WIR MESSEN KUNST - null41
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www.null41.ch November 2019 SFr. 9.– WIR MESSEN KUNST ROCHUS LUSSI: VOM BEWERTEN UND BEWERTET-WERDEN KUNST-RANKINGS: ANALYSIEREN, KRITISIEREN, NICHT IGNORIEREN TURNER-FAZIT: WAS NACH ALL DEM PUBLIKUM BLEIBT AUSSERDEM INNERSCHWEIZER PERFORMANCEKUNST AUFBEWAHREN ZWISCHEN GENIE UND WAHNSINN TROMPETEN
Besuchen Sie uns an der Eröffnung in der 745 Viscosistadt in Luzern-Emmenbrücke 30. November 2019 hslu.ch/viscosistadt
EDITORIAL DIE KUNST AUF egal, wie absurd sie auf den ersten Blick scheinen. Zusammen mit Shannon Zwicker hat er zudem ein interaktives Tool entwi- DEM SOCKEL ckelt, mit dem Zentralschweizer Kulturschaf- fende sich selber ranken und unter dem Hashtag #prestigeometer041 miteinander vergleichen können. Liebe Leserinnen, liebe Leser Über das Messen von Kunst haben wir Man mag vom Messen der Kunst uns aber auch mit einer Vielzahl von wei- halten, was man will: Es wird gemacht. teren Menschen unterhalten, zum Beispiel Kunstschaffende werden in Rankings nach mit Rene Burrell, dem Leiter des frisch reno- Ruhm und Erfolg geordnet, Werke werden vierten Stanser Chäslagers, mit Rochus ausgezeichnet und Projekte gefördert (oder Lussi, dem Träger des Innerschweizer Kul- eben nicht). Das Publikum wird überall ge- turpreises 2019, mit der Direktorin des Lu- zählt und wenn möglich auch noch durchsor- zerner Kunstmuseums, Fanni Fetzer, die auf tiert: Ausserkantonale, Alte, Erstbesuche- die äusserst erfolgreiche Turner-Ausstellung rinnen. zurückblickt, genauso wie mit Lena Friedli, Das alles ist nicht zwangsläufig falsch. der ehemaligen Kuratorin des Emmer Um die Welt zu verstehen, müssen wir Kunstraums akku. Ausserdem haben wir ordnen, vergleichen, einreihen. Das gilt auch zwei frisch publizierte Zentralschweizer Bü- für Kunst und Kultur. Zwingend ist aber, cher für Sie gelesen und wie immer zahl- dass man reflektiert, wer da eigentlich was reiche Tipps zusammengetragen zu anste- genau macht. Dieser Aufgabe haben wir uns henden Kultur-Highlights. Viel Spass damit! in der vorliegenden Ausgabe gestellt. Paul Buckermann, der an der Universität Luzern Herzlich, in der Soziologie der Kunst promoviert hat, Anna Chudozilov zeigt auf, warum man Rankings von Kunst- Redaktionsleitung schaffenden nicht einfach ignorieren darf, November 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 3
INHALTSVERZEICHNIS Rochus Lussi, Träger des Innerschweizer Kulturpreises 2019, Jaimie Branch, Trompeterin der Stunde, spielt im November im reflektiert die Bedeutung von Auszeichnungen. > Seite 26 Luzerner Mullbau zusammen mit Dave Gisler und Lionel Friedli. > Seite 41 KRITIK AN Editorial > Seite 3 Guten Tag > Seite 5 Poliamourös RANKINGS Jana Avanzini befürchtet Trash in der Kulturberichterstattung > Seite 6 Kosmopolitour Heinrich Weingartner freut sich über viel Blut in Chicago > Seite 7 Wie der Ruhm von Kunstschaffenden vermessen wird und warum wir das nicht einfach ignorieren sollten > Seite 10 Stadt – Land Blick durch die Linse aus Luzern und Heidegg > Seite 8 Überdacht > Seite 30 SCHLUSS MIT Ausgefragt Leandro Stalder > Seite 43 KUNSTRAUM Käptn Steffis Rätsel > Seite 70 Gezeichnet > Seite 71 Kuratorin streichen, Webpräsenz löschen, Galerie schliessen: Hiobs- botschaften aus der Zentralschweizer Kunstszene > Seite 18 ZAHLEN ZÄHLEN! Rahel Estermann über die Bedeutung von Zahlen für politische Entscheidungen > Seite 21 Titelbild: Luca Schenardi KULTURKALENDER Musik > Seite 41 Kinder > Seite 44 NOVEMBER 2019 Veranstaltungen > Seite 45 Film > Seite 32 Ausstellungen > Seite 61 Wort > Seite 34 Ausschreibungen > Seite 68 Bau > Seite 37 Impressum > Seite 69 Kunst > Seite 38 Adressen A-Z > Seite 66 4 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz November 2019
GUTEN TAG GUTEN TAG, STADTZUGER GUTEN TAG, JÉRÔME MARTINU KULTURKOMMISSION Sie sind der Akrobat der Stunde. Denn nur Fast jeder sei schon von der Stadt finan- mit viel Dehnen und Strecken ist es möglich, die ziell unterstützt worden, nur nicht mittels nationalen Wahl als «klares Zeichen, dass die Atelierstipendium – das gab das Zuger Kultur- Mitte wieder stärker im Fokus steht» zu inter- kommissionsmitglied Dino Sabanovic zu Pro- pretieren. Unbestreitbar stand der Wahltag im tokoll, als er von der «Luzerner Zeitung» zur Zeichen der Grünen und es gibt keine argumen- Vergabe eines ebensolchen Stipendiums an tativen Turnübungen, die vergessen lassen, seine Kommissionskollegin Anu-Maaria dass die Grünen links sind. Aber trotzdem, Sie Calamnius-Puhakka befragt wurde. Dass sich wissen: Die Wahl war kein Linksrutsch, sondern Interessenkonflikte im Kulturbereich er- eine Stärkung der Mitte. Die Menschen wollen geben – geschenkt. Der Föderalismus sorgt Klimalösungen, nicht linke Politik. Und eigent- dafür, dass sowohl die Auswahl an potenziell lich wollen sie auch nicht die Klimalösungen der Auszeichnenden wie auch Ausgezeichneten Grünen, sondern praktikable Lösungen und übersichtlich bleibt – je kleiner der Kanton Eigenverantwortung! Momentchen mal … Mitte, oder gar die Gemeinde, desto übersichtlicher. praktikabel, Eigenverantwortung? Das klingt Umso wichtiger darum der reflektierte Um- ja fast wie ein Wahlslogan der Liberalen! gang mit Konstellationen, die Fragen auf- Man kann also mit gutem Gewissen sagen, die werfen. Uns würde zum Beispiel nur schon in- Schweizerinnen und Schweizer wollen gar nicht teressieren, wen genau ihr mit «fast jeder» Grün, sie wollen Bürgerlich! Wahnsinn, diese meint. Politanalyse, Herr Martinu. Äch, hätten wir das nur vor der Wahl gewusst. Neugierig, 041 – Das Kulturmagazin Sich grün und blau ärgernd, 041 – Das Kulturmagazin IG KULTUR STELLUNGNAHME DER IG KULTUR Kulturpolitische Zielsetzungen müssen sich im Budget widerspiegeln ZUM VORANSCHLAG 2020 UND DEM Die Absichten sind begrüssenswert. Den Worten müssten AUFGABEN- UND FINANZPLAN nun allerdings auch Taten folgen. Der Handlungswille ist aber weder beim Regierungsrat noch bei der Mehrheit des Luzerner 2020–2023 DES KANTONS LUZERN Kantonsrats spürbar. Nach dem Abbau in der Kulturförderung im Rahmen des Konsolidierungsprogramms 2017 wäre nun Keine Korrekturen – die Kultur steht eine Korrektur dringend nötig gewesen. Entsprechende Anträ- weiterhin an ge wurden bei der Beratung des AFPs im Kantonsrat leider abge- Die kulturpolitischen Zielsetzungen des Kantons lehnt. Luzern sind begrüssenswert. Doch trotz eines budgetier- ten Überschusses für das Jahr 2020 von 19 Millionen Fran- Freie Mittel sind für die Kulturförderung ken wird die Kultur weiterhin auf Sparflamme gehalten. aufzuwenden Die Luzerner Kultur habe eine nationale, gar interna- Kanton und Stadt Luzern haben sich nun auf eine Ab- tionale Bedeutung – das wird im Legislaturprogramm sichtserklärung geeinigt. Künftig