Wirksamer regieren - Vodafone Stiftung

Die Seite wird erstellt Stefan-Nikolai Niemann
 
WEITER LESEN
Policy paper

Wirksamer
regieren
Politik und Verwaltung versuchen oft mit großem Aufwand, Menschen zu bestimmten Verhaltensänderungen zu bewegen, die
dem Gemeinwohl sowie dem Wohl des Einzelnen dienen sollen. Doch klassische Instrumente wie Verbote, Steuern und finanzielle
Anreize sind hierfür nicht der einzige Weg: Die US-amerikanische und die britische Regierung setzen seit einigen Jahren auch auf
wissenschaftliche Erkenntnisse über das menschliche Entscheidungsverhalten. Wie lässt sich ein solcher Ansatz begründen – und
kann er auch die deutsche Regierung bei ihrem Ziel unterstützen, die Wirksamkeit des Regierungshandelns zu erhöhen?

Herausgegeben von der Vodafone Stiftung Deutschland
Wissenschaftlicher Beirat:

Wir danken den folgenden Personen für ihre wertvollen Impulse bei der Erstellung dieser Publikation. Das
vorliegende Papier spiegelt nicht notwendigerweise in allen Punkten die Meinung jeder einzelnen genannten
Person wider. Verantwortlich für dessen Inhalt ist ausschließlich die Vodafone Stiftung Deutschland gGmbH.

Prof. Dr. Christoph Engel, Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern
Prof. Dr. Armin Falk, Universität Bonn
Prof. Peter John, University College London
Owain Service, Behavioural Insights Team, Cabinet Office der britischen Regierung
Prof. Cass Sunstein, Harvard University (ehemals White House Office of Information and Regulatory Affairs)

Impressum

Herausgeber:
Vodafone Stiftung Deutschland gGmbH
Ferdinand-Braun-Platz 1, 40549 Düsseldorf
Telefon: +49 211 533-5579
Email: info@vodafone-stiftung.de
www.vodafone-stiftung.de

Verantwortlich:
Dr. Mark Speich, Geschäftsführer Vodafone Stiftung Deutschland

Konzeption und Projektleitung:
Dr. David Deißner, Sebastian Gallander

Wissenschaftliche Redaktion:
Dr. Johanna Börsch-Supan, Maj-Britt Sterba

Lektorat:
Bianca Amelew, Dr. Johanna Börsch-Supan

Gestaltung:
fountain, Düsseldorf

Druck:
das druckhaus, Korschenbroich

über Die Vodafone Stiftung Deutschland

Die Vodafone Stiftung ist eine der großen unternehmensverbundenen Stiftungen in Deutschland und Mitglied
einer weltweiten Stiftungsfamilie. Als eigenständige gemeinnützige Institution und gesellschaftspolitischer
Think Tank fördert und initiiert sie Programme mit dem Ziel, Impulse für den gesellschaftlichen Fortschritt zu
geben, die Entwicklung einer aktiven Bürgergesellschaft anzustoßen und gesellschaftspolitische Verantwortung
zu übernehmen. Das Förderprofil steht unter dem Leitmotiv „Erkennen. Fördern. Bewegen.“ und konzentriert
sich auf den Bereich Bildung, Integration und soziale Mobilität. Nähere Informationen: www.vodafone-stiftung.de
3

Inhalt:

Zusammenfassung                                                                               4

I. Warum Forschungserkenntnisse über das menschliche Entscheidungsverhalten
in Politik und Verwaltung berücksichtigt werden sollten                                      12

II. Welche Forschungserkenntnisse über das menschliche Entscheidungsverhalten
in Politik und Verwaltung berücksichtigt werden sollten                                      14

III. Ethische Fundierung, wissenschaftliche Absicherung und Beteiligung der Öffentlichkeit   23

IV. Wie kann dieser Ansatz in Deutschland umgesetzt werden?                                  30

Bibliografie                                                                                 32
4

Zusammenfassung

       Ein Großteil staatlicher Maßnahmen zielt darauf            dass Menschen sich oft an ihrem sozialen Umfeld ori-
       ab, Menschen zu bestimmten Verhaltensweisen an-            entieren: Haushalten in einer bestimmten Stadt wurde
       zuregen, die dem Wohl des Einzelnen und dem der            nicht nur mitgeteilt, wie viel Energie sie in der letzten
       ganzen Gesellschaft zuträglich sind. Man denke etwa        Zeit verbraucht hatten, sondern auch wie sie dabei
       an Strafzahlungen für Temposünder1 oder die steu-          im Vergleich zum Durchschnitt in ihrer Wohngegend
       erliche Begünstigung privater Altersvorsorge und           lagen. Diejenigen Haushalte, die deutlich über dem
       umweltschonender Kraftfahrzeuge. Um Verhaltens-            Durchschnitt gelegen hatten, senkten daraufhin ih-
       änderungen zu erreichen, nutzen die Entscheidungs-         ren Energieverbrauch messbar ab.3 Der Vergleich mit
       träger in Politik und Verwaltung traditionell soge-        dem Wohnumfeld hatte ganz offenbar eine stärkere
       nannte „harte“ Instrumente wie Verbote, finanzielle        verhaltensverändernde Wirkung als die Vermittlung
       Anreize und Sanktionen. Aber in vielen Fällen ist          abstrakter Informationen zum Energieverbrauch und
       unklar, ob das so geschaffene System dazu geeignet         dessen Folgen.
       ist, die angestrebten Ziele wirklich kosteneffizient zu
       erreichen. Der Mangel an empirischem Wissen über           Neben der zielgruppengerechten Informationsauf-
       die Wirksamkeit des politischen Instrumentariums           bereitung ist auch insbesondere die Vereinfachung
       muss uns in Zeiten knapper öffentlicher Mittel beson-      von Antragsmodalitäten eine simple und besonders
       ders besorgen. Dabei verfügen wir bereits heute über       kosteneffiziente Möglichkeit Anmeldungen zu staat-
       ein umfassendes Repertoire von wissenschaftlichen          lichen Programmen und damit die Unterstützung
       Erkenntnissen über das menschliche Verhalten aus           vor allem benachteiligter Bevölkerungsgruppen zu
       Psychologie, Sozialwissenschaften und Verhaltens-          sichern.4 In den USA ermöglichte beispielsweise die
       ökonomie. Dieses wird seit einigen Jahren von der          Vereinfachung des Antragsprozesses für FAFSA, dem
       US-amerikanischen und der britischen Regierung ge-         US-amerikanischen Äquivalent zum BaFöG, deutlich
       nutzt, um eher „weiche“ staatliche Instrumente zu          mehr Jugendlichen aus benachteiligten Familien den
       entwickeln. Dies kann als Inspirationsquelle für die       Zugang zum Studium.5 Das Beispiel erinnert an die
       deutsche Regierung dienen, die die Wirksamkeit des         Debatte um das “Bürokratiemonster” BaFöG, das in
       Regierungshandelns gezielt erhöhen und dazu auch           dieser Legislaturperiode reformiert werden soll, sowie
       neueste wissenschaftliche Erkenntnisse nutzen will.2       die Diskussion zum Bildungs- und Teilhabepaket der
                                                                  Bundesregierung, das im Jahr 2011 gestartet wurde,
       Die folgenden Beispiele zeigen auf, dass verhaltens-       um Kindern aus benachteiligten Verhältnissen den
       ökonomische Erkenntnisse in den verschiedensten            Zugang zu Schulmittagessen, Klassenfahrten, Musik-
       Bereichen für die Entwicklung erfolgsversprechender        schule, Sportverein und Nachhilfe etc. zu ermögli-
       staatlicher Projekte und Programme genutzt werden          chen. Damit die Kinder diese Leistungen in Anspruch
       können: Allein die Art und Weise, wie dem Bürger eine      nehmen können, müssen ihre Eltern jedoch zunächst
       bestimmte Information präsentiert wird, hat oftmals        ein relativ kompliziertes Antragsverfahren durchlau-
       einen starken Einfluss auf das Entscheidungsverhal-        fen. Dies erwies sich als eine so große Hürde, dass ins-
       ten. Die britische und US-amerikanische Verwaltung         besondere in der Anfangsphase des Bildungs- und Teil-
       richten daher ein besonderes Augenmerk auf die In-         habepakets ein großer Teil der bereitgestellten Gelder
       formationsdarreichung in Behördenbriefen und For-          überhaupt nicht abgerufen wurde und folglich, trotz
       mularen und gestalten in vielen Bereichen eine neue        großen Bedarfs und bester Intention von Seiten der
       Form der Bürgeransprache. Anwendung finden diese           Regierung, die Unterstützungsleistungen bei den Kin-
       Instrumente etwa im Bereich Energie: So ist es bei-        dern nicht ankamen.6 Dass gerade die Vereinfachung
       spielsweise ein zentrales politisches Ziel, den Energie-   von Anträgen für staatliche Programme Potenzial für
       verbrauch in Privathaushalten zu reduzieren – dies         Verbesserungen in vielen Politikbereichen birgt, zeigt
       senkt die Stromrechnung des einzelnen Bürgers und          auch die 2013 erhobene Akzeptanzanalyse staatlicher
       trägt zugleich dazu bei, die gesamtgesellschaftlichen      Familienleistungen des Allensbach Instituts, in der es
       Kosten des Klimawandels zu reduzieren. Um dieses Ziel      heißt: „72 Prozent der Leistungsbezieher erklären, dass die
       zu erreichen, erhebt die deutsche Regierung vornehm-       Beantragung mit großem…oder sogar sehr großem büro-
       lich verschiedene Energiesteuern und die Europäische       kratischem Aufwand…verbunden war.”7
       Union „verbietet“ die Nutzung konventioneller Glüh-
       birnen. In den USA und Großbritannien wurde indes          Für viele Entscheidungen gibt der Staat den Bürgern
       versucht, die wissenschaftliche Erkenntnis zu nutzen,      Standardoptionen vor, die automatisch gelten. Die Bür-
5

