Wirksamer regieren - Vodafone Stiftung
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Policy paper Wirksamer regieren Politik und Verwaltung versuchen oft mit großem Aufwand, Menschen zu bestimmten Verhaltensänderungen zu bewegen, die dem Gemeinwohl sowie dem Wohl des Einzelnen dienen sollen. Doch klassische Instrumente wie Verbote, Steuern und finanzielle Anreize sind hierfür nicht der einzige Weg: Die US-amerikanische und die britische Regierung setzen seit einigen Jahren auch auf wissenschaftliche Erkenntnisse über das menschliche Entscheidungsverhalten. Wie lässt sich ein solcher Ansatz begründen – und kann er auch die deutsche Regierung bei ihrem Ziel unterstützen, die Wirksamkeit des Regierungshandelns zu erhöhen? Herausgegeben von der Vodafone Stiftung Deutschland
Wissenschaftlicher Beirat: Wir danken den folgenden Personen für ihre wertvollen Impulse bei der Erstellung dieser Publikation. Das vorliegende Papier spiegelt nicht notwendigerweise in allen Punkten die Meinung jeder einzelnen genannten Person wider. Verantwortlich für dessen Inhalt ist ausschließlich die Vodafone Stiftung Deutschland gGmbH. Prof. Dr. Christoph Engel, Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern Prof. Dr. Armin Falk, Universität Bonn Prof. Peter John, University College London Owain Service, Behavioural Insights Team, Cabinet Office der britischen Regierung Prof. Cass Sunstein, Harvard University (ehemals White House Office of Information and Regulatory Affairs) Impressum Herausgeber: Vodafone Stiftung Deutschland gGmbH Ferdinand-Braun-Platz 1, 40549 Düsseldorf Telefon: +49 211 533-5579 Email: info@vodafone-stiftung.de www.vodafone-stiftung.de Verantwortlich: Dr. Mark Speich, Geschäftsführer Vodafone Stiftung Deutschland Konzeption und Projektleitung: Dr. David Deißner, Sebastian Gallander Wissenschaftliche Redaktion: Dr. Johanna Börsch-Supan, Maj-Britt Sterba Lektorat: Bianca Amelew, Dr. Johanna Börsch-Supan Gestaltung: fountain, Düsseldorf Druck: das druckhaus, Korschenbroich über Die Vodafone Stiftung Deutschland Die Vodafone Stiftung ist eine der großen unternehmensverbundenen Stiftungen in Deutschland und Mitglied einer weltweiten Stiftungsfamilie. Als eigenständige gemeinnützige Institution und gesellschaftspolitischer Think Tank fördert und initiiert sie Programme mit dem Ziel, Impulse für den gesellschaftlichen Fortschritt zu geben, die Entwicklung einer aktiven Bürgergesellschaft anzustoßen und gesellschaftspolitische Verantwortung zu übernehmen. Das Förderprofil steht unter dem Leitmotiv „Erkennen. Fördern. Bewegen.“ und konzentriert sich auf den Bereich Bildung, Integration und soziale Mobilität. Nähere Informationen: www.vodafone-stiftung.de
3 Inhalt: Zusammenfassung 4 I. Warum Forschungserkenntnisse über das menschliche Entscheidungsverhalten in Politik und Verwaltung berücksichtigt werden sollten 12 II. Welche Forschungserkenntnisse über das menschliche Entscheidungsverhalten in Politik und Verwaltung berücksichtigt werden sollten 14 III. Ethische Fundierung, wissenschaftliche Absicherung und Beteiligung der Öffentlichkeit 23 IV. Wie kann dieser Ansatz in Deutschland umgesetzt werden? 30 Bibliografie 32
4 Zusammenfassung Ein Großteil staatlicher Maßnahmen zielt darauf dass Menschen sich oft an ihrem sozialen Umfeld ori- ab, Menschen zu bestimmten Verhaltensweisen an- entieren: Haushalten in einer bestimmten Stadt wurde zuregen, die dem Wohl des Einzelnen und dem der nicht nur mitgeteilt, wie viel Energie sie in der letzten ganzen Gesellschaft zuträglich sind. Man denke etwa Zeit verbraucht hatten, sondern auch wie sie dabei an Strafzahlungen für Temposünder1 oder die steu- im Vergleich zum Durchschnitt in ihrer Wohngegend erliche Begünstigung privater Altersvorsorge und lagen. Diejenigen Haushalte, die deutlich über dem umweltschonender Kraftfahrzeuge. Um Verhaltens- Durchschnitt gelegen hatten, senkten daraufhin ih- änderungen zu erreichen, nutzen die Entscheidungs- ren Energieverbrauch messbar ab.3 Der Vergleich mit träger in Politik und Verwaltung traditionell soge- dem Wohnumfeld hatte ganz offenbar eine stärkere nannte „harte“ Instrumente wie Verbote, finanzielle verhaltensverändernde Wirkung als die Vermittlung Anreize und Sanktionen. Aber in vielen Fällen ist abstrakter Informationen zum Energieverbrauch und unklar, ob das so geschaffene System dazu geeignet dessen Folgen. ist, die angestrebten Ziele wirklich kosteneffizient zu erreichen. Der Mangel an empirischem Wissen über Neben der zielgruppengerechten Informationsauf- die Wirksamkeit des politischen Instrumentariums bereitung ist auch insbesondere die Vereinfachung muss uns in Zeiten knapper öffentlicher Mittel beson- von Antragsmodalitäten eine simple und besonders ders besorgen. Dabei verfügen wir bereits heute über kosteneffiziente Möglichkeit Anmeldungen zu staat- ein umfassendes Repertoire von wissenschaftlichen lichen Programmen und damit die Unterstützung Erkenntnissen über das menschliche Verhalten aus vor allem benachteiligter Bevölkerungsgruppen zu Psychologie, Sozialwissenschaften und Verhaltens- sichern.4 In den USA ermöglichte beispielsweise die ökonomie. Dieses wird seit einigen Jahren von der Vereinfachung des Antragsprozesses für FAFSA, dem US-amerikanischen und der britischen Regierung ge- US-amerikanischen Äquivalent zum BaFöG, deutlich nutzt, um eher „weiche“ staatliche Instrumente zu mehr Jugendlichen aus benachteiligten Familien den entwickeln. Dies kann als Inspirationsquelle für die Zugang zum Studium.5 Das Beispiel erinnert an die deutsche Regierung dienen, die die Wirksamkeit des Debatte um das “Bürokratiemonster” BaFöG, das in Regierungshandelns gezielt erhöhen und dazu auch dieser Legislaturperiode reformiert werden soll, sowie neueste wissenschaftliche Erkenntnisse nutzen will.2 die Diskussion zum Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung, das im Jahr 2011 gestartet wurde, Die folgenden Beispiele zeigen auf, dass verhaltens- um Kindern aus benachteiligten Verhältnissen den ökonomische Erkenntnisse in den verschiedensten Zugang zu Schulmittagessen, Klassenfahrten, Musik- Bereichen für die Entwicklung erfolgsversprechender schule, Sportverein und Nachhilfe etc. zu ermögli- staatlicher Projekte und Programme genutzt werden chen. Damit die Kinder diese Leistungen in Anspruch können: Allein die Art und Weise, wie dem Bürger eine nehmen können, müssen ihre Eltern jedoch zunächst bestimmte Information präsentiert wird, hat oftmals ein relativ kompliziertes Antragsverfahren durchlau- einen starken Einfluss auf das Entscheidungsverhal- fen. Dies erwies sich als eine so große Hürde, dass ins- ten. Die britische und US-amerikanische Verwaltung besondere in der Anfangsphase des Bildungs- und Teil- richten daher ein besonderes Augenmerk auf die In- habepakets ein großer Teil der bereitgestellten