SOLIDARISCHE WELT Klima, Ernährung, Biodiversität - Landnutzung für unsere Zukunft
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SOLIDARISCHE WELT Klima, Ernährung, Biodiversität – Landnutzung für unsere Zukunft THEMENHEFT 2 I 2022
INHALT 3 Einführung Biodiversität, Klimaschutz und Produktion gesunder Nahrung Die Klima-, Biodiversitäts- und im Einklang Ernährungskrise und das Trilemma 25 Agrarökologie – Die Antwort auf das „Trilemma der Landnutzung der Landnutzung“ Von Isabel Armbrust und Sophie Cemrek; ASW 4 Der Wissenschaftliche Beirat Globale Umwelt- veränderungen schlägt eine radikale Landnutzungs- 26 Brasilien: wende vor Land, Artenreichtum und Ernährung Von Isabel Armbrust; ASW aus Sicht von Maisa Guajajara, Kabaiwun Munduruku und Iró Kumaruara, ASW Partner FAOR 7 Biodiversität, Klima und Mensch – Zeit für ein Umdenken 27 Indien: Von Christophe Mailliet; ASW Wie Ökoanbau Ernährung und Biodiversität sichert Interview mit Durgadevi von CENTREREDA 29 Große grüne Mauer – versandete Vision oder Hoffnung Landnutzungen in der Sackgasse auf einen grünen Sahel? Von Franziska Kohlhoff; ASW 12 Flächenfraß für Städte und Agrar-Großbetriebe: 30 Senegal: Wer entscheidet über Land im Senegal? Agroforstsysteme für Ernährung, Biodiversität und Klima Von Boubacar Diop; ASW Interview mit Fatimata Diop, APAF 15 Landgrabbing: eine bleibende Bedrohung 32 Burkina Fasos Goldminen sind Fabriken des Elends für Kleinbäuer*innen des Globalen Südens Wie ODJ den Kampf gegen Landgrabbing unterstützt. Von Isabel Armbrust; ASW Interview mit Mohamed Dagano 16 Keine Dekolonisierung des Naturschutzes in Aussicht 34 Togo: Von Linda Poppe; Survival International Wie ASW-Partner die Ernährungswende einleiten Interview mit Tata Ametoenyenou von OADEL 19 „Our Land, Our Nature“: Forderungen für einen menschenrechtebasierten Naturschutz Von Linda Poppe; Survival International 20 Die EU-Agrarpolitik - subventionierter Irrsinn auf Kosten der Biodiversität und der Kleinbäuer*innen weltweit Von Isabel Armbrust; ASW 21 Bäume pflanzen für’s gute Gewissen – Der CO2-Ablasshandel Von Franziska Kohlhoff; ASW 22 Die Kolonialisierung der Natur – Extraktivismus und seine Folgen Von Pauline Vogel Die Gaben der Natur: Spirituelle Begrüßung von Gästen durch die indigene Gemeinde Pinhel der Maytapu am Tapajósfluß in Amazonien. (Projektbesuchsreise von Silke Tribukait und Christophe Mailliet 2019) 2 I Solidarische Welt, Februar 2022
EINFÜHRUNG Liebe Leserinnen und Leser, selbst in ihren optimistischsten Szenarien geht die Kli- Dann beleuchten wir das „Trilemma der Landnutzung“ maforschung heute nicht mehr davon aus, dass die für von der Seite der Biodiversität her. Christophe Mailliet die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 bis maximal zeigt in seinem Beitrag, wie Biodiversität mit Landwirt- 2 Grad zwingend notwendige Klimaneutralität (zu errei- schaft, Klimawandel und anderen systemischen Prozes- chen bis ca. 2040) allein durch eine Rückführung der sen verwoben ist und dass der Niedergang der Biodiver- Emissionen bewerkstelligt werden kann. „Negative Emis- sität für die Menschheit ein immenses Risiko darstellt. sionen“, d.h. die Neutralisierung aktueller und alter Emis- sionen durch Wälder, Wiesen, Moore, Meere sowie tech- Im ZWEITEN TEIL des Heftes präsentieren wir sodann Bei- nische Lösungen spielen eine Rolle in allen Berechnun- spiele für einen nicht zukunftsfähigen Umgang mit Bo- gen, auch denen, die z.B. der Weltklimarat im August den: Landnutzungen in der Sackgasse. 2021 in seinen Bericht für politische Entscheidungsträ- Unser Mitarbeiter Boubacar Diop legt dar, wie ein unkla- ger*innen eingebaut hat. res Bodenrecht im Senegal zu immer mehr Aneignungen von kleinbäuerlichem Land durch große Akteure führt und Landbasierte Lösungen als Ersatz wie ländliche Gemeinschaften ihre Rechte zurückfordern. für ausbleibende Dekarbonisierung? Auf eine andere Art der Landaneignung geht der Beitrag von Linda Poppe ein: Die Mitarbeiterin von Survival Inter- Doch der Ansatz der CO2-„Entfernung“ und damit das national zeigt, wie ein neokoloniales Naturschutzkonzept Konzept der „Klimaneutralität“ birgt die Gefahr, dass mit über Jahrzehnte die Menschenrechte von ansässigen tra- ihm Versäumnisse in der CO2-Reduzierung kaschiert wer- ditionellen und indigenen Bevölkerungsgruppen igno- den. Daher hat sich schon 2020 der Wissenschaftliche rierte und wie es trotz neuer Erkenntnisse über die Nach- Beirat der Bundesregierung globale Umweltveränderun- haltigkeit indigener Lebensweisen weiterhin die Praxis in gen, WBGU, klar für eine Begrenzung der Kohlenstoffspei- den großen Schutzgebieten leitet. cherung ausgesprochen. Seine Studie „Landnutzung im Anthropozän“ legt der Auftraggeberin nahe, nur für eine Ein weiterer Artikel zu Extraktivismus und diverse kürzere genau festgelegte Restmenge von CO2 eine Neutralisie- Beiträge zu nicht nachhaltigen Landnutzungen machen rung zuzulassen. Und auch nur mit Verfahren, die keine das „Trilemma“ noch greifbarer. technischen Risiken bergen und gleichzeitig der biologi- schen Vielfalt und Ernährungssicherheit dienen. Im DRITTEN TEIL stellen wir dann unter Biodiversität, Kli- maschutz und Produktion gesunder Nahrung im Einklang Klimakrise, Artenschwund und Hungerproblem Landnutzungen im Globalen Süden vor, die zugleich