ger müssen sich in so gestalteten Entscheidungssitua-    Die Ergebnisse dieses Prozesses sind in diesem Papier     1 Aus Gründen der besseren
                                                                                                                   Lesbarkeit wird in diesem
tionen aktiv gegen diese Standardoption entscheiden,     zusammengefasst. Poli­tischen Entscheidungsträgern        Papier auf die Verwendung
wenn sie eine Alternative wählen möchten. Geschickt      in Deutschland möge es als Anregung und hilfreiche        von Paarformen verzichtet.
                                                                                                                   Stattdessen wird die gram-
gewählte Standardoptionen können gesetzgeberi-           Ressource dienen.                                         matikalisch maskuline Form
sche Ziele unterstützen während sie gleichzeitig die                                                               verallgemeinernd verwendet
                                                                                                                   (generisches Maskulinum).
Entscheidungsfreiheit der Bürger wahren. Mit dem         Die folgende Zusammenfassung konzentriert sich auf        Diese Bezeichnungsform um-
„automatic enrolment“, d.h. der „automatischen“          drei für politische Entscheidungsträger besonders re-     fasst gleichermaßen weibli-
                                                                                                                   che und männliche Personen,
Teilnahme an privaten Altersvorsorgeprogrammen           levante Aspekte:                                          die damit selbstverständlich
unterstützen die britische wie die US-Administration     1)	Überblick über die Forschungserkenntnisse zum         gleichberechtigt angespro-
                                                                                                                   chen sind.
Arbeitnehmer beim Sparen. Arbeitnehmer treten in             menschlichen Entscheidungsverhalten und deren
diesem Fall bei einer Neueinstellung automatisch ei-         Implikationen für Politik und Verwaltung              2 Vgl. CDU, CSU und SPD,
                                                                                                                   2013: S. 150-151.
nem Pensionsplan bei („opt-in“ Option). Die Alternati-   2) Diskussion ethischer Bedenken
ve, aus dem Plan auszutreten („opt-out“), muss aktiv     3)	Anregungen für die Umsetzung dieses Ansatzes in       3 Cabinet Office/Behav-
                                                                                                                   ioural Insights Team, 2011b:
entschieden werden. In Großbritannien ergab die erste        Deutschland                                           S. 19-21; Sunstein/Thaler,
umfassende Evaluation des „automatic enrolment“,                                                                   2009: S. 74-75.
dass die „opt-out“ Rate mit nur 9 % sehr viel niedri-                                                              4 Sunstein, 2013a: S. 70-73.
ger war als vorher angenommen. Über 70 % der Ar-         1) Überblick: Forschungserkenntnisse
                                                                                                                   5 Bettinger et al., 2009;
beitgeber blieben im Pensionsplan, knapp doppelt so      zum menschlichen Entscheidungsverhalten                   ­Council of Economic
viele wie in früheren Jahren aktiv beigetreten waren.8   und deren Implikationen für Politik und                    ­Advisers/National Economic
                                                                                                                     Council, 2009.
Ein weiteres Beispiel beschreiben Katsikopoulos und      Verwaltung
Pichert in einer Studie zur Nutzung von alternativen                                                               6 Gallander, 2013.
Energiequellen in Deutschland. Sie zeigen, dass die      Der hier vorgestellte Ansatz besagt im Kern, dass Poli-   7 Institut für Demoskopie
überwiegende Mehrheit der betroffenen Bevölkerung        tik und Verwaltung im Sinne der Effizienz ihrer Maß-      (IfD) Allensbach, 2013: S. 196.
(mehr als 90 %) bei einem entsprechenden Angebot bei     nahmen berücksichtigen sollten, wie Menschen ihre         8 Department for Work and
der Standardoption von „Ökostrom“ bleibt, auch wenn      Entscheidungen tatsächlich treffen. Die empirische        Pensions, 2013; Sunstein,
                                                                                                                   2013a: S. 56-59.
die Möglichkeit zum Wechsel zu einem Versorgungs-        Forschung hat gezeigt, dass wir in Entscheidungssitu-
angebot, das auf konventionelle Stromquellen zurück-     ationen nur begrenzt rational entscheiden. Wenn wir       9 Katsikopoulos und Pichert,
                                                                                                                   2008.
greift, mit geringstem Aufwand gegeben ist. Dies ist     mit einem komplexen Problem konfrontiert werden,
sogar der Fall, wenn der Ökostrom geringfügig teurer     lassen wir uns eher von eingefahrenen Denkmustern,
ist als die Versorgung mit Energie aus Kernkraft oder    Faustregeln, einfachen Heuristiken und Gefühlen lei-
fossilen Brennstoffen.9                                  ten, als von Statistiken und Fakten. Wenn man diese
                                                         Mechanismen versteht und sie in die Politikgestaltung
Das hier vorliegende Papier soll politischen Entschei-   einbezieht, kann man effektive wie kostengünstige poli­
dungsträgern in Deutschland als Inspirationsquelle       tische Instrumente entwickeln, die gesamtgesellschaft-
dafür dienen, wie sie diese Art von einfachen, kos-      lich wünschenswerte Ziele adressieren ohne die in-
tengünstigen, aber effektiven Maßnahmen in ihren         dividuelle Handlungsfreiheit einzuschränken. Um den
Politikfeldern implementieren können. Das Papier         Vorwurf einer „Manipulation des Bürgers“ zu entkräf-
behauptet weder, dass dies in jedem Politikfeld leicht   ten, muss die so empirisch fundierte Gestaltung der
anwendbar sei, noch dass dies bestehende Regie-          Entscheidungsarchitektur transparent kommuniziert
rungsinstrumente ersetzen sollte. Vielmehr wird die      werden.
Nutzung psychologischer, sozialwissenschaftlicher
und verhaltensökonomischer Erkenntnisse über das         Im Folgenden haben wir gesicherte Forschungser-
menschliche Entscheidungsverhalten als zusätzlicher,     kenntnisse über das menschliche Entscheidungsver-
wenn auch in Teilen neuartiger Ansatz gesehen, um        halten zusammengestellt und für jeden Befund ab-
das zu tun, was Regierungen schon seit jeher getan ha-   geleitet, wie er im Politik- und Verwaltungshandeln
ben, nämlich die Umsetzung politischer Ziele. Deshalb    berücksichtigt werden kann. Die folgende Tabelle
hat die Vodafone Stiftung Deutschland die aktuells-      soll den „Entscheidungsarchitekten“ in Politik und
ten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu diesem Thema      Verwaltung als Checkliste dienen, wenn sie staatliche
zusammengestellt und diese mit führenden Wissen-         Maßnahmen entwerfen oder umgestalten und ist da-
schaftlern und den „Architekten“ des Ansatzes der        her bewusst allgemein gehalten.
amerikanischen und britischen Regierung diskutiert.
6