Gelder formationsdarreichung in Behördenbriefen und For- überhaupt nicht abgerufen wurde und folglich, trotz mularen und gestalten in vielen Bereichen eine neue großen Bedarfs und bester Intention von Seiten der Form der Bürgeransprache. Anwendung finden diese Regierung, die Unterstützungsleistungen bei den Kin- Instrumente etwa im Bereich Energie: So ist es bei- dern nicht ankamen.6 Dass gerade die Vereinfachung spielsweise ein zentrales politisches Ziel, den Energie- von Anträgen für staatliche Programme Potenzial für verbrauch in Privathaushalten zu reduzieren – dies Verbesserungen in vielen Politikbereichen birgt, zeigt senkt die Stromrechnung des einzelnen Bürgers und auch die 2013 erhobene Akzeptanzanalyse staatlicher trägt zugleich dazu bei, die gesamtgesellschaftlichen Familienleistungen des Allensbach Instituts, in der es Kosten des Klimawandels zu reduzieren. Um dieses Ziel heißt: „72 Prozent der Leistungsbezieher erklären, dass die zu erreichen, erhebt die deutsche Regierung vornehm- Beantragung mit großem…oder sogar sehr großem büro- lich verschiedene Energiesteuern und die Europäische kratischem Aufwand…verbunden war.”7 Union „verbietet“ die Nutzung konventioneller Glüh- birnen. In den USA und Großbritannien wurde indes Für viele Entscheidungen gibt der Staat den Bürgern versucht, die wissenschaftliche Erkenntnis zu nutzen, Standardoptionen vor, die automatisch gelten. Die Bür-
5 ger müssen sich in so gestalteten Entscheidungssitua- Die Ergebnisse dieses Prozesses sind in diesem Papier 1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem tionen aktiv gegen diese Standardoption entscheiden, zusammengefasst. Politischen Entscheidungsträgern Papier auf die Verwendung wenn sie eine Alternative wählen möchten. Geschickt in Deutschland möge es als Anregung und hilfreiche von Paarformen verzichtet. Stattdessen wird die gram- gewählte Standardoptionen können gesetzgeberi- Ressource dienen. matikalisch maskuline Form sche Ziele unterstützen während sie gleichzeitig die verallgemeinernd verwendet (generisches Maskulinum). Entscheidungsfreiheit der Bürger wahren. Mit dem Die folgende Zusammenfassung konzentriert sich auf Diese Bezeichnungsform um- „automatic enrolment“, d.h. der „automatischen“ drei für politische Entscheidungsträger besonders re- fasst gleichermaßen weibli- che und männliche Personen, Teilnahme an privaten Altersvorsorgeprogrammen levante Aspekte: die damit selbstverständlich unterstützen die britische wie die US-Administration 1) Überblick über die Forschungserkenntnisse zum gleichberechtigt angespro- chen sind. Arbeitnehmer beim Sparen. Arbeitnehmer treten in menschlichen Entscheidungsverhalten und deren diesem Fall bei einer Neueinstellung automatisch ei- Implikationen für Politik und Verwaltung 2 Vgl. CDU, CSU und SPD, 2013: S. 150-151. nem Pensionsplan bei („opt-in“ Option). Die Alternati- 2) Diskussion ethischer Bedenken ve, aus dem Plan auszutreten („opt-out“), muss aktiv 3) Anregungen für die Umsetzung dieses Ansatzes in 3 Cabinet Office/Behav- ioural Insights Team, 2011b: entschieden werden. In Großbritannien ergab die erste Deutschland S. 19-21; Sunstein/Thaler, umfassende Evaluation des „automatic enrolment“, 2009: S. 74-75. dass die „opt-out“ Rate mit nur 9 % sehr viel niedri- 4 Sunstein, 2013a: S. 70-73. ger war als vorher angenommen. Über 70 % der Ar- 1) Überblick: Forschungserkenntnisse 5 Bettinger et al., 2009; beitgeber blieben im Pensionsplan, knapp doppelt so zum menschlichen Entscheidungsverhalten Council of Economic viele wie in früheren Jahren aktiv beigetreten waren.8 und deren Implikationen für Politik und Advisers/National Economic Council, 2009. Ein weiteres Beispiel beschreiben Katsikopoulos und Verwaltung Pichert in einer Studie zur Nutzung von alternativen 6 Gallander, 2013. Energiequellen in Deutschland. Sie zeigen, dass die Der hier vorgestellte Ansatz besagt im Kern, dass Poli- 7 Institut für Demoskopie überwiegende Mehrheit der betroffenen Bevölkerung tik und Verwaltung im Sinne der Effizienz ihrer Maß- (IfD) Allensbach, 2013: S. 196. (mehr als 90 %) bei einem entsprechenden Angebot bei nahmen berücksichtigen sollten, wie Menschen ihre 8 Department for Work and der Standardoption von „Ökostrom“ bleibt, auch wenn Entscheidungen tatsächlich treffen. Die empirische Pensions, 2013; Sunstein, 2013a: S. 56-59. die Möglichkeit zum Wechsel zu einem Versorgungs- Forschung hat gezeigt, dass wir in Entscheidungssitu- angebot, das auf konventionelle Stromquellen zurück- ationen nur begrenzt rational entscheiden. Wenn wir 9 Katsikopoulos und Pichert, 2008. greift, mit geringstem Aufwand gegeben ist. Dies ist mit einem komplexen Problem konfrontiert werden, sogar der Fall, wenn der Ökostrom geringfügig teurer lassen wir uns eher von eingefahrenen Denkmustern, ist als die Versorgung mit Energie aus Kernkraft oder Faustregeln, einfachen Heuristiken und Gefühlen lei- fossilen Brennstoffen.9 ten, als von Statistiken und Fakten. Wenn man diese Mechanismen versteht und sie in die Politikgestaltung Das hier vorliegende Papier soll politischen Entschei- einbezieht, kann man effektive wie kostengünstige poli dungsträgern in Deutschland als Inspirationsquelle tische Instrumente entwickeln, die gesamtgesellschaft- dafür dienen, wie sie diese Art von einfachen, kos- lich wünschenswerte Ziele adressieren ohne die in- tengünstigen, aber effektiven Maßnahmen in ihren dividuelle Handlungsfreiheit einzuschränken. Um den Politikfeldern implementieren können. Das Papier Vorwurf einer „Manipulation des Bürgers“ zu entkräf- behauptet weder, dass dies in jedem Politikfeld leicht ten, muss die so empirisch fundierte Gestaltung der anwendbar sei, noch dass dies bestehende Regie- Entscheidungsarchitektur transparent kommuniziert rungsinstrumente ersetzen sollte. Vielmehr wird die werden. Nutzung psychologischer, sozialwissenschaftlicher und verhaltensökonomischer Erkenntnisse über das Im Folgenden haben wir gesicherte Forschungser- menschliche Entscheidungsverhalten als zusätzlicher, kenntnisse über das menschliche Entscheidungsver- wenn auch in Teilen neuartiger Ansatz gesehen, um halten zusammengestellt und für jeden Befund ab- das zu tun, was Regierungen schon seit jeher getan ha- geleitet, wie er im Politik- und Verwaltungshandeln ben, nämlich die Umsetzung politischer Ziele. Deshalb berücksichtigt werden kann. Die folgende Tabelle hat die Vodafone Stiftung Deutschland die aktuells- soll den „Entscheidungsarchitekten“ in Politik und ten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu diesem Thema Verwaltung als Checkliste dienen, wenn sie staatliche zusammengestellt und diese mit führenden Wissen- Maßnahmen entwerfen oder umgestalten und ist da- schaftlern und den „Architekten“ des Ansatzes der her bewusst allgemein gehalten. amerikanischen und britischen Regierung diskutiert.
