Windenergie und Artenschutz - Wege nach vorn - ANALYSE 234/07-A-2021/DE Oktober 2021 - Agora ...

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Windenergie und Artenschutz –
Wege nach vorn
ANALYSE

Autor: Dr. Gerd Rosenkranz            234/07-A-2021/DE
Projektleitung: Mara Marthe Kleiner       Oktober 2021
Windenergie und Artenschutz - Wege nach vorn - ANALYSE 234/07-A-2021/DE Oktober 2021 - Agora ...
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn

Liebe Leserin, lieber Leser,                                der Vögel. Da die Windkraft eine der Schlüsseltech-
                                                            nologien für Klimaschutz und Energiewende ist, gilt
der Ausbau der Windenergie an Land ist in den ver-          es, Artenschutz und den beschleunigten Ausbau der
gangenen Jahren in Deutschland weit hinter den              Windenergie in Einklang zu bringen.
Notwendigkeiten zurückgeblieben, wenn wir unsere
Klimaziele erreichen wollen. Das liegt nicht nur, je-       Zahlreiche Vorschläge, die alle das Ziel verfolgen, den
doch auch daran, dass immer wieder Klagen gegen             Zielkonflikt zwischen Windkraft und Artenschutz
Windenergieprojekte vor Gericht landen und erfolg-          aufzulösen, liegen inzwischen auf dem Tisch. In die-
reich den Bau oder die Inbetriebnahme von Windrä-           sem Arbeitspapier werden die Vorschläge vorgestellt
dern verhindern oder verzögern.                             und bewertet, damit die Politik eine informierte Ent-
                                                            scheidung treffen kann.
Eines der häufigsten Motive für die Klägerinnen und
Kläger ist der Vogelschutz. Und tatsächlich gibt es         Ich wünsche eine angenehme Lektüre!
Vogel-Schlagopfer an Windrädern, die es zu mini-
mieren gilt. Gleichzeitig ist jedoch das größte Risiko      Ihr
für Vögel ein Fortschreiten der Klimakrise, denn            Dr. Patrick Graichen
diese hat gravierendste Folgen für die Lebensräume          Direktor, Agora Energiewende

Ergebnisse auf einen Blick:

                Es ist möglich, den Konflikt zwischen Windkraftausbau und Vogelschutz konstruktiv zu lösen,
                und Klima- wie Artenschutz gleichermaßen voranzubringen. Die Stichwörter hierfür lauten: Ge-
       1        nehmigungsverfahren vereinheitlichen, den Vogelschutz stärker auf Populationsschutz ausrich-
                ten und dafür ausreichend Flächen und Mittel bereitstellen. So kann der Vogelschutz sogar ge-
                genüber den aktuell standortbezogenen Einzelfallprüfungen gewinnen.

                Als Sofortmaßnahme sollte der Vogelschutz in den Genehmigungsverfahren gesetzlich oder per
                Verordnung rechtssicherer und zeitlich gestrafft ausgestaltet werden. Dies kann in den ersten
       2        100 Tagen der neuen Regierung unter Beibehaltung der individuenbezogenen Logik des Vogel-
                schutzes aufgesetzt werden. Konzeptvorschläge hierfür liegen auf dem Tisch.

                Anschließend sollte der Schutz windenergiesensibler Vogelarten stärker am Populations- statt
                am Individuenschutz ausgerichtet werden – mit entsprechender Sicherstellung der für einen
                wirksamen Populationsschutz notwendigen Flächen und professionell gemanagten Artenhilfs-
       3        programmen. Dies bedeutet in der Raumplanung eine Entflechtung von Wind- und Vogelvor-
                ranggebieten. Dazu gehört zudem ein Artenschutzfonds, der aus mindestens 100 Mio. Euro pro
                Jahr an öffentlichen Mitteln sowie zusätzlichen Ausgleichszahlungen der Windenergiebetreiber
                gespeist wird. Die Naturschutzverbände sollten in die Ausgestaltung eingebunden werden.

                Parallel sollte die Bundesregierung auf EU-Ebene eine Initiative starten, um in der Erneuerbaren-
                Energien-Richtlinie ein am Populationsschutz ausgerichtetes Zulassungsrecht für die Windkraft
       4        zu ermöglichen. Dies ist nötig, da das Europarecht aktuell einem modernen Artenschutz, der auf
                die Erhaltung und Verbesserung von Populationen setzt, im Weg steht. Hohe Qualitätsstandards
                an entsprechende Artenschutzmaßnahmen sind auch auf EU-Ebene festzuschreiben.

                                                                                                                    2
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn

Inhalt
Ergebnisse auf einen Blick                                                                2

1   Einleitung – Windenergie und Naturschutz zusammendenken                              4

2   Die Ausgangslage                                                                      5

3   Kein Mangel an Vorschlägen                                                            7

4   Aktuell diskutierte Konzepte für ein verbessertes Zulassungsregime
    für Windenergie an Land                                                              8
    4.1   Bundesweit einheitliche Ausgestaltung des Signifikanzansatzes des
          Bundesverwaltungsgerichts (UMK-Prozess)                                        9
    4.2   Windausbau und Artenschutzziele: Vorschlag für ein europarechtskonformes
          (Ausnahme-)Regime für Windkraft an Land,                                       11
    4.3   Einführung gesetzlich geregelter Ausnahmevoraussetzungen für die
          landseitige Windenergie in Bezug auf das artenschutzrechtliche Tötungsverbot   16
    4.4   Artenschutzrechtliche Ausnahmeverordnung und ein verstärkter
          flächenbezogener Artenschutz                                                   20

5   Zwischenfazit                                                                        24
    5.1   Was verbindet die Vorschläge?                                                  24
    5.2   Lösungsansatz Kombinationsmodell                                               25
    5.3   Welche möglichen Kombinationsmodelle gibt es?                                  26

6   Die EU-Karte: Initiative auf EU-Ebene im Rahmen der Novelle
    der Erneuerbare-Energien-Richtlinie                                                  29
    6.1   EU-Initiative der neuen Bundesregierung zur Sicherung einer ausreichenden
          Zubaugeschwindigkeit von Windenergie an Land in den Mitgliedstaaten            30
    6.2   Strategische Überlegungen hinter der EU-Initiative                             30

7   Fazit: Populationen statt Individuen schützen?                                       31

                                                                                          3
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1    Einleitung – Windenergie und Na-                         Die Sorge vor dem Verlust der Akzeptanz der Ener-
     turschutz zusammendenken                                 giewende im ländlichen Raum hat auch die Energie-
                                                              wende-Debatte im Wahlkampf des Jahres 2021 be-
Seit der Verabschiedung des Klimaschutzabkom-                 gleitet. Zwar forderten, mit einer Ausnahme, alle im
mens von Paris Ende 2015 und den jüngsten Be-                 Deutschen Bundestag vertretenen Parteien den be-
kenntnissen der großen Wirtschaftsblöcke der Welt             schleunigten Ausbau der Erneuerbaren Energien,
– USA, China, Europa – zur Klimaneutralität bis               doch niemand erklärte den Menschen, wo genau die
Mitte dieses Jahrhunderts geht es nicht mehr um das           künftigen Windräder und PV-Freiflächenanlagen
Ob der globalen Energietransformation, sondern um             entstehen sollen.
das Wie und mehr noch um das Wie-Schnell.
                                                              Die Debatte um die Windenergie an Land ist fast so
Gleichzeitig wird im Wortsinn unübersehbar, dass              alt wie der Einsatz der Windkraft in der Stromerzeu-
auch das neue, als risikoarm und klimaverträglich             gung. Aber im Unterschied zu ihrer Einführungs-
eingestufte Energiesystem auf Basis Erneuerbarer              phase in den 1990er-Jahren ist Windenergie heute
Energien nicht ohne Rückwirkungen bleibt auf die              nicht mehr eine Nice-to-have-Technologie, sondern
Lebensumstände der Menschen, auf die Kulturland-              im Verbund mit der Photovoltaik die wichtigste
schaften und auch die Entwicklungsmöglichkeiten               Säule und unverzichtbare Voraussetzung für das Ge-
der Natur. Dies gilt insbesondere für Industriegesell-        lingen der Energiewende und letztlich für die Zu-
schaften mit hohem Energiebedarf und hoher Bevöl-             kunft Deutschlands als Wirtschaftsstandort.
kerungsdichte, in denen sich bestehende Flächen-
konkurrenzen tendenziell weiter verschärfen.                  Deshalb muss der Konflikt zwischen Windenergie
                                                              und Naturschutz schnell, konstruktiv und dauerhaft
In Deutschland verändern derzeit vor allem Windrä-            befriedet werden. Andernfalls verlieren beide – der
der die ländlichen Kulturlandschaften. Im Mittel-             Klimaschutz und die nicht zuletzt durch den Klima-
punkt der Akzeptanzdebatte steht deshalb die Frage,           wandel in ihrem Bestand gefährdeten Arten. Der be-
welche Flächen für die neuen Technologien bereit-             schleunigte Ausbau der Windenergie ist die wich-
gestellt werden, wie nah sie den Bürgerinnen und              tigste Voraussetzung für erfolgreichen Klimaschutz
Bürgern kommen sollen und inwieweit Windräder                 und dient damit auch der langfristigen Stabilisierung
gefährdete Vogelarten zusätzlich bedrohen, die oh-            der durch vielerlei andere menschliche Aktivitäten
nehin unter hohem Druck durch menschliche Akti-               gefährdeten biologischen Vielfalt. 2
vitäten stehen. Rückwirkungen auf die Kulturland-
schaften sind grundsätzlich unvermeidbar, ergeben             Die neue Bundesregierung wird gleich zu Beginn der
sie sich doch aus dem dezentralen Charakter der               Legislaturperiode die Weichen für einen konstrukti-
neuen solarbasierten Energietechnologien, genauer             ven Ausgleich zwischen dem notwendigen Ausbau
gesagt aus deren Physik. 1                                    der Windenergie an Land und den Belangen des Na-
                                                              turschutzes stellen müssen. Anders ist die in