Checkliste:
Verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse
für die Politikgestaltung nutzen                                                       10

    Forschungserkenntnisse                         Implikationen für die Politikgestaltung
    über das menschliche
    Entscheidungsverhalten

    Status-Quo-Orientierung:                       Standardoptionen setzen:
                                                   >	Für viele Entscheidungen gibt der Staat den Bürgern Standardoptionen vor, die automatisch
                                                      gelten. Die Bürger müssen sich in so gestalteten Entscheidungssituationen aktiv gegen diese
                                                      Standardoption entscheiden, wenn sie eine Alternative wählen möchten. Die Forschungs­
                                                      erkenntnis besagt allerdings, dass viele Bürger dies aufgrund der Status-Quo-Orientierung nicht
                                                      tun. In den USA und Großbritannien spricht man daher von einem „automatic enrolment“, der
    Wir neigen dazu, an einer bestehenden             „automatischen“ Teilnahme an Programmen.
    ­Situation oder an unserem gewohnten           >	Standardoptionen sollten stets darauf hin untersucht werden, ob sie individuell vorteilhafte und
     ­Verhalten festzuhalten, selbst wenn es für      politisch gewollte Optionen begünstigen, sodass dem Bürger im Regelfall kein Nachteil daraus
      uns günstiger wäre, etwas daran zu ändern.      entsteht, wenn er die bewusste Entscheidung versäumt. Dabei sollte den Bürgern jedoch immer
                                                      die Möglichkeit gegeben werden, sich gegen die Standard­option zu entscheiden.
                                                   >	Grundsätzlich gilt, dass alle Entscheidungsoptionen konkret, klar und deutlich aufgezeigt werden
                                                      sollten und der bürokratische Aufwand in Entscheidungskontexten möglichst gering gehalten
                                                      werden sollte.

                                                      Beispiel 1: „Automatische“ Teilnahme an privaten Altersvorsorgeprogrammen
                                                      Beispiel 2: Ökostromanbieter als Standardoption.

    Beeinflussbarkeit durch                        Informationen klar aufbereiten:
    Informationsgestaltung:                        >	Entscheidungssituationen sollten so gestaltet werden, dass alle relevanten Informationen für
                                                      ­jedermann leicht zugänglich sind, sich problemlos erschließen lassen und einprägsam präsentiert
                                                       werden. Gleichzeitig dürfen die Informationen keinesfalls unzulässig verkürzt oder vereinfacht
                                                       werden. Dies gilt sowohl für die Gestaltung von Informations- und Antragsdokumenten als auch
                                                       im Besonderen für die Gestaltung der verwaltungstechnischen Abläufe und Spezifizierung der
                                                       Bearbeitungsorte staatlicher Programme.
    Wir werden nicht nur vom Gehalt einer Infor-   > Unnötig viele unübersichtliche Auswahlmöglichkeiten sollten vermieden werden.
    mation, sondern auch von der Art und Weise,
    wie sie präsentiert wird, beeinflusst.         	Beispiel: FAFSA Antragsvereinfachung (in Deutschland: Komplexität des BaFöG sowie Bildungs-
                                                     und Teilhabepaket)

    Empfänglichkeit für                            Unterstützende Signale setzen:
    Umfeld-Reize:                                  >	Bei der Gestaltung öffentlicher Maßnahmen sollte geprüft werden, ob subtile Signale im Kontext
                                                      der Entscheidungssituation das gewünschte Verhalten begünstigen können (bzw. überprüft wer-
                                                      den welche Signale sich negativ auswirken könnten).

    Unbewusst wahrgenommene Signale im
    Kontext einer Entscheidungssituation beein-
    flussen unser Verhalten.
7

Anker-Effekt:                                    Anker-Effekt minimieren:
                                                 >	Bei der Gestaltung von Entscheidungssituationen sollte man sich des Anker-Effekts, den einmal
                                                    genannte Zahlenwerte auslösen, bewusst sein.
                                                 >	Da Anker-Effekte als persistent gelten, sollten Zahlenwerte im Zusammenhang von Entschei-
                                                    dungen nicht zufällig nebeneinander stehen, sondern auf mögliche Anker-Effekte überprüft
                                                    werden.
Unsere Entscheidungen werden unbewusst
durch sogenannte Anker-Heuristiken mitge-
steuert. So werden z.B. unsere Schätzungen
von Zahlenwerten beeinflusst, die wir im
Vorfeld gehört bzw. gelesen haben

Fehleinschätzung                                 Risiken transparent vermitteln:
durch Emotionen:                                 >	Wenn Entscheidungsoptionen dargestellt werden, sollten tatsächlich bestehende Risiken trans-
                                                    parent gemacht werden. Allgemein unterschätzte Risiken, wie beispielsweise gesundheitsge-
                                                    fährdendes Verhalten, sollten dabei besonders explizit kommuniziert werden.

                                                    Beispiel: Gesundheitsgefährdung durch Rauchen.

Aktuelle Ereignisse, persönliche Vorlieben       >	Bei aktuellen medial verbreiteten Schreckensmeldungen sollten Risiken dagegen in den
und momentane Emotionen beeinflussen                ­angemessenen Kontext gerückt werden.
unsere Annahmen und damit unsere Ent-
scheidungen.                                        Beispiel: Erhöhte Abschlussrate von Versicherungen nach Katastrophen.

Unrealistische Einschätzungen:

Wir neigen dazu, unsere eigene Leistung und
Zukunft eher zu optimistisch einzuschätzen.

Verlust-Aversion:                                Verluste aufzeigen
                                                 >	Bei der Gestaltung von Entscheidungssituationen ist es günstiger, die negativen Folgen des
                                                    Unterlassens einer bestimmten Handlung hervorzuheben als die positiven Folgen der Hand-
                                                    lungsalternative.

                                                 	Beispiel: Will man etwa Bürger zum Kauf energiesparender Geräte animieren, sollte man nicht
Der Verlust eines Gutes, wiegt schwerer als        die höhere Leistungseffizienz betonen, sondern darauf hinweisen, wieviel Geld Nutzer konven-
die Freude am Gewinn einer gleichwertigen          tioneller Geräte jährlich durch höhere Stromrechnungen verlieren.
Sache.

Kurzfrist-Denken:                                Zeitnahe Gewinne/Belohnungen bieten:
                                                 >	Ist die Entscheidungssituation auf der Basis von Anreizen gestaltet, sollte die „Belohnung“
                                                    ­verhältnismäßig zeitnah in Aussicht gestellt werden.

Tendenziell wählen wir lieber kleine, aber
dafür sofortige Gewinne/Belohnungen als
größere Gewinne/Belohnungen, die aber
erst in der Zukunft erfolgen (hyperbolische
Diskontierung). Individuell und gesamtge-
sellschaftlich relevant ist diese Neigung etwa
hinsichtlich der Bereitschaft zum Sparen.
8

    Zuordnung zu mentalen Konten:                    Ausgaben durchdacht etikettieren:
                                                     >	Maßnahmen, die für den Bürger im Zusammenhang mit Ausgaben stehen, sollten wohlüberlegt
                                                        „etikettiert“ werden. So lässt sich beispielsweise die Konsumbereitschaft beeinflussen, je nach-
                                                        dem welchem Lebensbereich eine bestimmte Ausgabe zugeordnet wird

                                                     	Beispiel: Für die Zukunftschancen und Gesundheit der eigenen Kinder besteht eine höhere Aus-
    Viele Menschen ordnen Geldbeträge be-              gabebereitschaft als für geringen Energieverbrauch.
    stimmten „mentalen Konten“, wie beispiels-
    weise „Wohnen“ oder „Sparen“, zu und haben
    für diese Konten jeweils unterschiedliche
    Ausgabebereitschaften.
    Gleichwertige Entscheidungsanreize haben
    unterschiedliche Auswirkungen, je nachdem,
    welches mentale Konto sie ansprechen.
    Welches „Etikett“ eine Ausgabe trägt, hat also
    einen direkten Einfluss auf unsere Bereit-
    schaft Investitionen zu unternehmen.