6 Checkliste: Verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse für die Politikgestaltung nutzen 10 Forschungserkenntnisse Implikationen für die Politikgestaltung über das menschliche Entscheidungsverhalten Status-Quo-Orientierung: Standardoptionen setzen: > Für viele Entscheidungen gibt der Staat den Bürgern Standardoptionen vor, die automatisch gelten. Die Bürger müssen sich in so gestalteten Entscheidungssituationen aktiv gegen diese Standardoption entscheiden, wenn sie eine Alternative wählen möchten. Die Forschungs erkenntnis besagt allerdings, dass viele Bürger dies aufgrund der Status-Quo-Orientierung nicht tun. In den USA und Großbritannien spricht man daher von einem „automatic enrolment“, der Wir neigen dazu, an einer bestehenden „automatischen“ Teilnahme an Programmen. Situation oder an unserem gewohnten > Standardoptionen sollten stets darauf hin untersucht werden, ob sie individuell vorteilhafte und Verhalten festzuhalten, selbst wenn es für politisch gewollte Optionen begünstigen, sodass dem Bürger im Regelfall kein Nachteil daraus uns günstiger wäre, etwas daran zu ändern. entsteht, wenn er die bewusste Entscheidung versäumt. Dabei sollte den Bürgern jedoch immer die Möglichkeit gegeben werden, sich gegen die Standardoption zu entscheiden. > Grundsätzlich gilt, dass alle Entscheidungsoptionen konkret, klar und deutlich aufgezeigt werden sollten und der bürokratische Aufwand in Entscheidungskontexten möglichst gering gehalten werden sollte. Beispiel 1: „Automatische“ Teilnahme an privaten Altersvorsorgeprogrammen Beispiel 2: Ökostromanbieter als Standardoption. Beeinflussbarkeit durch Informationen klar aufbereiten: Informationsgestaltung: > Entscheidungssituationen sollten so gestaltet werden, dass alle relevanten Informationen für jedermann leicht zugänglich sind, sich problemlos erschließen lassen und einprägsam präsentiert werden. Gleichzeitig dürfen die Informationen keinesfalls unzulässig verkürzt oder vereinfacht werden. Dies gilt sowohl für die Gestaltung von Informations- und Antragsdokumenten als auch im Besonderen für die Gestaltung der verwaltungstechnischen Abläufe und Spezifizierung der Bearbeitungsorte staatlicher Programme. Wir werden nicht nur vom Gehalt einer Infor- > Unnötig viele unübersichtliche Auswahlmöglichkeiten sollten vermieden werden. mation, sondern auch von der Art und Weise, wie sie präsentiert wird, beeinflusst. Beispiel: FAFSA Antragsvereinfachung (in Deutschland: Komplexität des BaFöG sowie Bildungs- und Teilhabepaket) Empfänglichkeit für Unterstützende Signale setzen: Umfeld-Reize: > Bei der Gestaltung öffentlicher Maßnahmen sollte geprüft werden, ob subtile Signale im Kontext der Entscheidungssituation das gewünschte Verhalten begünstigen können (bzw. überprüft wer- den welche Signale sich negativ auswirken könnten). Unbewusst wahrgenommene Signale im Kontext einer Entscheidungssituation beein- flussen unser Verhalten.
7 Anker-Effekt: Anker-Effekt minimieren: > Bei der Gestaltung von Entscheidungssituationen sollte man sich des Anker-Effekts, den einmal genannte Zahlenwerte auslösen, bewusst sein. > Da Anker-Effekte als persistent gelten, sollten Zahlenwerte im Zusammenhang von Entschei- dungen nicht zufällig nebeneinander stehen, sondern auf mögliche Anker-Effekte überprüft werden. Unsere Entscheidungen werden unbewusst durch sogenannte Anker-Heuristiken mitge- steuert. So werden z.B. unsere Schätzungen von Zahlenwerten beeinflusst, die wir im Vorfeld gehört bzw. gelesen haben Fehleinschätzung Risiken transparent vermitteln: durch Emotionen: > Wenn Entscheidungsoptionen dargestellt werden, sollten tatsächlich bestehende Risiken trans- parent gemacht werden. Allgemein unterschätzte Risiken, wie beispielsweise gesundheitsge- fährdendes Verhalten, sollten dabei besonders explizit kommuniziert werden. Beispiel: Gesundheitsgefährdung durch Rauchen. Aktuelle Ereignisse, persönliche Vorlieben > Bei aktuellen medial verbreiteten Schreckensmeldungen sollten Risiken dagegen in den und momentane Emotionen beeinflussen angemessenen Kontext gerückt werden. unsere Annahmen und damit unsere Ent- scheidungen. Beispiel: Erhöhte Abschlussrate von Versicherungen nach Katastrophen. Unrealistische Einschätzungen: Wir neigen dazu, unsere eigene Leistung und Zukunft eher zu optimistisch einzuschätzen. Verlust-Aversion: Verluste aufzeigen > Bei der Gestaltung von Entscheidungssituationen ist es günstiger, die negativen Folgen des Unterlassens einer bestimmten Handlung hervorzuheben als die positiven Folgen der Hand- lungsalternative. Beispiel: Will man etwa Bürger zum Kauf energiesparender Geräte animieren, sollte man nicht Der Verlust eines Gutes, wiegt schwerer als die höhere Leistungseffizienz betonen, sondern darauf hinweisen, wieviel Geld Nutzer konven- die Freude am Gewinn einer gleichwertigen tioneller Geräte jährlich durch höhere Stromrechnungen verlieren. Sache. Kurzfrist-Denken: Zeitnahe Gewinne/Belohnungen bieten: > Ist die Entscheidungssituation auf der Basis von Anreizen gestaltet, sollte die „Belohnung“ verhältnismäßig zeitnah in Aussicht gestellt werden. Tendenziell wählen wir lieber kleine, aber dafür sofortige Gewinne/Belohnungen als größere Gewinne/Belohnungen, die aber erst in der Zukunft erfolgen (hyperbolische Diskontierung). Individuell und gesamtge- sellschaftlich relevant ist diese Neigung etwa hinsichtlich der Bereitschaft zum Sparen.