1
    Die direkte Nutzung der Sonnenenergie in PV-, Solar-          wiederum voraussetzt, dass entsprechende Flächen zur
    thermie- oder Windenergieanlagen (auch der Wind wird          Verfügung stehen.
    letztlich von der Einstrahlung der Sonne getrieben) be-
    deutet auch einen Übergang von hoch konzentrierten        2
                                                                  IPBES/IPCC (2021): Biodiversity and Climate Change.
    Energieträgern (Kohle, Öl, Erdgas, Kernenergie) hin zu        Scientific Outcome https://www.ipbes.net/sites/de-
    weiträumig anfallender Strahlungsenergie, was                 fault/files/2021-06/2021_IPCC-IPBES_scientific_out-
                                                                  come_20210612.pdf

                                                                                                                         4
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zahlreichen Studien einhellig geforderte hohe Aus-           gemeinsam widmet. 5 Die zentrale Botschaft der 50
baudynamik der landseitigen Windenergie nicht zu             beteiligten internationalen Biodiversitäts- und
erreichen. 3                                                 Klimaexpertinnen und -experten: „Keines der bei-
                                                             den Probleme kann erfolgreich gelöst werden, wenn
                                                             nicht beide gemeinsam adressiert werden.“
2    Die Ausgangslage
                                                             Deutschland ist beim Artensterben keine Ausnahme.
Der Verlust der biologischen Vielfalt beschleunigt           Allerdings gibt es, entgegen dem in der Öffentlichkeit
sich im Weltmaßstab dramatisch. Bis zu eine Million          häufig verbreiteten Eindruck, keine tragfähigen Be-
Arten sind vom Aussterben bedroht, viele davon be-           lege dafür, dass der bisherige Ausbau der landseiti-
reits in den nächsten Jahrzehnten. Das Artensterben          gen Windenergie insgesamt zu einer weiteren Ver-
verläuft heute um ein bis zwei Größenordnungen               schlechterung von Populationen gefährdeter Arten
schneller als im Durchschnitt der letzten zehn Milli-        geführt hat. 6 Die Ursachen für den besorgniserre-
onen Jahre. Der Klimawandel ist schon jetzt einer der        genden Erhaltungszustand vieler Vogelarten sind
Treiber dieser Entwicklung und droht zu einer                vielmehr vorrangig in land- und forstwirtschaftli-
Hauptursache des globalen Verlusts an Biodiversität          chen Nutzungsänderungen, in der Nutzungsintensi-
zu werden. 4 Das Ziel des Klimaabkommens von Pa-             tät, in klimatischen Veränderungen und deren hyd-
ris, die globale Erwärmung auf deutlich unter 2 –            rologischen Auswirkungen, im Verlust und der
möglichst 1,5 Grad Celsius – zu begrenzen, liegt des-        Zerschneidung von Habitaten sowie dem Insekten-
halb auch im ureigenen Interesse der nationalen wie          schwund und dem damit verbundenen Rückgang des
internationalen Biodiversitätspolitik und des Arten-         Nahrungsangebots zu suchen. 7
schutzes.
                                                             Unbestritten werden jedoch immer wieder Vögel und
Im Frühjahr 2021 haben der Weltbiodiversitätsrat             Fledermäuse zu Schlagopfern an Windrädern. Zwar
IPBES und der Weltklimarat IPCC erstmals einen ge-           sind dies seltene Ereignisse mit insgesamt geringe-
meinsamen Report veröffentlicht, der sich den bei-           ren Auswirkungen im Vergleich zu den oben
den Menschheitskrisen um Klima und Artenvielfalt

3
    Öko-Institut e. V./Wuppertal Institut/Prognos AG         6
                                                                 Reichenbach, Marc/Aussieker, Tim (2021): Windenergie
    (2021): Klimaneutrales Deutschland 2045 (Langfassung).       und der Erhalt der Vogelbestände. Regelungsvorschläge
    Wie Deutschland seine Klimaziele schon vor 2050 errei-       im Kontext einer gesetzlichen Pauschalausnahme. Gut-
    chen kann. https://www.agora-energiewende.de/vero-           achten der ARSU GmbH im Auftrag der Stiftung Kli-
    effentlichungen/klimaneutrales-deutschland-2045-             maneutralität. S. 60-70. https://www.stiftung-
    vollversion/                                                 klima.de/app/uploads/2021/05/2021-04-26-Wind-
                                                                 energie-und-Erhalt-der-Vogelbestaende.pdf
4
    IPBES (2019): The Global Assessment Report on Biodi-
    versity and Ecosystems Services. Summary for Policy-         FA WIND (Fachagentur Windenergie an Land) (2019):
    makers. https://ipbes.net/sites/default/files/in-            Rotmilan und Windenergie im Kreis Paderborn - Unter-
    line/files/ipbes_global_assessment_report_summary_fo         suchung von Bestandsentwicklung und Bruterfolg.
    r_policymakers.pdf
                                                             7
                                                                 BMU/BfN (2020): Die Lage der Natur in Deutschland. Er-
5
    IPBES/IPCC (2021): Biodiversity and Climate Change.          gebnisse von EU-Vogelschutz- und FFH-Bericht.
    Workshop Report https://www.ipbes.net/sites/de-              https://www.bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Down-
    fault/files/2021-06/20210609_workshop_report_em-             load_PDF/Naturschutz/bericht_lage_natur_2020_bf.pdf
    bargo_3pm_CEST_10_june_0.pdf

                                                                                                                     5
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    Abbildung 1: Historischer und notwendiger Bruttozubau von Windenergie an Land in GW

                                      7,0

                                                                                                                                                 5,8 5,8 5,8
                                      6,0                                                                             5,5 5,5 5,5 5,5 5,5 5,5
                                                                                      5,3
       Jährlicher Bruttozubau in GW

                                      5,0                           4,8         4,6

                                      4,0                                 3,7

                                                              3,0
                                      3,0
                                                        2,4                                 2,4
                                                  2,1                                                         2,2

                                      2,0   1,6
                                                                                                        1,4
                                                                                                  1,1
                                      1,0

                                      0,0

                                        historischer Zubau Onshore-Windkraft (*vorläufig)                              notwendiger Zubau 2022-2030

    FA Wind 2021, Öko-Institut e. V. / Wuppertal Institut / Prognos AG (2021)

genannten Ursachen. 8 Dennoch bleibt der Anspruch                                                         und vor allem wegen ihrer Komplexität und Fehler-
an die Energiewende eindeutig: Durch sie soll sich                                                        anfälligkeit zu einem der größten Hindernisse in den
der Erhaltungszustand gefährdeter Populationen                                                            Genehmigungsverfahren geworden.
auch in Zukunft nicht zusätzlich verschlechtern. Die
Energiewende darf nicht Teil der Zerstörung dessen                                                        Im Ergebnis hat sich die Kluft zwischen dem zur
sein, was sie retten will.                                                                                Einhaltung der Klimaschutzziele notwendigen Zubau
                                                                                                          der landseitigen Windenergie und der realen Aus-
Die Kluft zwischen notwendigem und realisiertem                                                           baugeschwindigkeit in den vergangenen Jahren
Zubau von Windenergie an Land wächst                                                                      enorm vergrößert.