Bio- ganzheitlich angehen diversität, Klimaschutz und die Ernährung sichern. Nach einer kurzen Einführung in den Ansatz der Agrarökologie In einer Zeit, in der immer mehr Flächen für die Produk- stellen drei indigene Menschen aus Brasiliens Amazo- tion von Nahrung und pflanzlichen Rohstoffen, für Berg- nasgebiet ihr Natur- und Schutzverständnis vor. Im Inter- bau, Klimaschutzprojekte und den Erhalt der Biodiversi- view erklärt eine indische ASW-Partnerin, wie Ökoland- tät benötigt und verplant werden, ist Landnutzung ein bri- wirtschaft die Ernährung von Dorfbewohnerinnen sichert santes Thema. Es entsteht ein „Trilemma“, denn Land ist und verschwundene Arten zurückholt. auf unserem Globus nur begrenzt verfügbar. Danach stellen wir die Agro-Forstsysteme unseres sene- Gelöst werden kann dies nur, so der WGBU und so auch galesischen Partners APAF vor, skizzieren das Projekt unsere Argumentationslinie, wenn jede Landnutzung Bio- Große Grüne Mauer in Afrikas Sahelzone und schauen auf diversität, den Klimaschutz und die Sicherung des Men- die Anstrengungen unseres Partners OADEL zur Änderung schenrechts auf Ernährung auf ein und demselben Stück der Ernährungsstile in Togo. Land in Einklang bringt. Zuletzt erklären unsere Partner*innen von ODJ in Burkina Faso, wie sie Gemeinschaften gegen Landraub und für Die wichtigsten Aussagen der WBGU-Studie „Landnut- Beteiligung an den Gewinnen aus dem Bergbau organi- zung im Anthropozän“ und die Forderungen an die Politik sieren. stellen wir im EINFÜHRENDEN TEIL unseres Heftes unter Die Klima-, Biodiversitäts- und Ernährungskrise und das Isabel Armbrust Trilemma der Landnutzung etwas detaillierter vor. Solidarische Welt, Februar 2022 I 3
DAS TRILEMMA DER LANDNUTZUNG Welche Lösung für Klima-, Biodiversitäts- und Ernährungskrise? Der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen schlägt eine radikale Landnutzungswende vor VON ISABEL ARMBRUST Im Juni 2021 sind Weltklimarat (IPCC) und Weltbiodi- Die Landnutzung der Welt versitätsrat (IPBES) erstmals mit einem gemeinsamen muss drei Anforderungen genügen Bericht und fächerübergreifenden Lösungsvorschlä- gen gegen Klimawandel und Artensterben an die Öf- Der Bericht spricht daher von einem „Trilemma“ der fentlichkeit gegangen. Damit haben die beiden UN-In- Landnutzung, aus dem es nur einen Ausweg gibt: Land stitutionen auch ein Zeichen für eine übergreifende muss künftig so genutzt werden, dass alle drei Ziele Klima- und Biodiversitätspolitik gesetzt. Denn bisher zusammen bedient werden. erfasst die Politik jede Krise getrennt und sucht spezi- Die Studie „Landwende im Anthropozän“ ist inso- fische Bewältigungsstrategien. fern überhaupt nicht das xte Werk zu nachhaltiger Landwirtschaft, sondern eine fundierte Auseinander- Schon 2020 hat der „Wissenschaftliche Beirat Globale setzung mit der Frage, wie die Landoberfläche des Glo- Umweltveränderungen“ (WBGU) der Bundesregierung bus, eigentlich ein Gemeingut der Menschheit und für eine ganzheitliche Lösung der großen Welt- und künftiger Generationen, so genutzt werden kann, dass Menschheitskrisen geworben. a) alle Menschen in Würde leben können und dass Mit der Studie „Landwende im Anthropozän“ b) die Erderwärmung sowie c) der Biodiversitätsverlust zeigt er, dass die Klimakrise, der Artenschwund und gestoppt werden. das Hungerproblem viel zu lange isoliert voneinander angegangen wurden. Klimaneutralität nur mit Hilfe von Land erreichbar Oft standen die Maßnahmen sogar in Konkurrenz, denn alle benötigen Land. Und das ist auf unserem Alle Regierungen der Welt haben es bis heute ver- Globus nur begrenzt verfügbar. säumt, den Ausstoß von CO2 und anderer Treibhaus- gase angemessen zu reduzieren und Richtung Null zu bringen. Daher sind die 2015 in Paris vereinbarten Ziele nur noch zu erreichen, so die Studie, „wenn, er- gänzend zur Dekarbonisierung der Weltwirtschaft, Landflächen genutzt werden, um der Atmosphäre Koh- lendioxid zu entziehen“. CO2 muss folglich entweder durch Aufforstungen oder durch natürliche oder tech- nische Lösungen in Pflanzen, im Boden oder Gestein gespeichert werden. Schon unser letztes Schwerpunktheft „Klimaun- gerechtigkeit“ (Februar 2021) setzte sich mit der Rolle dieser „negativen Emissionen“ beim Menschheitspro- jekt „Klimaneutralität“ auseinander. Unser Autor Tho- mas Fatheuer benannte dort u.a. die Gefahr, dass für Aufforstungen und technische Lösungen zur CO2-Bin- dung gigantische Mengen an Land beansprucht und damit der Ernährung der Menschen des globalen Sü- dens entzogen werden könnten. …. auf das Maß kommt es an Diese Gefahr sehen auch die WBGU-Autor*innen. Sie plädieren daher für eine „frühzeitige und ambitio- nierte Reduktion“ (Seite 4; wir zitieren aus dem Haupt- gutachten (1)) globaler CO2-Emissionen. Unter maxi- Mangrovenbiotop: Klimaschutz, Biodiversität und ökologische Fischzucht maler Transparenz sollten die Staaten dann zusätzlich vereint (ASW-Projekt ASANE im Senegal). nur noch einen genau bezifferten Anteil der CO2-Re- 4 I Solidarische Welt, Februar 2022
