Sozial nachrichten - Digitalisierung - lagoefw
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Ausgabe 1/2019 Bayerische Sozial nachrichten Mitteilungen der Landesarbeitsgemeinsch aft der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege in Bayern Digitalisierung in der sozialen Arbeit
eDitoriAL Liebe Leserin, lieber Leser, längst ist klar, dass die Digitalisie- rung unserer Arbeitswelt umfassen- de Veränderungen mit sich bringt. Arbeitsprozesse straffen sich noch- mals und setzten die menschliche Arbeitskraft in größerem Umfang frei, auch wenn zugleich neue Ar- beitsplätze entstehen. Dennoch „Kein Grund zur Panik“, den sozialen und kulturellen Dienst- so Dr. Klier und stellt im seinem leistungsberufen werden wir dem Zwischenruf entsprechende Zahlen aktuellen Fachkräftemangel mittels vor und benennt wichtige Entwick- der Digitalisierung nicht begegnen lungen und Handlungsansätze. können, zumal das das Potential hier lediglich bei 14 Prozent liegt. INHALT Auch die notwendige Zuwande- rung in den deutschen Arbeitsmarkt Die Bandbreite der Ansätze ist aber - die laut Bertelsmann Studie bis überraschend groß und reicht von 2060 bei jährlich 260.000 Personen genutzten Apps über Organisati- liegt - fordert eine weitere gesell- onstools bis hin zu kompletten Ver- schaftliche Öffnung und bleibt einw netzungsplattformen. Digitalisierung große Herausforderung. in der sozialen Arbeit Diese Erfahrungen zum Wohle der Sehr schnell wird deutlich, und das Kunden und haupt- und ehrenamtlich Digitalisierung den Wandel gilt als gemeinsamen Nenner in Mitarbeitenden spiegelt Jan Ger- aktiv gestalten S. 3 allen Arbeitsbereichen, ohne eine spach für den Paritätischen Wohl- umfassende Aus-, Fort- und Weiter- fahrtverband und Reiner Prölß für Digitales Leben im bildung geht es nicht. Hier besteht den Geschäftsbereich Jugend, Fami- Dienste der gesellschaft S. 5 umfassender Nachholbedarf, insbe- lie und Soziales der Stadt Nürnberg. sondere im Bereich der Helfer und Digitalisierung erfordert Zuständig für lebensbedrohliche berufliche Weiterentwicklung S. 6 der Fachkräfte. Situationen und Notfälle löst das Der „Pakt Berufliche Weiterbildung BRK den Rettungseinsatz „Pflege“ Zwischenruf 4.0“ ist gerade in diesem Kontext aus. Wolfgang Obermair fordert ein Kein grund zur Panikmache S. 9 wichtiges gemeinsames Maßnah- konsequentes Umdenken ein und mepaket der Arbeitsmarktakteure benennt Maßnahmen zur Krisenbe- „Digitalisierung“ im geschäftsbereich und ein Schlüsselinstrument des wältigung. Jugend, Familie und Soziales der Arbeitsministeriums um alle - Di- 39 Persönlichkeiten hat der Bay- Stadt nürnberg S. 10 gital Native und Digital Immigrants - mitzunehmen. erische Landtag mit der Verfas- impulse setzen und sungsmedaille ausgezeichnet. Die Miglieder mitnehmen S. 12 Auf die Unterschiede in Bezug auf Preisträger im Bereich des sozialen das „Substituierbarkeitspotential Engagements stellen wir in dieser Bürokratie begrenzen - nach Berufssegmenten“ geht Lutz Ausgabe vor und danken ihnen zu- Chancen nutzen S. 14 Eigenhüller, wissenschaftlicher Mit- gleich für ihren Einsatz zugunsten Praxis arbeiter des IAB, unter anderem ein. unserer Gesellschaft, in der alle 39 Persönlichkeiten mit Es wird kaum überraschen, dass die einen Platz haben müssen. Verfassungsmedaille ausgezeichnet S. 16 Anteile an Tätigkeiten, die durch computergesteuerte Maschinen Hartz iV - nicht mit mir! S. 20 übernommen werden können, gera- de im Bereich der Fertigungsberufe Mitgliedsorganisationen S. 22 und fertigungstechnischen Berufe Panorama S. 30 ein sehr hohes Potential haben. In Hendrik Lütke 2 Bayerische Sozialnachrichten 1/2019
DigitALiSierung in Der SoziALen ArBeit Digitalisierung – den Wandel aktiv gestalten Die Digitalisierung ist eines der Megathemen unserer Zeit. Sie wird unsere Gesellschaft so massiv verändern wie kaum eine andere Entwicklung. Dabei stehen wir schon längst nicht mehr vor der Frage, ob wir bei der Digitalisierung mitmachen möchten oder nicht. Wir müssen uns entscheiden, ob wir die Treiber oder die Getriebenen dieses Wandels sein wollen. Denn obwohl die Digitalisierung vielfältige Chancen bietet, um das Leben der Menschen zu verbessern, gibt es natürlich keinen Fortschritt ohne Risiken. Damit wirklich alle vom digitalen Wandel profitieren, müssen wir auch alle mitnehmen – den Digital Native ebenso wie den Digital Immigrant. Bild: freepik | rawpixel Es geht darum, Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- mer fit für die digitale Arbeitswelt zu machen und Wir setzen alles daran, um die berufliche Weiter- die digitale Arbeitswelt flexibel, familienfreundlich bildung zukunftsfest zu machen. Ganz wichtig ist und sozial ausgewogen zu gestalten. Für Menschen hier der Pakt für berufliche Weiterbildung 4.0. Er ist mit Behinderung müssen wir neue Chancen eröffnen. ein gemeinsames Maßnahmenpaket von allen Ar- Auch ältere Menschen müssen von der Digitalisierung beitsmarktakteuren: Die Arbeitgeber sind dabei, die profitieren. Und es geht auch darum, Kinder und Ju- Arbeitnehmer, die Kammern, die Arbeitsverwaltung gendliche behutsam und qualifiziert auf die digitale und die Staatsregierung. Mit dem Pakt wenden wir Welt vorzubereiten. uns gezielt an Beschäftigte, vor allem an jene, die in der Weiterbildung unterrepräsentiert sind. Digitalisierung der Arbeitswelt Digitalisierung und flexible Arbeitsformen schaffen Die Digitalisierung ändert nicht zuletzt unsere Arbeits- auch neue Vernetzungsmöglichkeiten. Das bringt so- welt grundlegend. Der technische Fortschritt bringt es wohl den Arbeitgebern als auch den Arbeitnehmern mit sich, dass einfache Tätigkeiten durch maschinelle enorme Vorteile. Für die Unternehmen macht Digita- Abläufe ersetzt werden. Dadurch entstehen aber auch lisierung die Prozesse effizienter. Sie sparen so Kosten neue Berufe. Ein aktuelles Beispiel: Der Kaufmann und können neue Geschäftsmodelle entwickeln. im E-Commerce ist die Antwort auf den florierenden Onlinehandel. Mit den neuen Berufen steigt auch der Außerdem verbessern flexiblere Arbeitszeit- und Ar- Bedarf an Fachkräften. beitsortregelungen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. In der heutigen Arbeitswelt muss es möglich Damit der Übergang gelingt, müssen wir den Men- sein, dass ein Mitarbeiter früher nach Hause geht, um schen die Angst vor der Digitalisierung nehmen und sie seinem Kind eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen. zu Fachkräften der Zukunft machen. Denn Gewinner Wichtige Aufträge lassen sich schließlich auch hinter- der digitalen Revolution werden die Volkswirtschaften her noch mobil erledigen. Hier müssen wir noch stärker sein, deren Arbeitskräfte die digitalen Techniken am umdenken: Die Präsenz am Arbeitsplatz entscheidet besten beherrschen. Zentrale Stellschraube ist hier die schließlich nicht über die Qualität der Arbeit oder wie berufliche Weiterbildung. Sie ist eine Investition in die schnell sie gemacht wird. Ganz im Gegenteil. Ich bin Kompetenz der Beschäftigten. Und diese Kompetenz der Überzeugung: Wir brauchen keine berufsgerechten ist entscheidender denn je. Familien, sondern familiengerechte Berufe. Die Digita- Bayerische Sozialnachrichten 1/2019 3