8 Zuordnung zu mentalen Konten: Ausgaben durchdacht etikettieren: > Maßnahmen, die für den Bürger im Zusammenhang mit Ausgaben stehen, sollten wohlüberlegt „etikettiert“ werden. So lässt sich beispielsweise die Konsumbereitschaft beeinflussen, je nach- dem welchem Lebensbereich eine bestimmte Ausgabe zugeordnet wird Beispiel: Für die Zukunftschancen und Gesundheit der eigenen Kinder besteht eine höhere Aus- Viele Menschen ordnen Geldbeträge be- gabebereitschaft als für geringen Energieverbrauch. stimmten „mentalen Konten“, wie beispiels- weise „Wohnen“ oder „Sparen“, zu und haben für diese Konten jeweils unterschiedliche Ausgabebereitschaften. Gleichwertige Entscheidungsanreize haben unterschiedliche Auswirkungen, je nachdem, welches mentale Konto sie ansprechen. Welches „Etikett“ eine Ausgabe trägt, hat also einen direkten Einfluss auf unsere Bereit- schaft Investitionen zu unternehmen. Verbindlichkeits- und Bürger zum Selbstvertrag anregen und Fairnessbedürfnis: konsistentes Regierungshandeln sicherstellen: > In Vorfeld von Entscheidungssituationen, kann es sinnvoll sein, wenn Menschen ihre Überzeugung äußern sollen. Die meisten sehen sich verpflichtet, dann gemäß dieser Äußerung zu handeln. > Regierungshandeln, das mit Regierungsbotschaften konsistent ist, stärkt das Vertrauen und er- höht die Bereitschaft zur Partizipation. Wir versuchen in der Regel in möglichst Beispiel: Strenge empirische Wirksamkeitsprüfung vor der Verwendung von Steuermitteln kann großer Übereinstimmung mit unseren das Vertrauen der Steuerzahler erhöhen. Überzeugungen zu handeln und haben einen feinen Sinn für Fairness und Gerech- tigkeit. Handlungsleitend ist dabei nicht nur die Maximierung unseres eigenen Vorteils. Gemäß dem Prinzip der Gegenseitigkeit (Reziprozität) wird eine bestimmte Handlung eher dann gewählt, wenn sie bereits von einer anderen Person ausgeführt worden ist. Peergroup-Orientierung: Peergroup-Vergleich ermöglichen und bevölkerungsrepräsentative Botschafter einsetzen: > Es genügt häufig schon, Informationen darüber zu vermitteln, wie sich andere Menschen in der gleichen Situation verhalten, um die Bereitschaft für ein bestimmtes Handeln zu erhöhen. Beispiel: Stromrechnungen zeigen den privaten Stromverbrauch im Vergleich zum Verbrauch Menschen orientieren sich oft am Verhalten der Nachbarschaft. anderer Menschen – besonders in unsicheren Situationen. Darüber hinaus passen wir unser > Die entscheidungsrelevanten Informationen, die Bürgern zur Verfügung gestellt werden, sollten Verhalten eher an Dritte an, wenn wir sie für die jeweilige Zielgruppe anschlussfähig sein. Das heißt auch, dass diese Informationen mög- kennen und ihnen vertrauen. lichst durch „Botschafter“ vermittelt werden sollten, die aus der jeweiligen Zielgruppe stammen bzw. einen ähnlichen Hintergrund haben (Alter, Herkunft, Beruf etc.). 10 Hierbei handelt es sich um einen allgemeinen, stark vereinfachten, beispielhaften Überblick, der nicht unmittel bar auf alle Politikfelder, Ziel- gruppen und institutionellen Arrangements anwendbar ist.
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10 2) Diskussion ethischer Bedenken Es gilt die Entwicklung staatlicher Interventionen, die sich psychologische, sozialwissenschaftliche bzw. ver- Staatliche Maßnahmen, die bewusst an den Automa- haltensökonomische Erkenntnisse zunutze machen, tismen des menschlichen Entscheidungsverhaltens mit wissenschaftlichen Methoden so zu verknüpfen, ansetzen, können in der Öffentlichkeit leicht als pa- dass verlässlich gemessen werden kann, wie erfolg- ternalistisch oder manipulativ wahrgenommen wer- reich und kosteneffizient eine Maßnahme ihre Ziel- den. Faktisch beeinflussen staatliche Interventionen setzung erreicht. Idealerweise geschieht dies ex ante das Verhalten der Menschen aber in jedem Fall, ganz in Form von randomisierten kontrollierten Studien gleich, welche Instrumente genutzt werden. Es ist auch und ex post durch Evaluationen. weder ungewöhnlich noch neuartig, dass dabei Anrei- Randomisierte kontrollierte Studien testen eine In- ze geschaffen, Informationen ausgewählt und in einer tervention vor ihrer großflächigen Umsetzung. Dazu bestimmten Form dargestellt oder Standardoptionen wird die betreffende neue Maßnahme zunächst an nur festgesetzt werden. Es gibt also de facto keine absolut einem Ort und über einen definierten Zeitraum hin- neutrale Entscheidungsarchitektur. Gesetze und Ver- weg umgesetzt. Gleichzeitig wird an einem anderen, ordnungen setzen immer Standardoptionen, die das aber vergleichbaren Ort die bestehende „alte“ Form Entscheidungsverhalten bewusst oder unbewusst be- dieser Maßnahme unverändert durchgeführt. Am einflussen. Unabhängig von der Frage ob man ein ver- Ende der festgelegten Testperiode werden an beiden haltenswissenschaftliches Instrumentarium als Mittel Orten die Ergebnisse beider Maßnahmen gemessen der politischen Steuerung befürwortet oder ablehnt resp. überprüft. Der direkte Vergleich der Ergebnisse ist ein öffentlicher Diskurs zu den Wirkungsmecha- macht unmittelbar sichtbar, ob das neue Vorgehen ein nismen politischer Instrumente demnach angezeigt. Erfolg war. Im Anschluss an eine staatliche Intervention, sollte die In jedem Fall sollten staatliche Maßnahmen insbe- Wirkung der Maßnahme mit zeitlichem Abstand (ggf. sondere bei der Verwendung psychologischer, sozi- wiederholt) durch eine Evaluation gemessen werden. alwissenschaftlicher bzw. verhaltensökonomischer Erkenntnisse zur Politikgestaltung sorgfältig juris- tisch und verfassungsrechtlich geprüft werden, um 3) Anregungen für die Umsetzung dieses sicherzustellen dass die Autonomie und Entschei- Ansatzes in Deutschland dungsfreiheit der Bürger nicht beeinträchtigt wird. Vor allem aber sollte der Entwicklungsprozess dieser Soll der hier vorgestellte Ansatz in Deutschland imple- staatlichen Maßnahmen von der größtmöglichen mentiert werden, kann sowohl auf Bundes- als auch Offenheit und Transparenz geprägt sein und, wenn auf Landes- und Kommunalebene angesetzt werden. möglich, Formen der Bürgerbeteiligung vorsehen. Dabei ist es grundsätzlich ratsam, die folgenden drei Empfehlungen zu beherzigen: Das wichtigste Argument für den hier vorgestellten Ansatz ist zum einen sein Potenzial für die Steigerung der Kosteneffizienz und damit der verantwortungs- volle Umgang mit öffentlich knappen Mitteln und a) U nterstützung der politischen Leitungsebene sicherstellen zum anderen die Möglichkeit einer wissenschaftlich Damit die vorhandenen Forschungserkenntnisse über fundierten, vorherigen Wirkungsmessung staatlicher das menschliche Entscheidungsverhalten für die Ge- Maßnahmen. Beides ist nicht nur zentral für die Si- staltung staatlicher Maßnahmen genutzt werden kön- cherung der öffentlichen Akzeptanz, sondern erfüllt nen, ist die Unterstützung von der jeweils höchsten gleichzeitig die Verpflichtung politischer Entschei- Regierungs- bzw. Verwaltungsebene nötig. Entspre- dungsträger gegenüber den Bürgern, die Wirksam- chend dem anvisierten Politikfeld müssen also die keit politischer Instrumente gewissenhaft zu prüfen, zuständigen Landes- bzw. Bundesminister oder Bür- bevor sie flächendeckend eingeführt werden. germeister für die Idee gewonnen werden.