DAS TRILEMMA DER LANDNUTZUNG zu transformieren und dabei Menschen, agrarökologi- sche Praktiken und die Erbringung von Ökosystem- dienstleistungen ins Zentrum zu stellen.“ In der Praxis laufen diese Vorschläge auf eine Ökologisierung der gemeinsamen Agrarpolitik der EU, abgekürzt GAP, hinaus: Die heutigen Flächenprämien würden komplett in Zahlungen für „Ökosystemdienst- leistungen“, sprich Schutz der Biodiversität durch Er- halt von Mooren, artenreichen Wiesen, Wasserein- zugsgebieten etc. umgewandelt (S. 5). Agrarpolitik in Ökosystempolitik überführen Die Autor*innen fordern aber zu weiteren Schritten auf und halten mittelfristig die Etablierung einer „Gemein- samen Ökosystempolitik“ (GÖP) der EU für notwendig (S.278). Eine exklusiv auf die Landwirtschaft fokus- sierte Politik wie die heutige GAP gäbe es dann nicht mehr, Agrarpolitik würde mit Naturschutz, Ausbau von Der Ernährungsstil der EU mit hohem Fleischkonsum kann nicht globalisiert Schutzgebietssystemen, der Förderung nachhaltiger werden. Denn dazu bräuchte es 119% der weltweit verfügbaren Ackerfläche. Forstwirtschaft und dem Aufbau von landbasierten An- Foto: Gemüsemarkt in Indien sätzen zur CO2-Entfernung zu einem Ganzen ver- schmelzen. duktion durch landbasierte Lösungen erreichen dür- fen. Und nur durch solche Ansätze, die gleichzeitig Abkehr von unserem Ernährungsstil „erhebliche Mehrgewinne für biologische Vielfalt und Ernährungssicherheit“ bieten (S. 4). Dazu zählen u.a. Der Globus wird bis zum Jahr 2100 elf Milliarden Men- die Renaturierung von Mooren und anderer Feuchtge- schen zu ernähren haben, danach wird die Weltbevöl- biete, Erhöhung der Kohlenstoffbindung im Boden kerung nach Schätzungen der UNO wieder rückläufig durch nachhaltige Bewirtschaftung (S. 56), eine stand- sein. Aktuell leben acht Milliarden auf unserem Plane- ortgerechte Wiederaufforstung entwaldeter Flächen ten, bis 2050 sollen es 9,7 Milliarden sein. und besonders Agroforstsysteme, eben weil diese den Schon heute werden (in Kalorien bemessen) ge- Bezug zur Ernährung der Menschen haben. nügend Nahrungsmittel für diese 9,7 Milliarden pro- Die Aufforstung bisher nicht bewaldeter Flächen duziert. Hunger und Nahrungsunsicherheit auf diesem sollte dagegen kritisch geprüft werden (S. 4). Globus sind somit auch ein Verteilungsproblem. Auch bezüglich technischer Lösungen wie BECCS (Bio- Sollte allerdings der Ernährungsstil des industrialisier- energie mit Abscheidung von CO2 und dessen Spei- ten globalen Nordens mit seinem hohen Fleischkon- cherung als Biokohle) oder DACCS (direkte Gewinnung sum von den Menschen im globalen Süden übernom- von CO2 aus der Luft und Abspeicherung in Gestein; men werden, dann wird es auch von der Fläche her S. 56) haben die Autor*innen ihre Zweifel. Die Unsi- eng: Dann bräuchten wir 119 % der heute bewirtschaf- cherheiten bei den Verfahren seien noch zu groß (S. teten Ackerfläche, um alle zu ernähren. Schon heute 57) und außerdem würden neue Nutzungsansprüche gehen 70 Prozent des weltweit produzierten Getreides an Land begründet. Es drohen „Konflikte zu den Zielen ins Tierfutter. des Biodiversitätserhalts oder der Ernährungssiche- Das Fazit aus diesen Berechnungen ist so einfach rung“ (S. 58). wie klar: Der Ernährungsstil der Europäer*innen kann gar nicht globalisiert werden. Nahrung für alle durch eine naturnahe Land- wirtschaft Aus Sicht der Autor*innen muss also das Welt-Ernäh- rungssystem von Grund auf geändert werden, und Auch die heute vorherrschende, meist industrielle zwar so, dass für alle Erdbewohner*innen nicht nur ge- Landwirtschaft gefährdet langfristig die Welternäh- nügend Kalorien, sondern auch nahrhafte Nüsse, rung, der sie dienen soll, denn sie degradiert die Bö- Früchte und Hülsenfrüchte zur Verfügung stünden den, zerstört die Biodiversität und schädigt das Klima. (S.151). Der WBGU empfiehlt daher, die bislang weitgehend Außerdem sollten die realen Kosten der Degrada- „monofunktional auf Produktion ausgerichteten Land- tion von Ökosystemen und die von ihnen erbrachten wirtschaftssysteme in Richtung ökologisch intensiver Leistungen künftig „möglichst vollständig in die Preise multifunktionaler Systeme wie z.B. Agroforstwirtschaft für Nahrungsmittel einfließen“ (S. 6). Solidarische Welt, Februar 2022 I 5
DAS TRILEMMA DER LANDNUTZUNG Wer entscheidet, wer gestaltet mit? Obwohl der WBGU auf dieser Grundlage auch emp- fiehlt, „Planung und Management von Schutzgebieten partizipativ mit der indigenen und lokalen Bevölke- rung anzugehen“ (S. 107), ist von den indigenen „Na- turbewahrer*innen“ im vierten und letzten Teil der Studie zur Umsetzung der Landwende (Transformative Governance für einen solidarischen Umgang mit Land) kaum noch die Rede. Recht unkonkret wird dort die Frage abgearbeitet, wie alle Akteur*innen in eine „breite und solidarische Verantwortungsübernahme“ für das globale Gemein- gut der Landökosysteme einbezogen werden können. „Pionier*innen des Wandels“ gäbe es schon – sie würden z.B. durch solidarischen Konsum oder da- durch, dass sie ihr Land alternativ bewirtschaften, Die Anerkennung der Rechte indigener Gemeinschaften ist auch aus Sicht des eine solche Verantwortung zeigen. WBGU der beste Naturschutz. Foto: Indigene Dongria Kondh in Odisha, Indien Über „Preisanreize, freiwillige und verpflichtende Nachhaltigkeitsstandards, raumbezogene Pläne, Sub- ventionen“ sollten nun Staaten dafür sorgen, dass im- mer größere Teile der Gesellschaft für eine Landwende Indigene und lokale Gemeinschaften als Natur- gewonnen werden. bewahrerinnen Letztlich überwiegen bei den Vorschlägen der Autorin- Der