DigitALiSierung in Der SoziALen ArBeit lisierung bringt uns diesem Ziel ein großes Stück näher. Während sich viele ältere Menschen im digitalen Darüber hinaus stellt die digitale Arbeitswelt auch neue Wandel erst zurechtfinden müssen, ist es für Kinder Anforderungen an Arbeitsrecht und Arbeitsschutz. Es und Jugendliche heute ganz normal, mit digitalen Me- ist sehr erfreulich, dass der Koalitionsvertrag auf Bun- dien aufzuwachsen. Das geht so weit, dass sich viele desebene hier Anpassungen vorsieht. Die Bayerische Kinder und Jugendliche gar nicht mehr persönlich Staatsregierung unterstützt dieses Vorhaben. Dabei mit ihren Freunden treffen, sondern ihre Freizeit im brauchen wir einen angemessen Interessenausgleich Klassen-Chat verbringen. Gerade Soziale Netzwerke zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Es ist üben auf junge Menschen eine enorme Anziehungs- zum Beispiel unabdingbar, dass die Menschen auch im kraft aus. Sie vermitteln Handlungsräume, um sich zu digitalen Zeitalter sozial gut abgesichert sind. Digitali- vernetzen, gemeinsame Interessen zu verfolgen und sierung und soziale Sicherheit dürfen keine Gegensätze gesellschaftliche Fragen zu diskutieren. Darin liegen sein. Wir wollen soziale Sicherheit selbstverständlich sehr viele Möglichkeiten. Möglichkeiten, die aber nur auch für die neuen Erwerbsformen und -biografien, dann greifen, wenn digitale Medien die Perspektive beispielsweise von Freelancern und Crowdworkern. junger Menschen widerspiegeln und wenn wir uns Das gilt besonders für die Altersvorsorge. Dabei ernsthaft damit auseinandersetzen, wie sie sich und werden wir die Balance aus Eigenverantwortung und ihre Ideen noch besser einbringen können. Solidarität wahren. Auch der Gesundheitsschutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist sehr wich- Es kommt also auf die Medienkompetenz an. Medi- tig. Denn Phänomene wie die Entgrenzung der Arbeit, enkompetenz bedeutet, für die Chancen und Risiken mobile Beschäftigung und Multitasking können zu psy- digitaler Medien sensibler zu werden. Und dazu gehört chischen Belastungen führen. Das wiederum erfordert auch, dass Kinder und Jugendliche gezielt abschal- neue Präventionsansätze. Was wir also brauchen, ist ein ten lernen. Das ist in Zeiten der Digitalisierung eine Ordnungsrahmen für die Soziale Marktwirtschaft im Schlüsselkompetenz wie Lesen und Schreiben. Unser digitalen Zeitalter. Mit offenen Blick für die Chancen neues Zentrum für Medienkompetenz in der Frühpä- der Digitalisierung, aber auch Sensibilität für die Ri- dagogik (ZMF), das im Herbst 2018 seine Tätigkeit siken dieser Entwicklung. Wenn wir hier die richtigen aufgenommen hat, leistet hier wertvolle Arbeit. Es Weichen stellen, können wir von der Digitalisierung stellt sich der Frage, wie zukünftig Fachkräfte in Kin- erheblich profitieren. dertageseinrichtungen, aber auch Eltern und Kinder mehr Medienkompetenz bekommen können. Chancen nutzen – keinen zurücklassen Die Digitalisierung ist längst in unserem Alltag an- Von der Digitalisierung profitieren heißt, für alle die gekommen. Sie durchdringt unser ganzes Leben und richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Wir wollen schreitet unaufhaltsam voran. Mir ist es wichtig, den das große Potenzial der Digitalisierung deshalb auch damit verbundenen Sorgen mit konkreten Lösungen für Menschen mit Behinderung besser ausschöpfen. zu begegnen. Die Digitalisierung kann Barrieren abbauen. Digitale Barrierefreiheit heißt ganz konkret, dass Menschen Die Digitalisierung muss den Menschen dienen und mit Behinderung die digitale Welt ohne fremde Hilfe nicht umgekehrt. Wenn es uns gelingt, dass stets der nutzen und einen Internet-Auftritt wahrnehmen, ver- Mensch im Mittelpunkt bleibt, werden alle von der stehen, navigieren und mit ihm interagieren können. Digitalisierung profitieren. Bei dieser Herausforderung Das verbessert die Teilhabe von Menschen mit Behin- sind wir alle gefragt. derung und erleichtert ihnen außerdem den Zugang zum Arbeitsmarkt. Auch die ältere Generation profitiert von der Digita- lisierung, denn der digitale Fortschritt unterstützt bei- spielsweise ein selbstbestimmtes Leben im Alter. Mit modernen technischen und digitalen Lösungen (AAL – Ambient Assisted Living) können ältere Menschen auch bei Hilfe- oder Pflegebedürftigkeit im gewohn- ten Wohnumfeld bleiben. Und damit Seniorinnen und Senioren im Umgang mit digitalen Medien nicht ab- gehängt werden, unterstützen wir Schulungsangebote Kerstin Schreyer, MdL in den bayerischen Mehrgenerationenhäusern. Bayerische Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales 4 Bayerische Sozialnachrichten 1/2019
DigitALiSierung in Der SoziALen ArBeit Digitales Leben im Dienste der Gesellschaft Die Digitalisierung wirkt sich massiv auf unser aller Leben aus. Das betrifft nicht nur die Annehm- lichkeiten im privaten Bereich. Sie stellt uns auch vor Herausforderungen in der Berufswelt. Denn Künstliche Intelligenz und Roboter können mitt- lerweile immer mehr Aufgaben übernehmen. Das schürt natürlich Ängste in der Bevölkerung vor der Verlagerung oder gar dem Verlust von Arbeits- plätzen. Klar muss sein, dass die Digitalisierung im Diensten der Menschen und der Bevölkerung steht. Es muss heißen: Mensch UND Maschine, nicht cto r lve Mensch gegen Maschine. Standardisierte Arbeiten ful ik | von KI und Robotern sollen uns das Arbeiten erleich- eep d : fr tern, nicht ersetzen. Natürlich verändern sich mit der Bil digitalen Entwicklung auch die Arbeitsplätze und klassische Berufsformen. Der zunehmende Online- Wir wollen langfristig jedes Jahr 50 Frauen zwischen handel braucht weniger Einzelhandelskaufmänner als 18 und 30 für jeweils zwei Jahre bei ihrem Weg in di- vielmehr Kaufmänner in E-Commerce. Das heißt, dass gitale Berufe begleiten und unterstützen. Dabei helfen neue Arbeitsplätze entstehen. Dies spiegelt sich auch auch weibliche Vorbilder in technischen oder digitalen in aktuellen Prognosen des Bundesministeriums für Berufen, die mich bei BayFiD unterstützen. Für mich Arbeit wieder: 1,3 Millionen Jobs, die bis 2025 durch ist ein wesentlicher Punkt: Je mehr Frauen in Digital- die Digitalisierung in Deutschland verloren gehen, berufen oder im technischen Bereich Führungspositi- stehen insgesamt 2,1 Millionen neue Stellen gegenüber onen erlangen, desto mehr fühlen sich junge Frauen – ein Stellenzuwachs von immerhin ca. 800.000. Es und Mädchen motiviert, ebenfalls diese Richtung ist also enorm wichtig, den Transformationsprozess einzuschlagen. Und je früher wir den aktuellen Trend aktiv mitzugestalten. Das erfordert von uns allen ein umkehren, desto mehr Frauen sind auf den digitalen lebenslanges Lernen. Zentral sind dabei Bildung und