soll der Finanzierungschlüs- 2019–2022 postuliert, das der Kanton Luzern bereits im sel für den Zweckverband Grosse Kulturbetriebe angepasst Juli veröffentlicht hat. Folgerichtig werden im Aufgaben- werden. Der Kanton Luzern wird demnach nur noch 60 statt und Finanzplan (AFP) 2020–2023 ambitionierte Ziele an- 70 Prozent der Betriebsbeiträge übernehmen. Dadurch werden visiert: so etwa die Weiterentwicklung des Zweckverban- rund 3 Millionen Franken an Mitteln frei. Das sind Gelder, die des Grosse Kulturbetriebe und die Realisierung einer zwingend wieder in die Kulturförderung fliessen müssen. Denn neuen Theaterinfrastruktur, die gesetzliche Verankerung Pläne sind genügend vorhanden für die Luzerner Kultur – regio- der regionalen Förderfonds im Kulturförderungsgesetz nal, national sowie international. sowie die Fortführung der Diskussionen über eine Zent- ralschweizer Filmförderung. Gianluca Pardini, Geschäftsleitung IG Kultur Luzern November 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 5
POLIAMOURÖS etwas vorhaben, einen Zusammen- schnitt von Vujos grössten Fremd- schämmomenten vorspielen. Doch es kam gut. Die nächste Bachelorette wurde eine andere Frau. Eine mit kreativerem Deutsch. Und vor allem eine, mit der mich privat so rein gar Kultur-Trash ist okay, nichts verbindet. Doch dann erreicht mich diesen Kultur trashen nicht Herbst eine neue Hiobsbotschaft eines ehemaligen Arbeitgebers: «Zentralplus schafft Kultur ab» heisst es. Zwar nicht im Blick, doch auf den Strassen Lu- Lange habe ich mich dafür geschämt: Etablissement einen Bachelorette- zerns, in den Ecken der Beizen und in Bachelorette, Love Island – ich liebe Teilnehmer gesehen habe. In einer Sitzungszimmern wird getuschelt. Trash-TV. Weil ich mich damit besser ganz alltäglichen Situation, nur weni- Meine erste Reaktion ist Verleug- fühle als andere, ge Meter von mir entfernt. Zwischen nung. Dann Wut und Verständnislo- Text: Jana Avanzini erklärt die Wis- mir und all den aufgepumpten und sigkeit. Dann Recherche. Auf meine Illustration: Stefanie Sager senschaft. Vor sexistischen Trash-TV-Proleten mit Nachfragen erhalte ich unterschied- allem aber hilft es mir, nach der tägli- ihren perfekt gezupften Augenbrauen lichste Antworten: Von Bestätigung chen Denkarbeit einfach mal den Kopf schien sich gerade jegliche Distanz über Verneinung bis Abwiegeln ist auszuschalten. Mal keine Idee und aufzulösen. Es war verstörend. alles dabei. Wie die neue Kulturbe- keinen Input zu bekommen, der dann Noch schlimmer war damals die richterstattung aussehen wird, bleibt in einer stundenlangen Online-Re- Schlagzeile: «Sara macht’s bald als unklar. cherche und der Bestellung mehrerer Bachelorette». Schock. Schweissaus- Seither sorge ich mich stetig, dass Bücher endet. bruch. Denn die Fernsehfrau Sara in Luzern künftig online über People Trash ist toll, solange –Achtung – Bachmann ist meine ehemalige Ar- statt Kultur geschrieben wird. Über der Abstand zum eigenen Leben ge- beitgeberin. Mein erster Impuls? unsere Kügelipastetli-Prominenz und wahrt bleibt. Das wurde mir bewusst, Anrufen und nachhaken. Ihr den Kopf ihre DJ-Sets am Stadtfest. Und das als ich letztens in einem Luzerner waschen, und sollte sie tatsächlich so geht dann als Kultur durch, gemessen am Interesse der Lesenden. Denn gemessen wird an Klicks. Nicht am Gefühl nach dem Klick. Daran, ob man mochte, was man las, etwas daraus gelernt hat, oder ob man sich danach einfach nur ein wenig dreckig fühlt. Ein Artikel über Penisbilder im Posteingang der Fitness-Influencerin anstelle der Rezension vom Besuch der alten Dame? Das ist definitiv ge- fragt im Coiffeursalon-Heftli. Doch im Regionaljournalismus hat die Sparte People immer etwas Verzwei- feltes. Etwas Traurig-Provinzielles. Also belasst Trash doch bitte im TV – auf den Zürcher roten Teppichen und in den kölschen Reality-Formaten. Aber fangen wir nicht an, regionale Kulturberichterstattung damit zu ersetzen. Lasst das Abschaffen der Kulturrubrik bei Zentralplus bitte ein Gerücht bleiben. 6 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz November 2019
KOSMOPOLITOUR «The Dark Knight» in Colorado zwölf Menschen erschossen. Man befürch- tete Nachahmungstaten. In Chicago patrouillierte vor und in den Kinos die Polizei. Der Attentäter von 2012 hatte seine Haare rot gefärbt, weshalb die Medien ihn als «Joker-Killer» bezeich- neten. Wie sich später herausstellte, war diese Farbe sein Symbol für «bra- very». Und die Mitternachtsvorfüh- rung von «The Dark Knight» wählte der Attentäter, weil er dort am meisten Alt genug für Horror: Heinrich Weingartner im Kino. Menschen, aber keine Kinder vermu- tete. «Joker-Killer» wird er heute noch genannt. Ein klingender Name, der in den Köpfen bleibt. Kürzlich meinte Donald Trump, Mit Blut gegen Frust es brauche ein Rating-System für Filme. Ein solches gibt es seit 1968. Vermutlich will er die Filme jetzt ausschaffen oder ordentlich Butterpopcorn. why don’t we nuke them? In den letzten Die folgende Kolumne ist für Menschen Die Menschen hier wissen Wochen fragten US-amerikanische unter 18 Jahren nicht geeignet. noch, wie man Gewaltfil- Medien von links bis rechts, ob Filme me konsumiert. Bei «So- wie «Joker» Massenmorde verursachen Menschen, die in ihrem Lebenslauf ciety» war Regisseur Brian Yuzna an- würden. Ich finde es schön, dass es in schreiben, dass sie über «eine hohe wesend und hat dem Publikum erklärt, diesen spaltenden Zeiten etwas gibt, Belastbarkeit» verfügen, sind benei- wie man dieses Körperteil abgetrennt das links, rechts und Trump eint. Die denswert. Ich darf das nicht. Der oder jene Körperflüssigkeit fabriziert Unfähigkeit, zwischen Realität und kleinste Fliegenschiss bringt mich auf hat. Sie können sich keine friedlichere, Reduktion zu unterscheiden. die Palme. Gleichzeitig kann ich keiner hinsichtlich Geschlecht, Gender und Vor einigen Tagen sass ich im Fliege etwas zuleide tun. Eine frustrie- Gesinnung besser durchmischte Ver- Logan Theatre. Der Anti-Held Ash rende Kombination. anstaltung vorstellen als die Vorfüh- trennte sich in «Evil Dead II» gerade Glücklicherweise habe ich die rung eines Gewaltfilms. die eigene Hand mit einer Kettensäge alltäglichen Aggressionen im Griff. Das Ich habe es mit Kultur aus ande- ab. Da stellte sich mir eine Frage: Wie steht so natürlich nicht in meinem ren Sparten probiert. Eine Shakes- viele Gewalttaten haben Gewaltfilme Lebenslauf. Die Medizin für Frust und peare-Vorstellung in Downtown war wohl schon verhindert? Aggression heisst: Kultur. Und mit jedoch derart unterirdisch, dass meine Kultur meine ich: Gewaltfilme. Es gibt hervorgerufenen Aggressionen einer nichts Besseres gegen echte Wut als ambulanten Hardcore-Gewaltfilm- gespieltes Verzweifeln, fiktives Blut Therapie bedurften. Heinrich Weingartner weilt für vier und irreales Verderben. Unverständlich: Nicht alle Men- Monate im Atelier des Vereins «Städte- In Chicago habe ich den Jackpot schen mögen Gewaltfilme. Der neue partnerschaft Luzern–Chicago». Dort geknackt: «The Texas Chainsaw Mas- «Joker»-Film wurde in den USA aggres- versucht er sich an einem Roman und einer Reportage. In dieser Kolumne sacre», «The Thing», «Terminator», alles siv kritisiert. Jemand hatte 2012 bei schreibt er über die Entfremdung eines im 35-Millimeter-Original, serviert mit einer Vorführung des Batman-Streifens Kleinstädters in der «Windy City». November 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 7