WGBU empfiehlt eine Ausweitung von Schutzge- nen solche, die sich auf Anreize und gesetzliche Rah- bieten auf 30 Prozent der Landfläche – eine Größen- menbedingungen beziehen, sowie auf die Herstellung ordnung, für die sich die EU im Oktober 2021 beim vir- regionaler und staatlicher Kooperationen. tuellen Weltbiodiversitätsgipfel (im Frühjahr 2022 folgt Ein wenig zu sehr folgen damit die Governance- die Hauptkonferenz im chinesischen Kunming) ausge- Vorschläge der Autor*innen schließlich doch einem sprochen hat. Er zeigt sich dabei allerdings sensibel Top-Down-Ansatz. gegenüber dem Recht auf Selbstbestimmung indige- ner Gemeinschaften, die fast 30 Prozent der Erdober- Trotz dieser Schwäche halten wir den Bericht des fläche bewohnen. Nicht zufällig fällt ihr Siedlungsge- WGBU für eine extrem anregende Grundlage für jede biet weitgehend mit den schützenswerten Ökosyste- weitere Beschäftigung mit dem Thema Landnutzung men unseres Globus zusammen, denn ihre nachhal- und empfehlen zumindest die Lektüre der acht-seiti- tige Lebensweise hat über Jahrhunderte zu deren Er- gen Zusammenfassung uneingeschränkt. halt beigetragen. Daher seien „Wahrung und Anerkennung der Übrigens hat der WBGU schon in früheren Papieren Rechte der IPLCs (Indigenous Peoples and Local Com- originelle Ideen präsentiert: Im Vorfeld der UN-Klima- munities) essenziell für den Schutz (…) dieser wertvol- konferenz in Katowice, Polen, 2018, regte er einen Kli- len Ökosysteme“, so der WBGU in Berufung auf aktu- mapass für Klima-Geflüchtete an, mit dem diese elle Studien (S. 108). Staatsbürgerrechte in anderen Ländern erhalten wür- den.(2) „Staaten mit erheblicher Verantwortung für Nachdem früh schon die Welt-Biodiversitätskonven- den Klimawandel (z.B die USA, China, Katar, die EU- tion CBD (1992) und dann ab 2012 der Weltbiodiversi- Staaten und Russland) sollten sich als Aufnahmelän- tätsrat die Wichtigkeit der Indigenen beim Biodiversi- der für Personen mit Klimapass zur Verfügung stellen“, tätserhalt akzentuiert hatte, ist diese Position mittler- so die Überzeugung der Autor*innen. weile in vielen Organisationen wissenschaftlicher Kon- Schade, dass unsere Regierungen sich ein sol- sens und die Idee eines Naturschutzes, der mit Um- ches Gremium leisten, aber den dort erarbeiteten siedlung und Vertreibung von Menschen einhergeht, Empfehlungen bis jetzt so gar nicht nachgekommen verliert Anhänger*innen. Die Praxis vieler Naturschutz- sind. organisationen folgt aber leider nicht dieser Erkennt- nis. So wird z.B. der WWF, der im Juni 2021 mit einer (1) Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umwelt- Studie die Rolle der Indigenen als Naturschützer be- veränderungen (WBGU): „Hauptgutachten: Landwende im Anthropo- zän. Von der Konkurrenz zur Integration“, 2020 legte, sehr für die fortgesetzte Finanzierung von um- strittenen Schutzgebieten kritisiert (siehe Beitrag in (2) Im Politikpapier „Zeit–gerechte Klimapolitik: Vier Initiativen für diesem Heft Seite 16). Fairness“, August 2018 6 I Solidarische Welt, Februar 2022
BIODIVERSITÄT, KLIMA UND MENSCH Biodiversität, Klima und Mensch – Zeit für ein Umdenken VON CHRISTOPHE MAILLIET Die Beschäftigung mit dem Thema der Biodiversität ist Nutztiere und Menschen repräsentieren heute fast unerlässlich: Aus einem wissenschaftlichen Interesse, 96% aller lebenden Säugetiere. aufgrund der dem Menschen laut dem berühmten Bio- Mehr Spezies als jemals zuvor sind durch direkte logen Edward O. Wilson innewohnenden „Liebe zum menschliche Einwirkung vom Aussterben bedroht. Leben“ („Biophilie“), aber auch aus vielen weiteren Dazu gehören beispielsweise ca. 1/3 aller Süßwasser- Perspektiven. Fische. Auch die Bestände von sogenannten „Mega- Den Begriff der Biodiversität gibt es erst seit Mitte fischen“ – also der Arten, die für die Ernährung von der 1980er Jahre. Er bezeichnet im öffentlichen Dis- hunderten Millionen Menschen von essentieller Be- kurs sowohl die sogenannte Artenvielfalt (die wissen- deutung sind – sind um 94% zusammengebrochen. schaftlich nur sehr ungenügend erfasst ist – Schätzun- Jedes Jahr verschwinden hunderte Arten für immer, gen der Gesamtanzahl aller Arten variieren stark) als nachzulesen auf der sogenannten „Roten Liste“ der auch im weitesten Sinne „die Natur“, die aus einer IUCN. Und seit Ende 2020 existieren auf der Erde mehr Vielzahl von Ökosystemen besteht. Weiterhin beinhal- vom Menschen hergestellte Dinge (vom Nagel bis zum tet er verschiedene Unterkonzepte (genetische Diver- Wolkenkratzer) als Pflanzen, Tiere und andere Lebe- sität, Ökosystem-Diversität, etc.), die eine bestimmte wesen. Facette konkreter beleuchten. Eine einheitliche Defi- nition gibt es nicht, und es ist nie ganz klar, welche in welchem Zusammenhang genutzt wird. Es besteht hier eine große Ähnlichkeit mit dem Begriff der „Nachhal- tigkeit“, der ebenfalls nur schwammig definiert ist und letzten Endes seine Bedeutung aus dem jeweiligen Kontext bezieht. Um dem Diskurs rund um Biodiversität eine Grundlage und analytische Schärfe zu geben, wird folgende De- finition vorgeschlagen: Biodiversität ist eine Eigen- schaft von Ökosystemen, die die Vielfalt innerhalb die- ser Ökosysteme beschreibt. Also von den Mikroorga- nismen wie Viren, Bakterien, Einzellern etc., hin zu Pil- zen und Pflanzen, um über die Wirbeltiere