Wandel eingestellt und gestalten ihn aktiv mit. Ausbildung und eine Anpassung der Sozialversiche- rungssysteme an neue Formen der Selbstständigkeit. Klar ist, dass sich der technologische Fortschritt nicht Das fängt schon mit IT- und Medienkompetenzen aufhalten lässt und es auch in Zukunft immer wieder in der Schule an, erstreckt sich auf stetige Aus- und Veränderungen in der Arbeitswelt geben wird. Diese Weiterbildungen der Menschen, die bereits voll im Diskussion gab es bereits, als der Computer erfunden Berufsleben stehen, und reicht bis zu gezielter Unter- wurde und wird es auch beim nächsten Entwicklungs- stützung besonders von älteren Menschen, die bislang sprung geben. Entscheidend ist dabei, alle Menschen kaum oder wenig Berührungspunkte mit der digitalen bei diesen Veränderungen mitzunehmen und keinen Welt hatten. zurückzulassen. Wir wol- len keine digitalen Eliten, Das Bayerische Staatsministerium für Digitales leistet wir wollen ein digitales hier seinen Beitrag. Denn die Zahlen sprechen auch, Leben im Dienste der Ge- was den Anteil der Frauen in digitalen Berufen angeht, sellschaft. eine klare Sprache: Nur rund 20 Prozent der Informa- tik-Studierenden und nur 17 Prozent der Akademiker in IT-Kernberufen sind Frauen. Wir müssen Frauen und Mädchen möglichst frühzeitig für digitale Themen begeistern. Daher habe ich auch nach nur einem Monat im Amt hierauf ein besonderes Augenmerk gelegt und die Initiative „Bayerns Frauen in Digitalberufen – Fit Judith Gerlach, MdL für den digitalen Wandel“, kurz „BayFiD“, gestartet. Bayerische Staatsministerin für Digitales Bayerische Sozialnachrichten 1/2019 5
DigitALiSierung in Der SoziALen ArBeit Digitalisierung erfordert berufliche Weiterentwicklung Im Zusammenhang mit den möglichen Folgen der Digitalisierung für den Arbeitsmarkt wird häufig dar- über diskutiert, inwieweit Tätigkeiten, die bislang von Menschen ausgeübt werden, durch Computer und computergesteuerte Maschinen übernommen werden könnten und welche Beschäfti- gungseffekte damit verbunden sein könn- ten. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat sich dieser Frage frühzeitig u. a. durch die Analyse der sogenannten Substituierbarkeitspo- tenziale von Berufen angenähert (vgl. Dengler/Matthes 2015). Da digitale Technologien sich schnell weiterentwi- Bild: freepik | rawpixel ckeln, Berufsbilder sich verändern und auch neue Berufe entstehen, wurden diese Analysen im Jahr 2018 aktuali- siert. Die Ergebnisse dieser Aktuali- sierung liegen sowohl für Deutschland (vgl. Dengler/Matthes 2018) als auch im Bundeslandvergleich (vgl. Dengler/Matthes/Wydra- Somaggio 2018) und für Bayern vor (vgl. Eigenhüller/ sind und dementsprechend Handlungsbedarf bestehen Rossen/Böhme 2018). Im Folgenden werden zentrale kann (vgl. Dengler/Matthes/Wydra-Somaggio 2018). Punkte dieser Analysen kurz zusammengefasst. Darüber hinaus ist in der Diskussion um die Folgen Substituierbarkeitspotenziale geben den Anteil der der Digitalisierung für die Beschäftigung zu berück- Tätigkeiten eines Berufs an, der bereits heute durch sichtigen, dass der Einsatz von digitalen Technologien Computer und computergesteuerten Maschinen über- auch Arbeitsplätze sichern sowie neue Arbeitsplätze nommen werden könnte. Grob gesagt handelt es sich schaffen kann. So werden in Folge der Digitalisierung dabei um den Anteil der manuellen und kognitiven bspw. neue Produkte und Dienstleistungen angeboten Routinetätigkeiten an allen Tätigkeiten eines Berufs. und nachgefragt, wodurch Arbeitsplätze entstehen Bei der Interpretation der Substituierbarkeitspotenziale können. Der Einsatz von digitalen Technologien könnte ist zu berücksichtigen, dass sich diese ausschließlich auch Produktivitätssteigerungen bewirken, die sich auf die technische Machbarkeit einer Digitalisierung in Preissenkungen, einer steigenden Nachfrage und von Tätigkeiten beziehen. Dass etwas technisch einem daraus folgenden Aufbau von Arbeitsplätzen machbar ist, bedeutet aber nicht notwendigerweise, niederschlagen könnten. Diese Dimension der Digita- dass es tatsächlich umgesetzt wird. Ob und inwieweit lisierung wird über die Substituierbarkeitspotenziale Substituierbarkeitspotenziale realisiert werden, ist nicht abgebildet. von vielen verschiedenen Faktoren abhängig. Dazu zählen z. B. Rahmenbedingungen wie Gesetze, ethi- Die höchsten Substituierbarkeitspotenziale errechnen sche Überlegungen oder Lohn- und Investitionskosten. sich für Fertigungsberufe und Fertigungstechnische Daher können (hohe) Substituierbarkeitspotenziale Berufe, die vor allem im Verarbeitenden Gewerbe zu auch nicht einfach als Voraussage bzgl. der Größe von finden sind. Relativ niedrige Substituierbarkeitspoten- Arbeitsplatzverlusten durch die Digitalisierung inter- ziale weisen dagegen personennahe Dienstleistungs- pretiert werden. Substituierbarkeitspotenziale können berufe auf (vgl. Abbildung 1). Hierzu zählen auch die allerdings Hinweise darauf geben, wo technologische Gesundheitsberufe und die sozialen Dienstleistungs- Potenziale hinsichtlich der Ersetzbarkeit vorhanden berufe, die Kernberufe der Wohlfahrtspflege sind. Im 6 Bayerische Sozialnachrichten 1/2019
DigitALiSierung in Der SoziALen ArBeit Vergleich zu den ersten Analysen sind die Substituier- Abbildung 2: Substituierbarkeitspotenzial nach Anfor- barkeitspotenziale in den meisten Berufen gestiegen. derungsniveau in Bayern (in Prozent) Am stärksten fiel dieser Anstieg in den Verkehrs- und Logistikberufen sowie in den Unternehmensbezo- genen Dienstleistungsberufen aus. Zurückzuführen ist dies darauf, dass in den letzten Jahren digitale Technologien (weiter-)entwickelt wurden bzw. die Marktreife erlangten und sich dadurch beispielsweise für Arbeitsplätze in der Intralogistik, aber auch in der Verwaltung neue Möglichkeiten der Automatisierung Quelle: BERUFENET (2016); Beschäftigungsstatistik der Bun- und Digitalisierung eröffneten. desagentur für Arbeit (Stand: 31.12.2016); eigene Berechnungen. Für zwei Berufssegmente, die IT- und Naturwissen- schaftlichen Dienstleistungsberufe und die medizi- Basierend auf diesen Analysen lässt sich dann auch die nischen und nichtmedizinischen Gesundheitsberufe, Frage beantworten, wie viele Beschäftigte aufgrund errechnet sich allerdings auch ein Rückgang des ihrer Berufs-Anforderungsniveau-Kombination von Substituierbarkeitspotenzials. Hierfür ist z. B. verant- einem hohen Substituierbarkeitspotenzial (> 70 Prozent) wortlich, dass im Berufsbild der Krankenpflege einige betroffen sind (vgl. Abbildung 3). In Bayern sind dies substituierbare administrative Tätigkeiten gegenüber gut 26 Prozent aller sozialversicherungspflichtig den nichtsubstituierbaren Tätigkeiten an Gewicht Beschäftigten (Deutschland: 25 Prozent). Im Vergleich verloren haben. zur Vorgängeranalyse stieg dieser Anteil damit um knapp 11 Prozentpunkte. Auch für die verschiedenen Abbildung 1: Substituierbarkeitspotenzial nach Be- Anforderungsniveaus zeigt sich ein Anstieg. Dies