Die artenschutzrechtlichen Anforderungen bei der                                                          Dieser Befund hat sich durch die jüngste Rechtspre-
Planung und Genehmigung von Windenergieanlagen                                                            chung des Bundesverfassungsgerichts 9 und das da-
sind in den vergangenen Jahren stetig angewachsen                                                         raufhin im Frühsommer 2021 im Bundestag

8
       Reichenbach, Marc/Aussieker, Tim (2021): a.a.O.                                                    9
                                                                                                                BVerfG (2021): Beschluss vom 24. März 2021 - 1 BvR
                                                                                                                2656/18.

                                                                                                                                                                     6
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn

beschlossene Vorziehen der nationalen Treibhaus-             3    Kein Mangel an Vorschlägen
neutralität auf das Zieljahr 2045 weiter zugespitzt.
                                                             Inzwischen liegt eine ganze Reihe mehr oder weni-
Schon vor dem Spruch des Bundesverfassungsge-                ger ausformulierter Konzepte vor. Die neue Bundes-
richts hatte die schwarz-rote Bundesregierung ihre           regierung und die sie tragenden Parteien müssen
Absicht erklärt, die Ausschreibungsmengen für                beim Durchschlagen des gordischen Knotens also
Windenergie an Land noch vor der Bundestagswahl              nicht bei null anfangen.
erheblich erhöhen zu wollen und an den seinerzeit
festgelegten Zubauzielen auszurichten. Dies ist nicht        Um in der bevorstehenden Legislaturperiode zu ei-
mehr gelungen, wenn man von der einmaligen An-               ner schnellen Trendumkehr und einem dauerhaft
hebung der Ausschreibungsmengen für das Jahr                 rechtssicheren und ausreichenden Ausbau der land-
2022 auf brutto vier Gigawatt absieht. 10                    seitigen Windenergie zu kommen, müssen die Vor-
                                                             schläge einige Mindestvoraussetzungen erfüllen. Sie
Darüber, dass dringender Handlungsbedarf besteht,            müssen
gibt es unter allen Beteiligten grundsätzliche Einig-
keit, nicht jedoch über die Frage, wie tiefgreifend die      → einer Forderung des Bundesverfassungsgerichts
Umstellung des Genehmigungsregimes sein muss,                  aus dem Jahr 2018 genügen und Verwaltungen
um die dringend erforderliche Wirkung eines be-                und Gerichten standardisierte und wissensba-
schleunigten Ausbaus der Windenergie zu erreichen.             sierte Kriterien an die Hand geben, auf deren
Dies betrifft insbesondere auch das Regime, mit dem            Grundlage diese dann einheitlich entscheiden,
versucht werden soll, Windenergie und den Schutz               wo und unter welchen Bedingungen Windräder
windenergiesensibler Arten in Einklang zu bringen.             errichtet werden dürfen. 11
                                                             → genehmigungsrechtlich und naturschutzfachlich
Deshalb ist die nächste Bundesregierung gefordert,             tragfähig sein und dabei insbesondere auch dem
schnell eine möglichst dauerhaft tragfähige Lösung             EU-Recht zum Schutz besonders gefährdeter Ar-
vorzulegen, die den Erfordernissen des Klimaschut-             ten Genüge tun.
zes und dem Schutz windenergiesensibler Arten                → den naturschutzfachlich begründeten Aufwand
gleichermaßen gerecht wird. Sie muss dabei außer-              bei der Standortplanung von Windenergiepro-
dem europarechtlichen Bestimmungen, insbeson-                  jekten begrenzen und gegenüber dem aktuellen
dere der Vogelschutzrichtlinie und der Fauna-Flora-            Verfahren reduzieren, um die Zahl der Genehmi-
Habitat-Richtlinie, Genüge tun.                                gungen zu erhöhen.

     https://www.bundesverfassungsgericht.de/Shared-             Leitsatz 2: „In grundrechtsrelevanten Bereichen darf der
     Docs/Entscheidun-                                           Gesetzgeber Verwaltung und Gerichten nicht ohne wei-
     gen/DE/2021/03/rs20210324_1bvr265618.html                   tere Maßgaben auf Dauer Entscheidungen in einem
                                                                 fachwissenschaftlichen ‚Erkenntnisvakuum' übertragen,
10
     Ausschreibungsvolumen: 2021: 4.500 MW (davon 1.600          sondern muss jedenfalls auf längere Sicht für eine zu-
     MW Sonderausschreibungen); 2022: 4.000 MW (davon            mindest untergesetzliche Maßstabsbildung sorgen.“
     1.100 MW Sonderausschreibungen); 2023: 3.000 MW;            https://www.bundesverfassungsgericht.de/Shared-
     2024: 3.100 MW; 2025: 3.200 MW; 2026: 4.000 MW;             Docs/Entscheidun-
     2027: 4.800 MW; 2028: 5.800 MW                              gen/DE/2018/10/rs20181023_1bvr252313.html

11
     Leitsätze zum Beschluss des Ersten Senats vom 23. Ok-
     tober 2018 (1 BvR 2523/13 und 1 BvR 595/14).

                                                                                                                       7
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn

→ den Genehmigungsbehörden klare Vorgaben zur               Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof
  Abarbeitung von Genehmigungsvoraussetzungen               (EuGH) 13 sowie ein in Deutschland ausgeprägtes zi-
  an die Hand geben.                                        vilgesellschaftliches Engagement insbesondere zum
→ in der Folge auch die Gerichte entlasten, unter           Schutz der gefährdeten Fauna. Dieses Engagement
  anderem dadurch, dass weniger häufig geklagt              orientiert sich, auch weil Erfolge im Populations-
  wird.                                                     schutz sehr schwer zu erreichen sind, ebenfalls am
→ Abstriche beim Schutz besonders gefährdeter               Schutz einzelner Tiere. 14
  Arten vermeiden, und wo möglich dazu beitragen,
  dass auch der anderweitig erzeugte Druck auf die          Darüber hinaus begrenzen Unklarheiten bei der Aus-
  gefährdeten Arten nicht weiter zunimmt.                   legung des europäischen Rechts den Lösungskorridor,
                                                            der rechtssicher beschritten werden kann. Die Situa-
Eine Reihe von Konzepten zur Konfliktlösung wird            tion wird durch die Tatsache erschwert, dass über die
seit geraumer Zeit in Fachkreisen, teilweise auch in        zutreffende Auslegung des EU-Rechts nicht nur Un-
der interessierten breiteren Öffentlichkeit disku-          einigkeit unter Juristinnen und Juristen herrscht,
tiert. 12 Sie unterscheiden sich insbesondere bezüg-        sondern zudem der Europäische Gerichtshof (EuGH)
lich des Maßes an Entschlossenheit, rechtliches             noch in seinem letzten Urteil vom 4. März 2021 wich-
Neuland zu betreten.                                        tige Rechtsfragen erneut offengelassen hat. 15

Die gegenwärtige Praxis stellt zwar wegen ihres
Aufwands, ihrer Fehler- und Klageanfälligkeit keine         4     Aktuell diskutierte Konzepte für ein
beteiligte Seite zufrieden, aber sie funktioniert leid-           verbessertes Zulassungsregime für
lich, wenn auch deutlich zu langsam. Weil der Ge-                 Windenergie an Land
setzgeber in dieser Frage über Jahrzehnte sehr zu-
rückhaltend agierte, haben Gerichte aller Instanzen         Den im Folgenden vorgestellten Vorschlägen ist ge-
mit zahlreichen Entscheidungen selbst die Grundla-          meinsam, dass sie bisher den Prozess der Überprü-
gen dieser Praxis geschaffen, weshalb der Druck aus         fung durch Expertinnen und Experten verschiedener
Gerichten und den beteiligten Behörden auf die Poli-        Fachrichtungen und Interessengruppen noch nicht
tik, Konsequenzen aus der veränderten und in der            durchlaufen haben. Sie geben Richtungen vor, in die
Folge verfahrenen Lage zu ziehen, in der Vergangen-         das bestehende Regime, das sich für die anstehenden
heit für eine Trendumkehr nicht ausreichend war.            Herausforderungen als unzureichend erwiesen hat,
                                                            grundsätzlich weiterentwickelt werden kann.
Hinzu kommt das an Einzelexemplaren ausgerich-
tete Artenschutzrecht der EU, eine entsprechende