STADT 19. OKTOBER, KUNSTFEST, KUNSTMUSEUM LUZERN «Saturday Night Fever – Italo-Disco – es wurde getanzt. Anlässlich des 200-Jahr-Jubiläums der Kunstgesell- schaft Luzern wurde das Kunstmuseum zur Party Location.» Bild & Wort: Maria Koen 8
LAND 20. OKTOBER, HEIDEGG, LUZERN «Wimmet. In einer Wein- region gehört lesen ebenso zur Kultur wie trinken.» Bild & Wort: Simon Meyer 9
FOKUS: KUNST MESSEN KUNST MESSEN Gemessen wird Kunst seit Jahrhunderten, so absurd man das auch finden mag. Rankings einfach zu ignorieren, schafft allerdings neue Probleme. Kunst messen zu wollen, klingt ein wenig vermessen. die sich an Preisen orientieren und sich somit mit gut ver- Entziehen sich nicht gerade Kunst, Kreativität und gleichbaren Daten befassen. Überraschenderweise wird Schönheit jeder Gleichmacherei? Widerstehen nicht per- auch kulturelles Ansehen untersucht, also eine zentrale sönlicher Geschmack und die Einzigartigkeit der Werke kunsteigene Ressource. Diese wird quantifiziert und in jeglicher Objektivierung oder Rankings von Kunstschaffenden und Kunstinstitutio- Text: Paul Buckermann gar Standardisierung? Und über- nen gegossen. Anstatt so etwas nun kategorisch zu igno- Illustrationen: Luca Schenardi haupt, wollen nicht einfach Poli- rieren, lohnt sich ein genauer Blick auf die Funktionswei- tiker und Investorinnen die se und die Logik hinter solchen Ruhmeslisten. Wer misst Kultur mit ihren Messinstrumenten kolonisieren, um zu hier wie was? Und noch viel wichtiger: warum? Diese steuern, zu rationalisieren und Profit herauszupressen? Fragen legen nicht nur das Weltbild offen, das Rankings Die grundsätzliche Ablehnung hinter solchen fast zugrunde liegt, sondern machen auch die Interessen da- rhetorischen Fragen sind aus mindestens drei Gründen hinter glasklar. problematisch. Trotzdem – dafür argumentiere ich Kunst anhand von einheitlichen Metriken zu anhand von Kunstrankings – sollte niemand müde messen, ist indes kein neues Phänomen. Punkte für werden, diese Fragen immer wieder zu stellen. Nur eben Kunst werden seit mehr als dreihundert Jahren verteilt. mit anderen Zielen. 1708 veröffentlichte der französische Kritiker Roger de Piles seine Balance de peintre, in der er in verschiedenen Ka- Erstes Problem: Rankings werden an- tegorien die Qualität von Malern bewertete. Rembrandt gefertigt, egal wie absurd sie wirken. erreichte in «Kolorit» satte 17 von maximal 20 Punkten; Kritik an Kolonisierung und Instrumentalisierung Dürer dafür nur schlappe 8 in «Komposition». Nach der der Kunst verhindert nicht, dass eine ganze Batterie von künstlerischen Stil-, Medien-, Sujet- und Perspektivenex- Evaluationen, Messungen und Ranglisten auf künstleri- plosion im 20. Jahrhundert wirkt eine solche ästhetische sche Produktion und den Betrieb losgelassen wird. Dabei Qualitätsmessung heute hanebüchen. Es ist auch des- handelt es sich eben nicht nur um Kunstmarktanalysen, halb kein Zufall, dass 1970 mit dem Aufkommen der Con- 10 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz November 2019
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FOKUS: KUNST MESSEN weiter und jedes persönliche «Ruhmeskonto» füllt sich Messbar – und mithin auch mehr oder eben weniger. Der Kontostand bestimmt die vergleichbar – ist der Ruhm, Platzierung auf der «Rangliste der Grössten» oder im den Künstler im Laufe der Newcomer-Ranking. Wen es interessiert: Gerhard Rich- ter ist seit 2004 fast durchgängig an der Spitze. Aber was Zeit erlangen. heisst das? Der Kunstkompass, der gegenwärtig einmal im Jahr beim Wirtschaftsmagazin «Capital» erscheint, behaup- tet, dass Ruhm mit Qualität und Kunstmarktpreisen «korreliere». Am Ruhm könne erkannt werden, wer gut ist und ob Marktpreise angemessen sind. Die Behaup- tungen dahinter sind einfach: Berühmt ist, wer gut ist, weil Expertinnen und Experten über Anerkennung ent- scheiden. Teuer wird sein, wer gut ist, weil das nun einmal so ist. Der Kunstkompass verspricht also nicht nur, dass man im Ranking die berühmtesten Künstlerinnen und Künstler sieht, sondern auch, dass über diesen Umweg objektiv erkennbar ist, wer wirklich gut ist und wessen Werke wahrscheinlich teuer werden. Stimmt das denn? Wird institutionelle Anerken- nung gerade bei zeitgenössischer Kunst nicht vielleicht einfach durch den Herdentrieb im Betrieb beeinflusst? Sammelt nicht mehr Ruhm, wer schon berühmt ist – egal, wie gut die neuesten Sachen sind? Orientiert sich der Kunstmarkt nicht vielmehr an sich selbst als an Qualität oder Anerkennung? Unabhängig von solchen Fragen hat soziologische Forschung gezeigt, dass Messungen und Bewertungen nicht einfach die Welt widerspiegeln, son- dern Fakten schaffen und dadurch die Welt verändern. temporary Art ein Ranking unter dem Namen Kunstkom- pass erfunden wurde, das zwar wie de Piles Punkte ver- Zweites Problem: Rankings können teilt, dabei aber jede objektive Einschätzung von Quali- immense Effekte haben, egal wie ab- tät für unmöglich erklärte. Der Kunstkompass behauptet surd sie erscheinen. gerade entgegengesetzt: Künstlerinnen, Kuratoren oder Museumsdirekto- «Kunstwerke sind mangels objektiver, allgemein- rinnen können über ein Ranking sich selbst und andere verbindlicher Qualitätsmassstäbe nicht messbar und beobachten und untereinander vergleichen. Wenn anzu- also auch – streng genommen – nicht miteinander ver- nehmen ist, dass auf Grundlage des öffentlichen Ran- gleichbar. Messbar – und mithin auch vergleichbar – ist kings woanders Entscheidungen über Sammlungsan- jedoch der Ruhm, den Künstler im Laufe der Zeit erlan- käufe, Engagements oder Investitionen getroffen gen.» werden, liegt es nah, dass man in der Rangfolge nach Der Kunstkompass als Pionier der Ruhmesmessun- oben will. Dafür kann man sich nun an den entsprechen- gen reklamiert dabei bis heute ein «Höchstmass an Ob- den Kriterien orientieren. Genau hier beeinflusst die Re- jektivität» für sich. Der Ruhm, also kunstweltliche Aner- alität des Rankings Handlungen und etabliert neue Be- kennung, würde über sogenannte «Ruhmestatbestände» wertungsschemata. wie Ausstellungen in Museen und Besprechungen in Künstlerin XY ist eine