rufssegmenten in Bayern (in Prozent) gilt insbesondere für die Beschäftigten auf dem Helferniveau, von denen nun 50 Prozent von einem hohen Substituierbarkeitspotenzial betroffen sind. Aber auch bei den Fachkräften ist dieser Anteil erheblich gewachsen und beträgt jetzt 29 Prozent. Diese Entwicklung bedeutet nicht, dass diese Arbeitsplätze sofort oder in der nahen Zukunft verloren gehen. Der Anstieg kann aber als Hinweis darauf gesehen werden, dass das Thema der Folgen der Digitalisierung für die Beschäftigung in den letzten Jahren weiter an Relevanz gewonnen hat. Abbildung 3: Betroffenheit der sozialversicherungs- pflichtig Beschäftigten von einem hohen Substituier- barkeitspotenzial (> 70 Prozent) insgesamt und nach Anforderungsniveau in Bayern (in Prozent) Quelle: BERUFENET (2016); Beschäftigungsstatistik der Bun- desagentur für Arbeit (Stand: 31.12.2016); eigene Berechnungen. Zusätzlich zur Ebene der Berufe wurden die Substi- tuierbarkeitspotenziale auch für Anforderungsniveaus berechnet (vgl. Abbildung 2). Über alle Berufe hinweg zeigt sich dabei, dass das Substituierbarkeitspotenzial auf dem Helferniveau am höchsten ist, auf dem Fach- kraftniveau aber ebenfalls einen beachtlichen Wert erreicht. Deutlich geringer ist es dagegen auf dem Experten- und auf dem Spezialistenniveau. Ein Anstieg des Substituierbarkeitspotenzials ist allerdings auf al- Quelle: BERUFENET (2016); Beschäftigungsstatistik der len Anforderungsniveaus zu beobachten, am stärksten Bundesagentur für Arbeit (Stand: 31.12.2016); fiel er für Tätigkeiten auf dem Helferniveau aus. eigene Berechnungen. Bayerische Sozialnachrichten 1/2019 7
DigitALiSierung in Der SoziALen ArBeit Schließlich stieg der Anteil der Beschäftigten, die mit technischen Gesichtspunkten zugunsten der Kundinnen einem hohen Substituierbarkeitspotenzial konfron- und Kunden sowie der Beschäftigten wirksam werden. tiert sind, auch in allen bayerischen Landkreisen und Gleichzeitig dürfte dies bedeuten, dass auch die Be- kreisfreien Städten (vgl. Eigenhüller/Rossen/Böhme rufsbilder und die Aus- und Weiterbildungsgänge für 2018). Im Ergebnis reicht die Spannweite von knapp soziale Berufe und medizinische und nichtmedizini- 15 Prozent für die Stadt München bis zu knapp 52 Pro- sche Gesundheitsberufe entsprechend weiterentwickelt zent für den Landkreis Dingolfing-Landau. Tendenziell werden sollten, um die entsprechenden Kompetenzen finden sich Regionen mit relativ hohen Anteilen vor zum Umgang mit diesen Technologien sicherzustellen. allem in Nordbayern, Ostbayern, Westmittelfranken Hier sind die verantwortlichen Akteure gefragt, dafür und Schwaben. Vergleichsweise geringe Anteilswerte zu sorgen, dass entsprechende Anpassungen rechtzeitig ergeben sich dagegen für die Stadt München und einige umgesetzt werden. Kreise aus dem Ballungsraum München, sowie Gar- misch-Partenkirchen und einige Städte wie Erlangen, Literatur Würzburg oder Nürnberg. Höhere Anteile finden sich Dengler, Katharina; Matthes, Britta (2018): also in der Regel dort, wo das Verarbeitende Gewerbe Substituierbarkeitspotenziale von Berufen: Wenige Berufsbilder halten mit der Digitalisierung Schritt. IAB-Kurzbericht, und damit auch Fertigungsberufe und Fertigungstech- 04/2018, Nürnberg. [http://doku.iab.de/kurzber/2018/kb0418.pdf nische Berufe mit hohen Substituierbarkeitspotenzialen Dengler, Katharina; Matthes, Britta; Wydra-Somaggio, Gabriele vergleichsweise stark vertreten sind. Dominieren in (2018): Regionale Branchen- und Berufsstrukturen prägen einer Region Dienstleistungsberufe und/oder Tätig- die Substituierbarkeitspotenziale. IAB-Kurzbericht, 22/2018, keiten auf hohem Anforderungsniveau sind die Werte Nürnberg. [http://doku.iab.de/kurzber/2018/kb2218.pdf]] dagegen geringer. Eigenhüller, Lutz; Rossen, Anja; Böhme, Stefan (2018): Folgen der Digitalisierung für den Arbeitsmarkt in Bayern. Aktualisierte Substituierbarkeitspotenziale. IAB-Regional. Berichte und Fazit Analysen aus dem Regionalen Forschungsnetz. IAB Bayern, 02/2018, Nürnberg. [http://doku.iab.de/regional/BY/2018/ Die Ergebnisse der Analysen zu den Substituierbar- regional_by_0218.pdf] keitspotenzialen können als nachdrücklicher Hinweis darauf gelesen werden, dass Bildung, Ausbildung und Weiterbildung ein zentraler Bereich sein dürften, um die Digitalisierung der Arbeitswelt in ihren Folgen für die Individuen und die Gesellschaft positiv zu gestalten. Dazu gehört auch, Berufsbilder kontinuier- lich weiterzuentwickeln und die Möglichkeiten, die digitale Technologie für Bildung und Qualifizierung bietet, sinnvoll zu nutzen. So gilt bspw. auch für das Gesundheits- und Sozialwesen, dass die Möglichkeiten des Einsatzes von digitalen Technologien - sei es in Form von Computertechnologie, sei es in Form von Lutz Eigenhüller Robotern – in den nächsten Jahren weiter zunehmen Wissenschaftlicher Mitarbeiter dürften. Und diese Möglichkeiten sollten sicherlich institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (iAB) auch wahrgenommen werden, solange sie unter Be- regionales Forschungsnetz rücksichtigung von ethischen oder auch datenschutz- email: lutz.eigenhueller@iab.de Anzeige - 8 Bayerische Sozialnachrichten 1/2019
zWiSCHenruF Kein Grund zur Panikmache! Dr. Manfred Klier husses Vorsitzender des Fachaussc g Ö/F Arbeitsmarktpolitik der LA dt.nuernberg.de O bwohl das Institut für Ar- beitsmarkt- und Berufsfor- email: manfred.klier@sta schung der Bundesagentur für Arbeit in einem Szenario für Bayern prognostiziert, dass bis 2035 infolge der Digitalisierung der Ar- beitswelt zwar 239.000 Arbeits- plätze wegfallen, umgekehrt jedoch von Senior Robots in der Pflege, nur Fachausschuss Arbeitsmarktpoli- auch 231.000 neue Arbeitsplätze sehr eingeschränkt automatisierbar. tik der LAG Ö/F, die bestehenden entstehen, besteht kein Grund, sich Generell besteht meines Erachtens Qualifizierungs- und Weiterbil- wegen dieses überschaubaren ne- auch kein Grund zur Panikmache! dungsprogramme auf Bundes- und gativen Deltas von 8.000 Arbeits- Es gibt gute Datengrundlagen um Landesebene für Personen ohne plätzen entspannt zurückzulehnen. entsprechende kompensatorische Berufsabschluss bzw. Personen in Erstens können wir nicht davon Handlungsstrategien entwickeln Helferberufen optimal zu verzahnen ausgehen, dass die Personen, die zu können, in deren Fokus Bil- und bei Bedarf sinnnvoll zu ergän- wegfallende Arbeitsplätze besetzen dung, Berufsausbildung und Wei- zen. Allerdings sollten wir uns nicht 1:1 in neu entstehende Arbeitsplätze terbildung stehen. Schulabgänger der Illusion hingeben, den Arbeits- überwechseln können, da sich die ohne Schulabschluss oder Jugend- kräftebedarf der Zukunft in Bayern Anforderungen der neuen Arbeits- liche ohne Berufsabschluss haben und Deutschland durch verstärkte plätze von den Anforderungen der in der digitalisierten Arbeitswelt Qualifizierung und Weiterbildung wegfallenden Arbeitsplätze elemen- nur schlechte Chancen auf einen decken zu