Windenergie und Artenschutz - Wege nach vorn - ANALYSE 234/07-A-2021/DE Oktober 2021 - Agora ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn ANALYSE Autor: Dr. Gerd Rosenkranz 234/07-A-2021/DE Projektleitung: Mara Marthe Kleiner Oktober 2021
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn Liebe Leserin, lieber Leser, der Vögel. Da die Windkraft eine der Schlüsseltech- nologien für Klimaschutz und Energiewende ist, gilt der Ausbau der Windenergie an Land ist in den ver- es, Artenschutz und den beschleunigten Ausbau der gangenen Jahren in Deutschland weit hinter den Windenergie in Einklang zu bringen. Notwendigkeiten zurückgeblieben, wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollen. Das liegt nicht nur, je- Zahlreiche Vorschläge, die alle das Ziel verfolgen, den doch auch daran, dass immer wieder Klagen gegen Zielkonflikt zwischen Windkraft und Artenschutz Windenergieprojekte vor Gericht landen und erfolg- aufzulösen, liegen inzwischen auf dem Tisch. In die- reich den Bau oder die Inbetriebnahme von Windrä- sem Arbeitspapier werden die Vorschläge vorgestellt dern verhindern oder verzögern. und bewertet, damit die Politik eine informierte Ent- scheidung treffen kann. Eines der häufigsten Motive für die Klägerinnen und Kläger ist der Vogelschutz. Und tatsächlich gibt es Ich wünsche eine angenehme Lektüre! Vogel-Schlagopfer an Windrädern, die es zu mini- mieren gilt. Gleichzeitig ist jedoch das größte Risiko Ihr für Vögel ein Fortschreiten der Klimakrise, denn Dr. Patrick Graichen diese hat gravierendste Folgen für die Lebensräume Direktor, Agora Energiewende Ergebnisse auf einen Blick: Es ist möglich, den Konflikt zwischen Windkraftausbau und Vogelschutz konstruktiv zu lösen, und Klima- wie Artenschutz gleichermaßen voranzubringen. Die Stichwörter hierfür lauten: Ge- 1 nehmigungsverfahren vereinheitlichen, den Vogelschutz stärker auf Populationsschutz ausrich- ten und dafür ausreichend Flächen und Mittel bereitstellen. So kann der Vogelschutz sogar ge- genüber den aktuell standortbezogenen Einzelfallprüfungen gewinnen. Als Sofortmaßnahme sollte der Vogelschutz in den Genehmigungsverfahren gesetzlich oder per Verordnung rechtssicherer und zeitlich gestrafft ausgestaltet werden. Dies kann in den ersten 2 100 Tagen der neuen Regierung unter Beibehaltung der individuenbezogenen Logik des Vogel- schutzes aufgesetzt werden. Konzeptvorschläge hierfür liegen auf dem Tisch. Anschließend sollte der Schutz windenergiesensibler Vogelarten stärker am Populations- statt am Individuenschutz ausgerichtet werden – mit entsprechender Sicherstellung der für einen wirksamen Populationsschutz notwendigen Flächen und professionell gemanagten Artenhilfs- 3 programmen. Dies bedeutet in der Raumplanung eine Entflechtung von Wind- und Vogelvor- ranggebieten. Dazu gehört zudem ein Artenschutzfonds, der aus mindestens 100 Mio. Euro pro Jahr an öffentlichen Mitteln sowie zusätzlichen Ausgleichszahlungen der Windenergiebetreiber gespeist wird. Die Naturschutzverbände sollten in die Ausgestaltung eingebunden werden. Parallel sollte die Bundesregierung auf EU-Ebene eine Initiative starten, um in der Erneuerbaren- Energien-Richtlinie ein am Populationsschutz ausgerichtetes Zulassungsrecht für die Windkraft 4 zu ermöglichen. Dies ist nötig, da das Europarecht aktuell einem modernen Artenschutz, der auf die Erhaltung und Verbesserung von Populationen setzt, im Weg steht. Hohe Qualitätsstandards an entsprechende Artenschutzmaßnahmen sind auch auf EU-Ebene festzuschreiben. 2
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn Inhalt Ergebnisse auf einen Blick 2 1 Einleitung – Windenergie und Naturschutz zusammendenken 4 2 Die Ausgangslage 5 3 Kein Mangel an Vorschlägen 7 4 Aktuell diskutierte Konzepte für ein verbessertes Zulassungsregime für Windenergie an Land 8 4.1 Bundesweit einheitliche Ausgestaltung des Signifikanzansatzes des Bundesverwaltungsgerichts (UMK-Prozess) 9 4.2 Windausbau und Artenschutzziele: Vorschlag für ein europarechtskonformes (Ausnahme-)Regime für Windkraft an Land, 11 4.3 Einführung gesetzlich geregelter Ausnahmevoraussetzungen für die landseitige Windenergie in Bezug auf das artenschutzrechtliche Tötungsverbot 16 4.4 Artenschutzrechtliche Ausnahmeverordnung und ein verstärkter flächenbezogener Artenschutz 20 5 Zwischenfazit 24 5.1 Was verbindet die Vorschläge? 24 5.2 Lösungsansatz Kombinationsmodell 25 5.3 Welche möglichen Kombinationsmodelle gibt es? 26 6 Die EU-Karte: Initiative auf EU-Ebene im Rahmen der Novelle der Erneuerbare-Energien-Richtlinie 29 6.1 EU-Initiative der neuen Bundesregierung zur Sicherung einer ausreichenden Zubaugeschwindigkeit von Windenergie an Land in den Mitgliedstaaten 30 6.2 Strategische Überlegungen hinter der EU-Initiative 30 7 Fazit: Populationen statt Individuen schützen? 31 3
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn 1 Einleitung – Windenergie und Na- Die Sorge vor dem Verlust der Akzeptanz der Ener- turschutz zusammendenken giewende im ländlichen Raum hat auch die Energie- wende-Debatte im Wahlkampf des Jahres 2021 be- Seit der Verabschiedung des Klimaschutzabkom- gleitet. Zwar forderten, mit einer Ausnahme, alle im mens von Paris Ende 2015 und den jüngsten Be- Deutschen Bundestag vertretenen Parteien den be- kenntnissen der großen Wirtschaftsblöcke der Welt schleunigten Ausbau der Erneuerbaren Energien, – USA, China, Europa – zur Klimaneutralität bis doch niemand erklärte den Menschen, wo genau die Mitte dieses Jahrhunderts geht es nicht mehr um das künftigen Windräder und PV-Freiflächenanlagen Ob der globalen Energietransformation, sondern um entstehen sollen. das Wie und mehr noch um das Wie-Schnell. Die Debatte um die Windenergie an Land ist fast so Gleichzeitig wird im Wortsinn unübersehbar, dass alt wie der Einsatz der Windkraft in der Stromerzeu- auch das neue, als risikoarm und klimaverträglich gung. Aber im Unterschied zu ihrer Einführungs- eingestufte Energiesystem auf Basis Erneuerbarer phase in den 1990er-Jahren ist Windenergie heute Energien nicht ohne Rückwirkungen bleibt auf die nicht mehr eine Nice-to-have-Technologie, sondern Lebensumstände der Menschen, auf die Kulturland- im Verbund mit der Photovoltaik die wichtigste schaften und auch die Entwicklungsmöglichkeiten Säule und unverzichtbare Voraussetzung für das Ge- der Natur. Dies gilt insbesondere für Industriegesell- lingen der Energiewende und letztlich für die Zu- schaften mit hohem Energiebedarf und hoher Bevöl- kunft Deutschlands als Wirtschaftsstandort. kerungsdichte, in denen sich bestehende Flächen- konkurrenzen tendenziell weiter verschärfen. Deshalb muss der Konflikt zwischen Windenergie und Naturschutz schnell, konstruktiv und dauerhaft In Deutschland verändern derzeit vor allem Windrä- befriedet werden. Andernfalls verlieren beide – der der die ländlichen Kulturlandschaften. Im Mittel- Klimaschutz und die nicht zuletzt durch den Klima- punkt der Akzeptanzdebatte steht deshalb die Frage, wandel in ihrem Bestand gefährdeten Arten. Der be- welche Flächen für die neuen Technologien bereit- schleunigte Ausbau der Windenergie ist die wich- gestellt werden, wie nah sie den Bürgerinnen und tigste Voraussetzung für erfolgreichen Klimaschutz Bürgern kommen sollen und inwieweit Windräder und dient damit auch der langfristigen Stabilisierung gefährdete Vogelarten zusätzlich bedrohen, die oh- der durch vielerlei andere menschliche Aktivitäten nehin unter hohem Druck durch menschliche Akti- gefährdeten biologischen Vielfalt. 