11 b) Konkrete Erfolge anhand eines Modellprojekts s ichtbar machen vor, können sie dazu genutzt werden, den neuen An- satz stärker öffentlich bekannt zu machen, ihn zu erklären und seine Umsetzung in größerem Maßstab Das zuständige Ministerium bzw. die zuständige Ver- oder auf weiteren Gebieten voranzutreiben. waltungseinheit sollte den neuen Ansatz zunächst in kleiner Größenordnung und in enger Zusammenar- Das zuständige Ministerium bzw. die zuständige Ver- beit mit wissenschaftlichen Beratern testen. Gemein- waltungseinheit sollte davon absehen, den Ansatz als sam sollten sie eine bestehende staatliche Maßnahme völlig neuartig oder gar den herkömmlichen staatli- identifizieren, die zwei Kriterien entspricht: Sie sollte chen Instrumenten grundsätzlich überlegen darzustel- einem konsensfähigen Ziel dienen, das parteiübergrei- len. Im Gegenteil sollte betont werden, dass Effekte fend und in der breiten Öffentlichkeit Zustimmung nur auf der Basis der bisher geleisteten Arbeit erzielt findet. Gleichzeitig sollte sich die hergebrachte Maß- werden können und dass der neue Ansatz die beste- nahme bislang als eher ineffektiv erwiesen haben. henden staatlichen Instrumente nicht etwa ersetzen, Idealerweise werden im Rahmen von Qualitätssiche- sondern ergänzen soll. Dies ist besonders mit Blick auf rung und Erfolgskontrolle ohnehin routinemäßig mit die politischen Akteure und Praktiker vor Ort wichtig, dieser Maßnahme in Zusammenhang stehende Daten die sich zum Teil seit Jahren in dem betreffenden Be- erhoben, sodass auf bereits vorliegendes Datenmate- reich engagieren. rial zurückgegriffen werden kann und das Prozedere zur Datenerhebung bereits etabliert ist. Das wichtigste Argument für den hier vorgestellten Ansatz ist seine große Kosteneffizienz. In der Diskus- Die identifizierte staatliche Maßnahme sollte dann sion sollte er weder einen parteipolitischen oder ideo- mit der oben dargestellten Checkliste abgeglichen logischen Beigeschmack erhalten, noch sollte der Ein- und auf deren Basis überarbeitet werden. Dabei geht druck erweckt werden, es handle sich um eine bloße es nicht darum, die gesamte Maßnahme infrage zu akademische Übung. Tatsächlich stellt dieser Ansatz stellen, vollständig zu verändern oder gar zu verwer- einen gründlich getesteten, praktischen Mechanismus fen, sondern vielmehr darum, an ihr eine leichte Mo- zur Lösung echter gesellschaftlicher Probleme dar und difikation vorzunehmen, die selbstverständlich den adressiert vor allem das Interesse an einer effiziente- bestehenden Gesetzen zu entsprechen hat. Sie sollte ren, empirisch fundierten und damit verantwortungs- sich leicht implementieren lassen und möglichst rasch volleren Verwendung öffentlicher Mittel. zu messbaren Ergebnissen führen. Wie bereits weiter oben angeführt, sollte die modifizierte Maßnahme Das geschilderte praktische und argumentative Vor- mithilfe einer randomisierten kontrollierten Studie gehen kann auch dabei helfen, nach und nach ande- auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden. Pragma- re Abteilungen innerhalb eines Ministeriums sowie tisches Vorgehen und keine allzu langen Laufzeiten weitere (Bundes-)Ministerien, Landesregierungen der Pilotphasen sind ratsam. und Kommunen davon zu überzeugen, sich diesem Ansatz zuzuwenden. Schließlich sollten ein Netzwerk c) Mit öffentlichen Erwartungen umgehen und interne Partnerschaften aufbauen und eine Austausch-Plattform aufgebaut werden, um den Ansatz für das Regierungshandeln in Deutschland fruchtbar zu machen und zu verbreiten. Um die Umsetzung des neuen Ansatzes nicht im Vor- feld mit falschen Erwartungen oder unbegründeten Vorbehalten aufzuladen, ist zu empfehlen, die modi- fizierte Maßnahme zunächst ohne künstlich erzeugte Öffentlichkeit als Modellprojekt durchzuführen und den entscheidenden Nachweis dafür zu erbringen, dass sie wirksam ist. Liegen diese Ergebnisse einmal
12 I Warum Forschungserkenntnisse über das menschliche Entscheidungsverhalten in Politik und Verwaltung berücksichtigt werden sollten Ein Großteil staatlicher Maßnahmen zielt darauf ab, oeconomicus“ angenommen, trifft der Mensch Ent- Menschen zu bestimmten Verhaltensweisen anzu scheidungen nicht in einer neutralen Umgebung regen, die – nach dem Dafürhalten der demokra- und nur selten wägt er im Vorfeld alle denkbaren tisch legitimierten Vertreter – von gesellschaftlichem Handlungsoptionen sorgsam nach dem Prinzip einer Nutzen sind. Um dieses Ziel zu erreichen, nutzen Kosten-Nutzen-Rechnung ab, um sich dann für die die Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung Variante zu entscheiden, die das optimale Ergebnis oftmals „harte“ Instrumente wie Regulierung und verspricht. Vielmehr handeln wir Menschen – Bürger Besteuerung, aber auch „weichere“ Instrumente wie wie Regierungsbeamte – im Rahmen von „begrenz- Anreiz- und Informationssysteme.11 Dabei ist oftmals ter Rationalität“: Da unsere kognitiven Fähigkeiten unklar, ob das geschaffene System überhaupt dazu natürlichen Grenzen unterliegen, analysieren wir bei geeignet ist, ein angestrebtes Ziels zu erreichen oder der Problemlösung in der Regel nicht alle verfügbaren ob es die kosteneffizienteste Lösung darstellt. Führen Fakten und Statistiken, sondern lassen uns von habitu- die aktuellen sozialpolitischen Maßnahmen zu den alisierten Denkmustern, Faustregeln und Emotionen erwünschten Effekten im Bildungsbereich und auf leiten. Demgemäß hat die „Entscheidungsarchitek- dem Arbeitsmarkt? Hat die Förderung erneuerbarer tur“ einer Wahlsituation, d.h. die Art und Weise wie Energien wesentliche Auswirkungen auf den Ener- die wählbaren Optionen präsentiert werden, einen gieverbrauch? Bislang gibt es auf solche Fragen nur entscheidenden Einfluss auf den Ausgang unserer selten eine Antwort, was das Risiko birgt, dass Geld für Wahl.16 Die Umgestaltung der Entscheidungsarchitek- unwirksame staatliche Maßnahmen ausgegeben wird. tur könnte beispielsweise in einer größeren Klarheit Dass der Staat sich keine unnötigen Haushaltsausga- oder leichteren Zugänglichkeit von Informationen ben erlauben kann, macht dieses Thema nur umso gegenüber der bloßen Informationsweitergabe be- brisanter.12 Die Staatsverschuldung von über 2.000 stehen. Die Ausgangslage innerhalb der Bevölkerung Milliarden Euro und die in der Verfassung verankerte entscheidet sich diesbezüglich erheblich und oftmals Schuldenbremse werden die künftigen Staatsausga- sehen sich gerade sozial benachteiligte Schichten mit ben maßgeblich beschränken.13 Neue und in mancher einer schlechten