der Newcomerinnen? Dann Kunstzeitschriften erkennbar. Verlässlich seien diese werden grössere Einrichtungen um sie werben und ihr Ruhmesindikatoren, weil Expertinnen und Experten – Ruhm wird so weiter steigen. Eine Ausstellung im also Kuratorinnen, Kunsthistoriker, Kritikerinnen – über Museum XY ist per se gut bewertet? Dann werden die sie bestimmen. Und die wüssten schon, welche Kunst Plätze dort noch umkämpfter und ausgestellte Kunst- gut ist. Diese faktischen Symptome von Ruhm werden schaffende noch mehr geachtet. Künstler XY ist gerade aber nicht einfach nur gezählt, sondern für sich noch nach im Verhältnis zu seinem Ruhm günstig? Dann wird die Relevanz bewertet. Die Kunstschaffenden bekommen Nachfrage steigen und somit werden auch Preise nach so Punkte für bestimmte Resonanz: Einzelausstellung oben getrieben. Solche Effekte von öffentlichen Verglei- im MoMA New York: 800 Punkte, Schaulager Basel: 650 chen werden nicht umsonst als selbsterfüllende Prophe- Punkte, Teilnahme documenta: 500 Punkte. So geht es zeiung bezeichnet. Es wird ein Matthäus-Effekt in Gang November 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 13
FOKUS: KUNST MESSEN gesetzt: Angesammeltes Ansehen führt zu noch mehr Ansehen. Sprichwörtlich regnet es immer dort, wo es Ranglisten besitzen potenziell schon nass ist, und Rankings machen bis auf Nachkom- hohen Einfluss, wie absurd sie mastellen sehr deutlich, wo das ist. auch immer erscheinen mögen. Ranglisten besitzen potenziell hohen Einfluss, wie absurd sie auch immer erscheinen mögen. Es handelt sich dabei aber nicht um Macht, die auf Legitimität oder gar einem Gewaltmonopol beruht, und kein Ranking kann zu einer Orientierung an ihm zwingen. Weil bei man- chen Rankings aber klar ist, dass sie von anderen beob- achtet werden und auf ihrer Grundlage entschieden wird, liegt es nahe, dass man sich an den Bewertungskriterien des Rankings orientiert. Solche «weiche» Disziplinierung muss auch deshalb im Blick behalten werden, weil sie keiner demokratischen oder wissenschaftlichen Kontrol- le unterliegt. Doch was sind die Alternativen? Das führt zum dritten Problem. Drittes Problem: Jede Weltsicht ist absurd – egal wie normal sie wirkt. Jede kategorische Ablehnung von absurden Verfah- ren beruht auf der Annahme, dass es eine vernünftige oder gar natürliche Art gebe, mit Kunst umzugehen. Schon Verweise auf individuellen freien Geschmack sind fraglich, weil Rezeption von Kunst nicht naturgegeben ist. Sie hängt ab von Klassen- und Geschlechterzugehö- rigkeit, Bildungskarriere, politischen Einstellungen und vielem mehr. Es kann somit nicht nur einfach verschiedene Welt- bilder geben (erstes Problem), vor denen jeweils be- stimmte Bewertungen und Vergleiche plausibel erschei- gestellt? Was wird besprochen? Alle entsprechenden nen. Vielmehr sind auch jedem Verweis auf Unmessbar- Entscheidungen gründen auf mal mehr, mal weniger le- keit von Kunst bestimmte Interessen und Weltbilder in- gitimen Weltsichten und dazugehörigen Bewertungsfo- härent. Wer also behauptet, dass es bei Kunst um lien. Der Kampf um Deutungshoheit kann also ange- unvergleichbare Schönheit geht, tut dies auch nur aus bracht sein, weil hier entschieden wird, wer von Kunst einer bestimmten Vorstellung von Kunst heraus. Doch, leben kann, was wir sehen, wer darüber entscheidet und wie es Albert Camus auf den Punkt bringt, ist Welt «nicht somit, was im öffentlichen Diskurs einen Unterschied vernünftig – das ist alles, was man von ihr sagen kann». machen kann. Ein Gefühl von Absurdität entsteht somit durch den «Zu- Jeder Widerstand gegen Rankings, Evaluationen sammenstoss des Irrationalen mit dem heftigen Verlan- und andere Messungen lohnt sich in dieser Weise. Weil gen nach Klarheit, das im tiefsten Innern des Menschen aber jede Ordnung von Welt (auch Ihre, werte Leserin, laut wird». werter Leser) auf einer bestimmten Weltsicht beruht, Nüchtern betrachtet sind alle Vorstellungen über müssen eigene Normen, Zwänge, Ideale und Bewer- Kunst gleich absurd. Trotzdem kann und sollte man sich tungskriterien kritisch reflektiert werden. Irgendwie nicht auf einen indifferenten Relativismus zurückzie- muss von uns allen Ordnung in das Chaos der Künste ge- hen. Alle Bewertungen – über Schönheit, über Grenzen bracht werden, weil heute nicht mehr Thron und Altar da- der Kunst, über Stileinordnungen, über Qualität eines rüber entscheiden. Diese «Freiheit von allem und für Museums, über den Kanon, über Ruhm oder über Rele- alles», wie es die Filmemacherin Hito Steyerl ausdrückt, vanz – bilden nicht einfach eine objektive Realität ab, kann genauso gut Angst wie auch Hoffnung machen. sondern erschaffen einen eigenen, umfassenden Zugang Doch wer seine Interessen und die seiner Gegner kennt zu Welt. Obwohl diese «Weltsichten», wie sie der Soziolo- und sich nicht auf Gott oder Gravitationsgesetze ver- gie Pierre Bourdieu nennt, selektiv sind, haben sie im- lässt, kann Wahlverwandtschaften zur Selbstverteidi- mensen Einfluss auf unser aller Leben (zweites Pro- gung und zur Förderung einer anderen Kunst in einer an- blem): Was gilt als gut? Was wird gekauft? Was wird aus- deren Gesellschaft schliessen. 14 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz November 2019
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FOKUS: KUNST MESSEN PRESTIGE-O-METER Für bildende Künstlerinnen und Künstler (Zentralschweizer Edition) Konzept und Text: Paul Buckermann Mitarbeit: Shannon Zwicker Anleitung Du willst punktgenau wissen, wie es um das Pres- Ausbildung tige von bildenden Künstlerinnen und Künstlern Abschluss Prestigewert Faktor Total der Zentralschweiz bestellt ist? Und das auch noch Gestalterischer Vorkurs (CH) total objektiv? Das neue Prestige-o-Meter hilft dir Bachelor Fine Arts Bildende Kunst (CH) dabei. Die Bedienung ist kinderleicht: Master Fine Arts Bildende Kunst (CH) 1. Überblick: Du siehst vor dir eine Liste mit PHD Art (CH) verschiedenen Indikatoren für Prestige. Für den CAS / MAS (CH) besseren Überblick gibt es fünf Kategorien. Ver- Auslandssemester (CH) schaffe dir einen ersten Eindruck, damit du weisst, Abschluss Hochschule Ausland was sich alles in der Liste findet. 