2 vitäten stehen. Rückwirkungen auf die Kulturland- schaften sind grundsätzlich unvermeidbar, ergeben Die neue Bundesregierung wird gleich zu Beginn der sie sich doch aus dem dezentralen Charakter der Legislaturperiode die Weichen für einen konstrukti- neuen solarbasierten Energietechnologien, genauer ven Ausgleich zwischen dem notwendigen Ausbau gesagt aus deren Physik. 1 der Windenergie an Land und den Belangen des Na- turschutzes stellen müssen. Anders ist die in 1 Die direkte Nutzung der Sonnenenergie in PV-, Solar- wiederum voraussetzt, dass entsprechende Flächen zur thermie- oder Windenergieanlagen (auch der Wind wird Verfügung stehen. letztlich von der Einstrahlung der Sonne getrieben) be- deutet auch einen Übergang von hoch konzentrierten 2 IPBES/IPCC (2021): Biodiversity and Climate Change. Energieträgern (Kohle, Öl, Erdgas, Kernenergie) hin zu Scientific Outcome https://www.ipbes.net/sites/de- weiträumig anfallender Strahlungsenergie, was fault/files/2021-06/2021_IPCC-IPBES_scientific_out- come_20210612.pdf 4
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn zahlreichen Studien einhellig geforderte hohe Aus- gemeinsam widmet. 5 Die zentrale Botschaft der 50 baudynamik der landseitigen Windenergie nicht zu beteiligten internationalen Biodiversitäts- und erreichen. 3 Klimaexpertinnen und -experten: „Keines der bei- den Probleme kann erfolgreich gelöst werden, wenn nicht beide gemeinsam adressiert werden.“ 2 Die Ausgangslage Deutschland ist beim Artensterben keine Ausnahme. Der Verlust der biologischen Vielfalt beschleunigt Allerdings gibt es, entgegen dem in der Öffentlichkeit sich im Weltmaßstab dramatisch. Bis zu eine Million häufig verbreiteten Eindruck, keine tragfähigen Be- Arten sind vom Aussterben bedroht, viele davon be- lege dafür, dass der bisherige Ausbau der landseiti- reits in den nächsten Jahrzehnten. Das Artensterben gen Windenergie insgesamt zu einer weiteren Ver- verläuft heute um ein bis zwei Größenordnungen schlechterung von Populationen gefährdeter Arten schneller als im Durchschnitt der letzten zehn Milli- geführt hat. 6 Die Ursachen für den besorgniserre- onen Jahre. Der Klimawandel ist schon jetzt einer der genden Erhaltungszustand vieler Vogelarten sind Treiber dieser Entwicklung und droht zu einer vielmehr vorrangig in land- und forstwirtschaftli- Hauptursache des globalen Verlusts an Biodiversität chen Nutzungsänderungen, in der Nutzungsintensi- zu werden. 4 Das Ziel des Klimaabkommens von Pa- tät, in klimatischen Veränderungen und deren hyd- ris, die globale Erwärmung auf deutlich unter 2 – rologischen Auswirkungen, im Verlust und der möglichst 1,5 Grad Celsius – zu begrenzen, liegt des- Zerschneidung von Habitaten sowie dem Insekten- halb auch im ureigenen Interesse der nationalen wie schwund und dem damit verbundenen Rückgang des internationalen Biodiversitätspolitik und des Arten- Nahrungsangebots zu suchen. 7 schutzes. Unbestritten werden jedoch immer wieder Vögel und Im Frühjahr 2021 haben der Weltbiodiversitätsrat Fledermäuse zu Schlagopfern an Windrädern. Zwar IPBES und der Weltklimarat IPCC erstmals einen ge- sind dies seltene Ereignisse mit insgesamt geringe- meinsamen Report veröffentlicht, der sich den bei- ren Auswirkungen im Vergleich zu den oben den Menschheitskrisen um Klima und Artenvielfalt 3 Öko-Institut e. V./Wuppertal Institut/Prognos AG 6 Reichenbach, Marc/Aussieker, Tim (2021): Windenergie (2021): Klimaneutrales Deutschland 2045 (Langfassung). und der Erhalt der Vogelbestände. Regelungsvorschläge Wie Deutschland seine Klimaziele schon vor 2050 errei- im Kontext einer gesetzlichen Pauschalausnahme. Gut- chen kann. https://www.agora-energiewende.de/vero- achten der ARSU GmbH im Auftrag der Stiftung Kli- effentlichungen/klimaneutrales-deutschland-2045- maneutralität. S. 60-70. https://www.stiftung- vollversion/ klima.de/app/uploads/2021/05/2021-04-26-Wind- energie-und-Erhalt-der-Vogelbestaende.pdf 4 IPBES (2019): The Global Assessment Report on Biodi- versity and Ecosystems Services. Summary for Policy- FA WIND (Fachagentur Windenergie an Land) (2019): makers. https://ipbes.net/sites/default/files/in- Rotmilan und Windenergie im Kreis Paderborn - Unter- line/files/ipbes_global_assessment_report_summary_fo suchung von Bestandsentwicklung und Bruterfolg. r_policymakers.pdf 7 BMU/BfN (2020): Die Lage der Natur in Deutschland. Er- 5 IPBES/IPCC (2021): Biodiversity and Climate Change. gebnisse von EU-Vogelschutz- und FFH-Bericht. Workshop Report https://www.ipbes.net/sites/de- https://www.bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Down- fault/files/2021-06/20210609_workshop_report_em- load_PDF/Naturschutz/bericht_lage_natur_2020_bf.pdf bargo_3pm_CEST_10_june_0.pdf 5
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn Abbildung 1: Historischer und notwendiger Bruttozubau von Windenergie an Land in GW 7,0 5,8 5,8 5,8 6,0 5,5 5,5 5,5 5,5 5,5 5,5 5,3 Jährlicher Bruttozubau in GW 5,0 4,8 4,6 4,0 3,7 3,0 3,0 2,4 2,4 2,1 2,2 2,0 1,6 1,4 1,1 1,0 0,0 historischer Zubau Onshore-Windkraft (*vorläufig) notwendiger Zubau 2022-2030 FA Wind 2021, Öko-Institut e. V. / Wuppertal Institut / Prognos AG (2021) genannten Ursachen. 8 Dennoch bleibt der Anspruch und vor allem wegen ihrer Komplexität und Fehler- an die Energiewende eindeutig: Durch sie soll sich anfälligkeit zu einem der größten Hindernisse in den der Erhaltungszustand gefährdeter Populationen Genehmigungsverfahren geworden. auch in Zukunft nicht zusätzlich verschlechtern. Die Energiewende darf nicht Teil der Zerstörung dessen Im Ergebnis hat sich die Kluft zwischen dem zur sein, was sie retten will. Einhaltung der Klimaschutzziele notwendigen Zubau der landseitigen Windenergie und der realen Aus- Die Kluft zwischen notwendigem und realisiertem baugeschwindigkeit in den vergangenen Jahren Zubau von Windenergie an Land wächst enorm vergrößert. Die artenschutzrechtlichen Anforderungen bei der Dieser Befund hat sich durch die jüngste Rechtspre- Planung und Genehmigung von Windenergieanlagen chung des Bundesverfassungsgerichts 9 und das da- sind in den vergangenen Jahren stetig angewachsen raufhin im Frühsommer 2021 im Bundestag 8 Reichenbach, Marc/Aussieker, Tim (2021): a.a.O. 9 BVerfG (2021): Beschluss vom 24. März 2021 - 1 BvR 2656/18. 6