Entscheidungsarchitektur konfron- Hinsicht klügere Methoden zur Umsetzung staatlicher tiert, die es für sie nur umso schwerer macht, ihre Ziele sind gefordert.14 Situation zu verbessern.17 Die Grundidee ist bei der Gestaltung staatlicher Inter- Das Prinzip der Entscheidungsarchitektur stellt ein ventionen nicht auf theoretisch erwartbare, sondern zentrales Theorem der öffentlichen Politik infrage, auf empirisch belegte Wirkungen zu setzen. Dazu wonach wir unsere Entscheidungen nach rein rati- muss zunächst ein staatliches Ziel festgelegt werden, onalen Erwägungen und den vorliegenden Anreizen für dessen Erreichung dann verschiedene Ansätze auf (Zuckerbrot und Peitsche) fällen.18 Die „Entschei- ihre Tauglichkeit hin geprüft werden. Anhand der so dungsarchitekten“ in Politik und Verwaltung sollten gewonnenen Informationen können staatliche Maß- deshalb die Mechanismen, die das Entscheidungsver- nahmen wirksam umgestaltet und effektiv Kosten halten der Menschen lenken, gut kennen und ihrer gesenkt werden. Eine zentrale Fragestellung muss in gewahr sein. Wenn sie diese Mechanismen dergestalt diesem Zusammenhang sein, wie die Menschen aller in ihre Politikgestaltung integrieren, dass sie für und Voraussicht nach tatsächlich auf eine bestimmte Aus- nicht gegen die angestrebten Ziele arbeiten, haben sie wahl und Gestaltung von Informationen reagieren.15 ein wirksames und kostengünstiges Mittel zur Hand, Psychologen und Soziologen, aber auch Ökonomen ha- um Menschen zu verändertem Handeln zu ermutigen ben in der Vergangenheit umfangreiche Forschungsar- ohne ein restriktives Vorgehen einzusetzen.19 Ein ein- beit auf diesem Gebiet geleistet. Die Haupterkenntnis drucksvolles Beispiel stellt eine einfache Maßnahme ist über all diese Untersuchungen hinweg dieselbe: dar, die in Großbritannien zur besseren Einhaltung Anders als gemeinhin in den Wirtschaftswissenschaf- von Steuervorschriften eingeführt wurde. Der Hin- ten mit Hilfe des simplifizierten Modell des „homo weis, dass der Großteil der Einwohner in einem be-
13 stimmten Gebiet ihre Steuern bereits entrichtet hatte, 11 Dolan et al., 2010: S. 7. führte zu einer um 15 % höheren Zahlungsquote. Die 12 Vgl. John et al., 2011: Kosten einer solchen Intervention sind nur marginal, S. 27-28. während der potenzielle Gewinn ungleich höher ist: 13 Destatis, 2013. Eine nationale Umsetzung hätte 30 Millionen Pfund 14 Dolan et al., 2010: S. 7. an jährlichen Mehreinnahmen zur Folge.20 15 Vodafone Stiftung Deutschland, 2013. Die in diesem Papier skizzierten Überlegungen, be- schreiben weder einen grundlegend neuartigen An- 16 John et al., 2011: S. 12-13. satz, noch rufen sie dazu auf, die „harten“ Instrumen- 17 Vgl. Sunstein, 2013b: te des Regierungshandelns zu verwerfen, um sie durch S. 48-49. „weichere“ Maßnahmen zu ersetzen. Die deutsche 18 Dolan et al., 2010: S. 8. Regierung erreicht die überwiegende Mehrheit ihrer 19 Ebd.: S. 7. gesteckten Ziele bereits durch die Anwendung traditi- oneller regulatorischer Maßnahmen und Anreize wie 20 Cabinet Office/Behav- ioural Insights Team, 2011a: Besteuerung, Regulierung oder Staatsinvestitionen. S. 15-18. Die beschriebenen Im Jahr 1999 wurde etwa die Ökosteuer zur Senkung Zahlungen beziehen sich auf die Einkommenssteuern des Energieverbrauchs eingeführt.21 Und auch neuere von Selbstständigen bzw. Maßnahmen sind an dieser Stelle zu nennen, wie die Unternehmenssteuern, die nicht automatisch vom Staat Förderung der Modernisierung von Gebäudedämmung eingezogen werden, sowie mit einer im Januar 2013 bewilligten Summe von 300 Steuernachzahlungen. Millionen Euro.22 Die Nutzung von empirisch fundier- 21 Vgl. Bratzel, 2005: S. 51. ten Erkenntnissen über das menschliche Entschei- 22 Vgl. Kutzscher, 2012. dungsverhalten ist lediglich eine zusätzliche, wenn- gleich etwas anders geartete Methode für das, was zu 23 Cabinet Office, 2011: S. 7-8. den Grundaufgaben der Regierung gehört. Unbestrit- ten bleibt, dass Veränderungen häufig nur dann auf 24 Vgl. CDU, CSU und SPD, 2013: S. 150-151. den Weg gebracht werden können, wenn durch Geset- ze und Regulierungsmaßnahmen die Anreizstruktur verändert wird. Bei der Bewältigung der schwerwie- gendsten Probleme wie etwa der Luftverschmutzung oder dem immer größer werdenden gesellschaftliche Ungleichgewicht wird ein bloßer Anstoß zu Verhal- tensänderungen nicht genügen. Der hier empfohlene Ansatz ist als Ergänzung zu den etablierten Instru- menten zu verstehen und soll dazu beitragen, bereits vorhandene Ressourcen effektiver zu nutzen.23 Sowohl in Großbritannien als auch in den USA wurden em- pirisch fundierte Erkenntnisse über das menschliche Entscheidungsverhalten bereits erfolgreich im Dienste der Politikgestaltung eingesetzt. Dies könnte als In- spirationsquelle für die deutsche Regierung dienen, die die Wirksamkeit des Regierungshandelns gezielt erhöhen und dazu auch neueste wissenschaftliche Er- kenntnisse nutzen will.24
14 II Welche Forschungserkenntnisse über das menschliche Entscheidungsverhalten in Politik und Verwaltung berücksichtigt werden sollten 25 Im folgenden Abschnitt werden die wichtigsten Er- 1) Neigung zum „Status-Quo-Erhalt“: kenntnisse über das menschliche Entscheidungsver- Viele Menschen scheuen Veränderungen halten besprochen. Sie sollten von den „Entschei- dungsarchitekten“ in Politik und Verwaltung bei Trägheit bezeichnet in der Psychologie die Tatsache, einer möglichst effektiven Neu- und Umgestaltung dass Menschen eine generelle Tendenz dazu haben, an von staatlichen Maßnahmen im Auge behalten wer- ihrer gegenwärtigen Situation festzuhalten. Mit die- den. Das menschliche Gehirn wird – stark vereinfacht sem Phänomen verbunden ist die sog. Tendenz zum – durch zwei Systeme kontrolliert: das „automatische Status Quo-Erhalt: Aus Gründen der Begrenztheit von System“ und das „reflexive System“. Das automatische Zeit, intellektueller Energie und Ressourcen halten die System arbeitet schnell, mit wenig oder keiner An- meisten Menschen an ihren Gewohnheiten fest, selbst strengung und ohne willentliche Einflussnahme.26 Zu wenn die Vorteile einer Verhaltensänderung die Nach- den vom automatischen System gesteuerten Handlun- teile überwiegen. Darum haben manche Menschen gen gehören beispielsweise das Erkennen von Feind- immer noch ein Abonnement für eine Zeitschrift, die seligkeit in einem wütenden Gesicht oder das Fahren sie niemals lesen: Das erste Jahr war gratis und obwohl auf einer unbefahrenen Straße. Das reflexive System sie es sich fest vorgenommen haben, haben sie nie kommt dann zum Tragen, wenn