Amt und Gemeinde - Evangelische Kirche in Österreich
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Amt und Gemeinde 64. Jahrgang, Heft 4, 2014 € 6,– Melange: Praktische Theologie / Kirchengeschichte Spiritualität – ein weites Feld. Grundlegende Überlegungen Peter Zimmerling 287 Zum Gedenken an Ernst Lange Wilfried Engemann 329 Die Evangelischen Kirchen auf dem Weg zum Jahr 2017 Michael Bünker 332 Neuneinhalb Thesen über ein zeitgemäßes Verstehen Martin Luthers Heinz Schilling 335 Geschichte und Gegenwart der Reformationsforschung mit Ausblick auf das Reformationsjubiläum 2017 343 Gergely Csukás Die Kunst des Möglichen. Bibelarbeit zu 1. Timotheus 2,1-6 356 Christoph Weist Und weitere Beiträge Evangelischer Presseverband Herausgeber: Bischof Michael Bünker
INHALT Editorial .................................................................................................. 285 Karl W. Schwarz Spiritualität – ein weites Feld. Grundlegende Überlegungen ................. 287 Peter Zimmerling Beichte ................................................................................................... 301 Peter Zimmerling Unterwegs zu einem seelsorgerlichen Gottesdienst. Sieben Kriterien ...................................................................................... 313 Peter Zimmerling Zum Gedenken an Ernst Lange. Windhaag bei Freistadt am 10. Juli 2014 ............................................... 326 Zum Gedenken an Ernst Lange ............................................................. 329 Wilfried Engemann Die Evangelischen Kirchen auf dem Weg zum Jahr 2017 ...................... 332 Michael Bünker Neuneinhalb Thesen über ein zeitgemäßes Verstehen Martin Luthers... 335 Heinz Schilling Geschichte und Gegenwart der Reformationsforschung mit Ausblick auf das Reformationsjubiläum 2017................................... 343 Gergely Csukás Die Kunst des Möglichen. Bibelarbeit zu 1. Timotheus 2,1-6................. 356 Christoph Weist
Anhang Amt und Gemeinde, 64. Jahrgang – Jahresregister 2014....................... 363 AutorInnen .............................................................................................. 366 Impressum .............................................................................................. 366
MELANGE: PRAKTISCHE THEOLOGIE / KIRCHENGESCHICHTE Editorial D as letzte Heft des Jahrgangs 2014 von Amt und Gemeinde bietet eine Melange aus Praktischer Theologie und Harlem Protestant Parish) in sein Lehr programm an der Kirchlichen Hochschule in Berlin und im Ökumenischen Rat der Kirchengeschichte. Es dokumentiert ei Kirchen in Genf. An sein Laienspiel „Hal nerseits drei Vorträge des Leipziger Prak leluja, Billy“ sei ausdrücklich hingewie tischen Theologen Peter Zimmerling im sen, weil es auch in den Gemeinden in Rahmen der Gesamtösterreichischen Österreich aufgeführt wurde. Lektorentagung im Mai 2014 in Schloss Den kirchengeschichtlichen Schwer Seggau in der Steiermark über Spiri punkt gestalten Bischof Michael Bünker, tualität, Beichte und die seelsorgerliche dessen Ansprache beim Reformations Dimension des Gottesdienstes, anderer empfang den Weg unserer Kirche hin zum seits eine Veranstaltung zum Gedenken Jahr 2017 und durch die Reformations an den Berliner Homiletiker Ernst Lange dekade durch buchstabierte – und dies (1927–1974) in Windhaag bei Freistadt im wörtlichen Sinn, sowie der Berliner am 10. Juli 2014, der vor vierzig Jah Reformationshistoriker Heinz Schilling ren im Mühlviertel den Freitod wählte. im Rahmen einer Podiumsdiskussion, die Sein Wiener Kollege Wilfried Engemann von der Deutschen Botschaft in Wien am würdigte dessen Bemühungen um eine 2. Dezember 2014 veranstaltet wurde, neue Theorie der kirchlichen Praxis. Be schließlich der zur Zeit an der Universi kannt geworden ist sein Programm der tät in Bern wirkende Absolvent unserer „Ladenkirche“ am Brunsbütteler Damm Wiener Fakultät Gergely Csukás, der dan 17 in Berlin-Spandau Anfang der 60er- kenswerterweise für Amt und Gemeinde Jahre des vergangenen Jahrhunderts und einen weit ausholenden Überblick über sein kompromissloser Einsatz für Diet den Stand der Reformationsforschung rich Bonhoeffer, dessen Ekklesiologie verfasste. Zu Heinz Schilling sei hier („Kirche für andere“) er praktisch-theo noch nachgetragen, dass er Vorsitzender logisch umzusetzen versuchte. In der öku des Vereins für Reformationsgeschichte menischen Bewegung seit ihren Anfän und Herausgeber des Archivs für Refor gen (Evanston 1954) engagiert, brachte mationsgeschichte ist und 2012 eine viel- er auch Erfahrungen aus Amerika (East beachtete Biographie Martin Luthers Amt und Gemeinde 285
publizierte: Heinz Schilling, Martin Mit dieser Melange grüßt die Redaktion Luther – Rebell in einer Zeit des Um- von Amt und Gemeinde zum Neuen Jahr, bruchs, München: Beck 2012. insbesondere den langjährigen Chefredak Den Abschluss bildet eine Bibelarbeit teur Prof. Gottfried Adam, der am 1. De zu 1. Tim. 2,1-6 von Christoph Weist, die zember 2014 seinen 75. Geburtstag feiern er auf der Tagung „Reformation und Tole konnte. Mit großer Verspätung gratulie ranz“ des Evangelischen Bundes am 22. ren wir und wünschen Ad multos annos! März 2014 in Linz hielt. Karl Schwarz 286 Amt und Gemeinde
MELANGE: PRAKTISCHE THEOLOGIE / KIRCHENGESCHICHTE Spiritualität – ein weites Feld. Grundlegende Überlegungen Der lutherische Theologe Peter Zimmerling, Professor für Prak tische Theologie in Leipzig untersucht das aufgeflammte Interesse an Spiritualität vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Ent kirchlichung und Säkularisierung. Seine Überlegungen setzen mit einer Begriffsdefinition ein. Es folgen zwei exemplarische Einblicke in die Grundlagen evangelischer und katholischer Spiritualität. Im Anschluss daran wird das weite Feld spiritueller Erscheinungsformen heute abgeschritten. Dann sollen Kriterien christlicher Spiritualität entfaltet werden. Ein Ausblick benennt Entwicklungspotenziale zukünftiger Spiritualität. Von Peter Zimmerling Amt und Gemeinde 287