    Verbindlichkeits- und                            Bürger zum Selbstvertrag anregen und
    Fairnessbedürfnis:                               konsistentes Regierungshandeln sicherstellen:
                                                     > 	In Vorfeld von Entscheidungssituationen, kann es sinnvoll sein, wenn Menschen ihre Überzeugung
                                                         äußern sollen. Die meisten sehen sich verpflichtet, dann gemäß dieser Äußerung zu handeln.
                                                     >	Regierungshandeln, das mit Regierungsbotschaften konsistent ist, stärkt das Vertrauen und er-
                                                         höht die Bereitschaft zur Partizipation.

    Wir versuchen in der Regel in möglichst          	Beispiel: Strenge empirische Wirksamkeitsprüfung vor der Verwendung von Steuermitteln kann
    großer Übereinstimmung mit unseren                 das Vertrauen der Steuerzahler erhöhen.
    Überzeugungen zu handeln und haben
    einen feinen Sinn für Fairness und Gerech-
    tigkeit. Handlungsleitend ist dabei nicht nur
    die ­Maximierung unseres eigenen Vorteils.
    Gemäß dem Prinzip der Gegenseitigkeit
    (Reziprozität) wird eine bestimmte Handlung
    eher dann gewählt, wenn sie bereits von einer
    anderen Person ausgeführt worden ist.

    Peergroup-Orientierung:                          Peergroup-Vergleich ermöglichen und
                                                     bevölkerungsrepräsentative Botschafter einsetzen:
                                                     >	Es genügt häufig schon, Informationen darüber zu vermitteln, wie sich andere Menschen in der
                                                        gleichen Situation verhalten, um die Bereitschaft für ein bestimmtes Handeln zu erhöhen.

                                                     	Beispiel: Stromrechnungen zeigen den privaten Stromverbrauch im Vergleich zum Verbrauch
    Menschen orientieren sich oft am Verhalten         der Nachbarschaft.
    anderer Menschen – besonders in unsicheren
    Situationen. Darüber hinaus passen wir unser     >	Die entscheidungsrelevanten Informationen, die Bürgern zur Verfügung gestellt werden, sollten
    Verhalten eher an Dritte an, wenn wir sie           für die jeweilige Zielgruppe anschlussfähig sein. Das heißt auch, dass diese Informationen mög-
    kennen und ihnen vertrauen.                         lichst durch „Botschafter“ vermittelt werden sollten, die aus der jeweiligen Zielgruppe stammen
                                                        bzw. einen ähnlichen Hintergrund haben (Alter, Herkunft, Beruf etc.).

                                                                                                                                  10 Hierbei handelt es sich
                                                                                                                                  um einen allgemeinen, stark
                                                                                                                                  vereinfachten, beispielhaften
                                                                                                                                  Überblick, der nicht unmittel­
                                                                                                                                  bar auf alle Politikfelder, Ziel-
                                                                                                                                  gruppen und institutionellen
                                                                                                                                  Arrangements anwendbar ist.
9
10

     2) Diskussion ethischer Bedenken                          Es gilt die Entwicklung staatlicher Interventionen, die
                                                               sich psychologische, sozialwissenschaftliche bzw. ver-
     Staatliche Maßnahmen, die bewusst an den Automa-          haltensökonomische Erkenntnisse zunutze machen,
     tismen des menschlichen Entscheidungsverhaltens           mit wissenschaftlichen Methoden so zu verknüpfen,
     ansetzen, können in der Öffentlichkeit leicht als pa-     dass verlässlich gemessen werden kann, wie erfolg-
     ternalistisch oder manipulativ wahrgenommen wer-          reich und kosteneffizient eine Maßnahme ihre Ziel-
     den. Faktisch beeinflussen staatliche Interventionen      setzung erreicht. Idealerweise geschieht dies ex ante
     das Verhalten der Menschen aber in jedem Fall, ganz       in Form von randomisierten kontrollierten Studien
     gleich, welche Instrumente genutzt werden. Es ist auch    und ex post durch Evaluationen.
     weder ungewöhnlich noch neuartig, dass dabei Anrei-       Randomisierte kontrollierte Studien testen eine In-
     ze geschaffen, Informationen ausgewählt und in einer      tervention vor ihrer großflächigen Umsetzung. Dazu
     bestimmten Form dargestellt oder Standardoptionen         wird die betreffende neue Maßnahme zunächst an nur
     festgesetzt werden. Es gibt also de facto keine absolut   einem Ort und über einen definierten Zeitraum hin-
     neutrale Entscheidungsarchitektur. Gesetze und Ver-       weg umgesetzt. Gleichzeitig wird an einem anderen,
     ordnungen setzen immer Standardoptionen, die das          aber vergleichbaren Ort die bestehende „alte“ Form
     Entscheidungsverhalten bewusst oder unbewusst be-         dieser Maßnahme unverändert durchgeführt. Am
     einflussen. Unabhängig von der Frage ob man ein ver-      Ende der festgelegten Testperiode werden an beiden
     haltenswissenschaftliches Instrumentarium als Mittel      Orten die Ergebnisse beider Maßnahmen gemessen
     der politischen Steuerung befürwortet oder ablehnt        resp. überprüft. Der direkte Vergleich der Ergebnisse
     ist ein öffentlicher Diskurs zu den Wirkungsmecha-        macht unmittelbar sichtbar, ob das neue Vorgehen ein
     nismen politischer Instrumente demnach angezeigt.         Erfolg war.
                                                               Im Anschluss an eine staatliche Intervention, sollte die
     In jedem Fall sollten staatliche Maßnahmen insbe-         Wirkung der Maßnahme mit zeitlichem Abstand (ggf.
     sondere bei der Verwendung psychologischer, sozi-         wiederholt) durch eine Evaluation gemessen werden.
     alwissenschaftlicher bzw. verhaltensökonomischer
     Erkenntnisse zur Politikgestaltung sorgfältig juris-
     tisch und verfassungsrechtlich geprüft werden, um         3) Anregungen für die Umsetzung dieses
     sicherzustellen dass die Autonomie und Entschei-          Ansatzes in Deutschland
     dungsfreiheit der Bürger nicht beeinträchtigt wird.
     Vor allem aber sollte der Entwicklungsprozess dieser      Soll der hier vorgestellte Ansatz in Deutschland imple-
     staatlichen Maßnahmen von der größtmöglichen              mentiert werden, kann sowohl auf Bundes- als auch
     Offenheit und Transparenz geprägt sein und, wenn          auf Landes- und Kommunalebene angesetzt werden.
     möglich, Formen der Bürgerbeteiligung vorsehen.           Dabei ist es grundsätzlich ratsam, die folgenden drei
                                                               Empfehlungen zu beherzigen:
     Das wichtigste Argument für den hier vorgestellten
     Ansatz ist zum einen sein Potenzial für die Steigerung
     der Kosteneffizienz und damit der verantwortungs-
     volle Umgang mit öffentlich knappen Mitteln und
                                                               a)   U
                                                                      nterstützung der politischen
                                                                     Leitungsebene ­sicherstellen

     zum anderen die Möglichkeit einer wissenschaftlich        Damit die vorhandenen Forschungserkenntnisse über
     fundierten, vorherigen Wirkungsmessung staatlicher        das menschliche Entscheidungsverhalten für die Ge-
     Maßnahmen. Beides ist nicht nur zentral für die Si-       staltung staatlicher Maßnahmen genutzt werden kön-
     cherung der öffentlichen Akzeptanz, sondern erfüllt       nen, ist die Unterstützung von der jeweils höchsten
     gleichzeitig die Verpflichtung politischer Entschei-      Regierungs- bzw. Verwaltungsebene nötig. Entspre-
     dungsträger gegenüber den Bürgern, die Wirksam-           chend dem anvisierten Politikfeld müssen also die
     keit politischer Instrumente gewissenhaft zu prüfen,      zuständigen Landes- bzw. Bundesminister oder Bür-
     bevor sie flächendeckend eingeführt werden.               germeister für die Idee gewonnen werden.
11