12
     Die nachfolgende Aufstellung erhebt keinen Anspruch         und Landnutzungsänderungen, sowie Verkehrsinfra-
     auf Vollständigkeit.                                        strukturen als Hauptverursacher für Artenschutzdefi-
                                                                 zite in Deutschland und gegen die dortigen mächtigen
13
     Urteil EuGH (Zweite Kammer) vom 4. März 2021 - C-           Interessen durchzusetzen.
     473/19, C-474/19
     https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtspre-
                                                            15
                                                                 Schmidt, Maximilian/Sailer, Frank (2021): Doch keine
     chung?Gericht=EuGH&Datum=04.03.2021&Aktenzei-               Erleichterungen im Artenschutzrecht? Anmerkung zu
     chen=C-473%2F19                                             EuGH, Urt. v. 04.03.2021 - C‑473/19, C‑474/19; in: Zeit-
                                                                 schrift für neues Energierecht (ZNER) 2/2021, S. 154–161
14
     Übergreifender Schutz für besonders gefährdete Arten
     wäre am dringlichsten in den Bereichen Landnutzung

                                                                                                                        8
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn

4.1   Bundesweit einheitliche Ausgestaltung des              enthält, sondern lediglich „einen gemeinsamen Rah-
      Signifikanzansatzes des Bundesverwal-                  men für Standardsetzungen zur Prüfung und Bewer-
      tungsgerichts 16 (UMK-Prozess)
                                                             tung der Signifikanz und den die Länder b) anhand
                                                             länderspezifischer Gegebenheiten (zum Beispiel To-
Der Beschluss der Umweltministerkonferenz vom                pografie, Erfassungsmethoden) ausfüllen können“.
11. Dezember 2020 17 ist Teil eines Prozesses, mit dem       Eine Tabelle enthält insgesamt zwölf „kollisionsge-
Bund und Länder versuchen, der schon erwähnten               fährdete Brutvogelarten mit besonderer Planungsre-
Forderung des Bundesverfassungsgerichts aus dem              levanz“ inklusive artspezifischer Regelabstände
Oktober 2018 nachzukommen. In dem Beschluss                  (zwischen 350 und 3.000 Meter), bei deren Einhal-
hatte das Bundesverfassungsgericht der Politik auf-          tung davon auszugehen ist, dass kein signifikant er-
gegeben, Verwaltung und Gerichten nicht auf Dauer            höhtes Tötungsrisiko gegeben ist, und deren Unter-
Entscheidungen in einem fachwissenschaftlichen               schreitung einen vertieften Prüfbedarf und
„Erkenntnisvakuum“ zu übertragen, sondern „für               gegebenenfalls Vermeidungsmaßnahmen indiziert.
eine zumindest untergesetzliche Maßstabsbildung“
zu sorgen. 18 Der Signifikanzrahmen ist zunächst der         Dann erfolgt eine Einschränkung, die letztlich das
Versuch von Bund und Ländern, es bei einer unter-            zentrale Ziel des Prozesses, nämlich die bundesweite
gesetzlichen Regelung zu belassen und weder Geset-           Vereinheitlichung der Bewertungsverfahren, wieder
zesäderungen noch die Ebene von Rechtsverord-                infrage stellt. Demnach können die Länder abwei-
nungen in Erwägung zu ziehen.                                chend von der Tabelle „weitergehende Regelungen“
                                                             über weitere kollisionsgefährdete und planungsrele-
Das Bundesverfassungsgerichts hatte in seinem Be-            vante Brutvogelarten treffen und darüber hinaus er-
schluss von 2018 gefordert, bei den Zulassungsver-           gänzende Prüfkategorien und Kriterien, erweiterte
fahren von Windenergieanlagen und den mit ihnen              Regelabstände und einen Nahbereich, in dem stets
verbundenen erhöhten (Tötungs-)Risiken für be-
stimmte Vogelarten eine größere Einheitlichkeit
herzustellen und damit den Genehmigungen mehr
Rechtssicherheit zu geben. Ziel ist ein bundesweit
standardisiertes Bewertungsverfahren in Bezug auf
die in Deutschland lebenden windenergiesensiblen
Vogelarten. Ergebnis des langwierigen Prozesses
sind „Mindeststandards, […] um den Vollzugsbehör-
den und den am Zulassungsverfahren Beteiligten ein
rechtssicheres Vorgehen zum Schutz der entspre-
chenden Arten […] zu ermöglichen.“

Der Anspruch ist also eine Art „Bundesleitfaden“, der
allerdings a) noch nicht die Standardsetzungen selbst

16
      Urteil BVerwG 9 A 14.07 vom 09.07.2008                      Windenergieanlagen (WEA) an Land – Signifikanzrah-
      https://www.bverwg.de/090708U9A14.07.0                      men (Stand: 11.12.2020). https://www.umweltminister-
                                                                  konferenz.de/documents/vollzugshilfe_signifikanzrah-
17
      Beschluss Umweltministerkonferenz von Bund und              men_11-12-2020_1608198177.pdf
      Ländern, UMK (2020): Standardisierter Bewertungsrah-
      men zur Ermittlung einer signifikanten Erhöhung des    18
                                                                  s. Fn. 11
      Tötungsrisikos im Hinblick auf Brutvogelarten an

                                                                                                                     9
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn

ein Verbotsverstoß unterstellt wird, sowie besondere              zu prüfen wäre, ob die Anlage das Tötungsrisiko
Schutzzonen für geschützte Vogelarten festlegen. 19, 20           signifikant erhöht
                                                                → Etablierung einheitlich probabilistischer Bewer-
Die eigentliche Arbeit, nämlich den „Rahmen für                   tungsmethoden, um zu klären, ob sich das Risiko
Standardsetzungen“ einheitlich auszufüllen, steht                 relevant erhöht, einen geschützten Vogel zu töten
demgemäß noch bevor. Nach dem Beschluss vom                     → Definition von artspezifischen Schwellenwerten
Dezember 2020 wurden Arbeitsgruppen zu den The-                   für das signifikant erhöhte Tötungsrisiko (im
men Repowering, probabilistische Bewertungsme-                    Verhältnis zum allgemeinen Lebensrisiko)
thoden und artenspezifische Schwellenwerte einge-
richtet. An dem Prozess sind auch Vertreterinnen
und Vertreter von Energie- und Naturschutzver-                  Zu klärende Fragen:
bänden beteiligt. Insbesondere die Energiewirtschaft
hat den Beschluss vom 11.12.2020 als „weiterhin un-             → Der bisher vorliegende Beschluss vom 11.12.2020
zureichend“ kritisiert und eine „am Ende des Tages                unternimmt den Versuch, die etablierten Verfah-
rechtsverbindliche Regelung“ als erfolgsentschei-                 rensweisen im Genehmigungsprozess möglichst
dend bezeichnet. 21                                               weitgehend beizubehalten und die Unterschiede
                                                                  zwischen den Ländern so weit als möglich anzu-
Ein Teilziel innerhalb des UMK-Prozesses und in-                  gleichen. Ob dies gelingt, ist noch offen.
nerhalb des vorgegebenen Rechtsrahmens könnten                  → Auch ob es in dem UMK-Prozess zeitnah zu einer
Schritte hin zu einem bundesweit einheitlichen                    Einigung kommen kann, erscheint angesichts
Vollzug des bestehenden Artenschutzrechts mit den                 unterschiedlicher Auffassungen bezüglich des
folgenden Elementen sein:                                         Änderungsbedarfs und der zu erwartenden Ent-
                                                                  scheidungen nach der Bundestagswahl unsicher.
→ Erstellung einer abschließenden Liste der zu prü-             → Wenn es zu einer Einigung kommt, bleibt unklar,
  fenden Vogelarten und Begrenzung auf faktisch                   ob der Signifikanzrahmen am Ende die Landes-
  windenergiesensible Arten                                       leitfäden und Arbeitshilfen ersetzen oder nur er-
→ Definition von Prüfabständen zwischen Nistplatz                 gänzen soll – und ob die Länder (und in der Folge
  und Windenergieanlagen innerhalb derer vertieft