2. Institutionenbewertung: Du weisst am Markt besten, was Ansehen verschafft. Bewerte jeden Verkauft an/wo Prestigewert Faktor Total Indikator danach, wie viel Ansehen er bedeutet. Jede Eltern und Geschwister einzelne Institution, jede Besprechung, jeder Award Grosseltern und Verwandte zweiten Grades bringt Prestigepunkte. Trage in die Spalte «Presti- Freunde (Nichtkünstlerinnen und -Künstler) gepunkte» einen Wert zwischen 0 (Minimum) und Freunde (Künstlerinnen und Künstler) 10 (Maximum) ein. Verzichte ruhig auf die Nach- Aus Ausstellung (Galerie) kommastellen, das macht es einfacher. Aus Ausstellung (nicht profitorientiert) 3. Faktor und Messung: Nun suchst du dir eine Kunstmesse Person aus, deren Ruhm du messen willst. Wie oft Kunst- und Kunsthandwerksmarkt wurdest du selbst, dein Atelierkollege oder deine Ankauf Kunstsammlung öffentliche Institution Professorin schon mit dem jeweiligen Ansehen Ankauf Kunstsammlung privat bedacht? Dreimal ausgestellt bei o.T.? Trage bei o.T. Ankauf Kunstsammlung Unternehmen eine 3 in die Spalte «Faktor» ein. Multipliziere nun Aus Atelierbesuch die Prestigepunkte der Institution mit diesem Auktion Faktor und trage den Wert in die Spalte «Total» ein. Privat direkt 4. Addiere nun alle Ergebnisse aus der letzten Spalte und schon siehst du haargenau, wie viele Preise Prestigepunkte die gemessene Person sammeln konnte. Jetzt geht es ganz schnell: Spiele das Ganze Auszeichnung / Award / Würdigung / Stipendien Punkte Faktor Total ruhig noch bei mehr Leuten durch oder vergleiche, Werkbeiträge welche Werte deine Freunde, Freundinnen und Atelierstipendien Bekannten für wen ermittelt haben. Publikation Junge Kunst Stadt Luzern Endlich Klarheit! Ist doch ganz einfach, oder? Kunst- und Kulturpreis Schicke uns deine Ergebnisse und Erfahrungen Jurypreis / Preis der Zentralschweizer Kantone gerne zu oder stelle sie mit dem Tag #prestigeome- Ausstellungspreis der Kunstgesellschaft ter041 – auf Insta, Facebook oder Twitter. Abschlusspreise HSLU D&K Dozentur Kunsthochschule Professur Kunsthochschule 16 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz November 2019
FOKUS: KUNST MESSEN Medien Besprechung in Punkte Faktor Total Lokal/Regional Kulturmagazin null41.ch Luzerner Zeitung Zentralplus Radio 3Fach Regionaljournal Zentralschweiz Radio Pilatus Ausstellungen Tele 1 Ausgestellt in Prestige- Prestige- Faktor Total wert wert Luzerner Rundschau Einzel- Gruppen- Kulturmagazin frachtwerk ausstellung ausstellung Obwaldner Zeitung Kunstmuseum Luzern Nidwaldner Zeitung Galerie Urs Meile Der Bote der Urschweiz Kunsthalle Luzern National Museum im Bellpark Tages-Anzeiger akku Kunstplattform NZZ und NZZ am Sonntag Benzeholz Raum für Kunst WOZ Galerie Kriens Kunstbulletin Edizioni Periferia Blick und Sonntagsblick Nidwaldner Museum 20 Minuten Haus für Kunst Uri Art-tv KKLB Contempary art Switzerland Sankturbanhof Tagesschau Skulpturenpark Ennetbürgen Kulturplatz Museum Bruder Klaus 10 vor 10 Kunsthaus Zug Radio SRF Kornschütte International Neubad Galerie Presse allgemein international Alpineum Produzentengalerie Kulturmagazin international Tatort TV international Galerie Müller Radio international Galerie Vitrine Hilfiker Kunstprojekte Follwer auf Social Media KALI Gallery Instagram (je 100) Kunstmetzgerei Facebook (je 100) Network of Arts Twitter (je 100) B74 Snapchat (je 100) sic! Raum für Kunst tumblr (je 100) PTTH:// o.T. Raum für aktuelle Kunst Erwähnung in Buchpublikationen Werkschau HSLU Monografie Keinraum Ausstellungskatalog Wohnzimmer (eigenes oder von FreundInnen) Café Auswertung Arztpraxis Punkte Total Museum M1 November 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 17
FOKUS: KUNST MESSEN LEUCHTTÜRMEN GEHT DAS FEUER AUS Die Luzerner Kunstszene ist im Umbruch. Die akku Kunst- plattform muss einen Drittel seines Budgets einsparen und entlässt seine Kuratorin. Für die Alpineum Produzenten- galerie und das Kunstforum Zentralschweiz an der Universität Luzern ist ganz Schluss. Zufall oder symptomatisch für eine abnehmende Wertschätzung gegenüber der Kunst? Am Ende geht es um eine kaum messbare Grösse: Selbstverständnis. «Endlich begreife ich die Topografie dieses verwinkelten Ab November ist die letzte von Lena Friedli kuratierte Sees. Für mich ein versöhnlicher Abschluss mit der Inner- Ausstellung verschwunden, dem Leuchtturm fehlt die schweiz», sagt Lena Friedli. Die Kuratorin der akku Glühbirne. Kunstplattform verbringt drei Wochen Text: Pascal Zeder im Haus am See unterhalb der Villa Krä- Die Idee der Anschubfinanzierung Illustration: Mart Meyer merstein in Kastanienbaum. Sie arbeitet Dies wird in unmittelbarer Zukunft kaum besser. an ihren eigenen Projekten und bereitet sich auf ihre neue Dass bei fehlender Kuration konsequenterweise die Qua- Stelle im Forum Schlossplatz Aarau vor. lität sinkt, ist nur logisch. Wenn dazu finanzielle Kürzun- Nach vier Jahren in Emmenbrücke wurde die gen beim Programm kommen, verstärkt sich der Effekt – Kunsthistorikerin und Kulturanthropologin im Rahmen auch das ist selbstredend. Gleichzeitig nimmt die finan- der laufenden Restrukturierung des Emmer Kunst- zielle Unterstützung durch die Gemeinde ab. Im Septem- raums entlassen. Die Finanzen der Trägerstiftung sind ber 2017 sprach das Emmer Parlament, wohl zum letzten arg angeschlagen, die bisherigen Ausgaben von bisher Mal, insgesamt 520 000 Franken bis Ende 2021. Die Bei- 550 000 bis 600 000 Franken müssen um einen Drittel träge nehmen dabei sukzessive ab: 2018 lagen sie noch gekürzt werden. Die finanziellen Probleme hätten sich bei 150 000, 2021 werden sie noch 120 000 Franken betra- schon länger angebahnt, erklärt der Emmer Kulturdirek- gen. Dazu kommt, dass die Regionalkonferenz Kultur tor Brahim Aakti, der für die Gemeinde im Stiftungsrat Region Luzern (RKK) bisher jährlich einen Strukturbei- Einsitz hat. trag von 30 000 Franken an den akku bezahlt. Ob dieser Die Gründe für die finanzielle Baisse sind mannig- Beitrag für 2020 trotz fehlendem Programm in gleicher faltig: zu tiefe Einnahmen bei den Eintritten, weniger Höhe gesprochen wird, ist zumindest fraglich. Werkverkäufe als erwartet, rückläufige Beiträge seitens Der Fall aus Emmen zeigt exemplarisch die Schwie- der öffentlichen Hand und der Sponsoren. Die grössten rigkeiten auf, die für die nachhaltige Finanzierung von Ausgabeposten stellen die Miete – etwas mehr als Kunst- und Kulturbetrieben typisch sind. Als die Stif- 100 000 Franken – und das Personal dar. Der Raum bleibt, tung akku 2008 aus der Galerie Gersag hervorging, das Personal muss gehen. Ohne Kuratorin ist 2020 ein wurde zwischen Gemeinde und Stiftung festgelegt, dass «Programm light» geplant, bis im Sommer gibt sich die die Beiträge der öffentlichen Hand eine «Anschubfinan- Stiftung Zeit für die Neuausrichtung. Ein «Leuchtturm» zierung» darstellten. Die Voraussetzung für das Funkti- soll der akku sein, der «überregional strahlt», lässt sich onieren der damals verfolgten Politik sind stetes Wachs- Aakti in einer Mitteilung zur Übergangsphase zitieren. tum und ein hoher Eigenfinanzierungsgrad bis zur Un- 18 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz November 2019