Seit einiger Zeit lässt sich in unserer Ge er im Gegensatz zu diesem nicht bloß sellschaft ein neues Interesse an Spiritu Frömmigkeitsübung und Lebensgestal alität erkennen.1 Manche sprechen sogar tung meint, sondern beides mit dem Glau von einem „Megatrend Spiritualität“,2 ben verbindet. Von evangelischen Theolo ohne dass bisher Einigkeit darüber be gen wurde anfangs auf seine theologische steht, in welchem Verhältnis dieser Trend Problematik aufmerksam gemacht: Dem zur fortschreitenden Entkirchlichung und Begriff wohne eine Tendenz zur Abschwä Säkularisierung steht. Die folgenden Aus chung der Botschaft von der Rechtferti führungen wollen die unübersichtliche gung allein aus Gnaden inne, weil durch Situation aus theologischer Sicht beleuch ihn die Praxis des Glaubens und damit ten, wobei ich diese als lutherischer Theo das menschliche Handeln leicht in den loge primär in evangelischer Perspektive Vordergrund gerate.5 Trotz dieser Beden wahrnehme. ken begann seit der 5. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Nairobi 1975 der unaufhaltsame Sie 1. Zum Begriff geszug des Begriffs „Spiritualität“ auch „Spiritualität“ im Raum der evangelischen Kirchen. Im Schlusskommuniqué der Vollversamm Der Begriff „Spiritualität“ ist ein Contai lung hieß es: „Wir sehnen uns nach einer nerbegriff. Er hat etwas merkwürdig Un neuen Spiritualität, die unser Planen, Den bestimmtes an sich.3 Wer ihn verwendet, ken und Handeln durchdringt.“6 Damit sollte deshalb sagen, was er darunter ver war der Boden bereitet für die Verknüp steht. Ursprünglich stammt er aus der ka fung des bis dahin in der ökumenischen tholischen Ordenstheologie Frankreichs.4 Bewegung vorherrschenden politischen Vom protestantischen Begriff „Frömmig Engagements mit dem Streben nach Er keit“ unterscheidet er sich dadurch, dass neuerung der Spiritualität. In Deutsch land wurde der Begriff durch die Ende 1 Peter Zimmerling, Spiritualität – ein weites Feld. Grundlegende Überlegungen, in: Bärbel Husmann/ Roland Biewald (Hg.). Spiritualität. Impulse zur Reflexion religiöser Praxis im Religionsunterricht, 5 Vgl. dazu: Evangelische Spiritualität. Überlegungen Themenhefte Religion 11, Leipzig 2013, 7–15). Eine und Anstöße zu einer Neuorientierung, vorgelegt von ausführliche Form der folgenden Überlegungen habe einer Arbeitsgruppe der Evangelischen Kirche in ich vorgetragen in: Peter Zimmerling, Evangelische Deutschland, hg. von der Kirchenkanzlei im Auftrag Spiritualität. Wurzeln und Zugänge, 2. Auflage, des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 2010. 2. Auflage, Gütersloh 1980, 11; Barth, Spiritualität, 14. 2 Paul M. Zulehner, Megatrend Religion, in: Die Stimmen der Zeit, 2003, 87–96. 6 Harald Krüger/Walter Müller-Römheld (Hg.), Bericht aus Nairobi 1975. Ergebnisse, Erlebnisse, 3 Hans-Martin Barth z. B. stellt im Hinblick auf den Ereignisse. Offizieller Bericht der Fünften Vollver Begriff „Spiritualität“ fest: „In der einschlägigen sammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen. 23. Literatur wird allenthalben beklagt, der Begriff […] Nov. bis 10. Dez. 1975 in Nairobi/Kenia, 2. Auflage, habe etwas Schillerndes“ (ders., Spiritualität [Bens Frankfurt a.M. 1976, 1, hier wird „spirituality“ noch heimer Hefte 74, Ökumenische Studienhefte 2], 11). mit „Frömmigkeit“ übersetzt; anders bereits 321ff, 4 Vgl. hier und im Folgenden a. a. O., 10 ff. dem Bericht über den Workshop „Spiritualität“. 288 Amt und Gemeinde
der 1970er-Jahre erschienene EKD-Stu mit bezeichneten Phänomenen näher zu die „Evangelische Spiritualität“ kirchlich beschäftigen. anerkannt.7 Mit ihr vollzog die evangeli Ich verstehe im Folgenden unter Spiri sche Kirche einen Paradigmenwechsel: tualität den äußere Gestalt gewinnenden Sie nahm das Problem der Spiritualität gelebten Glauben,10 wobei der Begriff als eine für das Christsein in der moder drei Aspekte, nämlich rechtfertigenden nen Welt wesentliche Fragestellung auf. Glauben, Frömmigkeitsübung und Le Der Begriff „Spiritualität“ besitzt ge bensgestaltung miteinander verbindet. genüber „Frömmigkeit“, „Religiosität“ Evangelische, d. h. vom Evangelium ge und „Glaube“ verschiedene Vorteile: Er prägte Spiritualität wird dabei durch den ist im Bereich der gesamten Ökumene Rechtfertigungsglauben sowohl motiviert verständlich; er verweist auf eine Viel als auch begrenzt: Einerseits befreit die zahl und Vielfalt von Spiritualitäten;8 er Erfahrung der Rechtfertigung allein aus bringt das in der abendländischen Theo Gnaden (sola gratia) dazu, den Glauben logie lange ungenügend berücksichtigte in immer neuen Formen einzuüben und Wirken des Geistes neu zu Bewusstsein;9 in der alltäglichen Lebensgestaltung zu der Aspekt der Gestaltwerdung macht bewähren, andererseits bewahrt sie davor, deutlich, dass die soziale Dimension zum das eigene spirituelle und ethische Streben Glauben untrennbar dazugehört. Last not zu überschätzen. least spricht für die Verwendung des Be griffs „Spiritualität“, dass er im Gegensatz zu den traditionellen Begriffen „Fröm 2. Exemplarische Einblicke migkeit“, „Religiosität“ und „Glaube“ in die Grundlagen für junge und ältere Menschen, auch für evangelischer und solche, die dem christlichen Glauben katholischer Spiritualität fern stehen, einen positiven Klang be sitzt. Während viele Menschen in einer 2.1 Charakteristika reforma postchristlichen Gesellschaft meinen, mit torischer Spiritualität dem altbekannten Christentum fertig zu sein, weist der Begriff „Spiritualität“ auf Reformatorische Spiritualität zeichnet Unbekanntes. Gerade seine Vagheit macht sich durch eine doppelte Bewegung aus, neugierig, verlockt dazu, sich mit den da die sich zugleich als gegenläufig darstellt. Einmal verläuft diese Bewegung in Rich 7 Evangelische Spiritualität, 54. tung auf Konzentration, zum anderen in 8 Erwin Fahlbusch u. a., Art. Spiritualität, in: Evangeli Richtung auf Grenzüberschreitung, wobei sches Kirchenlexikon, hg. von ders. u. a., 3. Auflage, Bd. 4, Göttingen 1996, 402–419; Karl-Friedrich Wiggermann, Art. Spiritualität, in: TRE, Bd. 31, Berlin/New York, 708–717. 9 Vgl. dazu im Einzelnen Peter Zimmerling, Charisma 10 Ich knüpfe hier an die Definition der EKD-Studie an: tische Bewegungen, Göttingen 2009, 29–33. Evangelische Spiritualität, 12. Amt und Gemeinde 289