19
     Wörtlich heißt es in dem Beschluss: „Die Länder können          naturräumliche Ausstattung, landesspezifische Er-
     abweichend von Tabelle 1 [Liste kollisionsgefährdeter           kenntnisse).“
     Brutvogelarten mit besonderer Planungsrelevanz, d. Au-
     tor] weitergehende Regelungen treffen: Soweit in einzel-   20
                                                                     Allerdings enthält der Beschluss auch die Verpflichtung
     nen Bundesländern fundierte wissenschaftlich gestützte          der Vertreterinnen und Vertreter der Länder „von der
     Erkenntnisse über weitere kollisionsgefährdete und pla-         Öffnungsklausel der ‚Liste kollisionsgefährdeter Brutvo-
     nungsrelevante Brutvogelarten bestehen, die einem be-           gelarten mit besonderer Planungsrelevanz´ nur restrik-
     sonderen Tötungsrisiko durch WEA unterliegen, so kön-           tiv Gebrauch zu machen“.
     nen diese in den jeweiligen Prüfungskatalog des Landes
     aufgenommen werden. Die Länder können ferner ergän-        21
                                                                     BDEW/BEE/bne/BWE/VDMA/VKU (2020): Knoten ist
     zende Prüfkategorien und Kriterien, erweiterte Regelab-
                                                                     noch nicht durchschlagen: Beschluss zum Signifikanz-
     stände oder besondere Schutzzonen für geschützte Vo-
                                                                     rahmen weiterhin unzureichend
     gelarten festlegen (z. B. für Gebiete mit
                                                                     https://www.bdew.de/presse/presseinformatio-
     Vogelkonzentrationen). Dies erfolgt unter Berücksichti-
                                                                     nen/knoten-ist-noch-nicht-durchgeschlagen-be-
     gung der länderspezifischen Rahmenbedingungen (z. B.
                                                                     schluss-zum-signifikanzrahmen-weiterhin-unzu-
                                                                     reichend/

                                                                                                                            10
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn

  dann die Gerichte) hierüber ein gemeinsames                      4.2 Windausbau und Artenschutzziele:
  Verständnis erreichen.                                               Vorschlag für ein europarechtskonformes
                                                                       (Ausnahme-)Regime für Windkraft an
→ Ebenfalls noch nicht entschieden scheint: Geht
                                                                       Land 23, 24, 25
  der UMK-Prozess in der bevorstehenden 20. Le-
  gislaturperiode nahtlos weiter oder verständigt
                                                                   Das Rechtsgutachten, das dem Vorschlag zugrunde
  sich die (neue) Koalition auf einen anderen Weg
                                                                   liegt, wurde im Auftrag von Agora Energiewende er-
  und/oder ein anderes Verfahren?
                                                                   arbeitet. Es befasst sich vornehmlich mit dem arten-
                                                                   schutzrechtlichen Tötungsverbot der EU, das in § 44
Fortschritte gegenüber Ist-Regelung:22                             und 45 des Bundesnaturschutzgesetzes (BNatschG) in
                                                                   deutsches Recht übertragen wurde. Im Mittelpunkt
→ Vereinheitlichung von Genehmigungsverfahren                      steht der Vogelschutz, weil dieser den Konflikt zwi-
  in Teilaspekten und entsprechend Entlastung von                  schen dem Ausbau der Windenergie an Land und sei-
  Antragstellern, für den Fall, dass der standardi-                nen realen und vermuteten Folgen für den Natur-
  sierte Bewertungsrahmen bundesweit für die                       schutz dominiert.
  Behörden verbindlich wird („Bundesleitfaden“),
  was die Kooperation und den Einigungswillen al-                  Der in dem Rechtsgutachten unterbreitete Vorschlag
  ler Länder voraussetzt                                           hält grundsätzlich am in Deutschland etablierten Ge-
→ Begrenzte Beschleunigung von Genehmigungs-                       nehmigungssystem für Windenergie an Land mit
  verfahren wegen standardisierter Ermittlung ei-                  Einzelfallprüfungen und Einzelfallentscheidungen
  ner signifikanten Erhöhung des Tötungsrisikos                    fest, inklusive des sogenannten Signifikanzansatzes
  im Hinblick auf Brutvogelarten                                   des Bundesverwaltungsgerichts („signifikant erhöhtes
                                                                   Tötungsrisiko“). Er geht aber davon aus, dass der zu-
Die nachfolgenden Vorschläge gehen schon formal                    nehmende Windenergieausbau sowie eine sich in der
über die Ebene eines untergesetzlichen Leitfadens                  Folge verschärfende Flächenknappheit dazu führen,
hinaus, indem sie entweder Rechtsverordnungen,                     dass von den Windenergieprojektierern vermehrt
Gesetzesänderungen oder beides zusammen ins                        Ausnahmemöglichkeiten in Anspruch genommen
Zentrum ihrer Überlegungen stellen und eine mehr                   werden müssen, die das europäische Artenschutz-
oder weniger tiefgreifende Änderung des aktuellen                  recht unter definierten Bedingungen zulässt und die
Genehmigungsrahmens anstreben.                                     im deutschen Bundesnaturschutzgesetz (§ 45 Abs. 7
                                                                   BNatSchG) entsprechend verankert sind.

22
     Voraussetzung für diese Fortschritte wäre die erfolgreiche         Sachverständigenrats für Umweltfragen (SRU) der Bundes-
     Ausarbeitung der oben unter „Teilziele“ genannten vier Ele-        regierung und soll ebenfalls Bestandteil einer ausführlichen
     mente.                                                             Stellungnahme werden, die der SRU für Anfang 2022 plant.
                                                                        https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Down-
23
     Verheyen, Roda/Köck, Wolfgang/Pabsch, Séverin (2021):              loads/DE/04_Stellungnahmen/2020_2024/2021_10_im-
     Windausbau und Artenschutz-Ziele: Vorschlag für ein euro-          pulspapier_wind.pdf?__blob=publicationFile&v=7
     parechtskonformes (Ausnahme-)Regime für Windkraft an
     Land. Rechtsgutachten im Auftrag von Agora Energiewende       25
                                                                        Köck, Wolfgang/Rheinschmitt, Christoph/Verheyen, Roda
                                                                        (2021): Die artenschutzrechtlichen Ausnahmemöglichkeiten
24
     Dieser Vorschlag hat auch Eingang gefunden in ein im Ok-           bei der landseitigen Windenergie – Ein Regelungsvorschlag;
     tober 2021 unter dem Titel „Klimaschutz braucht Rücken-            in: Zeitschrift für Umweltrecht (ZUR) 5/2021, S. 259–269
     wind: Für einen konsequenten Ausbau der Windenergie an
     Land“ (S. 3) veröffentlichtes Impulspapier des