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn beschlossene Vorziehen der nationalen Treibhaus- 3 Kein Mangel an Vorschlägen neutralität auf das Zieljahr 2045 weiter zugespitzt. Inzwischen liegt eine ganze Reihe mehr oder weni- Schon vor dem Spruch des Bundesverfassungsge- ger ausformulierter Konzepte vor. Die neue Bundes- richts hatte die schwarz-rote Bundesregierung ihre regierung und die sie tragenden Parteien müssen Absicht erklärt, die Ausschreibungsmengen für beim Durchschlagen des gordischen Knotens also Windenergie an Land noch vor der Bundestagswahl nicht bei null anfangen. erheblich erhöhen zu wollen und an den seinerzeit festgelegten Zubauzielen auszurichten. Dies ist nicht Um in der bevorstehenden Legislaturperiode zu ei- mehr gelungen, wenn man von der einmaligen An- ner schnellen Trendumkehr und einem dauerhaft hebung der Ausschreibungsmengen für das Jahr rechtssicheren und ausreichenden Ausbau der land- 2022 auf brutto vier Gigawatt absieht. 10 seitigen Windenergie zu kommen, müssen die Vor- schläge einige Mindestvoraussetzungen erfüllen. Sie Darüber, dass dringender Handlungsbedarf besteht, müssen gibt es unter allen Beteiligten grundsätzliche Einig- keit, nicht jedoch über die Frage, wie tiefgreifend die → einer Forderung des Bundesverfassungsgerichts Umstellung des Genehmigungsregimes sein muss, aus dem Jahr 2018 genügen und Verwaltungen um die dringend erforderliche Wirkung eines be- und Gerichten standardisierte und wissensba- schleunigten Ausbaus der Windenergie zu erreichen. sierte Kriterien an die Hand geben, auf deren Dies betrifft insbesondere auch das Regime, mit dem Grundlage diese dann einheitlich entscheiden, versucht werden soll, Windenergie und den Schutz wo und unter welchen Bedingungen Windräder windenergiesensibler Arten in Einklang zu bringen. errichtet werden dürfen. 11 → genehmigungsrechtlich und naturschutzfachlich Deshalb ist die nächste Bundesregierung gefordert, tragfähig sein und dabei insbesondere auch dem schnell eine möglichst dauerhaft tragfähige Lösung EU-Recht zum Schutz besonders gefährdeter Ar- vorzulegen, die den Erfordernissen des Klimaschut- ten Genüge tun. zes und dem Schutz windenergiesensibler Arten → den naturschutzfachlich begründeten Aufwand gleichermaßen gerecht wird. Sie muss dabei außer- bei der Standortplanung von Windenergiepro- dem europarechtlichen Bestimmungen, insbeson- jekten begrenzen und gegenüber dem aktuellen dere der Vogelschutzrichtlinie und der Fauna-Flora- Verfahren reduzieren, um die Zahl der Genehmi- Habitat-Richtlinie, Genüge tun. gungen zu erhöhen. https://www.bundesverfassungsgericht.de/Shared- Leitsatz 2: „In grundrechtsrelevanten Bereichen darf der Docs/Entscheidun- Gesetzgeber Verwaltung und Gerichten nicht ohne wei- gen/DE/2021/03/rs20210324_1bvr265618.html tere Maßgaben auf Dauer Entscheidungen in einem fachwissenschaftlichen ‚Erkenntnisvakuum' übertragen, 10 Ausschreibungsvolumen: 2021: 4.500 MW (davon 1.600 sondern muss jedenfalls auf längere Sicht für eine zu- MW Sonderausschreibungen); 2022: 4.000 MW (davon mindest untergesetzliche Maßstabsbildung sorgen.“ 1.100 MW Sonderausschreibungen); 2023: 3.000 MW; https://www.bundesverfassungsgericht.de/Shared- 2024: 3.100 MW; 2025: 3.200 MW; 2026: 4.000 MW; Docs/Entscheidun- 2027: 4.800 MW; 2028: 5.800 MW gen/DE/2018/10/rs20181023_1bvr252313.html 11 Leitsätze zum Beschluss des Ersten Senats vom 23. Ok- tober 2018 (1 BvR 2523/13 und 1 BvR 595/14). 7
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn → den Genehmigungsbehörden klare Vorgaben zur Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof Abarbeitung von Genehmigungsvoraussetzungen (EuGH) 13 sowie ein in Deutschland ausgeprägtes zi- an die Hand geben. vilgesellschaftliches Engagement insbesondere zum → in der Folge auch die Gerichte entlasten, unter Schutz der gefährdeten Fauna. Dieses Engagement anderem dadurch, dass weniger häufig geklagt orientiert sich, auch weil Erfolge im Populations- wird. schutz sehr schwer zu erreichen sind, ebenfalls am → Abstriche beim Schutz besonders gefährdeter Schutz einzelner Tiere. 14 Arten vermeiden, und wo möglich dazu beitragen, dass auch der anderweitig erzeugte Druck auf die Darüber hinaus begrenzen Unklarheiten bei der Aus- gefährdeten Arten nicht weiter zunimmt. legung des europäischen Rechts den Lösungskorridor, der rechtssicher beschritten werden kann. Die Situa- Eine Reihe von Konzepten zur Konfliktlösung wird tion wird durch die Tatsache erschwert, dass über die seit geraumer Zeit in Fachkreisen, teilweise auch in zutreffende Auslegung des EU-Rechts nicht nur Un- der interessierten breiteren Öffentlichkeit disku- einigkeit unter Juristinnen und Juristen herrscht, tiert. 12 Sie unterscheiden sich insbesondere bezüg- sondern zudem der Europäische Gerichtshof (EuGH) lich des Maßes an Entschlossenheit, rechtliches noch in seinem letzten Urteil vom 4. März 2021 wich- Neuland zu betreten. tige Rechtsfragen erneut offengelassen hat. 15 Die gegenwärtige Praxis stellt zwar wegen ihres Aufwands, ihrer Fehler- und Klageanfälligkeit keine 4 Aktuell diskutierte Konzepte für ein beteiligte Seite zufrieden, aber sie funktioniert leid- verbessertes Zulassungsregime für lich, wenn auch deutlich zu langsam. Weil der Ge- Windenergie an Land setzgeber in dieser Frage über Jahrzehnte sehr zu- rückhaltend agierte, haben Gerichte aller Instanzen Den im Folgenden vorgestellten Vorschlägen ist ge- mit zahlreichen Entscheidungen selbst die Grundla- meinsam, dass sie bisher den Prozess der Überprü- gen dieser Praxis geschaffen, weshalb der Druck aus fung durch Expertinnen und Experten verschiedener Gerichten und den beteiligten Behörden auf die Poli- Fachrichtungen und Interessengruppen noch nicht tik, Konsequenzen aus der veränderten und in der durchlaufen haben. Sie geben Richtungen vor, in die Folge verfahrenen Lage zu ziehen, in der Vergangen- das bestehende Regime, das sich für die anstehenden heit für eine Trendumkehr nicht ausreichend war. Herausforderungen als unzureichend erwiesen hat, grundsätzlich weiterentwickelt werden kann. Hinzu kommt das an Einzelexemplaren ausgerich- tete Artenschutzrecht der EU, eine entsprechende 12 Die nachfolgende Aufstellung erhebt keinen Anspruch und Landnutzungsänderungen, sowie Verkehrsinfra- auf Vollständigkeit. strukturen als Hauptverursacher für Artenschutzdefi- zite in Deutschland und gegen die dortigen mächtigen 13 Urteil EuGH (Zweite Kammer) vom 4. März 2021 - C- Interessen durchzusetzen. 473/19, C-474/19 https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtspre- 15 Schmidt, Maximilian/Sailer, Frank (2021): Doch keine chung?Gericht=EuGH&Datum=04.03.2021&Aktenzei- Erleichterungen im Artenschutzrecht? Anmerkung zu chen=C-473%2F19 EuGH, Urt. v. 04.03.2021 - C‑473/19, C‑474/19; in: Zeit- schrift für neues Energierecht (ZNER) 2/2021, S. 154–161 14 Übergreifender Schutz für besonders gefährdete Arten wäre am dringlichsten in den Bereichen Landnutzung 8