können. Wie die aktuelle tar unterscheiden und in der Regel auskömmlichen Arbeitsplatz. Aus Studie der Bertelsmann-Stiftung eine wesentlich höhere Expertise diesen Gründen nimmt Bildung und „Zuwanderung und Digitalisierung“ erfordern. Zweitens stellen die damit Weiterbildung einen immer höheren konstatiert, erfordert die demogra- in Zusammenhang stehenden Substi- Stellenwert in der Berufswelt ein. phische Entwicklung in unserem tuierbarkeitspotenziale nach Berufs- Gleichzeitig besteht ein erhebli- Land bis 2060 eine jährliche Zuwan- segmenten oder Anforderungsprofile cher Nachholbedarf insbesondere in derung von ca. 260.000 Personen in keine statischen Größen dar, sondern der Weiterbildungsbeteiligung von den deutschen Arbeitsmarkt. verändern sich im Laufe der Zeit. niedrigqualifizierten und gering- verdienenden Beschäftigten, also Die Digitalisierung verändere die- Neue technische Möglichkeiten denjenigen Beschäftigungsgruppen, sen Arbeitskräftebedarf nur gering- führen zu veränderten – höheren deren Arbeitsplätze stärker durch fügig, es gebe jedoch einen star- - Substituierbarkeitspotenzialen. die Digitalisierung gefährdet sind. ken Trend zu hochqualifizierten Dabei weisen, wie Lutz Eigenhüller Experten. Da jedoch immer mehr in seinem Beitrag aufzeigt, soziale Liegt die Teilnahmequote in der Menschen höhere Qualifikationen und kulturelle Dienstleistungsbe- beruflichen Weiterbildung in Bayern erwerben und sehr viele Menschen rufe mit 14 Prozent das geringste im ersten Halbjahr 2017 bei Perso- mit Berufsausbildung aus dem Be- Substituierbarkeitspotenzial nach nen mit Hochschulabschluss bei 55 rufsleben ausscheiden, sei jedoch Berufssegmenten in Bayern auf. Prozent, fällt diese bei Beschäftigten eher mit einer Entspannung bei den Soziale, personenbezogene Dienst- mit einfachen Tätigkeiten auf 15 Akademiker-Engpässen und einer leistungsberufe sind somit, zumin- Prozent! Verschärfung beim Arbeitskräfte- dest zum gegenwärtigen Zeitpunkt, bedarf im Bereich der mittleren trotz z.B. des partiellen Einsatzes Aus diesen Gründen fordert der Qualifikationen zu rechnen! Bayerische Sozialnachrichten 1/2019 9
DigitALiSierung in Der SoziALen ArBeit „Digitalisierung“ im geschäftsbereich Jugend, Familie und Soziales der Stadt nürnberg1 1. Warum ein Digitalisierungsdiskurs im geschäftsbereich? Zur Einführung in das Themengebiet „Digitalisierung im Geschäftsbereich Jugend, Familie und Soziales der Stadt Nürnberg“ einige grundsätzliche Anmerkungen: Ich bin einerseits erstaunt und betroffen mit welch na- iver, unkritischer und oft euphorischer Heilserwartung neue digitale Optionen gehypt werden und anderseits mit welchem Desinteresse, Ignoranz, Abwehrverhalten man diesen Entwicklungen gegenübersteht. Wir haben uns vor gut einem Jahr dafür entschieden, uns intensiv mit der Frage der Digitalisierung im Ge- schäftsbereich auseinanderzusetzen. Dabei beginnen wir nicht bei Null! Seit vielen Jahren gibt es in unse- rem Geschäftsbereich eine Offenheit für technische Möglichkeiten und Innovationen. Ebenso ist seit vielen Jahren in den verschiedenen pädagogischen Aufgaben- feldern der Aspekt der digitalen Möglichkeiten, Spiele, soziale Medien, Medienerziehung und Jugendschutz ein Schwerpunkt der Arbeit. Foto: freepik | rawpixel.com Klar ist, dass alle Aufgabenbereiche des Geschäfts- bereichs von den Entwicklungen betroffen sind. Ich sich Möglichkeiten der Entörtlichung durch mobile möchte mich in den nachfolgenden Ausführungen Endgeräte, für alle die, die Hausbesuche und aufsu- jedoch auf die Aufgaben des Jugendamtes mit einer chende Arbeit leisten. unvollständigen und auch willkürlichen Auswahl von Möglichkeiten konzentrieren. Gerade im Bereich der klassischen Leistungsverwal- tung wie in verschiedenen Bereichen des Jugendamtes – Wirtschaftliche Jugendhilfe, Unterhaltsvorschuss- 2. Möglichkeiten und grenzen der gesetz, Bafög, Zuschussbearbeitung etc. -, aber auch Digitalisierung am Beispiel des Jugendamtes im Sozialamt und im Jobcenter werden mittelfristig Die digitalen Möglichkeiten sind heute in der kommu- Anträge, Berechnungen direkt online beantragt und nalen Sozialpolitik und sozialen Arbeit schon weiter berechnet werden können. Zusätzlich kann auch das als die technische und organisatorische Umsetzung. Widerspruchsverfahren automatisiert werden. Gleich- Deshalb ist die Botschaft I: Ja, zahlreiche Tätigkeiten zeitig erfordert das aber auch ein Mehr an Beratungs- und damit Arbeitsplätze werden wegfallen! Gleich- leistungen und wir müssen bei all unseren Planungen zeitig gilt aber auch die Botschaft II, die ebenfalls digital denken, aber auch die Option analoger Bearbei- von seriösen Studien bestätigt wird: Wir brauchen tung ermöglichen, denn sonst grenzen wir Menschen zusätzliche Arbeitskräfte, insbesondere im Bereich der aus. Ich erwarte in diesen klassischen Verwaltungsbe- medizinischen, pflegerischen sowie Erziehungsberu- reichen die größten und am schnellsten stattfindenden fen und im Bereich von haushalts- und familiennahen Umbrüche. Hier müssen wir aber aufpassen, dass Dienstleistungen. Daraus erfolgt die Botschaft III: diese Möglichkeiten mit größter Sorgfalt geplant und Wir werden alle sukzessive unsere Arbeitsweise und 1 Arbeitsorganisation, aber auch unsere Arbeitsinhalte Dieser Beitrag ist im Wesentlichen ein Auszug aus dem Vortrag verändern müssen. Das betrifft unsere Arbeits- und „Warum `Digitalisierung´uns alle angeht!“, der vom Autor am Fachtag Digitalisierung des Jugendamtes am 15.11.2018 Arbeitsplatzorganisation, es bietet sich die Chance der in Nürnberg gehalten wurde. Dieser Beitrag ist nachzulesen flexibleren Gestaltung von Arbeitszeiten, verbunden unter: https://www.nuernberg.de/imperia/md/sozialreferat/ aber mit der Gefahr der Entgrenzung, und es eröffnen dokumente/75_warum_digitalisierung_uns_alle_angeht.pdf 10 Bayerische Sozialnachrichten 1/2019
DigitALiSierung in Der SoziALen ArBeit programmiert werden, dass es nicht zu Ausgrenzungen Vielleicht wird ja in Zukunft Erziehung und Unter- kommt und dass komplexe Sachverhalte im Einzelfall stützung von Erziehung individuell durch Apps und dann auch ein Korrektiv durch menschliche Bearbei- künstliche Intelligenz gesteuert. Ich meine jetzt nicht tung finden werden. die diversen Erziehungsberatungsportale, z.B. das der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V. für Weiterhin wird das Online-Portal Kitaplatz der Stadt Eltern und Jugendliche. Inzwischen gibt es Apps für Nürnberg demnächst erfolgreich ans Netz gehen. Aber Eltern, z.B. eine namens „Muse“ in Großbritannien, sind wir im digitalen Zeitalter hier nicht mittelalterlich die übernimmt ganz individuell die Erziehung des unterwegs? Warum sorgen wir nicht dafür, dass die Kindes. Man kann sie abonnieren und bekommt nicht einzelnen Kitas ihr konkretes pädagogischen Konzept nur regelmäßig die Empfehlung zum Umgang mit dem einstellen und die Eltern abgefragt werden, was ihnen Kind, sondern kann auch in konkreten