beide Bewegungen von Jesus Christus her ist reformatorische Spiritualität durch eine begründet werden. Konzentration auf den individuellen Glau Schon das solus Christus (allein Chris ben bestimmt (sola fide). Das reforma tus) der reformatorischen Spiritualität torische Glaubensverständnis zeichnet zeigt, dass sie in einem im Vergleich mit sich durch einen vorher höchstens in der der übrigen Kirchen- und Theologiege Mystik gekannten Gewissheits-, Intensi schichte außergewöhnlichen Maße auf täts- und Subjektivitätsgrad aus. Inhaltlich Jesus Christus ausgerichtet ist. Das wird ist Glauben als ein Sich-Halten an den besonders an Martin Luther deutlich: Zeit gekreuzigten und auferstandenen Jesus seines Lebens bleibt seine Spiritualität Christus zu verstehen. zunächst und vor allem von der persön Die grenzüberschreitende Bewegung lichen Gegenwart des auferstandenen reformatorischer Spiritualität zeigt sich Jesus von Nazareth geprägt. In ihm ist in doppelter Hinsicht. Sie ist demokra Gott dem Menschen unüberbietbar nahe tisch, also eine Spiritualität für jedermann gekommen. Darum ist das Grunddatum und jedefrau, indem sie die Spiritualität lutherischer Spiritualität die Inkarnation, aus der Usurpation durch religiöse Eliten die Geburt des Sohnes Gottes als Kind in befreit. Die Freiheitsgeschichte des mo der Krippe von Bethlehem, die an Weih dernen Europa ist ohne diesen Vorgang nachten gefeiert wird. In ihm zeigt Gott nicht denkbar. Sie ist alltagsverträglich, dem Menschen sein liebendes Angesicht. indem sie die Grenzen zwischen Sonntag Martin Luther ist der erste neuzeitliche und Alltag und damit zwischen heilig und „Weihnachts-Christ“. Reformatorische profan relativiert. Die Alltagsverträglich Spiritualität ist zweitens Bibelfrömmig keit reformatorischer Spiritualität wird keit (sola scriptura). Luther gewann durch konkret in der Betonung von Familie, Be das Studium der Schrift sein neues Ver ruf und Gesellschaft als deren Verwirkli ständnis des Evangeliums. Daraus schloss chungsfelder. Voraussetzung dafür ist die er, dass jeder Mensch selbstständig aus Erkenntnis, dass Christus selbst mir im der Bibel den Willen Gottes für sein Le Nächsten begegnet. „Wo kannst du ihn ben erfahren kann, wodurch der Glaube aber finden denn in deinem Bruder?“11 des Einzelnen unabhängig von kirchli Glaube wird gelebt, wenn Menschen ei chen Vermittlungsinstanzen wird. Refor nander zum Christus werden. Dadurch matorische Spiritualität ist drittens von wird sowohl der Einsatz für das Wohl des der Konzentration auf die Rechtfertigung Nächsten in der Familie als auch in der sola gratia (allein aus Gnaden) geprägt. Gesellschaft zum Dienst für Christus, zum Luther entdeckte neu, dass Gottes Ge Gottesdienst. rechtigkeit nicht als dessen – unerfüll bare – Forderung an den Menschen zu verstehen ist, sondern Gottes aus freier 11 WA 15, 488, 30, zit. nach Paul Althaus, Die Theolo Gnade gewährtes Geschenk ist. Viertens gie Martin Luthers, Gütersloh 1962, 274. 290 Amt und Gemeinde
2.2 Ignatianische Exerzitien Erholung und dürfen nicht mit anderen als zentrale Form römisch- Beschäftigungen gefüllt werden. Zu den katholischer Spiritualität Einzelexerzitien gehört ein ungefähr halb- bzw. dreiviertelstündiges Gespräch pro Die Einzelexerzitien, die auf den Grün Tag, in dem der Exerzitant dem Begleiter der des Jesuitenordens Ignatius von Einblick in seine Erfahrungen gewährt. Loyola (1491–1556) zurückgehen, sind Das ermöglicht dem Exerzitienbegleiter, bis heute das spirituelle Kraftreservoir inhaltliche und methodische Hinweise für der katholischen Kirche. Sie werden von den nächsten Tag zu geben. Die Gruppe vielen Priestern, Ordensleuten und en der anderen Exerzitanten bleibt – soweit gagierten Laien regelmäßig absolviert. vorhanden – im Hintergrund. Standen früher die „Vortragsexerzitien“ Eine Voraussetzung, um an Einzele im Vordergrund, sind es seit der Mitte xerzitien teilnehmen zu können, ist ein des 20. Jahrhunderts wieder die beglei geregeltes persönliches spirituelles Leben, teten Einzelexerzitien, in denen jeder wozu Erfahrungen mit Gebet und Medi Exerzitant für sich persönlich spirituelle tation gehören. Eine weitere Bedingung Erfahrungen machen kann. Dadurch soll ist eine normale psychische Belastbarkeit. eine Vertiefung des persönlichen Glau Den Einzelexerzitien geht ein Vorgespräch bens und eine Veränderung des Lebens zwischen Exerzitant und Exerzitienbe zur größeren Ehre Gottes erreicht werden. gleiter voraus, das der Klärung dient, ob Den Ignatianischen Exerzitien liegt das zwischen ihnen ein Vertrauensverhältnis Werkbuch des Ignatius für Exerzitienbe entstehen kann. gleiter „Geistliche Übungen“ zugrunde.12 Eine Reihe von Gründen macht Exerzi In dem zwischen 1522–35 entstandenen tien auch heute noch zu einer hilfreichen Buch hat Ignatius persönliche spirituelle spirituellen Übung. Angesichts zuneh Erfahrungen und seine aufgrund geistli mender Individualisierung ist der Exerzi cher Begleitung gewonnenen Erkennt tienbegleiter eine Hilfe zur Entwicklung nisse zusammengefasst. Die Exerzitien der eigenen Spiritualität. Er weist einer können von drei Tagen bis vier Wochen seits Züge eines Seelsorgers, andererseits dauern. Bewährt hat sich ein Zeitraum von – mehr noch – die eines Coachs auf. Er soll acht Tagen. Der Exerzitant verbringt die sich nach dem Willen des Ignatius nicht ganze Zeit in der Stille, ohne mit ande als Wegweiser, sondern als Wegbegleiter ren zu reden, betet bzw. meditiert täglich verstehen. Ziel ist, „dass der Schöpfer mehrere Stunden. Die Zeit zwischen den und Herr sich selbst seiner [des Exerzi Gebets- und Meditationszeiten dienen der tanten] Seele mitteilt“ (ExB 15). Damit ist zum einen dem modernen Bedürfnis 12 Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen, aus dem nach persönlicher Freiheit Rechnung ge Span. übertr., mit Erkl. von Adolf Haas, Freiburg/ Basel/Wien 1999. Die folgenden Nachweise im Text tragen, zum anderen entspricht das täg beziehen sich auf dieses Buch. liche Gesprächsangebot des Exerzitien Amt und Gemeinde 291