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn 4.1 Bundesweit einheitliche Ausgestaltung des enthält, sondern lediglich „einen gemeinsamen Rah- Signifikanzansatzes des Bundesverwal- men für Standardsetzungen zur Prüfung und Bewer- tungsgerichts 16 (UMK-Prozess) tung der Signifikanz und den die Länder b) anhand länderspezifischer Gegebenheiten (zum Beispiel To- Der Beschluss der Umweltministerkonferenz vom pografie, Erfassungsmethoden) ausfüllen können“. 11. Dezember 2020 17 ist Teil eines Prozesses, mit dem Eine Tabelle enthält insgesamt zwölf „kollisionsge- Bund und Länder versuchen, der schon erwähnten fährdete Brutvogelarten mit besonderer Planungsre- Forderung des Bundesverfassungsgerichts aus dem levanz“ inklusive artspezifischer Regelabstände Oktober 2018 nachzukommen. In dem Beschluss (zwischen 350 und 3.000 Meter), bei deren Einhal- hatte das Bundesverfassungsgericht der Politik auf- tung davon auszugehen ist, dass kein signifikant er- gegeben, Verwaltung und Gerichten nicht auf Dauer höhtes Tötungsrisiko gegeben ist, und deren Unter- Entscheidungen in einem fachwissenschaftlichen schreitung einen vertieften Prüfbedarf und „Erkenntnisvakuum“ zu übertragen, sondern „für gegebenenfalls Vermeidungsmaßnahmen indiziert. eine zumindest untergesetzliche Maßstabsbildung“ zu sorgen. 18 Der Signifikanzrahmen ist zunächst der Dann erfolgt eine Einschränkung, die letztlich das Versuch von Bund und Ländern, es bei einer unter- zentrale Ziel des Prozesses, nämlich die bundesweite gesetzlichen Regelung zu belassen und weder Geset- Vereinheitlichung der Bewertungsverfahren, wieder zesäderungen noch die Ebene von Rechtsverord- infrage stellt. Demnach können die Länder abwei- nungen in Erwägung zu ziehen. chend von der Tabelle „weitergehende Regelungen“ über weitere kollisionsgefährdete und planungsrele- Das Bundesverfassungsgerichts hatte in seinem Be- vante Brutvogelarten treffen und darüber hinaus er- schluss von 2018 gefordert, bei den Zulassungsver- gänzende Prüfkategorien und Kriterien, erweiterte fahren von Windenergieanlagen und den mit ihnen Regelabstände und einen Nahbereich, in dem stets verbundenen erhöhten (Tötungs-)Risiken für be- stimmte Vogelarten eine größere Einheitlichkeit herzustellen und damit den Genehmigungen mehr Rechtssicherheit zu geben. Ziel ist ein bundesweit standardisiertes Bewertungsverfahren in Bezug auf die in Deutschland lebenden windenergiesensiblen Vogelarten. Ergebnis des langwierigen Prozesses sind „Mindeststandards, […] um den Vollzugsbehör- den und den am Zulassungsverfahren Beteiligten ein rechtssicheres Vorgehen zum Schutz der entspre- chenden Arten […] zu ermöglichen.“ Der Anspruch ist also eine Art „Bundesleitfaden“, der allerdings a) noch nicht die Standardsetzungen selbst 16 Urteil BVerwG 9 A 14.07 vom 09.07.2008 Windenergieanlagen (WEA) an Land – Signifikanzrah- https://www.bverwg.de/090708U9A14.07.0 men (Stand: 11.12.2020). https://www.umweltminister- konferenz.de/documents/vollzugshilfe_signifikanzrah- 17 Beschluss Umweltministerkonferenz von Bund und men_11-12-2020_1608198177.pdf Ländern, UMK (2020): Standardisierter Bewertungsrah- men zur Ermittlung einer signifikanten Erhöhung des 18 s. Fn. 11 Tötungsrisikos im Hinblick auf Brutvogelarten an 9
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn ein Verbotsverstoß unterstellt wird, sowie besondere zu prüfen wäre, ob die Anlage das Tötungsrisiko Schutzzonen für geschützte Vogelarten festlegen. 19, 20 signifikant erhöht → Etablierung einheitlich probabilistischer Bewer- Die eigentliche Arbeit, nämlich den „Rahmen für tungsmethoden, um zu klären, ob sich das Risiko Standardsetzungen“ einheitlich auszufüllen, steht relevant erhöht, einen geschützten Vogel zu töten demgemäß noch bevor. Nach dem Beschluss vom → Definition von artspezifischen Schwellenwerten Dezember 2020 wurden Arbeitsgruppen zu den The- für das signifikant erhöhte Tötungsrisiko (im men Repowering, probabilistische Bewertungsme- Verhältnis zum allgemeinen Lebensrisiko) thoden und artenspezifische Schwellenwerte einge- richtet. An dem Prozess sind auch Vertreterinnen und Vertreter von Energie- und Naturschutzver- Zu klärende Fragen: bänden beteiligt. Insbesondere die Energiewirtschaft hat den Beschluss vom 11.12.2020 als „weiterhin un- → Der bisher vorliegende Beschluss vom 11.12.2020 zureichend“ kritisiert und eine „am Ende des Tages unternimmt den Versuch, die etablierten Verfah- rechtsverbindliche Regelung“ als erfolgsentschei- rensweisen im Genehmigungsprozess möglichst dend bezeichnet. 21 weitgehend beizubehalten und die Unterschiede zwischen den Ländern so weit als möglich anzu- Ein Teilziel innerhalb des UMK-Prozesses und in- gleichen. Ob dies gelingt, ist noch offen. nerhalb des vorgegebenen Rechtsrahmens könnten → Auch ob es in dem UMK-Prozess zeitnah zu einer Schritte hin zu einem bundesweit einheitlichen Einigung kommen kann, erscheint angesichts Vollzug des bestehenden Artenschutzrechts mit den unterschiedlicher Auffassungen bezüglich des folgenden Elementen sein: Änderungsbedarfs und der zu erwartenden Ent- scheidungen nach der Bundestagswahl unsicher. → Erstellung einer abschließenden Liste der zu prü- → Wenn es zu einer Einigung kommt, bleibt unklar, fenden Vogelarten und Begrenzung auf faktisch ob der Signifikanzrahmen am Ende die Landes- windenergiesensible Arten leitfäden und Arbeitshilfen ersetzen oder nur er- → Definition von Prüfabständen zwischen Nistplatz gänzen soll – und ob die Länder (und in der Folge und Windenergieanlagen innerhalb derer vertieft 19 Wörtlich heißt es in dem Beschluss: „Die Länder können naturräumliche Ausstattung, landesspezifische Er- abweichend von Tabelle 1 [Liste kollisionsgefährdeter kenntnisse).