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FOKUS: KUNST MESSEN Auch eine Eigenart der Galerie: Für die Mitglieder, die sie «Ein kunstaffines, mehrheitlich künstlerisch bespielen, ist sie eine finanzielle Belastung: bildungsbürgerliches Publikum hat «Die beteiligten Kunstschaffenden zahlen alle einen Bei- früher relativ selbstverständlich trag von 2000 Franken im Jahr, um die Galerie zu betrei- ben», sagt Geel. Nur die Geschäftsleitung ist im Teilzeit- Künstlerinnen und Künstler durch pensum angestellt. Wer mitarbeitet, zahlt. Werkkäufe unterstützt. Das ist Kunstforum muss schliessen heute nicht mehr so.» Ein weiteres Projekt, das Ende Jahr den Betrieb ein- Lena Friedli stellt, ist das Kunstforum Zentralschweiz an der Univer- sität Luzern. Die Internetplattform ist eine Sammlung des professionellen Zentralschweizer Kunstschaffens. Sie vereint knapp 200 Mitglieder, für rund einen Viertel von ihnen ist es die einzige Form eines Internetauftritts. Gegründet wurde die Plattform vor 18 Jahren aus einem Projekt der Universität heraus. Später sprachen die Kantone der Zentralschweiz Fördergelder. Projektleite- rin Monika Nideröst erklärt, dass der Kanton Luzern diese Unterstützung nun einstellt – das finanzielle Loch, das dadurch entsteht, ist zu gross. Man versuchte zwar, abhängigkeit von der öffentlichen Hand. Wie illusorisch alternative Geldgeber aufzutreiben, scheiterte jedoch. ein solches Denken ist, zeigt sich wiederum in den «Für ein konkretes Projekt finden sich Stiftungsgelder Zahlen. Gerade einmal 5000 Franken verdient der akku und Sponsoren, den fortlaufenden Unterhalt der Seite be- an seinen jährlichen 6000 bis 8000 Besucherinnen und zahlt aber niemand», sagt Nideröst. Im nächsten Jahr Besuchern – also nicht einmal einen Franken pro Eintritt. wäre eine Überarbeitung der Seite geplant gewesen, Eine Zusammenarbeit wie etwa mit der Hochschule ohne Kantonsbeiträge ist das nicht machbar. Das Projekt Luzern und freie Eintritte für die Bevölkerung beleben soll aber nicht ganz verschwinden: Ziel der Betreiberin- den Raum – aber nicht dessen Kasse. Neben den Ausstel- nen ist es, das Forum bis Ende Jahr in eine statische Seite lungen ist das Angebot des Kinderateliers regelmässig umzuwandeln, um das darauf vorhandene Wissen zu er- ausgebucht – und trotzdem defizitär. halten – für dieses Unterfangen werden gerade Mittel ge- Die Wertschöpfung aus Werkverkäufen plafoniert. sucht. Lena Friedli sagt, das Verhalten in Bezug auf Kunstkäufe habe sich verändert: «Ein kunstaffines, mehrheitlich bil- Teil unseres Selbstverständnisses dungsbürgerliches Publikum hat früher relativ selbstver- Die drei Fälle zeigen auf: Stiftungen, Sponsoren ständlich Künstlerinnen und Künstler durch Werkkäufe oder private Geldgeber haben kein Interesse daran, für unterstützt. Das ist heute nicht mehr so.» Strom-, Heiz- und Mietkosten von Kulturbetrieben auf- zukommen. Hingegen lassen sich aussergewöhnliche Produzentengalerie: Niemand über- Events, ein Ausstellungskatalog oder neue Kulturhäuser nimmt durchaus über private Gelder sponsern oder über Stif- «Ich glaube, das Interesse am regionalen Kunst- tungsgelder decken. Auch, weil sich die Geldgebenden schaffen ist stets auf eine kleine Minderheit beschränkt, damit profilieren können. Für die leisen Töne, sprich und diese zu mobilisieren, ist schwierig», sagt hingegen Infrastruktur und Betriebskosten, braucht es Beiträge Jeroen Geel. Er gehört zu den Mitgründern der Alpineum der öffentlichen Hand. Ein Anschub ist gut, eine Fortset- Produzentengalerie. Im Februar schliesst der Kunstraum zung ist unersetzlich. endgültig. Nicht nur aus finanziellen Gründen, Geel Das heisst aber nicht, dass das Publikum aus der wollte sich wieder mehr auf seine eigene künstlerische Verantwortung entlassen ist. Eine Gesellschaft muss Arbeit konzentrieren. «Man muss für den Betrieb viel sich dazu bekennen, dass ein vielfältiges kulturelles An- Energie und Zeit aufwenden. Dazu war niemand von un- gebot zu ihrem Selbstverständnis gehört. Der Werkplatz seren Galeriekunstschaffenden mehr bereit», sagt er. lässt sich stärken, durch Besuche des regulären Pro- Eine zeitaufwendige Aufgabe ist die Finanzierung. gramms der Kulturräume und durch Werkkäufe bei den Geel sagt, die gesprochenen Beiträge hätten sogar zuge- Kunstschaffenden selbst. Dies wiederum erhöht die Le- nommen, «weil wir viel mehr Stifungen angeschrieben gitimierung der geforderten Sockelbeiträge. Wir müssen haben und höhere Beträge eingaben». Fundraising und uns die Frage stellen, ob wir uns als Gesellschaft profes- Marketing werde immer wichtiger und die Kunstkäufer- sionelles Kulturschaffen leisten – oder ob wir unsere schaft in Luzern sei klein oder bewege sich in gehobenen Leuchttürme bald auf ihren Stromrechnungen sitzen Kreisen, die sich nicht in kleine Kunsträume begeben. lassen wollen. 20 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz November 2019
FOKUS: KUNST MESSEN «ZAHLEN SIND ZENTRAL!» Wenn in der Politik Entscheidungen über Kultur gefällt werden, wird gezählt und gerechnet – im Mittelpunkt steht dabei Geld. Ein Gespräch mit Rahel Estermann, der Präsidentin der Luzerner Kantonsratskommission für Erziehung, Bildung und Kultur. Interview: Anna Chudozilov Welche gewichtigen Entscheidungen standen Geld ein Hebel, mit dem die Politik relativ direkt steuern im vergangenen Jahr mit Blick auf Kultur im Lu- kann, was passieren soll. Es werden aber auch andere Pa- zerner Kantonsrat zur Debatte? rameter verglichen, etwa die Anzahl geförderter Projek- Die Kultur war kein zentrales Thema im Rat. Bei te oder die Zu- oder Abnahme von Publikum. Als Politi- der jährlichen Diskussion um den Aufgaben- und Finanz- kerin versuche ich auch inhaltliche Diskussionen zu plan spielt sie natürlich eine Rolle, aktuell bleibt die führen: Zuerst überlegen, was für ein Theater wir wollen, Frage, ob die Beiträge der öffentlichen Hand weiterhin und dann darüber diskutieren, welche Infrastruktur auf dem durch die Sparpakete der letzten Jahre festge- dafür nötig ist und wie man diese finanzieren kann. setzten Niveau bleiben oder wieder angehoben werden. Wenn wir als Partei unsere Positionen suchen im Dialog Mit den Überlegungen zur Zukunft des Theaters sowie von Funktionsträgerinnen und der Basis, gelingt das jener der beiden kantonalen Museen stehen zwei Kultur- ganz gut. Im Parlament fehlt diese Dimension oft. themen auch in der Öffentlichkeit zur Diskussion – zentrale Entscheidungen sind dort aber entweder schon Wie kommt man als Politikerin zu Argumenten, vor längerer Zeit gefallen, wie etwa beim Grundsatzent- sprich aussagekräftigen Zahlen? scheid für die Zusammenlegung der beiden Museen, Grundlage für die Diskussionen in Kommissionen oder stehen erst noch an. und Parlament sind in der Regel Berichte, die uns von der Verwaltung zur Verfügung gestellt werden. Hier haben Wie misst die Politik den Kultur-Output, oder wir das Problem, das eine professionelle Verwaltung anders gefragt: Welche Argumente funktionie- einem Milizparlament