begleiters der zunehmenden Sehnsucht 3. Zur spirituellen Situation nach persönlich-seelsorgerlicher Aus heute14 sprache. Positiv ist auch, dass der Exer zitant während der Exerzitien ganzheitlich 3.1 Zwischen „Megatrend angesprochen wird. Einerseits soll er in Spiritualität“ und Zunahme den Meditationszeiten über sein bisheriges der Konfessionslosigkeit Leben nachdenken. Andererseits geht es darum, biblische Texte zu imaginieren, Die spirituelle Situation stellt sich in also nicht bloß mit dem Verstand zu er Deutschland regional, aber auch milieu- fassen. Es geht darum, den Affekten, der und altersspezifisch sehr unterschiedlich Emotionalität und der Körperlichkeit dar. Auf der einen Seite ereignet sich eine Raum zu geben und ihnen nachzuspü spirituelle und religiöse Renaissance. Sie ren. Der Exerzitant soll auf diese Weise zeigt sich vor allem im Bereich der Esote Zugang zu einer erfahrungsbezogenen rik, des Fundamentalismus und der Cha Spiritualität finden. Auch das Ziel der Ex rismatik. Dazu kommt ein zunehmendes erzitien, zur Verhaltensänderung anzu Interesse an fernöstlichen Religionen und leiten, zeigt, dass es sich um spirituelle die immer deutlichere Präsenz des Islam Übungen handelt, die den Menschen in in unserer Gesellschaft. Während es Ende seiner Ganzheit ansprechen wollen. der 1960er Jahre ungefähr 60 000 türki Im Rahmen der evangelischen Spiri sche Muslime in Westdeutschland gab, tualität gab es lange Zeit kein Angebot, sind es heute etwa 2, 7 Millionen. Darü das den Exerzitien entsprochen hätte. Da ber hinaus ereignet sich seit einigen Jah durch fehlte der evangelischen Tradition ren eine „Dispersion des Religiösen“15 ein wichtiges spirituelles Hilfsmittel. Seit vor allem im Bereich des Konsums und einigen Jahren sind Exerzitien auch von der Freizeitkultur. Im Zusammenhang mit evangelischen Christen entdeckt worden.13 der Werbung tauchen religiöse Elemente Inzwischen bieten z. B. Kommunitäten an Orten auf, wo man sie nicht vermutet evangelische Exerzitien an. hätte. „Eternity“ – Ewigkeit nennt Calvin Klein sein Parfum. Ikonengleich schaut ein Paar auf dem dazugehörenden Wer beplakat auf den Betrachter. Das Verspre chen, durch den Genuss eines Produktes – wie Zigaretten – besondere Sinnerleb 14 Vgl. dazu im Einzelnen: Panorama der neuen Reli giosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Beginn 13 Vgl. hier und im Folgenden Gerhard Münderlein, des 21. Jahrhunderts, hg. von Reinhard Hempelmann Aspekte therapeutischer Methoden in den Exerzitien, u. a., Gütersloh 2005. in: ders. (Hg.), Aufmerksame Wege. Erfahrungen 15 Michael N. Ebertz, Erosion der Gnadenanstalt? Zum evangelischer Christen mit den Exerzitien des Ignati Wandel der Sozialgestalt der Kirche, Frankfurt am us von Loyola, München 1999, 115–129. Main 1998, 155 ff. 292 Amt und Gemeinde
nisse machen zu können, weckt religi desländer, aber auch für die großstädti öse Assoziationen. Produkte werden zu sche jüngere und gebildete Bevölkerung Garanten von Lebensgewissheiten und in Deutschland insgesamt. -wahrheiten. Der Filmpalast wird zum Kultkino, das Rockkonzert zum Ort, wo 3.2 Weihnachtsspiritualität Ekstasen erlebt und Idole verehrt werden. Zu Kunstausstellungen werden Massen Volkskirchliche Spiritualität ist Weih wallfahrten unternommen, wie in früheren nachtsspiritualität.18 Das belegen pro Zeiten zu den Gnadenbildern und Reli zentual steigende Gottesdienstteilneh quien der Kirche. merzahlen an Heilig Abend (zwischen Auf der anderen Seite lässt sich ein 25 und 30 % der evangelischen Kir zunehmender Entkirchlichungs- und Ent chenmitglieder). Der Wochenrhythmus christlichungsprozess beobachten, für den des Kirchgangs hat sich für die meisten es in anderen Weltgegenden keine Paral Kirchenmitglieder zum Jahresrhythmus lelen gibt. Der amerikanische Religions hin verschoben. Viele Heilig Abend- soziologe Peter L. Berger spricht von Kirchgänger bezeichnen sich von ihrem West- und Mitteleuropa als einem „Ka Selbstverständnis her als regelmäßige tastrophengebiet für die Kirche“.16 Ein Kirchgänger. Kein anderes Fest wird im anhaltender Säkularisierungsprozess hat Jahresablauf so ausgiebig gefeiert wie zu einem weitgehenden Bedeutungsver Weihnachten. Die Adventszeit wird mehr lust des traditionellen kirchlichen Chris und mehr als Vorweihnachtszeit und im tentums geführt. „Vielleicht zum ersten mer weniger als Bußzeit verstanden. Die Mal in der Geschichte haben religiöse Vorbereitung auf das Fest ist inzwischen Legitimationen der Welt ihre Plausibilität genauso wichtig geworden wie das Fest nicht nur für eine Handvoll Intellektuel selbst. Dazu gehört vor allem die Pflege ler und anderer gesellschaftlicher Rand des Advents- und Weihnachtsbrauchtums, figuren verloren, sondern für die breiten aber auch der Kauf der Geschenke. Der Massen ganzer Gesellschaften.“17 Das gilt Besuch des Weihnachtsmarkts erlaubt die in besonderem Maße für die neuen Bun Rückkehr in das Land der Kindheit, wo das Leben noch jung und unbeschwert war. An Heilig Abend soll das Kind in 16 Peter L. Berger, An die Stelle von Gewissheiten sind Meinungen getreten, in: Frankfurter Allgemeine der Krippe die Sehnsüchte nach dem lang Zeitung, 7.5.1998, 14; vgl. auch Wolfgang Huber, verlorenen Kinderland erfüllen. Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, 2. Auflage, Gütersloh 1999, 223 ff. 17 Peter L. Berger, zit. nach: Gottfried Küenzlen, Das Unbehagen an der Moderne. Der kulturelle und 18 Matthias Morgenroth, Weihnachtschristentum. gesellschaftliche Hintergrund der New Age-Bewe Moderner Religiosität auf der Spur, 2. Auflage, gung, in: Hansjörg Hemminger, Die Rückkehr der Gütersloh 2003; ders., Heiligabend-Religion. Von Zauberer. New Age – Eine Kritik (Rororo-Sachbuch, unserer Sehnsucht nach Weihnachten, München 8712), Reinbek bei Hamburg 1990, 192. 2003. Amt und Gemeinde 293
In gesellschaftlicher Hinsicht zeigt sich herausragende fundamentalistische Siche die Bedeutung des Weihnachtsfests da rungsinstanz stellt neben dem Glauben an ran, dass eine Reihe von Wirtschaftszwei ein irrtumsloses Heilswissen und neben gen ohne das Weihnachtsgeschäft zum der festen Gruppenzugehörigkeit die all Niedergang verurteilt wäre. Empirische seits anerkannte Führungspersönlichkeit Untersuchungen belegen, dass sich das dar. Charismatische Bewegungen ver Wissen um den spirituellen Gehalt des binden klare theologische Wahrheitsan Weihnachtsfests umgekehrt proportional sprüche auf der intellektuellen Ebene mit zu seiner wirtschaftlichen Bedeutung ver starken Erlebnisangeboten auf der persön hält: Während immer weniger Menschen lichen Ebene. Gerade diese Verbindung den spirituellen Grund des Weihnachts scheint der Grund zu sein, warum sich festes kennen und ihn allein an Liebe und neben fundamentalistischen auch charis Mitmenschlichkeit festmachen,19 boomen matische Gruppen wachsender Beliebtheit die im Zusammenhang mit dem Weih erfreuen.22 nachtsfest stehenden Wirtschaftszweige. 