Situationen wichtig ist und wir dann gleich eine Empfehlung oder anrufen und bekommt sofort Hinweise was man am Zuweisung für die geeignetste Kita zurückmelden und besten mit dem Kind tun soll. uns die Vorstellungsbesuche ersparen? Auch wären wir durchaus schon in der Lage, auch den Erfolg und die Wir müssen vieles klären und ich finde die Diskussion Wirksamkeit in den Kitas besser zu bewerten, indem darüber ist spannend und macht Lust: Wie gehen wir wir bestimmte Kind bezogene sozioökonomische und mit den neuen Medien in Kindertageseinrichtungen soziokulturelle Daten eingeben, die Umsetzung von um? Brauchen wir ein Tablett? Verbieten wir Smart- Angeboten z.B. zur Sprachförderung, musischen oder phones in Horten? Sorgen wir ausreichend noch für die naturwissenschaftlicher Bildung, Elternarbeit etc. in Entwicklung der Feinmotorik, Bewegung, Sport und der jeweiligen Kita und eine Testung anhand von Indi- Musik? Schließen wir uns Empfehlungen an, bei Kin- katoren, die computergestützt erfolgt. Schlussendlich dern unter 10 Jahren kein Smartphone? Wie erziehen können wir damit auch die pädagogische Qualität der wir unter diesen Bedingungen zum „mündigen Bür- sozialpädagogischen Fachkräfte bemessen. In USA ger“, der die Mechanismen der die global agierenden setzen Schulbehörden solche Assessment-Tools, z.B. Konzerne durchschaut und seine Datensouveränität namens IMPACT bereits ein. Lehrkräfte deren Scores behauptet. unterhalb eines bestimmten Levels liegen, bekommen ein Problem. Bereits diese wenigen Beispiele zeigen die Ambivalenz von Digitalisierung in unterschiedlichen Bereichen der Ein anderes Beispiel: Es wird modellhaft schon daran Kinder- und Jugendhilfe und Sozialpolitik. Auf der gearbeitet, dass die verschiedenen familienbezogenen einen Seite erleichtern und verbessern sie die Arbeit Leistungen und erforderlichen Anmeldungen in einem und ermöglichen für die Betroffenen mehr Chancen digitalen one-stop-shop erledigt werden können, also und Möglichkeiten. Auf der anderen Seite macht sich von der Anmeldung im Standesamt, der Beantragung zu Recht ein diffuses Gefühl breit, ob und inwieweit von Kindergeld und Erziehungsgeld usw., alles Stress- es ethisch und moralisch vertretbar ist, menschliche faktoren für die junge Familie. Bearbeitung mit Ermessensspielräume oder perso- nale Interaktion z.B. in Beratungsprozessen zu Noch ein kurzer Blick auf sog. prädikative Modelle. Sie substituieren. sind der Versuch aufgrund von Indikatoren bestimmte Risiken zu identifizieren und entsprechend zu antizipie- ren. Daraus leitet sich dann ab, welche Intervention die erfolgsversprechendste ist. Die Maschine wird immer wieder mit den Verhaltensveränderungen der Betroffe- nen „gefüttert“, die automatisch ausgewertet werden. Damit optimiert sich das System ständig selbst. Ein solches Verfahren würde sich für frühe Hilfen, die ASD-Arbeit oder im Rahmen der Hilfen zur Erziehung eignen. Es ist viel mehr als eine elektronische Fallakte, denn es bewertet und beurteilt auch die Zielerreichung und erstellt Prognosen. Allerdings erfolgt hier eine Zuschreibung von bestimmten Merkmalen und so wer- den Mechanismen der Stigmatisierung perfektioniert. Reiner Prölß Solche Modelle sind heute schon machbar und in den referent für Jugend, Familie und Soziales der Stadt nürnberg USA schon im Einsatz. email: : reiner.proelss@stadt.nuernberg.de Bayerische Sozialnachrichten 1/2019 11
DigitALiSierung in Der SoziALen ArBeit Impulse setzen und Mitglieder mitnehmen Projekt „Digitalisierung gestalten“ des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Bayern Foto: freepik | macrovector Zunehmend wird deutlich, dass Digitalisierung nicht Projekt des Paritätischen, das gerade bis Januar 2021 nur die Arbeitswelt verändert, sondern tief in die Struk- verlängert wurde, setzt dabei auf drei Ebenen an: ers- turen unserer Gesellschaft, unseres Zusammenlebens, tens der Ebene der Organisation und Prozesse, zweitens der sozialen Teilhabe eindringt – und damit auch vor der Ebene der inhaltlichen sozial- und fachpolitischen der Sozialen Arbeit nicht haltmacht. Diese Feststellung Themen und drittens der Ebene der Adressaten: unserer stand auch am Beginn des Projekts „Digitalisierung Mitgliedsorganisationen. gestalten“, das der Paritätische Wohlfahrtsverband Bayern im Februar 2018 auf die Gleise setzte. 1. ebene: organisation und Prozesse Wohlfahrtsverbände gelten nicht per se als Vorreiter Die Digitalisierung wirkt nicht nur punktuell, sie in Sachen Digitalisierung. Wer dies allein den ge- wandelt bisher als selbstverständlich geltende Struk- wachsenen Strukturen zuschiebt, unterschlägt die turen und Abläufe innerhalb von Organisationen. Die mangelnde finanzielle Unterstützung für den Bereich digitale Kommunikation verändert die Anforderungen Soziale Arbeit. Viele Förderangebote auf Bundes- und an Ablaufprozesse und Zuständigkeiten, z.B. im Ver- Landesebene richten sich insbesondere an kleine und hältnis von zentraler und dezentraler Verbandsstruktur. mittlere Unternehmen sowie Forschungseinrichtungen. Außerdem formen sich Aufgabenzuschnitte in der Die Unterstützung dieser Sektoren ist wichtig und rich- Verwaltung oder fachliche Anforderungsprofile in den tig; in gleichem Maße sollten jedoch die Auswirkungen sozialen Dienstleistungsberufen neu. Um die Beschäf- neuer Technologien im sozialen Bereich in den Fokus tigten in diesem Veränderungsprozess mitzunehmen, rücken, Verbände und Projekte bei der Bewältigung der ist kontinuierliche Personalentwicklung erforderlich. damit verbundenen Aufgaben finanziell unterstützt und Der Verband ist hier als Arbeitgeber gefordert: Digitale auch die vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Tools und Infrastrukturmaßnahmen verbessern die in sozialen Berufen durch geförderte Fort- und Wei- Möglichkeit der mobilen Arbeit und somit zu großen terbildungsangebote auf die Wandlung der Arbeitswelt Teilen die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben vorbereitet werden. (damit ist explizit nicht die Dauererreichbarkeit ge- meint, die zum Beispiel Smartphones mit sich bringen). Weil Wohlfahrtsverbände trotzdem – auch ohne Der Einsatz von neuen Online-Kommunikationstools staatliche Förderprogramme – den Auswirkungen der oder Videokonferenzen erleichtert das gemeinsame Digitalisierung begegnen müssen und wollen, werden Arbeiten an verschiedenen Orten, verringert lange An- sie proaktiv tätig. Das von der Glücksspirale geförderte fahrtswege (vor allem im Falle verhältnismäßig kurzer 12 Bayerische Sozialnachrichten 1/2019