b)     Konkrete Erfolge anhand eines
         Modellprojekts s­ ichtbar machen
                                                            vor, können sie dazu genutzt werden, den neuen An-
                                                            satz stärker öffentlich bekannt zu machen, ihn zu
                                                            erklären und seine Umsetzung in größerem Maßstab
Das zuständige Ministerium bzw. die zuständige Ver-         oder auf weiteren Gebieten voranzutreiben.
waltungseinheit sollte den neuen Ansatz zunächst in
kleiner Größenordnung und in enger Zusammenar-              Das zuständige Ministerium bzw. die zuständige Ver-
beit mit wissenschaftlichen Beratern testen. Gemein-        waltungseinheit sollte davon absehen, den Ansatz als
sam sollten sie eine bestehende staatliche Maßnahme         völlig neuartig oder gar den herkömmlichen staatli-
identifizieren, die zwei Kriterien entspricht: Sie sollte   chen Instrumenten grundsätzlich überlegen darzustel-
einem konsensfähigen Ziel dienen, das parteiübergrei-       len. Im Gegenteil sollte betont werden, dass Effekte
fend und in der breiten Öffentlichkeit Zustimmung           nur auf der Basis der bisher geleisteten Arbeit erzielt
findet. Gleichzeitig sollte sich die hergebrachte Maß-      werden können und dass der neue Ansatz die beste-
nahme bislang als eher ineffektiv erwiesen haben.           henden staatlichen Instrumente nicht etwa ersetzen,
Idealerweise werden im Rahmen von Qualitätssiche-           sondern ergänzen soll. Dies ist besonders mit Blick auf
rung und Erfolgskontrolle ohnehin routinemäßig mit          die politischen Akteure und Praktiker vor Ort wichtig,
dieser Maßnahme in Zusammenhang stehende Daten              die sich zum Teil seit Jahren in dem betreffenden Be-
erhoben, sodass auf bereits vorliegendes Datenmate-         reich engagieren.
rial zurückgegriffen werden kann und das Prozedere
zur Datenerhebung bereits etabliert ist.                    Das wichtigste Argument für den hier vorgestellten
                                                            Ansatz ist seine große Kosteneffizienz. In der Diskus-
Die identifizierte staatliche Maßnahme sollte dann          sion sollte er weder einen parteipolitischen oder ideo-
mit der oben dargestellten Checkliste abgeglichen           logischen Beigeschmack erhalten, noch sollte der Ein-
und auf deren Basis überarbeitet werden. Dabei geht         druck erweckt werden, es handle sich um eine bloße
es nicht darum, die gesamte Maßnahme infrage zu             akademische Übung. Tatsächlich stellt dieser Ansatz
stellen, vollständig zu verändern oder gar zu verwer-       einen gründlich getesteten, praktischen Mechanismus
fen, sondern vielmehr darum, an ihr eine leichte Mo-        zur Lösung echter gesellschaftlicher Probleme dar und
difikation vorzunehmen, die selbstverständlich den          adressiert vor allem das Interesse an einer effiziente-
bestehenden Gesetzen zu entsprechen hat. Sie sollte         ren, empirisch fundierten und damit verantwortungs-
sich leicht implementieren lassen und möglichst rasch       volleren Verwendung öffentlicher Mittel.
zu messbaren Ergebnissen führen. Wie bereits weiter
oben angeführt, sollte die modifizierte Maßnahme            Das geschilderte praktische und argumentative Vor-
mithilfe einer randomisierten kontrollierten Studie         gehen kann auch dabei helfen, nach und nach ande-
auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden. Pragma-          re Abteilungen innerhalb eines Ministeriums sowie
tisches Vorgehen und keine allzu langen Laufzeiten          weitere (Bundes-)Ministerien, Landesregierungen
der Pilotphasen sind ratsam.                                und Kommunen davon zu überzeugen, sich diesem
                                                            Ansatz zuzuwenden. Schließlich sollten ein Netzwerk

c)    Mit öffentlichen Erwartungen umgehen
       und interne Partnerschaften aufbauen
                                                            und eine Austausch-Plattform aufgebaut werden, um
                                                            den Ansatz für das Regierungshandeln in Deutschland
                                                            fruchtbar zu machen und zu verbreiten.
Um die Umsetzung des neuen Ansatzes nicht im Vor-
feld mit falschen Erwartungen oder unbegründeten
Vorbehalten aufzuladen, ist zu empfehlen, die modi-
fizierte Maßnahme zunächst ohne künstlich erzeugte
Öffentlichkeit als Modellprojekt durchzuführen und
den entscheidenden Nachweis dafür zu erbringen,
dass sie wirksam ist. Liegen diese Ergebnisse einmal
12

I	Warum Forschungserkenntnisse über das
   ­menschliche Entscheidungsverhalten in Politik
    und Verwaltung berücksichtigt werden sollten

         Ein Großteil staatlicher Maßnahmen zielt darauf ab,        oeconomicus“ angenommen, trifft der Mensch Ent-
         Menschen zu bestimmten Verhaltensweisen anzu­              scheidungen nicht in einer neutralen Umgebung
         regen, die – nach dem Dafürhalten der demokra-             und nur selten wägt er im Vorfeld alle denkbaren
         tisch legitimierten Vertreter – von gesellschaftlichem     Handlungsoptionen sorgsam nach dem Prinzip einer
         Nutzen sind. Um dieses Ziel zu erreichen, nutzen           Kosten-Nutzen-Rechnung ab, um sich dann für die
         die Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung          Variante zu entscheiden, die das optimale Ergebnis
         oftmals „harte“ Instrumente wie Regulierung und            verspricht. Vielmehr handeln wir Menschen – Bürger
         Besteuerung, aber auch „weichere“ Instrumente wie          wie Regierungsbeamte – im Rahmen von „begrenz-
         Anreiz- und Informationssysteme.11 Dabei ist oftmals       ter Rationalität“: Da unsere kognitiven Fähigkeiten
         unklar, ob das geschaffene System überhaupt dazu           natürlichen Grenzen unterliegen, analysieren wir bei
         geeignet ist, ein angestrebtes Ziels zu erreichen oder     der Problemlösung in der Regel nicht alle verfügbaren
         ob es die kosteneffizienteste Lösung darstellt. Führen     Fakten und Statistiken, sondern lassen uns von habitu-
         die aktuellen sozialpolitischen Maßnahmen zu den           alisierten Denkmustern, Faustregeln und Emotionen
         erwünschten Effekten im Bildungsbereich und auf            leiten. Demgemäß hat die „Entscheidungsarchitek-
         dem Arbeitsmarkt? Hat die Förderung erneuerbarer           tur“ einer Wahlsituation, d.h. die Art und Weise wie
         Energien wesentliche Auswirkungen auf den Ener-            die wählbaren Optionen präsentiert werden, einen
         gieverbrauch? Bislang gibt es auf solche Fragen nur        entscheidenden Einfluss auf den Ausgang unserer
         selten eine Antwort, was das Risiko birgt, dass Geld für   Wahl.16 Die Umgestaltung der Entscheidungsarchitek-
         unwirksame staatliche Maßnahmen ausgegeben wird.           tur könnte beispielsweise in einer größeren Klarheit
         Dass der Staat sich keine unnötigen Haushaltsausga-        oder leichteren Zugänglichkeit von Informationen
         ben erlauben kann, macht dieses Thema nur umso             gegenüber der bloßen Informationsweitergabe be-
         brisanter.12 Die Staatsverschuldung von über 2.000         stehen. Die Ausgangslage innerhalb der Bevölkerung
         Milliarden Euro und die in der Verfassung verankerte       entscheidet sich diesbezüglich erheblich und oftmals
         Schuldenbremse werden die künftigen Staatsausga-           sehen sich gerade sozial benachteiligte Schichten mit
         ben maßgeblich beschränken.13 Neue und in mancher          einer schlechten Entscheidungsarchitektur konfron-
         Hinsicht klügere Methoden zur Umsetzung staatlicher        tiert, die es für sie nur umso schwerer macht, ihre
         Ziele sind gefordert.14                                    Situation zu verbessern.17