3.4 Agnostische Spiritualität 3.3 Fundamentalistisch und charismatisch geprägte Eine Studie der Leipziger Kultursoziolo christliche Spiritualität gin Monika Wohlrab-Sahr zur Thematik „Generationenwandel als religiöser Wan In den vergangenen Jahrzehnten hat fun del. Das Beispiel Ostdeutschlands“23 legt damentalistisch und charismatisch ge den Schluss nahe, dass sich in der jüngs prägte christliche Spiritualität deutlich ten Generation in Ostdeutschland, bei den an Vitalität gewonnen. Der moderne reli 19- bis 29-Jährigen, derzeit ein Prozess giöse Fundamentalismus stellt eine hoch partieller Desäkularisierung andeutet. Er organisierte, in den Glaubensbeständen vollzieht sich auf der individuellen Glau festgelegte und auf abrufbares objektives bensebene. Ansatzpunkt sind dabei Aus Heilswissen angelegte Form gegenwär sagen zum Leben nach dem Tod bzw. zu tiger Spiritualität dar.20 Fundamentalis okkulten Phänomenen.24 Monika Wohl tische Gruppen bieten ihren Mitgliedern „die Sicherheit und Geborgenheit einer 22 Hansjörg Hemminger, Religiöses Erlebnis, religiöse auf festgefügter, verbindlicher Autorität Erfahrung, religiöse Wahrheit. Überlegungen zur charismatischen Bewegung, zum Fundamentalismus ruhenden Glaubensgemeinschaft“.21 Eine und zur New-Age-Religiosität, EZW-Texte, Impulse Nr. 36, VI/1993, 7. 23 Monika Wohlrab-Sahr / Uta Karstein / Christine 19 Morgenroth, Weihnachtschristentum, 27–30 (mit Schaumburg, „Ich würd’ mir das offenlassen“. Belegen). Agnostische Spiritualität als Annäherung an die 20 Gottfried Küenzlen, Kirche und die geistigen „große Transzendenz“ eines Lebens nach dem Tode, Strömungen der Zeit. Grundaufgaben heutiger Apo in: Zeitschrift für Religionssoziologie 13, 2005, logetik, in: EZW-Texte, Impulse Nr. 39, IX/1994, 19. 153–173. 21 A. a. O. 24 Vgl. hier und im Folgenden a. a. O. 156. 294 Amt und Gemeinde
rab-Sahr spricht in diesem Zusammen Faszination von östlicher Spiritualität hang von der Zunahme einer Form von ag und Mystik in unzähligen Facetten, in nostischer Spiritualität. Sie nimmt damit dianische Mythen, Schamanismus, vor die Tatsache auf, dass viele derjenigen, allem aber der Glaube an die Wendezeit die mit einem Leben nach dem Tod rech zum ‚New Age‘ …“ 26 Die esoterisch ge nen, deswegen nicht gleichzeitig an Gott prägte Spiritualität bietet in einer vom glauben. Die jungen Erwachsenen kom Individualismus geprägten Gesellschaft binieren sehr verschiedene Traditionen „das Vergnügen, seine eigene Religion und mediale Einflüsse: Wiedergeburt und zu haben“.27 Soziologisch sind diese For Nahtoderfahrung, Energieerhaltung und men als „vagabundierende Religiosität“ Matrix. Dennoch lässt sich diese Form zu bezeichnen: Der Einzelne wählt sich von Spiritualität als Annäherung an die seine Religion aus einem reichen Waren große Transzendenz eines Lebens nach hausangebot an Sinndeutungsmustern frei dem Tode interpretieren, wobei die agnos aus.28 Alle neu-religiösen Gruppen, Strö tische Spiritualität durchaus noch im Ex mungen und Tendenzen verheißen dem perimentierstadium zu stecken scheint.25 Menschen eine sinnvolle Existenz, Orien Gleichzeitig ist damit eine kritische Di tierung und eine ganzheitliche Sicherung stanz zu den Ansichten der atheistisch des Ichs. Die Vergewisserung geschieht geprägten Elterngeneration impliziert. dabei über das subjektive, emotional ge prägte religiöse Erlebnis, und nicht mehr 3.5 Esoterische Spiritualität – wie im traditionellen Christentum – über ein verbindliches Glaubenswissen: Nicht Seit dem Ende der 1960er Jahre hat sich Dogmen, sondern religiöse Erlebnisse ein Markt der spirituellen Möglichkeiten bilden den Kern der esoterischen Spiritu gebildet. „Es ist vor allem die rasante Aus alität. Ort der religiösen Vergewisserung breitung von Esoterik und Okkultismus, ist das Individuum, das die spirituellen die unsere kulturelle Lage heute kenn Erfahrungen macht. Die Erlebnisse se zeichnet … Astrologie in trivialen oder hen sehr unterschiedlich aus: Es geht um ‚höheren‘ Formen, Psychokulte aller Art, Bewusstseinserweiterung, Selbsterfah Reinkarnationsglaube in vielen Spielar rungen, Selbstverwirklichung, Psyche ten, Reinkarnationstherapien, magisch- delik und kosmische Einheitserfahrung. okkulte Praktiken, Hexenglaube, mytho logisch sich begründender Feminismus, 26 Küenzlen, Unbehagen, 204f. 27 Barbara Frischmut, zit. nach: a. a. O., 215. 25 Einen ähnlichen Befund lässt die Arbeit von Benja 28 Peter L. Berger, Pluralistische Angebote. Kirche auf min Roßner im Hinblick auf das Verhältnis junger dem Markt?, in: Leben im Angebot – Das Angebot Erwachsener aus Ostdeutschland zum Gottesdienst des Lebens. Protestantische Orientierung in der erkennen: Ders., Das Verhältnis junger Erwachsener modernen Welt, Synode der Evangelischen Kirche in zum Gottesdienst. Empirische Studien zur Situation Deutschland, im Auftrag des Rates der Evangeli in Ostdeutschland und Konsequenzen für das gottes schen Kirche in Deutschland, hg. vom Kirchenamt dienstliche Handeln, Leipzig 2005, bes. 159 ff. der EKD, Gütersloh 1994, 33–48. Amt und Gemeinde 295
In jedem Fall ist damit eine Privatisierung tarischen Gott zu tun.29 Die trinitarische der Religion verbunden. Persönliche Er Orientierung ermöglicht christlicher Spi lebnisse lassen sich nämlich kaum, wie ritualität, alle Bereiche der Welt als Gottes etwa Dogmen, für alle verbindlich er Schöpfung wahrzunehmen. Auf der Basis klären. Zudem lenkt die Ausrichtung auf dieser Erkenntnis wird es möglich, sämt persönliche Erlebnisse den Blick von der liche Dimensionen des Menschen – Leib, Gesellschaft weg auf den Einzelnen. Die Seele und Geist – in die Spiritualität zu esoterische Spiritualität entwickelte sich integrieren.30 im Wesentlichen neben den Kirchen und Ein radikal trinitarischer Ansatz der an ihnen vorbei, auch wenn ein beachtli christlichen Gotteslehre ist auch die Vo cher Teil ihrer Mitglieder auf diesem Ge raussetzung dafür, Gott als Liebe iden biet Erfahrungen aufzuweisen hat. tifizieren zu können. Es ist nur schwer begründbar, wieso ein einsamer Gott im Himmel ein liebender Gott sein soll. Wenn 4. Kriterien christlicher Gott aber in sich selbst bereits von Ewig Spiritualität keit her liebende Gemeinschaft ist, lässt sich nachvollziehen, warum er auch in 4.1 Trinitarisches seiner Offenbarung in Jesus Christus ganz Gottesverständnis und gar Liebe und Anteilnahme ist. Indem christliche Spiritualität von ei Für die Betonung des trinitarischen Got nem dezidiert gemeinschaftlichen Got tesverständnisses sprechen angesichts des tesbegriff ausgeht, könnte auch der Di heutigen religiösen Pluralismus mehrere alog mit dem Judentum und dem Islam Gründe. Die Trinitätslehre erlaubt, die befruchtet werden. Denn nur von seinem gesamte Wirklichkeit auf ein und den