schließlich ans Ende der Nahrungskette zu gelangen – wozu man letzten Endes auch den Menschen zählen muss. Die Beschreibung der Vielfalt aller dieser Lebensformen innerhalb eines Ökosystems kann aber nur dann voll- Ein Drittel aller Süßwasserfisch-Arten ist heute vom ständig und sinnvoll sein, wenn auch Wechselwirkun- Aussterben bedroht gen, Abhängigkeiten und äußere Faktoren (wie zum Beispiel ein sich veränderndes Klima oder ein durch Ressourcen-Abbau verschwindendes Biotop) mit er- Wieso ist Biodiversität wichtig? fasst werden. Dass die Biodiversität durch den Einfluss des Wie viele Arten von Schmetterlingen (Vögeln, Fischen, Menschen und das sich (in „Erdzeit“) rasant verän- Würmern…) „braucht man“? Weiß man überhaupt, wie dernde Klima in einem Ausmaß bedroht wird, wie sie viele Arten es gibt? Welche Rolle spielt es, wie viele es es seit dem Verschwinden der Dinosaurier nicht mehr sind, solange die „wichtigen“ überleben? Und ist es wurde, machen wenige Zahlen klar. Inzwischen geht nicht egal, wie viele Arten von Wespen in Deutschland man davon aus, dass in den letzten 150 Jahren ca. 77% leben? Denn Wespen „sehen alle gleich aus“, sind eh der Landmasse (die Antarktis ausgenommen) und „nervig“ und erfüllen für den Menschen keinen sofort 87% der Weltmeere durch menschliche Aktivitäten ver- erkennbaren „Zweck“, oder? ändert wurden. Dies ging einher mit einem sogenann- Wenn man anfängt, sich mit der Bedeutung von ten Biomasse-Verlust von ca. 83% aller wilden Säuge- Biodiversität zu beschäftigen, landet man relativ tiere und einem Verlust von ca. der Hälfte der Pflanzen. schnell bei solchen Fragen. Diese werden gerne von Solidarische Welt, Februar 2022 I 7
BIODIVERSITÄT, KLIMA UND MENSCH den Gegner*innen von „zu viel Naturschutz“ gestellt, lich genutzt werden, sondern auch neue Rassen und wenn „wieder einmal“ ein neuer Autobahnabschnitt Sorten über Generationen durch Auslese und Einkreu- nicht gebaut werden kann, weil an der vorgesehenen zungen (bspw. von wilden Varietäten einer Nutz- Strecke eines der letzten Habitate einer seltenen pflanze) von Bäuer*innen entwickelt werden. Inzwi- Echse, Fledermaus oder Orchidee liegt. schen sind allerdings diese uralten Techniken durch Solchen Fragen liegt ein extrem reduziertes Verständ- Bio- und Gentechnologien ergänzt worden, die die Ge- nis von Biodiversität zugrunde, das Lebewesen in fahr bergen, mit ihren im Labor kreierten Sorten alte grobe Kategorien unterteilt und diese ausschließlich Pflanzenvarietäten oder die Wildformen und damit de- nach ihrem direkten Nutzen aus Sicht des Menschen ren Genpool zu verdrängen. bewertet – und für „erhaltenswert“ deklariert oder Schlussendlich baut ein wichtiger Teil des Touris- nicht. Diese sogenannten „Ökosystem-Dienstleistun- mus-Sektors auf intakte Landschaften und die Mög- gen“ sind ohne Zweifel essentiell, doch es gibt weitere lichkeit, verschiedene Tier- und Pflanzenarten in ihrer Aspekte, die nicht minder wichtig sind. natürlichen Umgebung beobachten zu können. Ökonomisch betrachtet, trägt Biodiversität zur Verfüg- Ökologisch betrachtet, ist die Biodiversität die Basis barkeit von vielfältigen Lebensmitteln, Rohstoffen für für die natürlichen Evolutionsprozesse des Lebens. Sie Industrie und Handel, Medikamenten und Heilmitteln, spielt eine essentielle Rolle bei der Regulierung der Baumaterialien und Gebrauchsgegenständen bei. Sie physikalischen und chemischen Zyklen der Biosphäre, bildet die Basis für Landwirtschaft, indem nicht nur insbesondere was die Produktion und Speicherung zahlreiche Arten von Tieren und Pflanzen wirtschaft- von Sauerstoff bzw. Kohlenstoff durch die Photosyn- these betrifft. Mikro-Organismen, Pilze, Pflanzen, In- sekten, Würmer etc. sind für die Fruchtbarkeit der Bö- den und den Süßwasserkreislauf extrem wichtig, und spielen eine wichtige Rolle beim Abbau und der Ver- wertung von organischen und mineralischen Abfall- produkten, so wie bspw. nitrifizierende Bakterien bei der Gewinnung von Trinkwasser. In diesem Sinn ist jede Art von Lebewesen, die ausstirbt, ein unwieder- bringlicher Verlust, denn mit ihr verschwindet auch ein Baustein in einem funktionierenden Ökosystem, das dann irgendwann kollabiert. Ethisch betrachtet, steht die Menschheit einerseits vor der moralischen Verpflichtung, andere Lebensformen nicht zu zerstören und ist andererseits gegenüber nachfolgenden Generationen dazu verpflichtet, in- takte Lebensgrundlagen zu hinterlassen. Immer mehr Menschen erkennen auch zunehmend den inneren Wert von Biodiversität und intakten Lebensräumen, die nicht nur durch ihre überwältigende Schönheit äs- thetisch berühren, sondern auch auf einer emotionel- len und spirituellen Ebene mit Werten wie Harmonie, Natürlichkeit, Liebe zum Leben, Fürsorge etc. in Ver- bindung gebracht werden. Zum Beispiel in einer Hin- wendung oder Rückbesinnung zu „Mutter Erde“ (siehe S. 26 in diesem Heft). Es ist aber noch ein langer Weg, bis sich dies in konkretem Handeln und einem echten Wandel widerspiegelt. In diesem Sinne ist die Beschäftigung mit dem Er- halt der Biodiversität eine Aufgabe, die sowohl für ver- schiedene Bereiche der Gesellschaft von essentieller Bedeutung ist, als auch für jede*n einzelne*n von uns auf individueller Ebene. Und endlich wird auch im politischen und wissen- schaftlichen Diskurs die unmittelbare Verknüpfung Biodiversität ist seit Generationen auch die Grundlage für die Züchtung neuer dieses Themas mit der Bekämpfung des Klimawandels Tierrassen und Pflanzensorten durch Bäuer*innen und der menschlichen Entwicklung – insbesondere 8 I Solidarische Welt, Februar 2022