                                                                                                                                  11
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn

Um die Inanspruchnahme von Ausnahmen zu er-              windkraftsensiblen Vogelarten zu erstellen (§ 44
leichtern, soll ein Teil der standort- beziehungsweise   Abs. 5 BNatSchG, Tatbestandsebene) und zweitens
projektbezogenen Vermeidungsmaßnahmen hin zu             das modifizierte Ausnahmeregime (§ 45 Abs. 7
populationsbezogenen Maßnahmen im Rahmen                 BNatschG, Ausnahmeregime) rechtssicher zu präzi-
qualitativ und quantitativ aufgestockter Artenhilfs-     sieren.
programme (AHP) verschoben werden. Der Vor-
schlag verfolgt das Ziel, die rechtlichen Bedingungen    In der Konsequenz sollen die standort- beziehungs-
für die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen              weise projektbezogenen Vermeidungsmaßnahmen
rechtssicher zu präzisieren, damit dieser Weg auch       zur Unterschreitung des signifikant erhöhten Tö-
praktisch häufiger beschritten wird als bisher.          tungsrisikos nur noch bis zu einer präzise zu defi-
                                                         nierenden Zumutbarkeitsschwelle verlangt werden.
Dies sei dann zu erwarten, argumentieren die Auto-       Ab diesem Punkt können die Projektierer regelmäßig
rinnen und Autoren, wenn die Einhaltung der An-          in die Ausnahme umschwenken. Zusätzlich zu den
forderungen, die Ausnahmen vom Tötungsverbot             projektbezogenen Vermeidungsmaßnahmen an den
nach EU-Recht 26 erfüllen müssen (Verschlechte-          Standorten oder anstelle dieser greifen dann popula-
rungsverbot bezogen auf Populationen wildlebender        tionsbezogene Maßnahmen im Rahmen von ausge-
europäischer Vogelarten beziehungsweise Erreichen        weiteten oder neu konzipierten Artenhilfsprogram-
eines günstigen Erhaltungszustands dieser Arten),        men (AHP) auf Länderebene, die von professionellen
künftig nicht mehr allein den einzelnen Windener-        Trägern umgesetzt werden. Die Windprojektierer
gieprojektierern an den jeweiligen Standorten auf-       werden nach dem Verursacherprinzip zu einer ent-
gebürdet werden. Wenn an einem Standort die              sprechenden Abgabe zur Teilfinanzierung der stand-
Schwelle des „signifikant erhöhten Tötungsrisikos“       ortfernen Artenhilfsmaßnahmen verpflichtet.
nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand, der
beispielsweise das Windenergieprojekt insgesamt          Zur Ausgestaltung des neuen Ausnahmeregimes
unwirtschaftlich machen würde, unterschritten            schlagen die Autorinnen und Autoren einen soge-
werden kann, soll in Zukunft das neu konzipierte         nannten „strategischen Ansatz“ vor, der insbeson-
Ausnahmeregime greifen. Praktisch soll dann, zu-         dere darauf gerichtet sein soll, das rechtlich bin-
sätzlich zu Vermeidungsmaßnahmen vor Ort, eine           dende Verschlechterungsverbot der EU-
professionelle öffentlich-rechtlich oder privatrecht-    Vogelschutzrichtlinie zu garantieren, beziehungs-
lich organisierte „Agentur“ den Schutz der Populati-     weise die Möglichkeit des Erreichens eines günsti-
onen kollisionsgefährdeter Vogelarten in ihren Ver-      gen Erhaltungszustandes zu befördern, obwohl auf
breitungsgebieten insgesamt absichern. Dies soll auf     „unzumutbare“ Maßnahmen an den Standorten ver-
Ebene der Bundesländer umgesetzt werden.                 zichtet wird. Die öffentlich-rechtlich oder privat-
                                                         rechtlich organisierte „Agentur“ wird nach dem Vor-
                                                         schlag aus öffentlichen Haushalten (Bund und
Umsetzung des Vorschlags                                 Länder) sowie den Beiträgen der Windprojektierer
                                                         mischfinanziert und soll auch auf bereits existie-
Den Kern der Regelung sollen zunächst zwei neue          rende Bundes(naturschutz)-Programme zurückgrei-
Verordnungsermächtigungen im Bundesnatur-                fen.
schutzgesetz bilden, die es der Bundesregierung ers-
tens erlauben, eine Bundesliste der

26
     EU-Vogelschutzrichtlinie

                                                                                                           12
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn

Erklärtes Ziel der Umsetzung des Vorschlags ist es,        enthalten, um den Aufwand für die Vorhabenträger
die Verantwortung der Projektträger für den Arten-         in verhältnismäßigen Grenzen zu halten. Zentral für
schutz im Umfeld ihrer Anlagen aufrechtzuerhalten,         die Erfolgsaussichten ist demnach die möglichst
diese Verantwortung aber durch klare und rechts-           präzise Festlegung einer „Zumutbarkeitsgrenze“, de-
verbindliche Vorgaben anwendungssicher auszuge-            ren genaue Ausgestaltung darüber entscheidet, ob
stalten und darüber hinaus den Verwaltungsvollzug          und inwieweit mehr Einheitlichkeit in den Ausnah-
zu vereinfachen.                                           meentscheidungen und in der Folge mehr Rechtssi-
                                                           cherheit entstehen. So soll sichergestellt sein, dass
Dazu soll zunächst entsprechend der UMK-Be-                die Wirtschaftlichkeit des Anlagenbetriebs durch
schlusslage von 2020 (s. Kapitel 4.1.) im Rahmen der       Vermeidungsmaßnahmen nicht gefährdet wird. Sind
ersten oben genannten Rechtsverordnung eine Bun-           Vermeidungsmaßnahmen unzumutbar, soll der Pro-
desliste von windenergiesensiblen Vogelarten ver-          jektträger in der Regel eine Ausnahmegenehmigung
ankert werden (im UMK-Beschluss: zwölf Arten),             erhalten.
auf die sich die artenschutzrechtliche Prüfung in
künftigen Zulassungsverfahren grundsätzlich zu             In der Rechtsverordnung beziehungsweise durch
konzentrieren hat. Ebenfalls entsprechend der              Änderung des Fachrechts sollen auch weitere Er-
UMK-Beschlusslage sollen die Bundesländer die (auf         leichterungen umgesetzt werden, zum Beispiel müs-
zwei Jahre befristete) Möglichkeit erhalten, eine ab-      sen Kartierungen, die bei den Länderbehörden vor-
weichende beziehungsweise ergänzende Liste fest-           liegen, Vorhabenträgern konsequenter als in der
zulegen. Danach wäre die Liste zunächst verbindlich        gegenwärtigen Praxis zur Verfügung gestellt werden,
und abschließend. Allerdings soll eine periodische         sofern sie das Projektgebiet räumlich abdecken und
Überprüfung jeweils nach fünf Jahren erfolgen, um          ausreichend aktuell sind.
sicherzustellen, dass der Katalog der windenergie-
sensiblen Arten noch dem Stand der wissenschaftli-
chen und fachlichen Erkenntnisse entspricht. Die           Ausnahmefähigkeit der Windenergie an Land
Überprüfung soll eine Bundesbehörde (vorgeschla-           und strategischer Ansatz
gen wird das Bundesamt für Naturschutz, BfN) vor-
nehmen und zu diesem Zweck ein eigenes Gremium             Die Autorinnen und Autoren gehen davon aus, dass
aus Expertinnen und Experten berufen.                      Windenergieanlagen vom Tötungsverbot besonders
                                                           gefährdeter Arten im EU-Recht im Einzelfall ausge-
Ebenfalls in dieser Rechtsverordnung sollen Ab-            nommen werden können, sofern zwingende Gründe
standsvorgaben der Windenergieanlagen zu Nestern,          des öffentlichen Interesses vorliegen. Die aktuell in
Brutplätzen oder Revieren künftig für jede wind-           Deutschland ebenfalls diskutierte Festlegung von
energiesensible Vogelart verbindlich und abschlie-         Länderausbauzielen für Windenergie an Land sei
ßend festgelegt werden und nicht mehr wie bisher           zwar wünschenswert, aber für das vorgeschlagene
auf zahlreichen und je nach Bundesland abweichen-          veränderte Ausnahmeregime nicht zwingend: Denn
den fachlichen Arbeitshilfen gründen. 27                   bis zum Erreichen der im Erneuerbare-Energien-
                                                           Gesetz (EEG) festgelegten Ausbauziele diene die
Die Rechtsverordnung soll auch die Regelungen über         landseitige Windenergie auch der öffentlichen
die Zumutbarkeit von Vermeidungsmaßnahmen

27
     FA Wind (2021): Überblick zu den Abstandsempfehlun-       windenergie.de/fileadmin/files/PlanungGenehmi-
     gen zur Ausweisung von Windenergiegebieten in den         gung/FA_Wind_Abstandsempfehlungen_Laender.pdf
     Bundesländern. https://www.fachagentur-