speziellen christlichen Gottesverständnis selben Gott zu beziehen. Die Alte Kir her kann das Christentum ein eigenes Pro che hat in diesem Zusammenhang die fil wahren und in den Dialog einbringen.31 sog. Appropriationslehre entwickelt. Sie Die trinitarische Orientierung christli appropriiert den einzelnen Personen der cher Spiritualität ist angesichts fortschrei Trinität verschiedene Dimensionen der tender Pluralisierungsprozesse in unse Wirklichkeit: Dem Vater die Schöpfung, rer Gesellschaft besonders geeignet, den dem Sohn die Erlösung und dem Heili gen Geist die Heiligung. Wegen des alt 29 Reinhold Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte, kirchlichen Grundsatzes opera ad extra Bd. 2, 4. Auflage, Leipzig 1933, 145. sunt indivisa hat der Mensch es trotzdem 30 Karlmann Beyschlag, Grundriss der Dogmenge schichte, Bd. 1 Gott und Welt (Grundriss 2), Darm überall – in Natur, Geschichte und eigener stadt 1982, 274 ff. Existenz – mit ein und demselben trini 31 Vgl. dazu Jürgen Moltmann, Kein Monotheismus gleicht dem anderen. Destruktion eines untaugli chen Begriffs, in: Evangelische Theologie 62, 2002, 112–122. 296 Amt und Gemeinde
christlichen Gottesgedanken denkerisch stand sie als „viva vox evangelii“, als le in der Postmoderne zu verantworten.32 bendige Stimme des Evangeliums, durch Da die bleibende Unterschiedenheit der die Gott unmittelbar zum Menschen redet. göttlichen Personen im Rahmen der Tri Von daher wird verständlich, dass refor nitätslehre Voraussetzung für ihre Einheit matorische Theologie nicht primär wis ist, erlaubt sie, größte Verschiedenheit senschaftlich-dogmatische oder wissen mit höchster Einheit zu verbinden. Über schaftlich-exegetische Theologie, sondern dies illustriert ein trinitarisches Gottes im Kern existenzielle und erfahrungsbe verständnis, dass die Andersartigkeit des zogene Theologie ist. Sie will den Men anderen nicht Bedrohung, sondern Ergän schen in seiner Personmitte ansprechen. zung und Bereicherung ist. Durch die altprotestantische Verbalin Der trinitarische Ansatz des christli spirationslehre und später in der Aufklä chen Gottesbegriffs stellt schließlich eine rung durch die historisch-kritische Me wichtige Begründung für die sozialethi thode kam es zu einer Neuinterpretation sche Dimension der Spiritualität dar. Die des bibelorientierten Ansatzes der Refor Trinität als Gemeinschaft sich liebender, mation. Beide Male handelte es sich de gleichwertiger Personen ist der Zielhori facto um seine Infragestellung. Die alt zont, auf den hin gesellschaftliche Ver protestantische Orthodoxie missverstand änderungsprozesse Gestalt gewinnen die Bibel als Steinbruch für dogmatische sollten. Eine trinitarisch orientierte Spi Sätze. Aus dem lebendigen Wort, durch ritualität kann so zur Inspirationsquelle das Gott den Menschen anspricht, wurde und Verpflichtung für die Umgestaltung das für wahr zu haltende System theolo der kirchlichen und gesellschaftlichen gischer Wahrheiten, abgesichert durch Verhältnisse in Richtung auf Gleichheit die Lehre von der Verbalinspiration. Die und Anteilhabe aller Menschen bei gleich spätere historisch-kritische Methode un zeitiger Pflege ihrer Unterschiede werden. tergrub ihrerseits – z. T. ungewollt – das Vertrauen in die Bibel als Anrede Gottes 4.2 Die Bibel als Inspirations an den Menschen, indem sie ausschließ quelle, Maßstab und lich deren Charakter als literarisches Korrekturinstanz für Produkt der Spätantike betonte und aus Glaube und Leben wissenschaftlichen Gründen von ihrem Anspruch als Urkunde des Redens Got Der Ausgangspunkt der Reformation be tes zum Menschen absehen zu müssen stand in einem neuen Verständnis und meinte. Für den evangelischen Glauben Umgang mit der Bibel. Martin Luther ver hatte das auf Dauer fatale Konsequenzen: Entweder die Gemeindeglieder zogen sich auf einen Fundamentalismus zurück, der 32 Vgl. dazu Albrecht Grözinger, Erzählen und Han deln. Studien zu einer trinitarischen Grundlegung der die Irrtumslosigkeit der Schrift rational Praktischen Theologie, München 1989. zu beweisen suchte bzw. die Schrift zum Amt und Gemeinde 297
Gesetzbuch für alle Lebenslagen machte. aktuell ist, zeigt sich nicht zuletzt an der Andere hörten auf, die Bibel zu lesen, weil Betonung der menschlichen Anstrengung sie die wissenschaftlichen Methoden der in vielen spirituellen Angeboten heute. Bibelexegese nicht ausreichend kannten und Angst hatten, bei der persönlichen 4.4 Kein Glaube ohne Lektüre die biblischen Texte misszuver Kirche und Gemeinde stehen. Eine dritte, derzeit größte Gruppe gab die Bibel als ernst zu nehmendes Ge So sehr Luther den Glauben des Einzelnen genüber überhaupt auf.33 von klerikaler Bevormundung befreien wollte, intendierte er doch nie eine Spi 4.3 Rechtfertigung allein ritualität unabhängig von der christlichen aus Gnaden Gemeinde. Das zeigt besonders schön seine Auslegung des 3. Glaubensartikels Zentrum des christlichen Glaubens ist im Kleinen Katechismus. Die Stelle ist die Erkenntnis von der voraussetzungs ein klassischer Beleg dafür, dass sich in losen Annahme des Menschen durch Luthers Spiritualität der Einzelne und die Gott. Dass das reformatorische Recht Gemeinde komplementär zueinander ver fertigungsverständnis sich auch ökume halten: „Ich glaube, dass ich nicht aus ei nisch durchgesetzt hat, ist spätestens seit gener Vernunft noch Kraft an Jesus Chris der Unterzeichnung der „Gemeinsamen tus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm Erklärung“ in Augsburg am 31.10.1999 kommen kann; sondern der Heilige Geist nicht mehr zu leugnen. Bei der „Recht hat mich durch das Evangelium berufen, fertigung allein aus Gnade um Christi mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten willen durch den Glauben“ handelt es Glauben geheiligt und erhalten; gleichwie sich um den „Articulus stantis et caden er die ganze Christenheit auf Erden be tis Ecclesiae“ (so erstmals bei Valentin ruft, sammelt, erleuchtet, heiligt und bei Ernst Löscher 1673–1749 – in der Sache Jesus Christus erhält im rechten einigen geht die Formulierung auf Martin Luther Glauben; in welcher Christenheit er mir selbst zurück). Christlicher Glaube muss und allen Gläubigen täglich alle Sünden an diesem Zentralpunkt reformatorischer reichlich vergibt und am Jüngsten Tage Erkenntnis ansetzen und immer wieder zu mich und alle Toten auferwecken wird ihm hinführen. Dass die Zentrierung des und mir samt allen Gläubigen in Chris christlichen Glaubens auf die Rechtferti tus ein ewiges Leben geben wird.“ Im gung des Menschen durch Gott gerade in Protestantismus herrscht dagegen heute Zeiten des religiösen Pluralismus hoch weithin ein Frömmigkeitstypus vor, der von Individualismus, Subjektivismus und Innerlichkeit geprägt ist. Die Konsequenz 33 Ähnlich auch Gerhard Ruhbach, Theologie und Spiritualität. Beiträge zur Gestaltwerdung des christ der Ausblendung der Gemeinde aus dem lichen Glaubens, Göttingen 1987, 126 f. Glauben ist eine entscheidungs- und 298 Amt und Gemeinde