Denkarbeit gefragt gekündigt.28 ist, zum Beispiel bei der Identifizierung eines über- Was im Fall eines Zeitschriftenabonnements trivial raschenden Geräusches oder beim Ausfüllen einer erscheint, wird für die Politik zu einer ernst zu neh- Steuererklärung. Vom reflexiven System gesteuerte menden Herausforderung, wenn es beispielsweise Handlungen werden als kontrolliert wahrgenommen. um Gesundheit oder Altersvorsorge geht. Der Genuss Das reflexive System arbeitet jedoch nur langsam, sei- einer Zigarette in der Mittagspause übertrumpft das ne Leistungsfähigkeit ist beschränkt und es lässt sich Krebsrisiko, die Abneigung, das Sofa zu verlassen, die leicht ablenken. Das Zusammenspiel beider Systeme Vorteile eines gesunden Lebens und zögerliches Spa- ist so organisiert, dass ein minimaler Aufwand zu ren erhöht das Risiko von Altersarmut. größtmöglicher Leistung führt. Diese Arbeitsteilung ist normalerweise sehr wirkungsvoll und versetzt den Anmerkung für Entscheidungsarchitekten Menschen in die Lage, mit den meisten Problemen in Politik und Verwaltung souverän umzugehen. Doch das automatische System Um Trägheit zu überwinden, kann es hilfreich sein, ent- ist prädisponiert für systematische Fehler, wenn es scheidende Informationen zur Verfügung zu stellen und den mit einer komplexen und ungewohnten Entschei- Entscheidungsprozess zu vereinfachen. dung konfrontiert wird.27 Oft erkennt der Mensch, Die Informationen sollten deutlich und konkret sein. So ist dass sein vorhandenes Wissen nicht ausreicht, um in es beispielsweise weitaus effektiver, Menschen zum Kauf von angemessener Weise mit einem Problem umzugehen fettarmer Milch anstatt von Vollmilch anzuregen, als ihnen und holt sich deshalb Hilfe. Manchmal ist jedoch kei- abstrakte und allgemein gehaltene Informationen über eine ne Hilfe verfügbar oder das eigentliche Problem ist gesündere Ernährung zu geben. Die Wirkung der Informa- nicht offensichtlich. Entscheidungsarchitekten soll- tionen kann noch verstärkt werden, wenn ein Weg zur Um- ten Entscheidungssituationen deshalb so gestalten, setzung aufgezeigt wird. Der Begriff „Weg“ kann in diesem dass die Entscheidung favorisiert wird, die dem Wohl Kontext durchaus wörtlich verstanden werden: Forschungs- des Einzelnen und dem der Gesamtgesellschaft zu- ergebnisse zeigen, dass sich Menschen sehr viel wahrscheinli- träglich ist. Die folgenden Informationen sollen dafür cher impfen lassen, wenn ihnen auch eine Straßenkarte ausge- als Leitlinie dienen. Hierfür werden die bestgesicher- händigt wird, auf der der Weg zum Arzt eingezeichnet ist.29 ten empirischen Erkenntnisse über das menschliche Vereinfachung bedeutet eine explizite Darstellung von Entscheidungsverhalten vorgestellt, in knapper Form Optionen – beispielsweise durch die Reduzierung des Ver- Anmerkungen für die Entscheidungsarchitekten ab- waltungsaufwands.30 Vereinfachung ist eine simple und geleitet und durch je einen Schwerpunkt illustriert. besonders kosteneffiziente Möglichkeit Anmeldungen zu
15 staatlichen Programmen und damit die Unterstützung vor einer über 90 %igen Nutzung alternativer Energiequellen 25 Dieses Kapitel greift in weiten Teilen auf ein Essay allem benachteiligter Bevölkerungsgruppen zu sichern.31 In führte während dies im gesamtdeutschen Vergleich nur bei von Cass Sunstein zurück, den USA ermöglichte beispielsweise die Vereinfachung des ca. 1 % der Fall ist. Im ersten Fall, der Ortschaft Schönau im das 2013 in der Publikations- reihe Transmission der Vo- Antragsprozesses für FAFSA, dem US-amerikanischen Äqui- Schwarzwald, entwickelte sich aus einer Anti-Atomkraftbe- dafone Stiftung Deutschland valent zum BaFöG, deutlich mehr Jugendlichen aus benach- wegung der 1980er Jahre eine Bürgerinitiative, die Ende der erschienen ist. Prof. Sunstein ist zudem Mitglied des teiligten Familien den Zugang zum Studium.32 Der deutsche 1990er Jahre die örtliche Stromversorgung dem bisherigen Wissenschaftlichen Beirats Normenkontrollrat hat in dieser Hinsicht bereits wichtige Stromnetzbetreiber abkaufte und durch eine eigene Firma für dieses Projekt. Bemühungen unternommen und unter anderem einen Plan (EWS) ersetzte. Diese bezieht ihren Strom vornehmlich aus 26 Kahneman, 2012: S. 20. zum Bürokratieabbau bei der Antragsstellung auf BaFöG alternativen Energiequellen. Bei der Übernahme des lokalen 27 Ebd.: S. 20-25. entwickelt.33 Weiteres Vereinfachungspotential gibt es beim Stromnetzes durch EWS bestand für die Einwohner die Mög- Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung, das im lichkeit zu einem anderen Anbieter zu wechseln; nur 14 von 28 Sunstein/Thaler, 2009: S. 37-39. Jahr 2011 gestartet wurde, um Kindern aus benachteiligten 1683 Haushalten taten dies. Im zweiten Fall, hat die Ener- Verhältnissen den Zugang zu Schulmittagessen, Klassen- giedienst GmbH sich Ende der 90er Jahre entschieden ihre 29 Sunstein, 2013b: S. 59-61. fahrten, Musikschule, Sportverein und Nachhilfe etc. zu er- Tarifoptionen zu diversifizieren. An alle 150,000 Kunden 30 Ebd.: S. 122-126. möglichen. Damit die Kinder diese Leistungen in Anspruch wurde ein Brief mit drei neuen Tarifen versandt. Als Stan- 31 Sunstein, 2013a: S. 70-73. nehmen können, müssen ihre Eltern jedoch zunächst ein dardoption war ein günstiger Ökostrom-Tarif festgesetzt. Die relativ kompliziertes Antragsverfahren durchlaufen. Dies Kunden mussten sich nur bei ihrem Anbieter schriftlich zu- 32 Bettinger et al. 2009; Council of Economic erwies sich als eine so große Hürde, dass insbesondere in der rückmelden, wenn sie in den noch günstigeren Tarif, der sich Advisers/National Economic Anfangsphase des Bildungs- und Teilhabepakets ein großer aus konventionellen Energiequellen speiste, bzw. einen noch Council. Teil der bereitgestellten Gelder überhaupt nicht abgerufen teureren Ökostromtarif wechseln oder ganz den Anbieter ver- 33 Nationaler Normen wurde und folglich, trotz großen Bedarfs und bester Intenti- lassen wollten. Nur knapp 6 % der Kunden verliessen den kontrollrat, 2010. on von Seiten der Regierung, die Unterstützungsleistungen günstigen Ökostrom-Tarif, die gesetzte Standardoption.37 34 Gallander, 2013. bei den Kindern nicht ankamen.34 Dass gerade die Vereinfa- Mit dem „automatic enrolment“, d.h. der „automatischen“ 35 Institut für Demoskopie chung von Anträgen für staatliche Programme Potenzial für Teilnahme an privaten Altersvorsorgeprogrammen unter- (IfD) Allensbach, 2013: S. 196. Verbesserungen in vielen Politikbereichen birgt, zeigt auch stützen die britische wie die US-Administration Arbeit- 36 