         Die Grundidee ist bei der Gestaltung staatlicher Inter-    Das Prinzip der Entscheidungsarchitektur stellt ein
         ventionen nicht auf theoretisch erwartbare, sondern        zentrales Theorem der öffentlichen Politik infrage,
         auf empirisch belegte Wirkungen zu setzen. Dazu            wonach wir unsere Entscheidungen nach rein rati-
         muss zunächst ein staatliches Ziel festgelegt werden,      onalen Erwägungen und den vorliegenden Anreizen
         für dessen Erreichung dann verschiedene Ansätze auf        (Zuckerbrot und Peitsche) fällen.18 Die „Entschei-
         ihre Tauglichkeit hin geprüft werden. Anhand der so        dungsarchitekten“ in Politik und Verwaltung sollten
         gewonnenen Informationen können staatliche Maß-            deshalb die Mechanismen, die das Entscheidungsver-
         nahmen wirksam umgestaltet und effektiv Kosten             halten der Menschen lenken, gut kennen und ihrer
         gesenkt werden. Eine zentrale Fragestellung muss in        gewahr sein. Wenn sie diese Mechanismen dergestalt
         diesem Zusammenhang sein, wie die Menschen aller           in ihre Politikgestaltung integrieren, dass sie für und
         Voraussicht nach tatsächlich auf eine bestimmte Aus-       nicht gegen die angestrebten Ziele arbeiten, haben sie
         wahl und Gestaltung von Informationen reagieren.15         ein wirksames und kostengünstiges Mittel zur Hand,
         Psychologen und Soziologen, aber auch Ökonomen ha-         um Menschen zu verändertem Handeln zu ermutigen
         ben in der Vergangenheit umfangreiche Forschungsar-        ohne ein restriktives Vorgehen einzusetzen.19 Ein ein-
         beit auf diesem Gebiet geleistet. Die Haupterkenntnis      drucksvolles Beispiel stellt eine einfache Maßnahme
         ist über all diese Untersuchungen hinweg dieselbe:         dar, die in Großbritannien zur besseren Einhaltung
         Anders als gemeinhin in den Wirtschaftswissenschaf-        von Steuervorschriften eingeführt wurde. Der Hin-
         ten mit Hilfe des simplifizierten Modell des „homo         weis, dass der Großteil der Einwohner in einem be-
13

stimmten Gebiet ihre Steuern bereits entrichtet hatte,   11 Dolan et al., 2010: S. 7.
führte zu einer um 15 % höheren Zahlungsquote. Die       12 Vgl. John et al., 2011:
Kosten einer solchen Intervention sind nur marginal,     S. 27-28.
während der potenzielle Gewinn ungleich höher ist:       13 Destatis, 2013.
Eine nationale Umsetzung hätte 30 Millionen Pfund
                                                         14 Dolan et al., 2010: S. 7.
an jährlichen Mehreinnahmen zur Folge.20
                                                         15 Vodafone Stiftung
                                                         Deutschland, 2013.
Die in diesem Papier skizzierten Überlegungen, be-
schreiben weder einen grundlegend neuartigen An-         16 John et al., 2011: S. 12-13.
satz, noch rufen sie dazu auf, die „harten“ Instrumen-   17 Vgl. Sunstein, 2013b:
te des Regierungshandelns zu verwerfen, um sie durch     S. 48-49.
„weichere“ Maßnahmen zu ersetzen. Die deutsche           18 Dolan et al., 2010: S. 8.
Regierung erreicht die überwiegende Mehrheit ihrer
                                                         19 Ebd.: S. 7.
gesteckten Ziele bereits durch die Anwendung traditi-
oneller regulatorischer Maßnahmen und Anreize wie        20 Cabinet Office/Behav-
                                                         ioural Insights Team, 2011a:
Besteuerung, Regulierung oder Staatsinvestitionen.       S. 15-18. Die beschriebenen
Im Jahr 1999 wurde etwa die Ökosteuer zur Senkung        Zahlungen beziehen sich
                                                         auf die Einkommenssteuern
des Energieverbrauchs eingeführt.21 Und auch neuere      von Selbstständigen bzw.
Maßnahmen sind an dieser Stelle zu nennen, wie die       Unternehmenssteuern, die
                                                         nicht automatisch vom Staat
Förderung der Modernisierung von Gebäudedämmung          eingezogen werden, sowie
mit einer im Januar 2013 bewilligten Summe von 300       Steuernachzahlungen.
Millionen Euro.22 Die Nutzung von empirisch fundier-     21 Vgl. Bratzel, 2005: S. 51.
ten Erkenntnissen über das menschliche Entschei-
                                                         22 Vgl. Kutzscher, 2012.
dungsverhalten ist lediglich eine zusätzliche, wenn-
gleich etwas anders geartete Methode für das, was zu     23 Cabinet Office, 2011:
                                                         S. 7-8.
den Grundaufgaben der Regierung gehört. Unbestrit-
ten bleibt, dass Veränderungen häufig nur dann auf       24 Vgl. CDU, CSU und SPD,
                                                         2013: S. 150-151.
den Weg gebracht werden können, wenn durch Geset-
ze und Regulierungsmaßnahmen die Anreizstruktur
verändert wird. Bei der Bewältigung der schwerwie-
gendsten Probleme wie etwa der Luftverschmutzung
oder dem immer größer werdenden gesellschaftliche
Ungleichgewicht wird ein bloßer Anstoß zu Verhal-
tensänderungen nicht genügen. Der hier empfohlene
Ansatz ist als Ergänzung zu den etablierten Instru-
menten zu verstehen und soll dazu beitragen, bereits
vorhandene Ressourcen effektiver zu nutzen.23 Sowohl
in Großbritannien als auch in den USA wurden em-
pirisch fundierte Erkenntnisse über das menschliche
Entscheidungsverhalten bereits erfolgreich im Dienste
der Politikgestaltung eingesetzt. Dies könnte als In-
spirationsquelle für die deutsche Regierung dienen,
die die Wirksamkeit des Regierungshandelns gezielt
erhöhen und dazu auch neueste wissenschaftliche Er-
kenntnisse nutzen will.24
14

II	Welche Forschungserkenntnisse über das
    ­menschliche Entscheidungsverhalten in Politik
     und Verwaltung berücksichtigt werden sollten                                                             25