“ Brutvogelarten mit besonderer Planungsrelevanz, d. Au- tor] weitergehende Regelungen treffen: Soweit in einzel- 20 Allerdings enthält der Beschluss auch die Verpflichtung nen Bundesländern fundierte wissenschaftlich gestützte der Vertreterinnen und Vertreter der Länder „von der Erkenntnisse über weitere kollisionsgefährdete und pla- Öffnungsklausel der ‚Liste kollisionsgefährdeter Brutvo- nungsrelevante Brutvogelarten bestehen, die einem be- gelarten mit besonderer Planungsrelevanz´ nur restrik- sonderen Tötungsrisiko durch WEA unterliegen, so kön- tiv Gebrauch zu machen“. nen diese in den jeweiligen Prüfungskatalog des Landes aufgenommen werden. Die Länder können ferner ergän- 21 BDEW/BEE/bne/BWE/VDMA/VKU (2020): Knoten ist zende Prüfkategorien und Kriterien, erweiterte Regelab- noch nicht durchschlagen: Beschluss zum Signifikanz- stände oder besondere Schutzzonen für geschützte Vo- rahmen weiterhin unzureichend gelarten festlegen (z. B. für Gebiete mit https://www.bdew.de/presse/presseinformatio- Vogelkonzentrationen). Dies erfolgt unter Berücksichti- nen/knoten-ist-noch-nicht-durchgeschlagen-be- gung der länderspezifischen Rahmenbedingungen (z. B. schluss-zum-signifikanzrahmen-weiterhin-unzu- reichend/ 10
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn dann die Gerichte) hierüber ein gemeinsames 4.2 Windausbau und Artenschutzziele: Verständnis erreichen. Vorschlag für ein europarechtskonformes (Ausnahme-)Regime für Windkraft an → Ebenfalls noch nicht entschieden scheint: Geht Land 23, 24, 25 der UMK-Prozess in der bevorstehenden 20. Le- gislaturperiode nahtlos weiter oder verständigt Das Rechtsgutachten, das dem Vorschlag zugrunde sich die (neue) Koalition auf einen anderen Weg liegt, wurde im Auftrag von Agora Energiewende er- und/oder ein anderes Verfahren? arbeitet. Es befasst sich vornehmlich mit dem arten- schutzrechtlichen Tötungsverbot der EU, das in § 44 Fortschritte gegenüber Ist-Regelung:22 und 45 des Bundesnaturschutzgesetzes (BNatschG) in deutsches Recht übertragen wurde. Im Mittelpunkt → Vereinheitlichung von Genehmigungsverfahren steht der Vogelschutz, weil dieser den Konflikt zwi- in Teilaspekten und entsprechend Entlastung von schen dem Ausbau der Windenergie an Land und sei- Antragstellern, für den Fall, dass der standardi- nen realen und vermuteten Folgen für den Natur- sierte Bewertungsrahmen bundesweit für die schutz dominiert. Behörden verbindlich wird („Bundesleitfaden“), was die Kooperation und den Einigungswillen al- Der in dem Rechtsgutachten unterbreitete Vorschlag ler Länder voraussetzt hält grundsätzlich am in Deutschland etablierten Ge- → Begrenzte Beschleunigung von Genehmigungs- nehmigungssystem für Windenergie an Land mit verfahren wegen standardisierter Ermittlung ei- Einzelfallprüfungen und Einzelfallentscheidungen ner signifikanten Erhöhung des Tötungsrisikos fest, inklusive des sogenannten Signifikanzansatzes im Hinblick auf Brutvogelarten des Bundesverwaltungsgerichts („signifikant erhöhtes Tötungsrisiko“). Er geht aber davon aus, dass der zu- Die nachfolgenden Vorschläge gehen schon formal nehmende Windenergieausbau sowie eine sich in der über die Ebene eines untergesetzlichen Leitfadens Folge verschärfende Flächenknappheit dazu führen, hinaus, indem sie entweder Rechtsverordnungen, dass von den Windenergieprojektierern vermehrt Gesetzesänderungen oder beides zusammen ins Ausnahmemöglichkeiten in Anspruch genommen Zentrum ihrer Überlegungen stellen und eine mehr werden müssen, die das europäische Artenschutz- oder weniger tiefgreifende Änderung des aktuellen recht unter definierten Bedingungen zulässt und die Genehmigungsrahmens anstreben. im deutschen Bundesnaturschutzgesetz (§ 45 Abs. 7 BNatSchG) entsprechend verankert sind. 22 Voraussetzung für diese Fortschritte wäre die erfolgreiche Sachverständigenrats für Umweltfragen (SRU) der Bundes- Ausarbeitung der oben unter „Teilziele“ genannten vier Ele- regierung und soll ebenfalls Bestandteil einer ausführlichen mente. Stellungnahme werden, die der SRU für Anfang 2022 plant. https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Down- 23 Verheyen, Roda/Köck, Wolfgang/Pabsch, Séverin (2021): loads/DE/04_Stellungnahmen/2020_2024/2021_10_im- Windausbau und Artenschutz-Ziele: Vorschlag für ein euro- pulspapier_wind.pdf?__blob=publicationFile&v=7 parechtskonformes (Ausnahme-)Regime für Windkraft an Land. Rechtsgutachten im Auftrag von Agora Energiewende 25 Köck, Wolfgang/Rheinschmitt, Christoph/Verheyen, Roda (2021): Die artenschutzrechtlichen Ausnahmemöglichkeiten 24 Dieser Vorschlag hat auch Eingang gefunden in ein im Ok- bei der landseitigen Windenergie – Ein Regelungsvorschlag; tober 2021 unter dem Titel „Klimaschutz braucht Rücken- in: Zeitschrift für Umweltrecht (ZUR) 5/2021, S. 259–269 wind: Für einen konsequenten Ausbau der Windenergie an Land“ (S. 3) veröffentlichtes Impulspapier des 11
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn Um die Inanspruchnahme von Ausnahmen zu er- windkraftsensiblen Vogelarten zu erstellen (§ 44 leichtern, soll ein Teil der standort- beziehungsweise Abs. 5 BNatSchG, Tatbestandsebene) und zweitens projektbezogenen Vermeidungsmaßnahmen hin zu das modifizierte Ausnahmeregime (§ 45 Abs. 7 populationsbezogenen Maßnahmen im Rahmen BNatschG, Ausnahmeregime) rechtssicher zu präzi- qualitativ und quantitativ aufgestockter Artenhilfs- sieren. programme (AHP) verschoben werden. Der Vor- schlag verfolgt das Ziel, die rechtlichen Bedingungen In der Konsequenz sollen die standort- beziehungs- für die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen weise projektbezogenen Vermeidungsmaßnahmen rechtssicher zu präzisieren, damit dieser Weg auch zur Unterschreitung des signifikant erhöhten Tö- praktisch häufiger beschritten wird als bisher. tungsrisikos nur noch bis zu einer präzise zu defi- nierenden Zumutbarkeitsschwelle verlangt werden. Dies sei dann zu erwarten, argumentieren die Auto- Ab diesem Punkt können die Projektierer regelmäßig rinnen und Autoren, wenn die Einhaltung der An- in die Ausnahme umschwenken. Zusätzlich zu den forderungen, die Ausnahmen vom Tötungsverbot projektbezogenen Vermeidungsmaßnahmen an den nach EU-Recht 26 erfüllen müssen (Verschlechte- Standorten oder anstelle dieser greifen dann popula- rungsverbot bezogen auf Populationen wildlebender tionsbezogene Maßnahmen im Rahmen von ausge- europäischer Vogelarten beziehungsweise Erreichen weiteten oder neu konzipierten Artenhilfsprogram- eines günstigen Erhaltungszustands dieser Arten), men (AHP) auf Länderebene, die von professionellen künftig nicht mehr allein den einzelnen Windener- Trägern umgesetzt werden. Die Windprojektierer gieprojektierern an den jeweiligen Standorten auf- werden nach dem Verursacherprinzip zu einer ent- gebürdet werden. Wenn an einem Standort die sprechenden Abgabe zur Teilfinanzierung der stand- Schwelle des „signifikant erhöhten Tötungsrisikos“ ortfernen Artenhilfsmaßnahmen verpflichtet. nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand, der beispielsweise das Windenergieprojekt insgesamt Zur Ausgestaltung des neuen Ausnahmeregimes unwirtschaftlich machen würde, unterschritten schlagen die Autorinnen und Autoren einen soge- werden kann, soll in Zukunft das neu konzipierte nannten „strategischen Ansatz“ vor, der insbeson- Ausnahmeregime greifen. Praktisch soll dann, zu- dere darauf gerichtet sein soll, das rechtlich bin- sätzlich zu Vermeidungsmaßnahmen vor Ort, eine dende Verschlechterungsverbot der EU- professionelle öffentlich-rechtlich oder privatrecht- Vogelschutzrichtlinie zu garantieren, beziehungs- lich organisierte „Agentur“ den Schutz der Populati- weise die Möglichkeit des Erreichens eines günsti- onen kollisionsgefährdeter Vogelarten in ihren Ver- gen Erhaltungszustandes zu befördern, obwohl auf breitungsgebieten insgesamt absichern. Dies soll auf „unzumutbare“ Maßnahmen an den Standorten ver- Ebene der Bundesländer umgesetzt werden. zichtet wird. Die öffentlich-rechtlich oder privat- rechtlich organisierte „Agentur“ wird nach dem Vor- schlag aus öffentlichen Haushalten (Bund und Umsetzung des Vorschlags Länder) sowie den Beiträgen der Windprojektierer mischfinanziert und soll auch auf bereits existie- Den Kern der Regelung sollen zunächst zwei neue rende Bundes(naturschutz)-Programme zurückgrei- Verordnungsermächtigungen im Bundesnatur- fen. schutzgesetz bilden, die es der Bundesregierung ers- tens erlauben, eine Bundesliste der 26 EU-Vogelschutzrichtlinie 12
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn Erklärtes Ziel der Umsetzung des Vorschlags ist es, enthalten, um den Aufwand für die Vorhabenträger die Verantwortung der Projektträger für den Arten- in verhältnismäßigen Grenzen zu halten. Zentral für schutz im Umfeld ihrer Anlagen aufrechtzuerhalten, die Erfolgsaussichten ist demnach die möglichst diese Verantwortung aber durch klare und rechts- präzise Festlegung einer „Zumutbarkeitsgrenze“, de- verbindliche Vorgaben anwendungssicher auszuge- ren genaue Ausgestaltung darüber entscheidet, ob stalten und darüber hinaus den Verwaltungsvollzug und inwieweit mehr Einheitlichkeit in den Ausnah- zu vereinfachen. meentscheidungen und in der Folge mehr Rechtssi- cherheit entstehen. So soll sichergestellt sein, dass Dazu soll zunächst entsprechend der UMK-Be- die Wirtschaftlichkeit des Anlagenbetriebs durch schlusslage von 2020 (s. Kapitel 4.1.) im Rahmen der Vermeidungsmaßnahmen nicht gefährdet wird. Sind ersten oben genannten Rechtsverordnung eine Bun- Vermeidungsmaßnahmen unzumutbar, soll der Pro- desliste von windenergiesensiblen Vogelarten ver- jektträger in der Regel eine Ausnahmegenehmigung ankert werden (im UMK-Beschluss: zwölf Arten), erhalten. auf die sich die artenschutzrechtliche Prüfung in künftigen Zulassungsverfahren grundsätzlich zu In der Rechtsverordnung beziehungsweise durch konzentrieren hat. Ebenfalls entsprechend der Änderung des Fachrechts sollen auch weitere Er- UMK-Beschlusslage sollen die Bundesländer die (auf leichterungen umgesetzt werden, zum Beispiel müs- zwei Jahre befristete) Möglichkeit erhalten, eine ab- sen Kartierungen, die bei den Länderbehörden vor- weichende beziehungsweise ergänzende Liste fest- liegen, Vorhabenträgern konsequenter als in der zulegen. Danach wäre die Liste zunächst verbindlich gegenwärtigen Praxis zur Verfügung gestellt werden, und abschließend. Allerdings soll eine periodische sofern sie das Projektgebiet räumlich abdecken und Überprüfung jeweils nach fünf Jahren erfolgen, um ausreichend aktuell sind. sicherzustellen, dass der Katalog der windenergie- sensiblen Arten noch dem Stand der wissenschaftli- chen und fachlichen Erkenntnisse entspricht. Die Ausnahmefähigkeit der Windenergie an Land Überprüfung soll eine Bundesbehörde (vorgeschla- und strategischer Ansatz gen wird das Bundesamt für Naturschutz, BfN) vor- nehmen und zu diesem Zweck ein eigenes Gremium Die Autorinnen und Autoren gehen davon aus, dass aus Expertinnen und Experten berufen. Windenergieanlagen vom Tötungsverbot besonders gefährdeter Arten im EU-Recht im Einzelfall ausge- Ebenfalls in dieser Rechtsverordnung sollen Ab- nommen werden können, sofern zwingende Gründe standsvorgaben der Windenergieanlagen zu Nestern, des öffentlichen Interesses vorliegen. Die aktuell in Brutplätzen oder Revieren künftig für jede wind- Deutschland ebenfalls diskutierte Festlegung von energiesensible Vogelart verbindlich und abschlie- Länderausbauzielen für Windenergie an Land sei ßend festgelegt werden und nicht mehr wie bisher zwar wünschenswert, aber für das vorgeschlagene auf zahlreichen und je nach Bundesland abweichen- veränderte Ausnahmeregime nicht zwingend: Denn den fachlichen Arbeitshilfen gründen. 27 bis zum Erreichen der im Erneuerbare-Energien- Gesetz (EEG) festgelegten Ausbauziele diene die Die Rechtsverordnung soll auch die Regelungen über landseitige Windenergie auch der öffentlichen die Zumutbarkeit von Vermeidungsmaßnahmen 27 FA Wind (2021): Überblick zu den Abstandsempfehlun- windenergie.de/fileadmin/files/PlanungGenehmi- gen zur Ausweisung von Windenergiegebieten in den gung/FA_Wind_Abstandsempfehlungen_Laender.pdf Bundesländern. https://www.fachagentur- 13
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn Sicherheit, was sie ebenfalls im Rahmen einer Ver- Übergangsregelung hältnismäßigkeitsprüfung ausnahmefähig mache. Weil der vorgeschlagene Regimewechsel Zeit für die Allerdings darf sich der Erhaltungszustand der wild- Umsetzung (insbesondere den Aufbau eines bundes- lebenden europäischen Vogelarten infolge von Aus- weiten Monitoringsystems der aktuell gelisteten und nahmegenehmigungen nach den Bestimmungen der anderer gefährdeter Vögel) benötigt, schlagen die Au- EU-Vogelschutzrichtlinie nicht verschlechtern. Für torinnen und Autoren vor, dass für einen Übergang- den Nachweis, dass diese Vorgabe trotz der Gefähr- zeitraum von drei bis fünf Jahren das sogenannte OR- dung einzelner Exemplare windenergiesensibler Ar- NIS-Kriterium eingehalten werden muss. 28 ten an bestimmten Standorten eingehalten wird, soll der vorgeschlagene „strategische Absatz“ sorgen. Der „strategische Ansatz“ ist (sofern aus öffentlichen Seine Ausgestaltung würde in eine Windenergie- Haushalten und dem hier vorgesehenen Beitrag der an-Land-Verordnung gefasst. Charakterisiert wäre Windenergiebetreiber ausreichend ausgestattet) ge- der strategische Ansatz dadurch, dass eignet, den Artenschutz in Deutschland insgesamt voranzubringen, 29 weil er einem (zusätzlichen) pro- → die Einhaltung des Verschlechterungsverbots