Sunstein/Thaler, 2009: die 2013 erhobene Akzeptanzanalyse staatlicher Famili- nehmer beim Sparen. Arbeitgeber sind in diesem Fall vom S. 14. enleistungen des Allensbach Instituts, in der es heißt: „72 Gesetzgeber verpflichtet ihre Mitarbeiter automatisch in 37 Katsikopoulos/Pichert, Prozent der Leistungsbezieher erklären, dass die Beantra- einem betrieblichen Pensionsplan anzumelden („opt-in“ 2008. gung mit großem…oder sogar sehr großem bürokratischem Option). Die Alternative, aus dem Plan auszutreten („opt- 38 Department for Work and Aufwand…verbunden war.”35 out“), muss vom Arbeitnehmer aktiv entschieden werden. In Pensions, 2013; Sunstein, Sollten Informationen und Vereinfachungen nicht aus- Großbritannien ergab die erste umfassende Evaluation des 2013a: S. 56-59. reichen, um Trägheit zu überwinden, ist eine Änderung „automatic enrolment“, dass die „opt-out“ Rate mit nur 9 % 39 Vgl. Sunstein, 2013b: vorgegebener Standardoptionen (also das, was passiert, sehr viel niedriger war als vorher angenommen. Über 70 % S. 47-49. wenn nichts unternommen wird) die beste Möglichkeit, gute der Arbeitgeber blieben im Pensionsplan, knapp doppelt Ergebnisse zu erzielen. Grundsätzlich sollten Politiker vor so viele wie in früheren Jahren aktiv beigetreten waren.38 allem darauf achten, neue politische Interventionen so zu gestalten, dass sie zuträgliche anstelle von abträglichen Schwerpunkt: Vorgegebene Entscheidungsalternativen Standardoptionen vorsehen; bestehende politische Maßnah- Das Konzept der Standardoptionen ist besonders men sollten zudem auf abträgliche Standardoptionen hin in Situationen, in denen Trägheit zu langfristigen überprüft werden.36 Geschickt gewählte Standardoptionen Problemen führt, von hervorragender Wichtigkeit. können gesetzgeberische Ziele unterstützen während sie Standardoptionen wirken sich auf unser persönliches gleichzeitig die Entscheidungsfreiheit der Bürger wahren. Wohlergehen aus, da die meisten Menschen dazu nei- Die Wissenschaftler Katsikopoulos und Pichert beschreiben gen, bei einer vorgegebenen Alternative zu bleiben.39 beispielsweise für zwei Gegenden im süddeutschen Raum, wie die Festsetzung von Ökostrom als Standardoption zu
16 Standardoptionen funktionieren deshalb, weil wir möglich gehalten werden und selbstverständlich muss davon ausgehen, dass sie nach dem Dafürhalten in- immer die Möglichkeit gegeben sein, sich gegen sie zu formierter Personen die beste Handlungsmöglichkeit entscheiden.40 für uns darstellen und entsprechend Bezugspunkte schaffen. Sie funktionieren nicht in Situationen, in denen Personen klare Präferenzen haben. Obwohl 2) Der Mensch wird von der Art und Weise beispielsweise die Standardoption bei der Eheschlie- beeinflusst, wie Informationen präsentiert ßung ist, dass beide Eheleute ihren Geburtsnamen werden beibehalten, entscheiden sich nahezu alle Frauen dagegen. Die Art und Weise wie Informationen präsentiert wer- Was als Standardoption festgelegt werden sollte, den, hat einen entscheidenden Einfluss darauf, wel- ist eine ebenso wichtige wie schwierige Frage. Das che Positionen Menschen beziehen. Wenn ein Arzt Nächstliegende ist, Kosten und Nutzen für den Fall einem Patienten erklärt, er habe einen Monat nach zu ermitteln, dass die Bürger die Standardoption bei- einer überstandenen Operation eine 90-prozentige behalten. Außerdem kann abgewogen werden, welche Überlebenschance, so klingt dies weitaus attraktiver, Entscheidung bei größtmöglicher Informiertheit ge- als wenn er ihm sagt, die Chance zu sterben, betrage troffen werden würde. 10 %. Obwohl die Grundaussage in beiden Fällen die Durch die enorme Geschwindigkeit des technischen Gleiche ist, werden sich diejenigen, die die erste Ver- Fortschritts sind für die Zukunft auch subtilere Vari- sion hören, mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für anten von Standardoptionen denkbar. Solche „perso- die Operation entscheiden.41 nalisierten Standardoptionen“ könnten geographische Ein wichtiges Konzept in Bezug auf die Art der Präsen- oder demographische Aspekte berücksichtigen und tation von Informationen ist die sogenannte Salienz: auf diese Weise stärker auf individuelle Präferen- Informationen, die in irgendeiner Form hervorste- zen zugeschnitten werden. Plattformen wie Amazon chen, beeinflussen uns viel stärker als bloße Statisti- nutzen bereits ein ganz ähnliches Konzept, wenn sie ken oder abstrakte Fakten.42 Dieser Befund hängt ver- ihren Kunden Produktvorschläge aufgrund von frü- mutlich damit zusammen, dass es unmöglich ist, die heren Käufen unterbreiten. Solange die Privatsphäre Vielzahl an Informationen, mit denen wir tagtäglich gewahrt und Persönlichkeitsrechte unverletzt bleiben, konfrontiert sind, erschöpfend zu verarbeiten. Des- sind personalisierte Standardoptionen ein vielverspre- halb ist eine Art von Filter nötig. Es bleiben diejenigen chendes Mittel, um Menschen vor den ungünstigen Informationen im Bewusstsein, die am auffälligsten, Auswirkungen der Trägheit zu schützen. neuartigsten oder am besten erschließbar sind.43 Die- Die Anwendung von Standardoptionen hat jedoch ses Phänomen prägt sich zum Beispiel darin aus, dass Grenzen: Wenn Präferenzen stark variieren und die für Kosten-Nutzenrelationen, die nicht unmittelbar den die Planung Verantwortlichen keine klare Vorstellung Verkaufspreis eines Produkts betreffen, bei Kaufent- davon haben, wie das Gemeinwohl gefördert werden scheidungen häufig außen vor gelassen werden. Sie kann, dann sind aktiv getroffene Entscheidungen die sind schlicht nicht salient genug sind. Dabei kann es bessere Lösung. Die Bürger sind dann verpflichtet, sich sich bei versteckten Kosten (aber auch bei verstecktem unbedingt zwischen verschiedenen Alternativen zu Nutzen) um sehr hohe Beträge handeln, beispielsweise entscheiden (eine automatische Entscheidung durch die langfristigen Kosten von Produkten mit einem ho- Nichtwahl ist also nicht vorgesehen). Dies stellt sicher, hen Energieverbrauch.44 Salienz ist einer der Gründe dass das von ihnen bevorzugte Verfahren auch auf sie dafür, dass eine größere Auswahl nicht immer besser angewendet wird. ist. Zu viele Wahlmöglichkeiten lassen uns nicht un- Die Reichweite von Standardoptionen mag für man- bedingt die bevorzugte Alternative wählen, sondern che, die deren missbräuchliche Verwendung fürchten, können geradezu zu Überforderung und Verunsiche- erschreckend wirken. Um diese Ängste zu zerstreuen, rung führen.45 müssen Standardannahmen so transparent wie nur
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