gegenübersteht. Sie präsentiert ren in politischen Diskussionen? die Zahlen und mit ihnen eine Zahlen sind zentral! Vor allem im Rat und bei der Botschaft – sie verfügt damit Vorbereitung von Geschäften in den Kommissionen über einen grossen Wissens- wird in erster Linie damit argumentiert. Es ist allerdings vorsprung. Ich suche den Aus- schwierig, die Auswirkungen hinter Zahlen zu verste- tausch mit verschiedenen Kul- hen. Man kann schnell 0,8 Millionen im Budget der turschaffenden, denn um kon- Museen streichen – doch was die Zahl hinter dem struktiv politisch aktiv zu sein, Komma konkret für Schulkinder bedeutet, ist in dem muss ich konkrete Forderun- Moment niemandem klar. Haben Entscheidungen Aus- gen stellen können. «Die wirkungen über einzelne Budgetbereiche hinaus, wird es Kultur braucht mehr Geld», noch schwieriger; wir investieren beispielsweise viel damit kann man einverstan- Geld in die Ausbildung von Filmschaffenden an der den sein oder auch nicht. Um Hochschule Luzern, diese feiern mit ihren Werken auch politische Entscheidungen zu regelmässig Erfolge. Doch weil in der Zentralschweiz das beeinflussen, muss aber klar Filmschaffen kaum gefördert wird, sind sie gezwungen, sein, wofür es mehr Geld Zur Person: Seit September 2018 ist Rahel Estermann in Luzern in förderfreudige Kantone und Regionen auszuwandern. braucht und was das konkret grüne Kantonsrätin, seit Beginn bewirkt. Hierzu dürften die der laufenden Legislaturperiode Wenn wir über Zahlen reden, sprechen wir da Kulturbetriebe aus meiner präsidiert sie die Kommission Erziehung, Bildung und Kultur im Prinzip über Geld? Sicht viel offensiver kommu- (EBKK), der sie schon zuvor als Kosten sind immer ein wichtiges Thema, das ist nizieren. Mitglied angehörte. Die 32-jährige Soziologin forscht an der Univer- auch bei der Kultur nicht anders. Investitionen, Betriebs- sität Luzern im Bereich Big Data. kosten – damit wird argumentiert. Grundsätzlich ist November 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 21
FOKUS: KUNST MESSEN DIE QUALITÄT DER RUHE Das Luzerner Kunstmuseum feiert mit der Ausstellung «Turner. Das Meer und die Alpen» einen durchschlagenden Erfolg. Wir sprechen mit der Direktorin Fanni Fetzer über das Projekt, welches sie die letzten drei Jahre umgetrieben hat. Interview: Pascal Zeder Bild: Schweiz Tourismus Welches sind die wichtigsten Erkenntnisse, die das Kunstmuseum aus der Jubiläumsausstel- lung der Werke William Turners gezogen hat? Dass wir es mit genügend Vorbereitungszeit schaf- fen, in einer Riege von bedeutsamen und weltweit agie- renden Museen mitzuhalten. Bei Leihgaben wie diesen sind die Vorschriften und Auflagen extrem hoch und unser Team hat sehr professionell gearbeitet. Ein 200-Jahr-Jubiläum mit einem weltbekann- ten Künstler: Waren da beeindruckende Zahlen vorprogrammiert? Quantitativ liegen wir klar über den Erwartungen, obwohl Prognosen im Voraus schwierig waren. Wir hatten ja keine Vergleichswerte. Wir gingen von doppelt so vielen Besucherinnen und Besuchern aus wie bei einer Ausstellung während eines vergleichbaren Zeitfensters. Im Sommer, unserer Hauptsaison, zählen wir normaler- weise rund 18 000 Eintritte, so hatten wir für die Tur- ner-Ausstellung 36 000 als Ziel. Nun sind es 71 500, das ist überwältigend. Aber Quantität ist nicht der einzige Indikator für Erfolg. Nein. Vieles ist zwar quantifizierbar: Bei der Tur- ner-Ausstellung kauften beispielsweise mehr Leute als erwartet den Katalog zur Ausstellung. Wir messen die Anzahl der Rückmeldungen, die Berichterstattung oder den Mitgliederzuwachs der Kunstgesellschaft. Dies sind Indikatoren für die Nachhaltigkeit einer Ausstellung. Aber für mich persönlich war einer der schönsten Erfolge die Ruhe, die in der Ausstellung trotz der hohen Auslas- tung herrschte – dass die Leute verstanden haben, dass die Ausstellung dieser eigentlich lichtempfindlichen Aquarelle etwas ganz Spezielles ist. Anderen Kunstinstitutionen werden Beiträge gestrichen. Helfen die Zahlen der Turner-Aus- Fanni Fetzer, Direktorin des Luzerner Kunstmuseums, ist 22 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz November 2019
FOKUS: KUNST MESSEN stellung bei der Legitimation der Arbeit einer Kunstinstitution gegenüber der Politik? Zahlen sind leicht zu vermitteln, man kann sie in den Jahresbericht schreiben und sie geben klare Eck- punkte. Dies gilt für beide Seiten: So steht in unserer Leistungsvereinbarung mit der öffentlichen Hand, dass wir 50 000 Eintritte pro Jahr erzielen sollen. Solche Zahlen auszuweisen, ist wichtig, aber ich finde sie nicht besonders spannend. Interessanter ist, ob die Menschen mehrmals wiederkommen und woher sie anreisen, ob aus der Gegend, der Schweiz oder sogar international. Wenn wir von Zahlen sprechen: Wie rentabel war die Jubiläumsausstellung? Die genaue Abrechnung ist noch nicht gemacht. Jedoch haben wir während drei Jahren viel Energie ins Fundraising und Sponsoring investiert und hätten die Kosten der Ausstellung abfedern können, selbst wenn sie fast kein Mensch hätte sehen wollen. Durch die hohe Pu- blikumszahl werden wir aber sicher Einnahmen gene- riert haben. In Absprache mit dem Vorstand werden wir diese in verschiedene Fonds des Museums einspeisen, um Projekte in der Zukunft zu ermöglichen. Warum macht man nicht alle drei Jahre eine Ausstellung eines grossen Namens? Erstens muss man sehen: Turners Verbindung zur Zentralschweiz und im Speziellen zur Stadt Luzern ist einzigartig. Er ist ein weltweit bekannter Künstler, der von der hiesigen Landschaft inspiriert und ein Zeitzeuge Luzerns gerade zu Beginn des aufkommenden Massen- tourismus war. Eine solch starke Verbindung gibt es wohl nur einmal. Zweitens ist zu bedenken, dass es extrem schwierig ist, solche Leihgaben zu erhalten. Da weltweit Museen Werke von bekannten Künstlerinnen und Künstlern ausstellen möchten, muss man als mittel- grosse Institution seine Wünsche bei den Verantwortli- chen von Werksammlungen gut begründen, um eine reelle Chance auf deren Leihgabe zu haben. Die Tate Bri- tain dazu zu bringen, Turner in Luzern ausstellen zu dürfen, dauerte zwei Jahre – trotz der grossen Nähe des Künstlers zur Region. Folgt nun der grosse Turner-Kater? Wir werden uns daran gewöhnen müssen, statt über 1000 Besucherinnen und Besucher pro Tag wieder deren 700 pro Woche in den Ausstellungsräumen zu haben. Im November startet eine neue Ausstellung (Giulia Piscitelli & Clemens von Wedemeyer: «Nella Società, in Gesellschaft», Anm. d. Red.), es ist eine ganz andere Ästhetik, viel politischer, spröder, intellektueller als die Romantik. Diese Art Ausstellung soll auch Platz haben, denn unsere Aufgabe besteht auch darin, jüngere Positionen umfas- send zu zeigen. Das wird ganz anders, ich freue mich unterwegs, wo Turner gemalt hat: Zwischen Luzern und Weggis. darauf. November 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 23