fessionellen Akteur überantwortet würde, der sich mit nicht dem einzelnen Vorhabenträger allein auf- Sachverstand allein diesem Geschäft widmen könnte. erlegt, sondern einer professionellen „Agentur“ Auf welcher rechtlichen Basis dies möglich ist, wird als permanente Aufgabe überantwortet wird, die in dem Vorschlag detailliert durchdekliniert. mit spezifischen Artenschutzprogrammen, Schutz- und Förderungsmaßnahmen kontinu- Zur Etablierung des strategischen Ansatzes wird auf ierlich an der Verbesserung der Erhaltungszu- bestehende Programme der Länder, aber auch des stände kollisionsgefährdeter Vogelarten auf der Bundes („Bundesprogramm Biologische Vielfalt“, für die Verschlechterungsbeurteilung maßgebli- „Das nationale Naturerbe“) verwiesen, die dauerhaft chen räumlichen Ebene arbeitet, mit zusätzlichen Mitteln in erheblicher Größenord- → durch ein kontinuierliches Monitoring sicherge- nung speziell zum Schutz windenergiesensibler Ar- stellt wird, dass die Verschlechterungsbeurtei- ten ausgestattet werden sollen. Vorstellbar sei, dass lung beziehungsweise die Verbesserungsbeurtei- aus diesen Strukturen auch die „Agentur“ zur pro- lung im Zeitpunkt der Entscheidung über die fessionellen Umsetzung der Artenhilfsprogramme Erteilung einer Ausnahmegenehmigung verläss- entstehen oder gebildet würde. lich getroffen werden kann, und → die Vorhabenträger in Anwendung des Verursa- Verknüpft mit dem kontinuierlichen Monitoring, das cherprinzips verpflichtet werden, sich finanziell bundesweit das Wissen über den Erhaltungszustand an der Arbeit der Agentur zu beteiligen. sämtlicher wildlebender Vogelarten in Regionen, in denen auch Windenergieanlagen errichtet werden, auf ein höheres Niveau heben würde und über die 28 Das ORNIS-Kriterium besagt, dass ein durch ein Vorha- 29 Vorrangig zielt der strategische Ansatz zwar auf die – ben verursachter zusätzlicher Verlust von unter einem unter anderem – durch Windenergieanlagen gefährde- Prozent der gesamten Sterblichkeitsrate einer Tierart ten Arten, eine Ausstrahlung auf den Erhalt der Arten- keine negativen Auswirkungen auf den Erhaltungszu- vielfalt insgesamt ist aber wahrscheinlich und er- stand hat. Es wurde ursprünglich entwickelt, um die wünscht. (traditionelle) Jagd auf bestimmte Vogelarten in Grenzen zu ermöglichen. 14
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn Zeitachse kontinuierlich vorhielte, wäre das ein er- → Die Begrenzung der behördlichen Prüfung auf heblicher Fortschritt bei der Beobachtung der realen eine Liste windenergiesensibler Vogelarten be- Lage der Artenvielfalt in Deutschland. Ein in diesem deutet im Umkehrschluss den generellen und Sinne für alle zu betrachtenden Arten „durchkartier- rechtlich unabgesicherten Ausschluss anderer tes Deutschland“ könnte perspektivisch eine Wis- schlaggefährdeter Vogelarten von dieser Prüfung. sensgrundlage bilden für den Übergang vom gegen- → Der Vorschlag enthält keine Lösung für die Prü- wärtig (europarechtlich vorgegebenen) fung des Artenschutzes im Rahmen der planeri- individuenbezogenen zu einem populationsbezoge- schen Ausweisung von Flächen für die Windener- nen Schutz besonders gefährdeter Arten. gie und adressiert somit nicht die Herausforderung der Umsetzung der Ausbauziele. Zu klärende Fragen: Fortschritt gegenüber Ist-Regelung: → Der Vorschlag hält weitgehend am derzeit prakti- zierten Verfahren fest, das auf einer Einzelfall- → Regelmäßigere Inanspruchnahme von Ausnah- prüfung der an den Standorten vorkommenden men und Entlastung der Projektierer von sehr Arten und auf abstandsbasierten Konzepten aufwendigen Maßnahmen an den Standorten, gründet. Damit bestehen auch die damit verbun- wenn im weiteren Verfahren die Präzisierung der denen Probleme der zeitlichen und örtlichen Zumutbarkeitsschwelle gelingt Fluktuation – begrenzte Gültigkeitsdauer der → In diesem Fall auch verbesserte Standardisierung Kartierungen, Nachprüfungen bei Neuansiedlung der Genehmigungsverfahren durch Bindung der windenergiesensibler Arten – fort. Behörden und verbesserte Rechtssicherheit erteil- → Der Regelungsbedarf im Rahmen der vorgeschla- ter Genehmigungen durch Bindung der Gerichte genen Verordnungen ist insgesamt erheblich: Ar- → Professionell durchgeführte Artenhilfspro- tenliste(n), Normierung von Abstandsvorgaben, gramme als Impuls für eine wirksame Biodiver- Kartieranleitung, Listen anerkannter und zumut- sitätsstrategie in Zeiten erweiterter Flächenbe- barer Vermeidungsmaßnahmen. anspruchung durch das neue Energiesystem → Darüber hinaus: Zumutbarkeitsprüfung und ab- → Partielle Motivation und Einbindung der ehren- schließende Fixierung der Schwelle für das Um- amtlich und professionell im Naturschutz Akti- schwenken von projektbasierten Maßnahmen ven durch Aussicht auf höherwertigen und sys- auf die Ausnahme und hin zu populationsbezo- tematischeren Vogel- und als Nebenergebnis genen Maßnahmen im Rahmen von Artenhilfs- mehr Artenschutz in der Fläche programmen (AHP) stehen noch aus. → Zu prüfen ist die Option einer weiteren Liste („Tabuliste“) von Arten, deren Population so ge- fährdet ist, dass sie von Ausnahmemöglichkeiten vollständig ausgenommen werden sollten. → Die Regelung beschränkt sich zudem auf das Tö- tungsverbot (Artikel 5 (a) Vogelschutz-Richtlinie, VS-RL) und behandelt nicht das Beschädigungs- verbot (Artikel 5 (b)) und das Störungsverbot (Ar- tikel 5 (d)). Die beiden letztgenannten Verbote könnten schnell in den Fokus gerichtlicher Aus- einandersetzungen geraten, solange nur das Tö- tungsverbot adressiert ist. 15
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn 4.3 Einführung gesetzlich geregelter Aus- Deutschland Klimaneutralität der Stromversorgung nahmevoraussetzungen für die landsei- erreicht ist. Begründet wird das angestrebte Sonder- tige Windenergie in Bezug auf das arten- recht mit dem Schutz des Klimas als Belang des öf- schutzrechtliche Tötungsverbot30,31 fentlichen Interesses und der Versorgungssicher- heit. 33 Die Kanzlei von Bredow/Valentin/Herz (Berlin) hat in einem Rechtsgutachten im Auftrag der Stiftung Die Ausnahme vom artenschutzrechtlichen Tö- Klimaneutralität (SKN) untersucht, welche Ände- tungsverbot soll durch Schutzabstände um nachge- rungen am Artenschutzrecht geeignet wären, um wiesene und besetzte Nistplätze für als windkraft- den Zielkonflikt mit dem Klimaschutz konstruktiv sensibel erkannte Vogelarten eindeutig begrenzt aufzulösen. 