profillose Spiritualität. Die neuzeitliche Herz fassen kannst, da wirst du finden Denkfigur von Gott und der Einzelseele Wunder über Wunder.“34 Das Leben aus stellt jedoch eine Abstraktion dar. Das der Stille bewahrt vor Kurzatmigkeit und zeigt sich spätestens in dem Moment, wo verhindert, dass christliches Handeln zum Eltern den christlichen Glauben an ihre Aktionismus verkommt. Damit befindet Kinder weitergeben wollen. Hier zeigt sich reformatorische Spiritualität im Ein sich die Wichtigkeit von Religionsunter klang mit der Spiritualität Jesu. In deren richt und Jugendkreis. Dringend nötig ist Zentrum steht das sog. Doppelgebot der ein neues Bewusstsein, dass es christli Liebe: „Jesus aber antwortete ihm: ‚Du chen Glauben nicht unabhängig von der sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von Kirche gibt, sondern nur eingebunden ganzem Herzen, von ganzer Seele und in die „Gemeinschaft der Heiligen“, wie von ganzem Gemüt.‘ Dies ist das höchste es im Apostolischen Glaubensbekennt und größte Gebot. Das andere aber ist nis heißt. Aus Hebr 12,1 stammt die For dem gleich: ‚Du sollst deinen Nächsten mulierung, dass jeder Christ umgeben lieben wie dich selbst‘“ (Mt 22,37–39). ist von einer „Wolke von Zeugen“. Der D.h. die Liebe zu Gott verliert ihre Boden christliche Glaube braucht die Kirche als haftung, wenn sie nicht mit der Liebe zum Inspirationsraum, Korrekturinstanz und Mitmenschen verknüpft wird (vgl. dazu Bewährungsfeld. auch Jesu Aussagen in der Bergpredigt: Mt 5,21–26). Umgekehrt kühlt die Liebe 4.5 Kontemplation und Aktion zum Nächsten schnell ab, wenn sie nicht immer wieder aus der Quelle der Gottes Die Reformation hat neu ans Licht ge liebe, d. h. der Liebe Gottes zu mir und bracht, dass sich der Glaube im Alltag zu meiner Liebe zu Gott, erneuert wird.35 bewähren hat und damit gegenüber der Kontemplation und Aktion, Gottesliebe mittelalterlichen Spiritualität eine not und Nächstenliebe, Ewigkeitshorizont wendige Korrektur vorgenommen. Dabei und Hinwendung zur Welt gehören in der hat sie jedoch über der Nächstenliebe, christlichen Spiritualität unauflöslich zu dem Alltagsgottesdienst, nicht die Stille sammen. vor Gott, die Kontemplation, vergessen. Ausdrücklich empfahl Luther den Weg der Stille als einen Weg zu Gott: „Gleichwie die Sonne in einem stillen Wasser gut zu sehen ist und es kräftig erwärmt, kann sie in einem bewegten, rauschenden Wasser 34 Zit. nach Wolfgang Huber, Im Geist wandeln. Die evangelische Kirche braucht eine Erneuerung ihrer nicht deutlich gesehen werden. Darum, Frömmigkeitskultur, in: Zeitzeichen, Heft 7, 2002, willst du auch erleuchtet und warm wer 20. 35 Vgl. hierzu im einzelnen Klaus Bockmühl, Das den durch das Evangelium, so gehe hin, größte Gebot (Theologie und Dienst 21), Gießen / wo du still sein und das Bild dir tief ins Basel 1980, 25 ff. Amt und Gemeinde 299
5. Ausblick: Entwicklungs Überlagerung der Natur durch die techni potenziale christlicher sierte Zivilisation in den Industrienationen Spiritualität und den damit verbundenen progressiven Erfahrungsverlusten nur zu verständlich Lange Zeit wurde die Bedeutung des ist. Wo eröffnet christliche Spiritualität Lernens durch Erfahrung unterschätzt. Menschen die Chance, Gottes Schöpfer Ebenso wurde in der Spiritualität die emo kraft in der Natur wahrzunehmen und lässt tionale und die sinnliche Seite des Glau die geschaffene Welt durchsichtig werden bens zu wenig berücksichtigt. In Zukunft für die Realität Gottes? Das Pilgern, das geht es darum, die Sehnsucht nach spi in allen Konfessionen seit einigen Jahren rituellen Erfahrungen positiv aufzuneh eine Renaissance erlebt, stellt eine Mög men. Dabei ist Spiritualität nicht allein lichkeit dazu dar. Sache von Verstand und Willen, sondern Im Protestantismus ließ sich lange Zeit genauso Angelegenheit von Emotionali eine regelrechte Phobie vor der Form be tät und Sinnlichkeit! „Gerade die geistig obachten.37 Die Angst vor der toten Form beanspruchten Menschen suchen vielfach führte zur Ablehnung von festen Formen mehr als eine weitere intellektuelle An überhaupt.38 Dem Mangel an spirituellen strengung in der Religion. Immer mehr Formen stehen exegetische Beobachtun Menschen wollen den Glauben nicht nur gen, die Selbstverständlichkeit spiritueller denken, sondern auch spüren.“36 In der Formen bei den Reformatoren und neuere Informationsgesellschaft scheint sich das humanwissenschaftliche Einsichten dia Interesse des Menschen vor allem auf das metral entgegen. Angesichts der Plurali Erleben der eigenen Körperlichkeit zu tät spiritueller Angebote, aber auch des konzentrieren. Die verstärkte Sehnsucht Lebens in einer Risikogesellschaft „[be nach Selbstvergewisserung durch Selbst darf] die Bewahrung und Weitergabe von erfahrung wird auf dem Hintergrund einer grundlegendem Orientierungswissen [...] permanenten Reizüberflutung verständ einer Absicherung durch Symbole und lich. Ob (gerade auch junge) Menschen Riten.“39 Mit dem früheren Erlanger Prak zum christlichen Glauben Zugang finden, tischen Theologen Manfred Seitz gespro entscheidet sich daran, ob ihre Leiblich chen: „Einen Glauben, der nicht gestaltet keit darin vorkommt. ist und bloß als gedacht und in Gedanken Auch die Natur kommt in christlicher existiert, verweht der Wind.“40 ■ Spiritualität kaum vor. Dem steht heute die Offenheit vieler Menschen für Na 37 Christian Grethlein, Christliche Lebensformen – turerfahrungen gegenüber. Eine Sehn Spiritualität, in: Glaube und Lernen 6, 1991, 114. sucht, die angesichts fortschreitender 38 Vgl. z. B. Fulbert Steffensky, Was ist liturgische Au thentizität, in: Pastoraltheologie 89, 2000, 105–116. 39 Grethlein, Lebensformen, 115. 36 Michael Meyer-Blanck, Inszenierung des Evange 40 Manfred Seitz, Art. Frömmigkeit II, in: TRE, Bd. 11, liums, Göttingen 1997, 133. 676. 300 Amt und Gemeinde