DigitALiSierung in Der SoziALen ArBeit Meetings) - und trägt aufgrund entfallender Reisen – Digitalisierung gestalten“. Ziel der Veranstaltung war gleichzeitig zu einer verbesserten Nachhaltigkeit bei. ein Austausch zwischen Organisationen, die bereits Damit die Digitalisierung bei allen Mitarbeitern/-innen digitale Tools und Projekte bei der Gewinnung und und auch den Mitgliedsorganisationen ankommt, ist Betreuung von Ehrenamtlichen nutzen, und solchen, eine entsprechende Personalentwicklung durch Fort- die sich inspirieren lassen wollten. Knapp 100 Mit- und Weiterbildungen zentral: Wenn die Vorteile der arbeiter/innen von Organisationen und Mitgliedern Digitalisierung erkannt und genutzt werden und die folgten der Einladung nach München. Zwölf Organi- notwendigen Kompetenzen vermittelt werden, erhöht sationen und Unternehmen stellten ihre Ideen, Projekte dies die Akzeptanz und Nutzung der Mittel. und Visionen aus dem Bereich der Digitalisierung vor. Die Bandbreite war groß: Von selbst entwickelten oder Das Projekt hat das Thema Organisationsentwicklung genutzten Apps über den Einsatz digitaler Kommuni- in zwei Veranstaltungen aufgegriffen: Die Auftakt- kations- und Organisationstools bis hin zu kompletten veranstaltung legte den Fokus auf die Auswirkungen Vernetzungsplattformen war viel geboten. Die Paritäti- der Digitalisierung auf die Soziale Arbeit insgesamt sche Mitgliedsorganisation Condrobs präsentierte bei- und auf die Veränderungen im Arbeitsmarkt sozialer spielsweise ihre Online-Beratungsplattform, die sich Dienstleistungen im Speziellen (siehe BSN 2018, der Lebenswelt der (überwiegend jungen) Zielgruppe Ausgabe 4). Es wurde deutlich, dass die Digitalisierung anpasst und Klienten dort abholt, wo sie sich sowieso insgesamt mehr Arbeitsplätze schafft als vernichtet, aufhalten: im Netz. und dass insbesondere die Tätigkeiten der Sozialen Arbeit – viel mehr als andere Jobs – durch den Kontakt 3. ebene: Mitgliedsorganisationen von Mensch zu Mensch geprägt und darum weniger substituierbar sind. Zudem sollte die Digitalisierung Hauptzielgruppe des Projekts sind die 800 Mitglied- immer als Mittel zur Erreichung von Zielen betrachtet sorganisationen des Paritätischen in Bayern, die werden, nie als Zweck per se. Abgestimmte Tools wie gleichzeitig die grundlegenden Antworten auf wichtige Datenbanken oder Online-Kalender können beispiels- Projektfragen liefern: was sind die Herausforderungen weise Verwaltungstätigkeiten erleichtern und Wissen der Praxis, wo werden Potenziale gesehen, wie kann bündeln. Die zweite Veranstaltung im Bereich Orga- ein Spitzenverband gemeinnützige Organisationen auf nisationsentwicklung widmete sich agilen Prinzipien diesem Weg unterstützen? Die vier durchgeführten des Managements. Veranstaltungen haben gezeigt, dass ein übergreifender Austausch im Paritätischen auf Landes- und Bundes- Im weiteren Projektverlauf wird ein Fokus auf den ebene sowie den Organisationen und Vereinen an der Einsatz von digitalen Instrumenten in der verbandsin- Basis wichtige Erkenntnisse und Lösungen liefert. ternen Kommunikation gelegt, z.B. durch die Ver- Da die Digitalisierung in einer immer weiter vernetz- stetigung von Videokonferenzen, der Nutzung der ten Welt die Zahl der beteiligten Akteure erhöht und Kommunikationsplattform Slack und der Einführung komplexer macht, sollten auch die Antworten darauf gemeinsamer Veranstaltungstools. ebenfalls vielschichtig und kooperativ sein. 2. ebene: Sozial- und fachpolitische themen Soziale Arbeit ist sehr vielfältig. Die Liste der sozial- und fachpolitischen Themen, derer sich ein Digitali- sierungsprojekt annehmen könnte, ist entsprechend lang und umfassend. Hierzu zählen beispielsweise die Bereiche Bildung, Medienpädagogik, Altenhilfe, Pflege, Inklusion, Datenschutz, digitale Teilhabe, Bür- gerschaftliches Engagement und Plattformökonomie, Jan Gerspach um nur eine Auswahl zu nennen. Deswegen lautete Paritätischer Wohlfahrtsverband, eines der (herausfordernden) Projektziele, Schwer- LV Bayern e.V. punkte festzulegen. Projektleitung „Digitalisierung gestalten“ (02/2018-03/2019) Einer dieser Schwerpunkte lag 2018 auf dem frei- Weitere Informationen zum Projekt „Digitalisierung willigen Engagement. Gemeinsam mit der Versiche- gestalten“ unter rungskammer Stiftung organisierte der Paritätische das Forum Ehrenamt unter dem Motto „engagiert diskutiert www.paritaet-bayern.de/digitalisierung Bayerische Sozialnachrichten 1/2019 13
DigitALiSierung in Der SoziALen ArBeit Bürokratie begrenzen - Chancen nutzen Wie wir dem Pflegenotstand entschlossen entgegentreten können Noch schnürt uns der Pflegenotstand nicht die Luft ab, für Schritt einen Systemwechsel beim Thema Pflege doch seinen Würgegriff spüren wir schon jetzt. Wenn herbeizuführen. nicht bald an den entsprechenden Stellschrauben ge- dreht wird, blicken wir in den Abgrund einer handfesten Aufwertung des Berufsbildes Pflegekatastrophe. Hier sind nachhaltige Lösungen statt bürokratischer Unsinn gefragt. Eigentlich dürfte es gar keinen Personalnotstand in der Die Schere klafft fortlaufend weiter auseinander, der Pflege geben. Die Beschäftigungsperspektiven quer demografische Wandel wirft seine Schatten voraus: durch die Bundesrepublik sind gut und es bestehen Einer immer älter werdenden Bevölkerung stehen rück- attraktive Aufstiegsmöglichkeiten. Die Pflege ist ein läufige Personalzahlen im Fachkräftesektor gegenüber. absolut krisenfester Job, der erfüllend ist, eine hohe Und die Prognosen für die Zukunft sind alles andere als Arbeitsplatzsicherheit bietet und der für viele Menschen beruhigend, ganz im Gegenteil: Das Szenario wird sich sinnstiftend wirkt. Wer sich gegen einen Pflegeberuf in den nächsten Jahrzehnten eher verschärfen. Schon entscheidet oder beschließt, aus einem auszusteigen, tut heute stellt der Pflegenotstand zahlreiche Einrichtun- dies oft, weil körperliche sowie psychische Belastungen gen, auch die des BRK, vor große Herausforderungen zu hoch geworden sind. und bringt motivierte Fachkräfte in Krankenhäusern Wenn nur das liebe Geld nicht wäre. Eine intensive po- und Pflegezentren an ihre Belastungsgrenzen. Eine litische Diskussion um flächendeckende Tarifverträge Entwicklung, die nicht ohne Folgen bleibt: Überbe- in der Pflege hat bereits auf allen Ebenen begonnen, lastung führt zu krankheitsbedingten Ausfällen, perso- die Gefahren sind schon jetzt absehbar: Flächentarif- nelle Fluktuation verschlimmert die Situation vor Ort, vertrage haben den Nachteil, Verbands- und Trägerun- gleichzeitig müssen die Pflegeberufe immer noch mit terschiede zu verwischen und berücksichtigen nicht die einem Imageproblemen kämpfen. differenzierten Lebenshaltungskosten in den jeweiligen Das Dilemma: Obwohl im Grunde absolut krisenfest Regionen Deutschlands. Bei Dienstleistungen, die und mit hervorragenden Aufstiegsmöglichkeiten aus- ortsgebunden sind und nicht verlagert werden können, gestattet, verlieren die Pflegeberufe an Anziehungskraft ist es jedoch gerade an Standorten mit hohen Lebens- für Quer- und Neueinsteiger. haltungskosten wie Ballungszentren unabdingbar, Doch müssten mit den jüngsten Reformen auf Geset- Anreize wie beispielsweise am Mietzins festgemachte zesebene nicht eigentlich die Grundlagen für einen Lösungen zu schaffen. nachhaltigen Neustart geschaffen worden sein? Jein. Doch auch abseits finanzieller Aspekte