BIODIVERSITÄT, KLIMA UND MENSCH Sogar Mais lässt sich so anbauen, dass er dem Klima, der Bodenfruchtbarkeit und der Biodiversität nicht schadet. Foto: Bauernfamilie in Togo bezüglich der Ernährungssicherheit – anerkannt. Dies aber auch für die Ernährungssicherheit der globalen wirft einerseits neue Fragestellungen auf, unterstreicht Bevölkerung. aber auch die Notwendigkeit von ganzheitlichen Lö- Es ist auch unbestritten, dass der Klimawandel sungen in diesen Bereichen. die Risiken für die Biodiversität sowie für natürliche und bewirtschaftete Ökosysteme verstärkt. Gleichzei- Erhalt der Biodiversität, Bekämpfung des Kli- tig spielen diese Ökosysteme und eine intakte Biodi- mawandels und Ernährung: versität eine Schlüsselrolle im Emissionen-Kreislauf Wie kann alles gleichzeitig funktionieren? und in möglichen Anpassungsstrategien an den Klima- wandel. Ca. 50% aller vom Menschen verursachten Auch wenn es schon seit mehreren Jahren internatio- CO2-Emissionen werden aktuell durch Photosynthese nale Bemühungen gibt, sowohl den Klimawandel (im und Kohlenstoffspeicherung in der Biomasse sowie Rahmen der UN Framework Convention on Climate durch Absorption in den Weltmeeren (was allerdings Change, und gesteuert durch den Intergovernmental zur Versauerung der Ozeane beiträgt) der Atmosphäre Panel on Climate Change, IPCC) als auch den Verlust entzogen. Jede weitere Zerstörung von Ökosystemen der Biodiversität (im Rahmen der Convention on Bio- und der darin enthaltenen Biomasse trägt also zu ei- logical Diversity, und gesteuert durch die Intergovern- nem beschleunigten Klimawandel bei. mental Platform on Biodiversity and Ecosystem Ser- vices, IPBES) zu bekämpfen, wurden die vorgeschla- Biodiversität und Klima eng verschränkt: genen Maßnahmen bisher weitgehend unabhängig IPCC und IPES tagen zusammen voneinander entwickelt. Es herrscht aber darüber Kon- sens, dass die Wechselwirkungen zwischen beiden Ende 2020 hielten IPCC und IPBES zum ersten Mal ei- Phänomenen einen wesentlichen Einfluss darauf ha- nen umfangreichen gemeinsamen (Online)-Workshop ben, ob solche Maßnahmen erfolgreich sind oder ab, der versuchte, nicht nur mögliche Lösungen und nicht, bzw. ob sie nicht sogar kontraproduktiv sein Fallstricke dieser beiden Krisen zusammen herauszu- könnten. Hinzu kommt, dass die Auswirkungen auf so- arbeiten, sondern auch die benötigten Anstrengungen ziale Systeme und wesentliche Aufgaben wie die Er- zu beschreiben, die in Wirtschaft, Technologie, (Um- nährung der Menschheit oftmals nur ungenügend mit welt-)Politik, Gesellschaft, etc. nötig sind. Das wesent- berücksichtigt werden. Dies ist insbesondere bei Fra- liche Ergebnis ist, dass vermeintliche Zielkonflikte zwi- gen der Landnutzung der Fall, wo immer mehr Flächen schen Klimawandel-Bekämpfung, Erhalt der Biodiver- der industriellen Landwirtschaft weichen müssen – sität, und menschlicher Entwicklung auflösbar sind, mit katastrophalen Folgen für Biodiversität und Klima, auf der Basis einiger wesentlicher Erkenntnisse: Solidarische Welt, Februar 2022 I 9
BIODIVERSITÄT, KLIMA UND MENSCH – Die Begrenzung des Anstieges der globalen Tempe- chen, dass sich eine ganzheitliche Sicht auf diese Pro- raturen und der Schutz der Biodiversität sind sich bleme durchsetzt. Gleichzeitig wird aber auch noch ergänzende und gegenseitig verstärkende Ziele. Nur einmal deutlich, dass in vielen Bereichen schon längst wenn sie zusammen erreicht werden, können wir ei- hätte gehandelt werden müssen, beispielsweise in der nen bewohnbaren Planeten erhalten und nachhal- Energie- und in der Lebensmittelproduktion. So wer- tige und gerechte Lebensgrundlagen für die den laut einem Report der UNEP 86% aller bedrohten Menschheit schaffen; Arten durch die industrielle Landwirtschaft direkt ge- – Viele Maßnahmen zum Schutz und zur Wiederher- fährdet. Der von diesen Gremien geforderte Schutz stellung von Ökosystemen auf dem Land und in den von mindestens 50% der Landfläche und der Ozeane Meeren tragen auch direkt zur Bekämpfung der Fol- schließt aber explizit nicht eine nachhaltige Nutzung gen des Klimawandels und des Verlustes von Bio- dieser Gebiete aus, wie sie schon lange durch tradi- diversität bei; tionelle und indigene Gemeinschaften erfolgt. Er – Maßnahmen, die sich zu eng auf die Anpassung an, macht auch klar, dass der Schutz solcher Gebiete und bzw. Bekämpfung der Folgen des Klimawandels fo- der darin enthaltenen Biodiversität eine Aufgabe ist, kussieren (wie bspw. technologische CO2-Speiche- die nicht an nationalen Grenzen halt machen kann rung, Monokultur-Aufforstung, etc.) können nega- und die von den betroffenen Gemeinschaften mit ge- tive Folgen auf die Natur und deren „Dienstleistun- tragen werden muss. Ebenso wird klar, dass eine wei- gen“ für den Menschen haben; tere Zerstörung der Natur letztlich auch ein Verbrechen – Maßnahmen, die primär auf den Erhalt der Biodi- an den Menschen ist, die in, von und mit dieser Natur versität fokussiert sind, haben in der Regel auch po- leben. sitive Effekte auf