MELANGE: PRAKTISCHE THEOLOGIE / KIRCHENGESCHICHTE Beichte Eine „Renaissance der Beichte“ konstatiert der Leipziger Theo loge Peter Zimmerling, der in der Evangelischen Verlagsanstalt in Leipzig 2014 eine einschlägige Studie publizierte: „Beichte. Gottes vergessenes Angebot“. Darauf soll hier ausdrücklich hingewiesen werden. Das Ziel seiner Überlegungen besteht darin, zu zeigen, dass im Bekennen von Schuld und Versagen vor Gott eine Lebens kraft verborgen liegt, die heute weithin unbekannt ist und deshalb ungenutzt bleibt. Ansatzpunkt ist dabei die Überzeugung, dass Schuldbekenntnis und Vergebungszusage Zeichen menschlicher Würde darstellen. Von Peter Zimmerling Amt und Gemeinde 301
1. Die Beichte in Renaissance der Beichte zu ereignen. Sie unserer Gesellschaft ist an manchen Orten zum heimlichen Modethema avanciert. Der mit elf Oscars ausgezeichnete Film Einzelne Menschen und ganze Gemein „Titanic“ von 1997 endet mit folgenden schaften spüren, dass sie nicht so leben, Worten der geretteten Titelheldin: „1500 wie sie es sich eigentlich wünschen. Sie Menschen stürzten in die See, als die Ti bleiben hinter den Ansprüchen zurück, die tanic unter uns versank. Zwanzig Boote sie an sich selber und andere stellen und trieben in nächster Nähe umher. Aber nur fühlen sich schuldig. Umgekehrt leiden eins ist umgekehrt. Nur eins. Sechs wur sie darunter, dass andere an ihnen schuldig den aus dem Wasser gerettet. Mich ein und sie dadurch in ihrer Freiheit und Le geschlossen. Sechs von 1500. Danach bensfreude eingeschränkt werden. Diese brauchten die 700 Menschen in den Boo Erfahrungen drängen nach außen, wol ten nichts anderes zu tun als zu warten: len artikuliert werden. Es gibt offensicht warten auf den Tod, auf das Weiterleben. lich sowohl bei einzelnen Menschen als Warten auf eine Absolution, die aber nie auch bei ganzen Gesellschaften den tiefen erteilt wurde.“ Wunsch nach Aussprache und Verstanden Jahrzehntelang wurde die Schuld aus werden. Damit verbunden ist die Sehn dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt: sucht nach Entlastung und Entschuldi Man denke nur an die Waschmittelre gung, nach der Chance eines Neuanfangs. klame der 1960er Jahre, in denen Haus Das Ziel der folgenden Überlegungen frauen aufgrund des Gebrauchs des rich besteht darin, zu zeigen, dass im Beken tigen Waschmittels ein gutes Gewissen nen von Schuld und Versagen vor Gott verheißen wurde. Seit einigen Jahren eine Lebenskraft verborgen liegt, die zeichnet sich jedoch eine Veränderung heute weithin unbekannt ist und deshalb der gesellschaftlichen Gemütslage ab: ungenutzt bleibt. Ansatzpunkt ist dabei die Im Gefolge des Scheiterns der modernen Überzeugung, dass Schuldbekenntnis und Utopien von einer neuen Gesellschaft und Vergebungszusage Zeichen menschlicher einem neuen Menschen ist die Rede von Würde darstellen. Schuldig zu werden Schuld und Versagen in den öffentlichen gehört zum Menschsein. Niemand kann Raum zurückgekehrt. Ja, es ist geradezu dem entgehen. Ich nehme mein Leben modern geworden, in der Öffentlichkeit ernst, indem ich meine Schuld eingestehe. Schuld zu bekennen: und zwar individu Schuld zu leugnen, zu bagatellisieren oder elle und kollektive gleichermaßen. Das zu verdrängen, bedeutet demgegenüber Thema Schuld und Entlastung, das ur eine Missachtung meines Menschseins. sprünglich im Raum der Religion behei Das Sündersein darf – anders als eine matet war, wird an säkularen Orten auf jahrhundertelange Tradition der Beichte gegriffen und thematisiert. Aber auch in es suggerierte – nicht länger als Ausdruck Theologie und Kirche scheint sich eine einer entmündigenden Erfahrung miss 302 Amt und Gemeinde
verstanden werden.1 Vielmehr muss es Rede von Sünde und Schuld zu lange dazu als heilsam rettende Erfahrung begriffen missbraucht, Menschen in Angst und Ab werden. Das Stehen zu meinem Sünder hängigkeit zu halten. Um hier ein neues sein in der Beichte ermöglicht mir die Bewusstsein zu fördern, sind aufseiten Einkehr in eine Selbstbegrenzung, die von Theologie und Kirche Fantasie und mir letztlich zugute kommt. Beharrlichkeit gefragt. Die Einzelbeichte wird gegenwärtig im evangelischen Raum kaum wahrgenom men – am ehesten noch in Kommunitä 2. Chancen für ten und auf Kirchentagen. Vielen evan eine Renaissance gelischen Christen ist sie nicht einmal der Beichte heute bekannt. Es war deshalb ungewöhnlich, dass ich am Anfang meines Theologie Zwischen der Beichte einerseits und der studiums die Beichte kennenlernte. Ein Rechtfertigungslehre andererseits besteht älterer lutherischer Pfarrer weckte in mir ein unhintergehbares Interdependenzver den Wunsch nach Seelsorge und Beichte. hältnis: Beichte und Rechtfertigungslehre Ich hatte beobachtet, dass die unterschied bedingen einander. Keine reformatorisch lichsten Menschen kamen, um bei ihm zu verstandene Beichte ohne Rechtferti beichten. Mit einer liturgisch geprägten gungslehre, auf Dauer aber auch keine re Beichte, zu der der Zuspruch der Verge formatorische Rechtfertigungslehre ohne bung unter Handauflegung gehörte, be die Praxis der Beichte! Die Beichte bil gann meine persönliche Geschichte mit det den Lackmustest für die evangelische der Beichte. Später konnte ich vor allem Rede von Schuld und Vergebung. während meiner Tätigkeit als Pfarrer ei ner evangelischen Kommunität vielfältige 2.1 Unterschiedliche Aspekte Praxiserfahrungen sowohl als Beichtender der Beichte als auch als Beichthörer machen. Dass die christliche Rede von Sünde, Um die Beichte wiederzugewinnen, ist Schuld und Vergebung den Menschen zu es notwendig, sie aus einer einseitig ju entlasten vermag und ihm gleichzeitig ridischen Interpretation zu befreien. Das seine Verantwortlichkeit zurückgibt und Beichtgeschehen beinhaltet unterschied so zur Stärkung seines Selbstwertgefühls liche Aspekte: Dazu gehören – neben beiträgt, wird nicht von heute auf mor juridischen – gleichermaßen gemein gen im öffentlichen Bewusstsein Eingang schaftsfördernde, therapeutische, exor finden. Theologie und Kirche haben die zistische und sakramentale Dimensionen. Da Sünde und Schuld immer auch soziale Auswirkungen haben, besitzt deren Be 1 Vgl. dazu ausführlich Christian Möller, Der heilsame Riss. Impulse reformatorischer Spiritualität, Stuttgart reinigung ein gemeinschaftsförderndes 2003, bes. 44 ff. Potential. Die Beichte ist ein wesentli Amt und Gemeinde 303
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