         Im folgenden Abschnitt werden die wichtigsten Er-        1) Neigung zum „Status-Quo-Erhalt“:
         kenntnisse über das menschliche Entscheidungsver-        Viele Menschen scheuen Veränderungen
         halten besprochen. Sie sollten von den „Entschei-
         dungsarchitekten“ in Politik und Verwaltung bei          Trägheit bezeichnet in der Psychologie die Tatsache,
         einer möglichst effektiven Neu- und Umgestaltung         dass Menschen eine generelle Tendenz dazu haben, an
         von staatlichen Maßnahmen im Auge behalten wer-          ihrer gegenwärtigen Situation festzuhalten. Mit die-
         den. Das menschliche Gehirn wird – stark vereinfacht     sem Phänomen verbunden ist die sog. Tendenz zum
         – durch zwei Systeme kontrolliert: das „automatische     Status Quo-Erhalt: Aus Gründen der Begrenztheit von
         System“ und das „reflexive System“. Das automatische     Zeit, intellektueller Energie und Ressourcen halten die
         System arbeitet schnell, mit wenig oder keiner An-       meisten Menschen an ihren Gewohnheiten fest, selbst
         strengung und ohne willentliche Einflussnahme.26 Zu      wenn die Vorteile einer Verhaltensänderung die Nach-
         den vom automatischen System gesteuerten Handlun-        teile überwiegen. Darum haben manche Menschen
         gen gehören beispielsweise das Erkennen von Feind-       immer noch ein Abonnement für eine Zeitschrift, die
         seligkeit in einem wütenden Gesicht oder das Fahren      sie niemals lesen: Das erste Jahr war gratis und obwohl
         auf einer unbefahrenen Straße. Das reflexive System      sie es sich fest vorgenommen haben, haben sie nie
         kommt dann zum Tragen, wenn Denkarbeit gefragt           gekündigt.28
         ist, zum Beispiel bei der Identifizierung eines über-    Was im Fall eines Zeitschriftenabonnements trivial
         raschenden Geräusches oder beim Ausfüllen einer          erscheint, wird für die Politik zu einer ernst zu neh-
         Steuererklärung. Vom reflexiven System gesteuerte        menden Herausforderung, wenn es beispielsweise
         Handlungen werden als kontrolliert wahrgenommen.         um Gesundheit oder Altersvorsorge geht. Der Genuss
         Das reflexive System arbeitet jedoch nur langsam, sei-   einer Zigarette in der Mittagspause übertrumpft das
         ne Leistungsfähigkeit ist beschränkt und es lässt sich   Krebsrisiko, die Abneigung, das Sofa zu verlassen, die
         leicht ablenken. Das Zusammenspiel beider Systeme        Vorteile eines gesunden Lebens und zögerliches Spa-
         ist so organisiert, dass ein minimaler Aufwand zu        ren erhöht das Risiko von Altersarmut.
         größtmöglicher Leistung führt. Diese Arbeitsteilung
         ist normalerweise sehr wirkungsvoll und versetzt den     Anmerkung für Entscheidungsarchitekten
         Menschen in die Lage, mit den meisten Problemen          in Politik und Verwaltung
         souverän umzugehen. Doch das automatische System         Um Trägheit zu überwinden, kann es hilfreich sein, ent-
         ist prädisponiert für systematische Fehler, wenn es      scheidende Informationen zur Verfügung zu stellen und den
         mit einer komplexen und ungewohnten Entschei-            Entscheidungsprozess zu vereinfachen.
         dung konfrontiert wird.27 Oft erkennt der Mensch,        Die Informationen sollten deutlich und konkret sein. So ist
         dass sein vorhandenes Wissen nicht ausreicht, um in      es beispielsweise weitaus effektiver, Menschen zum Kauf von
         angemessener Weise mit einem Problem umzugehen           fettarmer Milch anstatt von Vollmilch anzuregen, als ihnen
         und holt sich deshalb Hilfe. Manchmal ist jedoch kei-    abstrakte und allgemein gehaltene Informationen über eine
         ne Hilfe verfügbar oder das eigentliche Problem ist      gesündere Ernährung zu geben. Die Wirkung der Informa-
         nicht offensichtlich. Entscheidungsarchitekten soll-     tionen kann noch verstärkt werden, wenn ein Weg zur Um-
         ten Entscheidungssituationen deshalb so gestalten,       setzung aufgezeigt wird. Der Begriff „Weg“ kann in diesem
         dass die Entscheidung favorisiert wird, die dem Wohl     Kontext durchaus wörtlich verstanden werden: Forschungs-
         des Einzelnen und dem der Gesamtgesellschaft zu-         ergebnisse zeigen, dass sich Menschen sehr viel wahrscheinli-
         träglich ist. Die folgenden Informationen sollen dafür   cher impfen lassen, wenn ihnen auch eine Straßenkarte ausge-
         als Leitlinie dienen. Hierfür werden die bestgesicher-   händigt wird, auf der der Weg zum Arzt eingezeichnet ist.29
         ten empirischen Erkenntnisse über das menschliche        Vereinfachung bedeutet eine explizite Darstellung von
         Entscheidungsverhalten vorgestellt, in knapper Form      Optionen – beispielsweise durch die Reduzierung des Ver-
         Anmerkungen für die Entscheidungsarchitekten ab-         waltungsaufwands.30 Vereinfachung ist eine simple und
         geleitet und durch je einen Schwerpunkt illustriert.     besonders kosteneffiziente Möglichkeit Anmeldungen zu
15

staatlichen Programmen und damit die Unterstützung vor          einer über 90 %igen Nutzung alternativer Energiequellen          25 Dieses Kapitel greift in
                                                                                                                                 weiten Teilen auf ein Essay
allem benachteiligter Bevölkerungsgruppen zu sichern.31 In      führte während dies im gesamtdeutschen Vergleich nur bei         von Cass Sunstein zurück,
den USA ermöglichte beispielsweise die Vereinfachung des        ca. 1 % der Fall ist. Im ersten Fall, der Ortschaft Schönau im   das 2013 in der Publikations-
                                                                                                                                 reihe Transmission der Vo-
Antragsprozesses für FAFSA, dem US-amerikanischen Äqui-         Schwarzwald, entwickelte sich aus einer Anti-Atomkraftbe-        dafone Stiftung Deutschland
valent zum BaFöG, deutlich mehr Jugendlichen aus benach-        wegung der 1980er Jahre eine Bürgerinitiative, die Ende der      erschienen ist. Prof. Sunstein
                                                                                                                                 ist zudem Mitglied des
teiligten Familien den Zugang zum Studium.32 Der deutsche       1990er Jahre die örtliche Stromversorgung dem bisherigen         Wissenschaftlichen Beirats
Normenkontrollrat hat in dieser Hinsicht bereits wichtige       Stromnetzbetreiber abkaufte und durch eine eigene Firma          für dieses Projekt.
Bemühungen unternommen und unter anderem einen Plan             (EWS) ersetzte. Diese bezieht ihren Strom vornehmlich aus        26 Kahneman, 2012: S. 20.
zum Bürokratieabbau bei der Antragsstellung auf BaFöG           alternativen Energiequellen. Bei der Übernahme des lokalen
                                                                                                                                 27 Ebd.: S. 20-25.
entwickelt.33 Weiteres Vereinfachungspotential gibt es beim     Stromnetzes durch EWS bestand für die Einwohner die Mög-
Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung, das im         lichkeit zu einem anderen Anbieter zu wechseln; nur 14 von       28 Sunstein/Thaler, 2009:
                                                                                                                                 S. 37-39.
Jahr 2011 gestartet wurde, um Kindern aus benachteiligten       1683 Haushalten taten dies. Im zweiten Fall, hat die Ener-
Verhältnissen den Zugang zu Schulmittagessen, Klassen-          giedienst GmbH sich Ende der 90er Jahre entschieden ihre         29 Sunstein, 2013b: S. 59-61.
fahrten, Musikschule, Sportverein und Nachhilfe etc. zu er-     Tarifoptionen zu diversifizieren. An alle 150,000 Kunden         30 Ebd.: S. 122-126.
möglichen. Damit die Kinder diese Leistungen in Anspruch        wurde ein Brief mit drei neuen Tarifen versandt. Als Stan-
                                                                                                                                 31 Sunstein, 2013a: S. 70-73.
nehmen können, müssen ihre Eltern jedoch zunächst ein           dardoption war ein günstiger Ökostrom-Tarif festgesetzt. Die
relativ kompliziertes Antragsverfahren durchlaufen. Dies        Kunden mussten sich nur bei ihrem Anbieter schriftlich zu-       32 Bettinger et al. 2009;
                                                                                                                                 Council of Economic
erwies sich als eine so große Hürde, dass insbesondere in der   rückmelden, wenn sie in den noch günstigeren Tarif, der sich     ­Advisers/National Economic
Anfangsphase des Bildungs- und Teilhabepakets ein großer        aus konventionellen Energiequellen speiste, bzw. einen noch       Council.
Teil der bereitgestellten Gelder überhaupt nicht abgerufen      teureren Ökostromtarif wechseln oder ganz den Anbieter ver-      33 Nationaler Normen­
wurde und folglich, trotz großen Bedarfs und bester Intenti-    lassen wollten. Nur knapp 6 % der Kunden verliessen den          kontrollrat, 2010.
on von Seiten der Regierung, die Unterstützungsleistungen       günstigen Ökostrom-Tarif, die gesetzte Standardoption.37         34 Gallander, 2013.
bei den Kindern nicht ankamen.34 Dass gerade die Vereinfa-      Mit dem „automatic enrolment“, d.h. der „automatischen“
                                                                                                                                 35 Institut für Demoskopie
chung von Anträgen für staatliche Programme Potenzial für       Teilnahme an privaten Altersvorsorgeprogrammen unter-            (IfD) Allensbach, 2013: S. 196.
Verbesserungen in vielen Politikbereichen birgt, zeigt auch     stützen die britische wie die US-Administration Arbeit-
                                                                                                                                 36 Sunstein/Thaler, 2009:
die 2013 erhobene Akzeptanzanalyse staatlicher Famili-          nehmer beim Sparen. Arbeitgeber sind in diesem Fall vom          S. 14.
enleistungen des Allensbach Instituts, in der es heißt: „72     Gesetzgeber verpflichtet ihre Mitarbeiter automatisch in
                                                                                                                                 37 Katsikopoulos/Pichert,
Prozent der Leistungsbezieher erklären, dass die Beantra-       einem betrieblichen Pensionsplan anzumelden („opt-in“            2008.
gung mit großem…oder sogar sehr großem bürokratischem           Option). Die Alternative, aus dem Plan auszutreten („opt-
                                                                                                                                 38 Department for Work and
Aufwand…verbunden war.”35                                       out“), muss vom Arbeitnehmer aktiv entschieden werden. In        Pensions, 2013; Sunstein,
Sollten Informationen und Vereinfachungen nicht aus-            Großbritannien ergab die erste umfassende Evaluation des         2013a: S. 56-59.
reichen, um Trägheit zu überwinden, ist eine Änderung           „automatic enrolment“, dass die „opt-out“ Rate mit nur 9 %       39 Vgl. Sunstein, 2013b:
vorgegebener Standardoptionen (also das, was passiert,          sehr viel niedriger war als vorher angenommen. Über 70 %         S. 47-49.
wenn nichts unternommen wird) die beste Möglichkeit, gute       der Arbeitgeber blieben im Pensionsplan, knapp doppelt
Ergebnisse zu erzielen. Grundsätzlich sollten Politiker vor     so viele wie in früheren Jahren aktiv beigetreten waren.38
allem darauf achten, neue politische Interventionen so zu
gestalten, dass sie zuträgliche anstelle von abträglichen       Schwerpunkt: Vorgegebene Entscheidungsalternativen
Standardoptionen vorsehen; bestehende politische Maßnah-        Das Konzept der Standardoptionen ist besonders
men sollten zudem auf abträgliche Standardoptionen hin          in Situationen, in denen Trägheit zu langfristigen
überprüft werden.36 Geschickt gewählte Standardoptionen         Problemen führt, von hervorragender Wichtigkeit.
können gesetzgeberische Ziele unterstützen während sie          Standard­optionen wirken sich auf unser persönliches
gleichzeitig die Entscheidungsfreiheit der Bürger wahren.       Wohlergehen aus, da die meisten Menschen dazu nei-
Die Wissenschaftler Katsikopoulos und Pichert beschreiben       gen, bei einer vorgegebenen Alternative zu bleiben.39
beispielsweise für zwei Gegenden im süddeutschen Raum,
wie die Festsetzung von Ökostrom als Standardoption zu
16