FOKUS: KUNST MESSEN «WIR ZÄHLEN EINTRITTE, BIER UND DEZIBEL» Ständig evaluieren, immer optimieren – für viele Kulturinstitutionen ist das Pflicht. Doch im Stanser Kulturlokal Chäslager weht noch ein anderer Wind. Nur eines würde der Betriebsleiter gerne messen: Wie viele Leute abends als glücklichere Menschen nach Hause gehen. Text: Robyn Muffler und Silvan Koch Bilder: Markus Frömml 52 Jahre Chäslager, davon 37 Jahre am heutigen Nun führt Burrell den Betrieb, Bowman unterstützt ihn Standort, Wiedereröffnung November 2019 konzeptuell und bei der Programmation. Gemeinsam sorgen sie für intime und liebevoll konzipierte Veran- Fünf Monate lang wurde der ehemalige Höfli-Ga- staltungen, bei denen sie am liebsten in die Rolle der den saniert – das Dach ist renoviert, Fenster wurden ein- Gastgebenden schlüpfen. Wir lassen uns von dem Paar gebaut und der Kulturbetrieb wird barrierefrei zugäng- aber nicht in Stans empfangen, sondern erreichen Bur- lich sein, wenn im November im Stanser Kulturlokal rell telefonisch in Frankreich, wo er gerade in den Ferien Chäslager das Programm wieder startet. Verantwortlich weilt. 7 Zusagen, 27 interessiert. Pia schreibt auf Facebook: «Gutes ambiente und gute konzer- te klein aber fein», die Userin Milena auf holi- daycheck.ch: «Man ist auf jeden fall nahe an der Bühne und kann so den Künstler hautnahe er- leben» Burrell schätzt es, mithilfe von Facebook beurtei- len zu können, mit wem sich für eine Veranstaltung rechnen lässt. Im Kulturalltag sind so klare Zahlen aller- dings selten. Oftmals erweist sich die Quantifizierung gerade von Kunst- und Kulturerzeugnissen als kompli- ziert, zahlreiche subjektive Messwerte kommen ins Spiel. Was ist gute Kultur? Wie lässt sich ein gelungener Auftritt messen? Rein numerische Kriterien greifen zu für den Umbau sind die Höfli-Stiftung und der Verein kurz. Von der Anzahl Personen im Publikum lässt sich Chäslager, unterstützt von Rene Burrell und Sarah nicht auf die Qualität eines Konzerts schliessen, zumin- Bowman, die den Betrieb in den letzten zwei Jahren wei- dest nicht zwingend – würde das doch bedeuten, dass terentwickelt haben. Heute steht das Kulturlokal auf sta- Helene Fischer besser ist als jede Jazzband der Welt. bilen Beinen und hat sich weit über Stans hinaus einen Namen gemacht. Burrell und Bowman sind nicht nur als 87 Veranstaltungen in der Saison, davon 59 Eltern und Kulturveranstaltende, sondern auch über ge- Konzerte, durchschnittlich 66 Gäste und schät- meinsame Musikprojekte miteinander verbunden, etwa zungsweise 120 verkaufte Getränke pro Veran- durch ihre Folkband Famous October. Bevor sie das staltung, höchste Anzahl Bandmitglieder: 19 Konzept ihrer Pillow-Song-Veranstaltungen 2017 ins Chäslager überführt haben, hatten sie in der Loft eines «Das Publikum ist genauso wichtig wie die Musi- Stanser Dachstocks Wohnzimmerkonzerte organisiert. ker», ist Burrell überzeugt. «Es müssen ja nicht immer 24 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz November 2019
FOKUS: KUNST MESSEN hundert Leute da sein. Aber zu jedem Auftritt gehört eine ge- wisse Menge dazu, damit Re- sonanz im Raum entstehen kann.» Wie bei einer guten Diskussion brauche es eine ge- wisse Anzahl Parteien, damit sich etwas daraus entwickeln könne. «Wenn dann doch mal nur fünf Leute da sind, wir aber alle Freude haben und denken, dieses Konzert hat mehr Wert, hätte mehr ver- dient – dann möchte ich diesen Künstler, diese Künst- lerin im Rahmen meiner Mög- lichkeiten weiter unterstüt- zen», sagt Burrell. Die Quali- tät eines Konzerts ermittle er ohnehin anders: «Die besten Konzerte sind die, bei denen Die Atmosphäre im Chäslager lässt sich nicht in Zahlen ausdrücken. die Leute nach drei Tagen noch Flashbacks vom Abend haben.» Doch es gibt keine Flashback-Meldestelle und immer öfter auf Messgrössen heruntergebrochen: Wie die Besucherzufriedenheit wird im Chäslager auch nicht viele Auftritte, Youtube-Klicks und Spotify-Plays, wie per Tablet eruiert. Es wird zwar gemessen und ausgewer- viele Auszeichnungen hat man auf seinem Konto vorzu- tet – aber nicht mehr als das, was zur regulären Buchhal- weisen? tung gehört. «Eintritte, die gesamte Gastro und dann halt noch die Dezibelstärke. Aber die lauten Stromgitar- 131: Anzahl eingereichte Gesuche Nidwalden im ren überlassen wir ja eh dem Jugendzentrum Senkel.» Jahr 2018, 110: Anzahl Gesuche, die unterstützt wurden. (Kulturkommission Nidwalden) Durchschnittlicher Ticketpreis Fr. 20.– höchster Ticketpreis Fr. 35.–, tiefster Ticketpreis Die zunehmende Quantifizierung der Kultur be- Fr. 8.–, ausverkauft bei 120 Personen, ausver- trifft Burrell und Bowman vorwiegend als Musikschaf- kaufte Veranstaltungen letzte Saison: 6 fende. «Wir bekommen es zu spüren, wenn wir bei För- derinstitutionen Konzepte einreichen – die müssen oft- Dass messbare Erfolge über vieles hinwegtäu- mals bis ins Letzte überdacht und durchgeplant sein. schen, gerade im digitalen Zeitalter, davon ist Burrell Und das zu einem Zeitpunkt, wo der künstlerische Pro- überzeugt. Die heute so angesagten Selbstvermark- zess erst noch bevorsteht.» Ein kurzes Funkloch, der tungsstrategien können auch ins Absurde führen: «Bei nächste Satz fällt ins Leere. «Das ist ein Widerspruch. gewissen Bewerbungen von Bands denke ich mir: Ver- Dadurch steckt man Künstler und Künstlerinnen in ein bringt doch mehr Zeit mit der Musik als mit euren Soci- Korsett. Bessere Kunst entsteht daraus nicht, im Gegen- al-Media-Kanälen.» Burrell selbst fühlt sich den Fragen teil, es erstickt die Kreativität.» Burrell würde gerne wei- der Messbarkeit in zweierlei Hinsicht ausgesetzt. Als Be- tererzählen, aber die Kinderstimmen im Hintergrund triebsleiter des Chäslager Stans bewertet er indirekt werden lauter, wir verabschieden uns. Schlechtes Gewis- Kunst und Kultur, indem er ein Programm aufstellt – sen macht sich breit, weil wir ihn in den Ferien gestört und somit herauspickt, was in seinem Ermessen «gut» haben. Denn Freizeit mit der Familie wird ab November, ist. Es sind vor allem drei Kriterien, die ihm bei der Aus- wenn das Chäslager die Burrell-Bowmans wieder voll in wahl jeweils zu Hilfe eilen: «Bauchgefühl, eigene Erfah- Anspruch nimmt, definitiv rarer sein. rung und öffentliche Resonanz». Doch auch die andere Seite – die des Künstlers, der Künstlerin – kennt er gut. «Um ausgesucht zu werden, muss man sich präsentieren, Eröffnungsabend auf Plattformen unterwegs sein, sich mit Zahlen verse- Chäslager, Stans hen.» Als scheinbares Produkt auf dem Markt wird man FR 8. November, 20 Uhr November 2019 041 – Die unabhängige Stimme für Kultur in der Zentralschweiz 25
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