das Klima. Diese Effekte könnten aber noch größer sein, wenn solche Maßnahmen Natur ist ein Gemeingut und Menschen sind die Bekämpfung des Klimawandels und die Bedürf- Teil von ihr nisse der Menschen gleich mitdenken; – Die Biodiversität, das Klima und die menschliche Immer mehr Organisationen und Aktivist*innen welt- Gesellschaft müssen als miteinander gekoppelte weit fordern deshalb, dass der sogenannte „Ökozid“ Systeme betrachtet werden, wenn Maßnahmen zu gleichrangig mit Verbrechen gegen die Menschlich- deren Erhalt und Entwicklung erfolgreich sein sol- keit, Kriegsverbrechen, Angriffskriegen und Völker- len; und mord in das sog. Römische Statut des Weltgerichts- – Nur durch tiefgreifende Veränderungen in Gesell- hofs aufgenommen wird. Wobei auch für „Ökozid“ ver- schaft und Wirtschaft kann eine nachhaltige und schiedenen Definitionen vorliegen – die Organisation stabile Zukunft geschaffen werden. „End Ecocide On Earth“ definiert ihn als „umfangrei- che Schädigung oder Zerstörung (…) der globalen Ge- Im verfügbaren, sehr lesenswerten Resümee dieses meingüter oder der irdischen Ökosysteme, auf welche Workshops sind zahlreiche Fakten und Lösungswege alle Lebewesen im Allgemeinen sowie die Menschheit beschrieben*, die zumindest ein wenig Hoffnung ma- im Besonderen angewiesen sind.“ Eine solche Aufwertung des Ökozids würde einen Abschied von der „westlichen“ Haltung, dass der Mensch gewissermaßen „außerhalb“ der Natur steht und sich diese „Untertan machen soll“, voraussetzen. Es müsste endlich anerkannt werden, dass wir Men- schen einem Netzwerk angehören, dessen Teile sich gegenseitig und dessen Ganzes alle am Leben erhal- ten. Dass die Natur auf einer Ebene mit uns Menschen steht und wir mit ihr eins sind. In Indien und in Neuseeland wurden deshalb der Natur auch schon eigene Rechte zugestanden, und in Frankreich wurde 2020 die Straftat des Ökozids einge- führt (wenn auch nur auf das nationale Territorium be- grenzt). Das kann immerhin ein Anfang sein. * Der vollständige Bericht des „IPBES-IPCC co-sponsored workshop report on biodiversity and climate change“ und Das Frosch-Genom entspricht in großen Teilen dem der dazugehörige wissenschaftliche Bericht („Scientific des Menschen, wie die Forschung schon vor 10 Jah- Outcome“) sind online zu finden unter: ren belegte. Was belegt besser, wie sehr wir Teil der https://ipbes.net/events/launch-ipbes-ipcc-co-sponsored- Biosphäre sind? workshop-report-biodiversity-and-climate-change 10 I Solidarische Welt, Februar 2022
Landnutzung in der Sackgasse Mais-Monokultur für Biogas: Kein Platz für Insekten und Vögel Solidarische Welt, Februar 2022 I 11
SACKGASSEN DER LANDNUTZUNG Flächenfraß für Städte und Agrar- Großbetriebe: Wer entscheidet über Land im Senegal? VON BOUBACAR DIOP Im Senegal hat der Staat ein absolutes Monopol auf Welche Politik verfolgt der Staat bei der Frage die Bewirtschaftung, Nutzung und Verwaltung von der Landnutzung? Land. Mit dem 1964 verabschiedeten Gesetz über die nationale Domäne (loi sur le domaine national) ist der Diese Gesetzgebung, die eine Rechtsgrundlage für die Staat Eigentümer von 95 % des Landes. Er kann Flä- staatliche Kontrolle über den Boden schafft, ermög- chen dieser „nationalen Domäne“ für die Nutzung licht es dem Staat auch, die Leitlinien für die Boden- freigeben und bestimmten Nutzer*innen zuweisen. politik festzulegen. Das Hauptziel ist die Erschließung von Flächen zur Verbesserung der Produktivität. Dies setzt voraus, dass der Zugang zu Land für private In- vestoren erleichtert und Land nur an Personen verge- ben wird, die in der Lage sind, das Land durch eine er- hebliche Kapitalinvestition zu bewirtschaften. Dies wurde in den 2000er Jahren mit dem Auf- kommen des liberalen Regimes von Abdoulaye Wade verstärkt. Die Zuteilung von Großflächen hat erheblich zugenommen, denn die Politik räumt der Agrarindus- trie Vorrang ein – zum Nachteil der landwirtschaftli- chen Familienbetriebe. Aktuelle Beispiele von Landgrabbing In diesem Zusammenhang wurden 2011 dem italieni- schen Unternehmen Senethanol in der ländlichen Ge- meinde Fanaye 20.000 Hektar Land zugeteilt. Proteste der Bevölkerung gegen diese staatliche Entscheidung führten zum Tod von zwei Anwohnern. Heute gibt es weitere Beispiele in Mbane, Gnith, Doddel, Demette oder Diokoul. Der jüngste Fall ist der von Ndiael, wo die Bevölkerung von 40 Dörfern gegen die Vergabe von Neubausiedlung bei Dakar 46.550 Hektar Land durch den senegalesischen Staat an einen rumänischen Investor kämpft. Diese groß an- Unter der Kontrolle des staatlichen Vertreters auf lo- gelegten und politischen Landzuteilungen erfolgen kaler Ebene haben die ländlichen Gemeinden seit den sehr oft ohne jegliche Einbeziehung und Beteiligung 1950er Jahren die Möglichkeit, der lokalen Bevölke- der lokalen Bevölkerung und ohne Berücksichtigung rung in ihren Gebietskörperschaften Land zuzuweisen der lokalen Gegebenheiten. Diese Haltung des heuti- oder zu entziehen. Die natürlichen oder juristischen gen senegalesischen Staates ist eine Fortsetzung sei- Personen, denen die Flächen zugewiesen werden, nes kolonialen Erbes. können diese nutzen, sind aber nicht die Eigentü- mer*innen. Kolonialrecht und Gewohnheitsrecht Um ein sicheres Recht an dem Grundstück zu ha- ben, muss ein Antrag auf Eintragung beim Staat ge- Das Landbesitzsystem während der Kolonialzeit wurde stellt werden, der das ausschließliche Recht daran durch drei Dekrete geregelt: Ein Dekret vom 20. Juli hat. 1900 galt speziell für den Senegal, das Dekret vom 29. Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes über nationa- September 1928 und das Dekret vom 15. November les Eigentum wurde der Staat Eigentümer aller unbe- 1935 regelten den Landbesitz in ganz Französisch- bauten und nicht im Besitz befindlichen Grundstücke, Westafrika. Ziel war es, das westliche Konzept des Ei- d. h. der Grundstücke, die 10 Jahre lang nicht genutzt gentums- und Bodenrechts auf die kolonisierten Ge- oder aufgegeben worden waren. biete zu übertragen. 12 I Solidarische Welt, Februar 2022