     Standardoptionen funktionieren deshalb, weil wir            möglich gehalten werden und selbstverständlich muss
     davon ausgehen, dass sie nach dem Dafürhalten in-           immer die Möglichkeit gegeben sein, sich gegen sie zu
     formierter Personen die beste Handlungsmöglichkeit          entscheiden.40
     für uns darstellen und entsprechend Bezugspunkte
     schaffen. Sie funktionieren nicht in Situationen, in
     denen Personen klare Präferenzen haben. Obwohl              2) Der Mensch wird von der Art und Weise
     beispielsweise die Standardoption bei der Eheschlie-        beeinflusst, wie Informationen präsentiert
     ßung ist, dass beide Eheleute ihren Geburtsnamen            werden
     beibehalten, entscheiden sich nahezu alle Frauen
     dagegen.                                                    Die Art und Weise wie Informationen präsentiert wer-
     Was als Standardoption festgelegt werden sollte,            den, hat einen entscheidenden Einfluss darauf, wel-
     ist eine ebenso wichtige wie schwierige Frage. Das          che Positionen Menschen beziehen. Wenn ein Arzt
     Nächstliegende ist, Kosten und Nutzen für den Fall          einem Patienten erklärt, er habe einen Monat nach
     zu ermitteln, dass die Bürger die Standardoption bei-       einer überstandenen Operation eine 90-prozentige
     behalten. Außerdem kann abgewogen werden, welche            Überlebenschance, so klingt dies weitaus attraktiver,
     Entscheidung bei größtmöglicher Informiertheit ge-          als wenn er ihm sagt, die Chance zu sterben, betrage
     troffen werden würde.                                       10 %. Obwohl die Grundaussage in beiden Fällen die
     Durch die enorme Geschwindigkeit des technischen            Gleiche ist, werden sich diejenigen, die die erste Ver-
     Fortschritts sind für die Zukunft auch subtilere Vari-      sion hören, mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für
     anten von Standardoptionen denkbar. Solche „perso-          die Operation entscheiden.41
     nalisierten Standardoptionen“ könnten geographische         Ein wichtiges Konzept in Bezug auf die Art der Präsen-
     oder demographische Aspekte berücksichtigen und             tation von Informationen ist die sogenannte Salienz:
     auf diese Weise stärker auf individuelle Präferen-          Informationen, die in irgendeiner Form hervorste-
     zen zugeschnitten werden. Plattformen wie Amazon            chen, beeinflussen uns viel stärker als bloße Statisti-
     nutzen bereits ein ganz ähnliches Konzept, wenn sie         ken oder abstrakte Fakten.42 Dieser Befund hängt ver-
     ihren Kunden Produktvorschläge aufgrund von frü-            mutlich damit zusammen, dass es unmöglich ist, die
     heren Käufen unterbreiten. Solange die Privatsphäre         Vielzahl an Informationen, mit denen wir tagtäglich
     gewahrt und Persönlichkeitsrechte unverletzt bleiben,       konfrontiert sind, erschöpfend zu verarbeiten. Des-
     sind personalisierte Standardoptionen ein vielverspre-      halb ist eine Art von Filter nötig. Es bleiben diejenigen
     chendes Mittel, um Menschen vor den ungünstigen             Informationen im Bewusstsein, die am auffälligsten,
     Auswirkungen der Trägheit zu schützen.                      neuartigsten oder am besten erschließbar sind.43 Die-
     Die Anwendung von Standardoptionen hat jedoch               ses Phänomen prägt sich zum Beispiel darin aus, dass
     Grenzen: Wenn Präferenzen stark variieren und die für       Kosten-Nutzenrelationen, die nicht unmittelbar den
     die Planung Verantwortlichen keine klare Vorstellung        Verkaufspreis eines Produkts betreffen, bei Kaufent-
     davon haben, wie das Gemeinwohl gefördert werden            scheidungen häufig außen vor gelassen werden. Sie
     kann, dann sind aktiv getroffene Entscheidungen die         sind schlicht nicht salient genug sind. Dabei kann es
     bessere Lösung. Die Bürger sind dann verpflichtet, sich     sich bei versteckten Kosten (aber auch bei verstecktem
     unbedingt zwischen verschiedenen Alternativen zu            Nutzen) um sehr hohe Beträge handeln, beispielsweise
     entscheiden (eine automatische Entscheidung durch           die langfristigen Kosten von Produkten mit einem ho-
     Nichtwahl ist also nicht vorgesehen). Dies stellt sicher,   hen Energieverbrauch.44 Salienz ist einer der Gründe
     dass das von ihnen bevorzugte Verfahren auch auf sie        dafür, dass eine größere Auswahl nicht immer besser
     angewendet wird.                                            ist. Zu viele Wahlmöglichkeiten lassen uns nicht un-
     Die Reichweite von Standardoptionen mag für man-            bedingt die bevorzugte Alternative wählen, sondern
     che, die deren missbräuchliche Verwendung fürchten,         können geradezu zu Überforderung und Verunsiche-
     erschreckend wirken. Um diese Ängste zu zerstreuen,         rung führen.45
     müssen Standardannahmen so transparent wie nur
Sie können auch lesen