                                                                                                                13
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn

Sicherheit, was sie ebenfalls im Rahmen einer Ver-              Übergangsregelung
hältnismäßigkeitsprüfung ausnahmefähig mache.
                                                                Weil der vorgeschlagene Regimewechsel Zeit für die
Allerdings darf sich der Erhaltungszustand der wild-            Umsetzung (insbesondere den Aufbau eines bundes-
lebenden europäischen Vogelarten infolge von Aus-               weiten Monitoringsystems der aktuell gelisteten und
nahmegenehmigungen nach den Bestimmungen der                    anderer gefährdeter Vögel) benötigt, schlagen die Au-
EU-Vogelschutzrichtlinie nicht verschlechtern. Für              torinnen und Autoren vor, dass für einen Übergang-
den Nachweis, dass diese Vorgabe trotz der Gefähr-              zeitraum von drei bis fünf Jahren das sogenannte OR-
dung einzelner Exemplare windenergiesensibler Ar-               NIS-Kriterium eingehalten werden muss. 28
ten an bestimmten Standorten eingehalten wird, soll
der vorgeschlagene „strategische Absatz“ sorgen.                Der „strategische Ansatz“ ist (sofern aus öffentlichen
Seine Ausgestaltung würde in eine Windenergie-                  Haushalten und dem hier vorgesehenen Beitrag der
an-Land-Verordnung gefasst. Charakterisiert wäre                Windenergiebetreiber ausreichend ausgestattet) ge-
der strategische Ansatz dadurch, dass                           eignet, den Artenschutz in Deutschland insgesamt
                                                                voranzubringen, 29 weil er einem (zusätzlichen) pro-
→ die Einhaltung des Verschlechterungsverbots                   fessionellen Akteur überantwortet würde, der sich mit
  nicht dem einzelnen Vorhabenträger allein auf-                Sachverstand allein diesem Geschäft widmen könnte.
  erlegt, sondern einer professionellen „Agentur“               Auf welcher rechtlichen Basis dies möglich ist, wird
  als permanente Aufgabe überantwortet wird, die                in dem Vorschlag detailliert durchdekliniert.
  mit spezifischen Artenschutzprogrammen,
  Schutz- und Förderungsmaßnahmen kontinu-                      Zur Etablierung des strategischen Ansatzes wird auf
  ierlich an der Verbesserung der Erhaltungszu-                 bestehende Programme der Länder, aber auch des
  stände kollisionsgefährdeter Vogelarten auf der               Bundes („Bundesprogramm Biologische Vielfalt“,
  für die Verschlechterungsbeurteilung maßgebli-                „Das nationale Naturerbe“) verwiesen, die dauerhaft
  chen räumlichen Ebene arbeitet,                               mit zusätzlichen Mitteln in erheblicher Größenord-
→ durch ein kontinuierliches Monitoring sicherge-               nung speziell zum Schutz windenergiesensibler Ar-
  stellt wird, dass die Verschlechterungsbeurtei-               ten ausgestattet werden sollen. Vorstellbar sei, dass
  lung beziehungsweise die Verbesserungsbeurtei-                aus diesen Strukturen auch die „Agentur“ zur pro-
  lung im Zeitpunkt der Entscheidung über die                   fessionellen Umsetzung der Artenhilfsprogramme
  Erteilung einer Ausnahmegenehmigung verläss-                  entstehen oder gebildet würde.
  lich getroffen werden kann, und
→ die Vorhabenträger in Anwendung des Verursa-                  Verknüpft mit dem kontinuierlichen Monitoring, das
  cherprinzips verpflichtet werden, sich finanziell             bundesweit das Wissen über den Erhaltungszustand
  an der Arbeit der Agentur zu beteiligen.                      sämtlicher wildlebender Vogelarten in Regionen, in
                                                                denen auch Windenergieanlagen errichtet werden,
                                                                auf ein höheres Niveau heben würde und über die

28
     Das ORNIS-Kriterium besagt, dass ein durch ein Vorha-      29
                                                                     Vorrangig zielt der strategische Ansatz zwar auf die –
     ben verursachter zusätzlicher Verlust von unter einem           unter anderem – durch Windenergieanlagen gefährde-
     Prozent der gesamten Sterblichkeitsrate einer Tierart           ten Arten, eine Ausstrahlung auf den Erhalt der Arten-
     keine negativen Auswirkungen auf den Erhaltungszu-              vielfalt insgesamt ist aber wahrscheinlich und er-
     stand hat. Es wurde ursprünglich entwickelt, um die             wünscht.
     (traditionelle) Jagd auf bestimmte Vogelarten in Grenzen
     zu ermöglichen.

                                                                                                                          14
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn

Zeitachse kontinuierlich vorhielte, wäre das ein er-   → Die Begrenzung der behördlichen Prüfung auf
heblicher Fortschritt bei der Beobachtung der realen     eine Liste windenergiesensibler Vogelarten be-
Lage der Artenvielfalt in Deutschland. Ein in diesem     deutet im Umkehrschluss den generellen und
Sinne für alle zu betrachtenden Arten „durchkartier-     rechtlich unabgesicherten Ausschluss anderer
tes Deutschland“ könnte perspektivisch eine Wis-         schlaggefährdeter Vogelarten von dieser Prüfung.
sensgrundlage bilden für den Übergang vom gegen-       → Der Vorschlag enthält keine Lösung für die Prü-
wärtig (europarechtlich vorgegebenen)                    fung des Artenschutzes im Rahmen der planeri-
individuenbezogenen zu einem populationsbezoge-          schen Ausweisung von Flächen für die Windener-
nen Schutz besonders gefährdeter Arten.                  gie und adressiert somit nicht die
                                                         Herausforderung der Umsetzung der Ausbauziele.

Zu klärende Fragen:
                                                       Fortschritt gegenüber Ist-Regelung:
→ Der Vorschlag hält weitgehend am derzeit prakti-
  zierten Verfahren fest, das auf einer Einzelfall-    → Regelmäßigere Inanspruchnahme von Ausnah-
  prüfung der an den Standorten vorkommenden             men und Entlastung der Projektierer von sehr
  Arten und auf abstandsbasierten Konzepten              aufwendigen Maßnahmen an den Standorten,
  gründet. Damit bestehen auch die damit verbun-         wenn im weiteren Verfahren die Präzisierung der
  denen Probleme der zeitlichen und örtlichen            Zumutbarkeitsschwelle gelingt
  Fluktuation – begrenzte Gültigkeitsdauer der         → In diesem Fall auch verbesserte Standardisierung
  Kartierungen, Nachprüfungen bei Neuansiedlung          der Genehmigungsverfahren durch Bindung der
  windenergiesensibler Arten – fort.                     Behörden und verbesserte Rechtssicherheit erteil-
→ Der Regelungsbedarf im Rahmen der vorgeschla-          ter Genehmigungen durch Bindung der Gerichte
  genen Verordnungen ist insgesamt erheblich: Ar-      → Professionell durchgeführte Artenhilfspro-
  tenliste(n), Normierung von Abstandsvorgaben,          gramme als Impuls für eine wirksame Biodiver-
  Kartieranleitung, Listen anerkannter und zumut-        sitätsstrategie in Zeiten erweiterter Flächenbe-
  barer Vermeidungsmaßnahmen.                            anspruchung durch das neue Energiesystem
→ Darüber hinaus: Zumutbarkeitsprüfung und ab-         → Partielle Motivation und Einbindung der ehren-
  schließende Fixierung der Schwelle für das Um-         amtlich und professionell im Naturschutz Akti-
  schwenken von projektbasierten Maßnahmen               ven durch Aussicht auf höherwertigen und sys-
  auf die Ausnahme und hin zu populationsbezo-           tematischeren Vogel- und als Nebenergebnis
  genen Maßnahmen im Rahmen von Artenhilfs-              mehr Artenschutz in der Fläche
  programmen (AHP) stehen noch aus.
→ Zu prüfen ist die Option einer weiteren Liste
  („Tabuliste“) von Arten, deren Population so ge-
  fährdet ist, dass sie von Ausnahmemöglichkeiten
  vollständig ausgenommen werden sollten.
→ Die Regelung beschränkt sich zudem auf das Tö-
  tungsverbot (Artikel 5 (a) Vogelschutz-Richtlinie,
  VS-RL) und behandelt nicht das Beschädigungs-
  verbot (Artikel 5 (b)) und das Störungsverbot (Ar-
  tikel 5 (d)). Die beiden letztgenannten Verbote
  könnten schnell in den Fokus gerichtlicher Aus-
  einandersetzungen geraten, solange nur das Tö-
  tungsverbot adressiert ist.