gilt es, den Die bisher angedachten Gesetzesänderungen sind Pflegeberuf möglichst ansprechend zu gestalten. Eine zwar ein erster guter Schritt zur Bekämpfung des der wichtigsten Maßnahmen bei der Schaffung eines Pflegenotstands, jedoch lassen sich die von der Poli- Klimas, das dazu beiträgt, Mitarbeitende in den Einrich- tik angedachten Ansätze in der Praxis nicht so ohne tungen zu halten, ist, auf deren Bedürfnisse einzugehen weiteres umsetzten. Immer noch sind Hilfspakete, und Zufriedenheit zu schaffen. Bei einem Frauenanteil Finanzierungen und anderweitige Unterstützungen an von 80 Prozent heißt dies im Klartext, dazu beizutra- Auflagen gekoppelt, die sich nicht einhalten lassen. gen, dass sich Beruf und Familienleben nicht im Weg „Red Tape“, dieser Begriff umschreibt im Englischen stehen, zumal viele beruflich Pflegende häufig selbst das, wovon viele Prozesse des gesellschaftlichen und Angehörige pflegen. Daher sind verlässliche Angebote wirtschaftlichen Lebens in der Praxis ausgebremst wie beispielsweise eine mitarbeiterorientierte Dienst- werden: von der Bürokratie. plangestaltung unabdingbar, um mit einer „doppelten In Punkto Pflegenotstand gilt es, bürokratische Hürden Pflegeaufgabe“ weiter berufstätig zu bleiben. aus dem Weg zu räumen. Sonst werden in Zukunft die Pflegefachkräfte und Auszubildende zu halten, ist in Balken des Roten Kreuzes von schwerlöslichen Kle- Zeiten eines „kannibalistischen Wettbewerbs“ zwischen bestreifen überdeckt. Doch so berechtigt und essentiell den Branchen der Kranken- und Altenpflege, aber auch viele Forderungen an die Politik auch sind, so lassen zwischen den Verbänden, Trägern und Einrichtungen sich die Herausforderungen allein dadurch nicht meis- selbst zu einer echten Herausforderung geworden. tern. Daher bedarf es auch einem Umdenken im Roten Personalgewinnungsmaßnahmen wie Abwerbeprä- Kreuz, den weiteren Akteuren im Pflegesektor und der mien, Antrittsprämien oder Vermittlungszahlungen – Realisierung bisher ungenutzter Potenziale, um Schritt inzwischen „branchenüblich“ – sind keine wirksamen 14 Bayerische Sozialnachrichten 1/2019
DigitALiSierung in Der SoziALen ArBeit Instrumente, da die Mitarbeiter dadurch quantitativ und Anforderungen der gesundheitlichen Versorgungs- nicht mehr werden, sondern nur innerhalb des Systems planung für die letzte Lebensphase“ mutieren zu wahren rotieren. Der Wettbewerb kann nur über die Qualität der „Bürokratiemonstern“ der „Pflegeverwaltung“. Arbeit laufen und nicht über punktuell gezahlte Vergü- Ein weiteres Beispiel: Die Einführung der neuen „indi- tungen: Die Arbeitsbedingungen in der Altenpflege – katorengestützten Qualitätsmessung“ ab Oktober 2019. von Löhnen und Gehältern über die Personalbemessung Ein Instrument, das in fachlicher Hinsicht durchaus und die Personalschlüssel, bis zur Dienstplangestaltung überzeugt, jedoch einen fast nicht zu stemmenden und zur Wertschätzung der Pflegeberufe – müssen sich Schulungsaufwand für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen deutlich verbessern. erfordert. Bei der ohnehin bestehenden Personalknapp- heit aus jeder Einrichtung Mitarbeiter für Schulungstage Prüfungsniveau angleichen von der direkten Pflege abzuziehen, die danach ihrerseits wiederum in der Einrichtung ihre Kolleginnen und Kol- Wenn wir von Berufen sprechen, übersehen wir gerne legen weiterqualifizieren sollen, grenzt im bestehenden deren grundlegendes Wesensmerkmal, nämlich dass engen Zeitkorridor beinahe an einen „Pflege-Suizid“. diese systematisch erlernt werden wollen und meistens Hier bedarf es unbedingt längerer Fristen. Zumal die mit einem Qualifikationsnachweis versehen sind. Die „indikatorengestützte Qualitätsmessung“ nur ein Projekt Ausbildung spielt insbesondere in den Pflegeberufen unter vielen darstellt. eine zentrale Rolle, umso überraschender ist es, dass im Pflegepersonal-Stärkungsgesetz, Pflegeberufegesetz, Rahmen der neuen Gesetzgebung das Prüfungsniveau Versorgung im Palliativbereich: Hochanspruchsvolle für die Altenpflege abgesenkt wurde. Denn Fakt ist, Prozesse mit einhergehenden Systemwechseln, die dass diese Maßnahme eine kontraproduktive Wirkung jedoch auch die Frage aufwerfen, wieviel Veränderung hat, da das Berufsbild, entsprechend den Anforderun- überhaupt gestaltbar ist. Eine komplette Ausbildungs- gen, auf dem gleichen Niveau wie die Krankenpflege landschaft muss neu organisiert werden. All dies be- gehalten werden muss. deutet eine enorme Belastung auf Einrichtungsleitung, Pflegedienstleitung, Wohnbereichsleitung – die Füh- Akquise von ausländischem Fachkräftepersonal rungskräfte werden mit einer Fülle an neuen Aufgaben Neben dem primären Ziel, selbst Fachkräfte in Deutsch- überschüttet. land auszubilden, ist die Akquise von ausländischem Fachkräftepersonal bereits seit Jahren Thema im ge- „Vertrauenskultur“ statt „Misstrauenskultur“ samtem Deutschen Roten Kreuz. Mittels verschiede- Niedriges Prüfungsniveau in der Ausbildung, externe ner Programme und Projekte sowie der Beauftragung gesetzliche Qualitätskontrollen, bürokratische Über- von Recruiting Organisationen wird laufend darauf regulierung: All dies kratzt am Image eines eigentlich hingearbeitet, das Personalkontingent im Pflegesektor sinnstiftenden Berufsbildes. aufzustocken. Derzeit bereitet das BRK die deutschen Wenn zu Zeiten der Schneekatastrophe, bei der überall Pflegekräfte intensiv auf die Eingliederung der akqui- Haupt- und Ehrenamtliche eingesetzt werden müssen, rierten Pflegekräfte vor, da die Wenigsten Erfahrungen zum gleichen Zeitpunkt der MDK Bayern aber die haben mit interkultureller Zusammenarbeit. Was den Tagespflege auf Einhaltung der Standards prüft, dann Eingliederungsprozess zusätzlich bremst, sind die von kann das schon als Zumutung für die Betroffenen ge- den Bezirksregierungen vollzogenen langwierigen wertet werden. Denn im Zeichen sich verschärfender Prüfungsverfahren der Pflegequalifikation. Denn diese Bedingungen müssen wir wieder dahin kommen, dass nehmen sehr viel Zeit in Anspruch. Eine effektivere die Professionalität, mit dem entsprechenden Vertrauen Lösung würde hier viel bewirken. ausgestattet wird. Dies ist unabdingbar, um Menschen wieder für Berufe in der Abbau gesetzlicher und bürokratischer Überregulierung Pflege zu begeistern. Es hat sich schon einiges bewegt bei der Bekämpfung des Pflegenotstands. Doch wie so oft gestaltet sich die Umsetzung gesetzlicher Neuregelungen wie dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz oder dem Pflegeberufe- gesetz in der Praxis als weitaus schwieriger, als die gut gemeinten juristischen Weichenstellungen es angedacht Wolfgang Obermair haben. Zusätzliche ordnungsrechtliche Anforderungen Stv. Landesgeschäftsführer zur „Vergütungszuschlags-Festlegungen“ oder die Bayerisches rotes Kreuz „Vereinbarung nach § 132g Abs. 3 SGB V über Inhalte email: obermair@lgst.brk.de Bayerische Sozialnachrichten 1/2019 15
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