32 Ziel des Vorschlags ist laut SKN eine werden. Vorgeschlagen wird ein neu einzuführender Vereinfachung und Beschleunigung der Zulassung § 45b BNatschG 34, der gesetzlich definierte und da- von Windenergieanlagen durch eine gesetzlich gere- mit allgemein geltende Voraussetzungen enthält, un- gelte artenschutzrechtliche Ausnahme im Einklang ter denen eine Ausnahme vom Tötungsverbot zu er- mit den Vorgaben der europäischen Vogelschutz- teilen ist. Danach wären Errichtung, Betrieb und richtlinie. Durch Schutzabstände um nachgewiesene Änderung von landseitigen Windenergieanlagen Nistplätze soll sichergestellt werden, dass dies nicht immer zulässig, wenn die Anlagen einen sogenann- zu Bestandsrückgängen windkraftsensibler Vogelar- ten äußeren Schutzabstand zu besetzten Fortpflan- ten führt. zungsstätten einhalten. Anlagen innerhalb des äuße- ren Schutzabstands sind demnach dann zulässig, Der Regelungsvorschlag empfiehlt ein gesetzlich wenn für sie ebenfalls im Gesetz definierte projekt- verankertes Sondertechnologierecht für die Errich- bezogene Maßnahmen durchgeführt werden. Im ab- tung, den Betrieb und die Änderung von Windener- soluten Nahbereich besetzter Fortpflanzungsstätten gieanlagen an Land mit dem Ziel, neue Anlagen, die greift die hier definierte Ausnahme allerdings nicht. bestimmte Anforderungen erfüllen, so lange über die Anlagen in diesem Nahbereich werden auf das regu- Erteilung von Ausnahmen vom artenschutzrechtli- läre Bewertungssystem nach § 44 zurückverwiesen. chen Tötungsverbot der EU zu genehmigen, bis in 30 Stiftung Klimaneutralität (2021): Klimaschutz und Ar- das deutsche Artenschutzrecht zur Verbesserung der Zu- tenschutz – Wie der Zielkonflikt beim Ausbau der Wind- lassungsfähigkeit von Windenergieanlagen anzupassen? energie konstruktiv aufgelöst werden kann. Ein Rege- Rechtsgutachten der Rechtsanwaltskanzlei von Bre- lungsvorschlag. https://www.stiftung- dow/Valentin/Herz im Auftrag der Stiftung Klimaneut- klima.de/app/uploads/2021/05/2021-04-29-Zielkon- ralität. https://www.stiftung-klima.de/app/uplo- flikt-Windenergie-und-Artenschutz-auflo- ads/2021/05/2021-04-29-Gutachten- esen.fin_.pdf Artenschutzrecht-Windenergie_1.1.pdf 31 Stiftung Klimaneutralität/Agora Energiewende/Agora 33 Eine entsprechende Formulierung war in den Entwürfen Verkehrswende (2021): Politikinstrumente für ein kli- für § 1 EEG, das Anfang 2021 in Kraft trat, bereits ent- maneutrales Deutschland. 50 Empfehlungen für die 20. halten, ehe sie kurz vor der Entscheidung im Bundestag Legislaturperiode (2021–2025), S. 30ff. https://sta- wieder gestrichen wurde tic.agora-energiewende.de/fileadmin/Pro- jekte/2021/2021_06_DE_100Tage_LP20/A- 34 Bringewat, Jörn/Scharfenstein, Clara (2021): Entwurf zur EW_219_Politikinstrumente_klimaneutrales_Deutsch- Einführung eines §45b BNatschG – Windenergie an land_WEB.pdf Land. https://www.stiftung-klima.de/app/uplo- ads/2021/06/2021-06-18-Vorschlag-fuer-neuen- 32 Scharfenstein, Clara/Bringewat, Jörn (2021): Welche 45b-BNatSchG-Gesetzentwurf-Begruendung-1.pdf Möglichkeiten bietet das europäische Artenschutzrecht, 16
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn Ziel der Regelung ist es, für die zügige Genehmigung Als Maßnahmen beispielhaft genannt werden unter von Windenergieanlagen Rechtssicherheit zu schaf- anderem die Schaffung von Ablenkflächen oder der fen und insbesondere einen rechtssicheren Weg in Einsatz technischer Antikollisionssysteme, die die artenschutzrechtliche Ausnahme zu eröffnen, Windenergieanlagen bei Annäherung des Vogels indem deren Anforderungen in nach Rechtsansicht rechtzeitig in den sogenannten Trudelbetrieb über- der Autorinnen und Autoren europarechtskonfor- führen, um mit hinreichender Zuverlässigkeit eine mer Weise konkretisiert werden. Deshalb versteht Kollision zu verhindern. sich die vorgeschlagene gesetzliche Regelung nicht als Etablierung eines neuen Ausnahmetatbestands, Außerhalb des äußeren Schutzabstands sind Wind- der nach dem europäischen Vogelschutzrecht unzu- energieanlagen artenschutzrechtlich immer zulässig. lässig oder diesbezüglich fragwürdig wäre, sondern Da der Gesetzgeber in diesem Konzept insoweit eine als zulässige Konkretisierung im Rahmen der beste- abschließende Regelung trifft, beschränkt sich die henden Ausnahmetatbestände. artenschutzrechtliche Prüfung der Behörden auf die Einhaltung dieser Vorgaben. In der Verantwortung Maßgeblich wäre mithin in Zukunft für Genehmi- der Projektierer bleibt die Kartierung der relevanten gung und Betrieb von Windenergieanlagen nicht Brutstandorte und gegebenenfalls die Umsetzung mehr die einzelfallbezogene Risikobewertung durch projektbezogener Maßnahmen. die Genehmigungsbehörde, sondern das Vorliegen der Ausnahmevoraussetzungen, die wiederum aus Die Bundesregierung soll in geeigneter Weise über einer generellen Risikobewertung in Form eines zu die Entwicklung der durch das Sondertechnologier- dem Vorschlag erstellten Fachgutachtens abgeleitet echt erfassten Arten berichten. Flankierend, jedoch werden. Die Ausnahmevoraussetzungen werden also ausdrücklich nicht als europarechtlich gebotene Vo- derart gesetzlich konturiert, dass die Vorgaben der raussetzung zur Umsetzung des Konzepts, schlagen Vogelschutzrichtlinie (Artikel 9) ganz überwiegend die Autorinnen und Autoren ein Bund-Länder- auf der Ebene der gesetzgeberischen Entscheidung Hilfsprogramm für gefährdete Vogelarten mit einem abgearbeitet werden. jährlichen Volumen von mindestens 100 Millionen Euro vor. Dies sei vor dem Hintergrund geboten, dass Konkret soll im Bundesnaturschutzgesetz für wind- viele Vogelarten durch eine Vielzahl anderer Fakto- energiesensible Vogelarten ein jeweils artspezifi- ren (Intensivlandwirtschaft, Infrastrukturen, Zersie- scher innerer Schutzabstand um alle nachgewiese- delung) unter Druck stehen und könnte beispiels- nen und besetzten Fortpflanzungsstätten festgelegt weise im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe werden. Innerhalb dieses Schutzabstands sind „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küsten- Windenergieanlagen artenschutzrechtlich über das schutzes“ (GAK) umgesetzt werden. hier diskutierte Sondertechnologierecht nicht zuläs- sig. 35 Innerhalb eines zweiten äußeren Schutzab- stands, genauer im Gebiet zwischen innerem und Artenschutzfachliches Gutachten äußerem Schutzabstand, sind Windenergieanlagen artenschutzrechtlich dann zulässig, wenn vom Be- Der hier vorgestellte Regelungsvorschlag wurde von treiber im Gesetz klar definierte Maßnahmen zur einem parallel beauftragten artenschutzfachlichen Minderung des Kollisionsrisikos eingesetzt werden. Gutachten flankiert, das sich in Deutschland 35 Das geltende Artenschutzrecht soll aber parallel an- kann wie bisher nach § 44 Abs. 5 oder §45 Abs. 7 geneh- wendbar bleiben. Eine Anlage, die die Voraussetzungen migungsfähig sein. nach dem vorgeschlagenen § 45b Abs. 1 nicht einhält, 17
Sie können auch lesen