                                                                                                        15
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn

4.3 Einführung gesetzlich geregelter Aus-                     Deutschland Klimaneutralität der Stromversorgung
    nahmevoraussetzungen für die landsei-                     erreicht ist. Begründet wird das angestrebte Sonder-
    tige Windenergie in Bezug auf das arten-
                                                              recht mit dem Schutz des Klimas als Belang des öf-
    schutzrechtliche Tötungsverbot30,31
                                                              fentlichen Interesses und der Versorgungssicher-
                                                              heit. 33
Die Kanzlei von Bredow/Valentin/Herz (Berlin) hat
in einem Rechtsgutachten im Auftrag der Stiftung
                                                              Die Ausnahme vom artenschutzrechtlichen Tö-
Klimaneutralität (SKN) untersucht, welche Ände-
                                                              tungsverbot soll durch Schutzabstände um nachge-
rungen am Artenschutzrecht geeignet wären, um
                                                              wiesene und besetzte Nistplätze für als windkraft-
den Zielkonflikt mit dem Klimaschutz konstruktiv
                                                              sensibel erkannte Vogelarten eindeutig begrenzt
aufzulösen. 32 Ziel des Vorschlags ist laut SKN eine
                                                              werden. Vorgeschlagen wird ein neu einzuführender
Vereinfachung und Beschleunigung der Zulassung
                                                              § 45b BNatschG 34, der gesetzlich definierte und da-
von Windenergieanlagen durch eine gesetzlich gere-
                                                              mit allgemein geltende Voraussetzungen enthält, un-
gelte artenschutzrechtliche Ausnahme im Einklang
                                                              ter denen eine Ausnahme vom Tötungsverbot zu er-
mit den Vorgaben der europäischen Vogelschutz-
                                                              teilen ist. Danach wären Errichtung, Betrieb und
richtlinie. Durch Schutzabstände um nachgewiesene
                                                              Änderung von landseitigen Windenergieanlagen
Nistplätze soll sichergestellt werden, dass dies nicht
                                                              immer zulässig, wenn die Anlagen einen sogenann-
zu Bestandsrückgängen windkraftsensibler Vogelar-
                                                              ten äußeren Schutzabstand zu besetzten Fortpflan-
ten führt.
                                                              zungsstätten einhalten. Anlagen innerhalb des äuße-
                                                              ren Schutzabstands sind demnach dann zulässig,
Der Regelungsvorschlag empfiehlt ein gesetzlich
                                                              wenn für sie ebenfalls im Gesetz definierte projekt-
verankertes Sondertechnologierecht für die Errich-
                                                              bezogene Maßnahmen durchgeführt werden. Im ab-
tung, den Betrieb und die Änderung von Windener-
                                                              soluten Nahbereich besetzter Fortpflanzungsstätten
gieanlagen an Land mit dem Ziel, neue Anlagen, die
                                                              greift die hier definierte Ausnahme allerdings nicht.
bestimmte Anforderungen erfüllen, so lange über die
                                                              Anlagen in diesem Nahbereich werden auf das regu-
Erteilung von Ausnahmen vom artenschutzrechtli-
                                                              läre Bewertungssystem nach § 44 zurückverwiesen.
chen Tötungsverbot der EU zu genehmigen, bis in

30
     Stiftung Klimaneutralität (2021): Klimaschutz und Ar-         das deutsche Artenschutzrecht zur Verbesserung der Zu-
     tenschutz – Wie der Zielkonflikt beim Ausbau der Wind-        lassungsfähigkeit von Windenergieanlagen anzupassen?
     energie konstruktiv aufgelöst werden kann. Ein Rege-          Rechtsgutachten der Rechtsanwaltskanzlei von Bre-
     lungsvorschlag. https://www.stiftung-                         dow/Valentin/Herz im Auftrag der Stiftung Klimaneut-
     klima.de/app/uploads/2021/05/2021-04-29-Zielkon-              ralität. https://www.stiftung-klima.de/app/uplo-
     flikt-Windenergie-und-Artenschutz-auflo-                      ads/2021/05/2021-04-29-Gutachten-
     esen.fin_.pdf                                                 Artenschutzrecht-Windenergie_1.1.pdf

31
     Stiftung Klimaneutralität/Agora Energiewende/Agora       33
                                                                   Eine entsprechende Formulierung war in den Entwürfen
     Verkehrswende (2021): Politikinstrumente für ein kli-         für § 1 EEG, das Anfang 2021 in Kraft trat, bereits ent-
     maneutrales Deutschland. 50 Empfehlungen für die 20.          halten, ehe sie kurz vor der Entscheidung im Bundestag
     Legislaturperiode (2021–2025), S. 30ff. https://sta-          wieder gestrichen wurde
     tic.agora-energiewende.de/fileadmin/Pro-
     jekte/2021/2021_06_DE_100Tage_LP20/A-                    34
                                                                   Bringewat, Jörn/Scharfenstein, Clara (2021): Entwurf zur
     EW_219_Politikinstrumente_klimaneutrales_Deutsch-             Einführung eines §45b BNatschG – Windenergie an
     land_WEB.pdf                                                  Land. https://www.stiftung-klima.de/app/uplo-
                                                                   ads/2021/06/2021-06-18-Vorschlag-fuer-neuen-
32
     Scharfenstein, Clara/Bringewat, Jörn (2021): Welche           45b-BNatSchG-Gesetzentwurf-Begruendung-1.pdf
     Möglichkeiten bietet das europäische Artenschutzrecht,

                                                                                                                         16
Agora Energiewende | Windenergie und Artenschutz – Wege nach vorn

Ziel der Regelung ist es, für die zügige Genehmigung         Als Maßnahmen beispielhaft genannt werden unter
von Windenergieanlagen Rechtssicherheit zu schaf-            anderem die Schaffung von Ablenkflächen oder der
fen und insbesondere einen rechtssicheren Weg in             Einsatz technischer Antikollisionssysteme, die
die artenschutzrechtliche Ausnahme zu eröffnen,              Windenergieanlagen bei Annäherung des Vogels
indem deren Anforderungen in nach Rechtsansicht              rechtzeitig in den sogenannten Trudelbetrieb über-
der Autorinnen und Autoren europarechtskonfor-               führen, um mit hinreichender Zuverlässigkeit eine
mer Weise konkretisiert werden. Deshalb versteht             Kollision zu verhindern.
sich die vorgeschlagene gesetzliche Regelung nicht
als Etablierung eines neuen Ausnahmetatbestands,             Außerhalb des äußeren Schutzabstands sind Wind-
der nach dem europäischen Vogelschutzrecht unzu-             energieanlagen artenschutzrechtlich immer zulässig.
lässig oder diesbezüglich fragwürdig wäre, sondern           Da der Gesetzgeber in diesem Konzept insoweit eine
als zulässige Konkretisierung im Rahmen der beste-           abschließende Regelung trifft, beschränkt sich die
henden Ausnahmetatbestände.                                  artenschutzrechtliche Prüfung der Behörden auf die
                                                             Einhaltung dieser Vorgaben. In der Verantwortung
Maßgeblich wäre mithin in Zukunft für Genehmi-               der Projektierer bleibt die Kartierung der relevanten
gung und Betrieb von Windenergieanlagen nicht                Brutstandorte und gegebenenfalls die Umsetzung
mehr die einzelfallbezogene Risikobewertung durch            projektbezogener Maßnahmen.
die Genehmigungsbehörde, sondern das Vorliegen
der Ausnahmevoraussetzungen, die wiederum aus                Die Bundesregierung soll in geeigneter Weise über
einer generellen Risikobewertung in Form eines zu            die Entwicklung der durch das Sondertechnologier-
dem Vorschlag erstellten Fachgutachtens abgeleitet           echt erfassten Arten berichten. Flankierend, jedoch
werden. Die Ausnahmevoraussetzungen werden also              ausdrücklich nicht als europarechtlich gebotene Vo-
derart gesetzlich konturiert, dass die Vorgaben der          raussetzung zur Umsetzung des Konzepts, schlagen
Vogelschutzrichtlinie (Artikel 9) ganz überwiegend           die Autorinnen und Autoren ein Bund-Länder-
auf der Ebene der gesetzgeberischen Entscheidung             Hilfsprogramm für gefährdete Vogelarten mit einem
abgearbeitet werden.                                         jährlichen Volumen von mindestens 100 Millionen
                                                             Euro vor. Dies sei vor dem Hintergrund geboten, dass
Konkret soll im Bundesnaturschutzgesetz für wind-            viele Vogelarten durch eine Vielzahl anderer Fakto-
energiesensible Vogelarten ein jeweils artspezifi-           ren (Intensivlandwirtschaft, Infrastrukturen, Zersie-
scher innerer Schutzabstand um alle nachgewiese-             delung) unter Druck stehen und könnte beispiels-
nen und besetzten Fortpflanzungsstätten festgelegt           weise im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe
werden. Innerhalb dieses Schutzabstands sind                 „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küsten-
Windenergieanlagen artenschutzrechtlich über das             schutzes“ (GAK) umgesetzt werden.
hier diskutierte Sondertechnologierecht nicht zuläs-
sig. 35 Innerhalb eines zweiten äußeren Schutzab-
stands, genauer im Gebiet zwischen innerem und               Artenschutzfachliches Gutachten
äußerem Schutzabstand, sind Windenergieanlagen
artenschutzrechtlich dann zulässig, wenn vom Be-             Der hier vorgestellte Regelungsvorschlag wurde von
treiber im Gesetz klar definierte Maßnahmen zur              einem parallel beauftragten artenschutzfachlichen
Minderung des Kollisionsrisikos eingesetzt werden.           Gutachten flankiert, das sich in Deutschland

35
     Das geltende Artenschutzrecht soll aber parallel an-        kann wie bisher nach § 44 Abs. 5 oder §45 Abs. 7 geneh-
     wendbar bleiben. Eine Anlage, die die Voraussetzungen       migungsfähig sein.
     nach dem vorgeschlagenen § 45b Abs. 1 nicht einhält,

                                                                                                                      17
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