SACKGASSEN DER LANDNUTZUNG Das Gewohnheitsrecht (Droit coutumier ou tradition- nel) wurde in den Hintergrund gedrängt. Es wurde von den traditionellen Behörden, den so genannten „La- manes“, organisiert. Nach dem Gewohnheitsrecht ge- hörte das Land demjenigen, der sich zuerst darauf nie- derließ, und reichte so weit, wie seine Arbeitskraft reichte. Andere Mitglieder der Familie oder der Ge- meinschaft hatten freien und direkten Zugang dazu. Dieses Gewohnheitsrecht wurde vom kolonialen Recht ignoriert. Daher wurden die Kolonisierten dazu ge- drängt, ihr Recht am Land durch einen Verwaltungsti- tel anerkennen zu lassen. Wie ist das Verhältnis zwischen der aktuellen Gesetzgebung und dem „droit coutumier“? Als der Senegal in den 1960er Jahren seine Unabhän- gigkeit erlangte, erbte der Staat zwei völlig unter- schiedliche Landbesitzsysteme: Kolonialrecht und Ge- Welche Zukunft haben Senegals Dorf- wohnheitsrecht. Um die Situation zu harmonisieren, bewohner*innen? verabschiedete er das Gesetz über die nationale Do- mäne und setzte sich als absoluter Herr des Landes ein. Dieses Gesetz besteht noch heute und regelt nach wie vor alle Aktivitäten rund um die Landverteilung. meinden im Bereich des Landbesitzes stärken sollte, Aber es war ein Fehlschlag. Das Hauptziel, die was jedoch nicht gelang. Wiederherstellung der sozialen Gerechtigkeit bei der Das Gleiche gilt für den 2004 eingebrachten Ent- Landbewirtschaftung und des demokratischen Zu- wurf eines Gesetzes über Viehhaltung und Waldnut- gangs, wurde bisher nicht erreicht. Das Gesetz ist dis- zung, das nie in Kraft trat. Die Vorschläge der 2005 ein- kriminierend gegenüber Frauen, Eingewanderten und gerichteten Nationalen Kommission für die Reform des Armen. Außerdem ist es kaum wirksam und wird weit- Bodenrechts und der 2012 eingesetzten Nationalen gehend umgangen. Die Menschen halten sich nicht Kommission für die Bodenreform wurden nicht weiter- einmal an die allgemeinen Bestimmungen. verfolgt. Die Behörden tun nichts, um die Situation zu Nach dem Gesetz gehören die betroffenen Grund- verändern. Es besteht ein stillschweigendes Interesse stücke weiterhin dem Staat und können daher weder an der Aufrechterhaltung des Status quo, von dem die verkauft noch vererbt werden. Ebenso können nur die politische und religiöse Elite profitiert. in einer Gemeinde lebenden Menschen eine Zuwei- sung zu ihren Gunsten erhalten. Land für expandierende Städte oder für die Die Realität sieht ganz anders aus, denn die Im- menschliche Ernährung? mobilientransaktionen auf nationaler Ebene haben drastisch zugenommen. In den Gemeinden hat sich Der Senegal folgt dem weltweiten Trend zur raschen ein Klientelismus entwickelt, der völlig illegale, aber Urbanisierung. Ländliche Gebiete, die unter den Fol- von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptierte Land- gen des Klimawandels leiden, mit Krisen in der Land- transaktionen begünstigt. Der Präsident der Republik, wirtschaft kämpfen und kaum Zugang zu grundlegen- Macky Sall, hat selbst erklärt, dass die meisten Kon- den sozialen Dienstleistungen haben, werden nach flikte, mit denen er sich häufig befassen muss, mit und nach entvölkert. Die Menschen ziehen es vor, in dem Land zusammenhängen. Diese konfliktreiche Si- den Städten nach einer besseren Zukunft zu suchen. tuation und die fehlende Anerkennung der Rechte der Die Landflucht hat erhebliche Auswirkungen auf Menschen führen zu Rechtsunsicherheit, die eine Ver- die ländlichen Gebiete – zurück bleiben oft nur die äl- besserung der Lebensbedingungen, insbesondere in teren Menschen. Die Städte werden immer voller. Die ländlichen Gebieten, verhindert. Regionen Dakar und Thiès sind am stärksten von die- sem Zuzug betroffen. Ein unvollendetes Landreformprogramm Wo bleibt das Mitspracherecht der Menschen? Um diese Situation zu verändern, wurden verschie- Die Beispiele Dakar und Thiès dene Reformversuche unternommen. In den letzten 20 Jahren sind alle Initiativen unvollendet geblieben. Be- 25 Prozent der senegalesischen Bevölkerung leben in reits 1996 wurde der Entwurf eines Aktionsplans für der Region Dakar, obwohl diese nur 0,28% des sene- Land initiiert, der die Befugnisse der ländlichen Ge- galesischen Territoriums (550 km2) ausmacht. Die Be- Solidarische Welt, Februar 2022 I 13
SACKGASSEN DER LANDNUTZUNG schen entschieden, was mit ihrem Land und dem Ort geschehen soll. In dem Dorf Bambylor haben viele Bauern ihr Land zu sehr niedrigen Preisen abgegeben, weil sie Angst hatten, es zu verlieren. Es waren Ländereien, die sie seit mehreren Jahrzehnten nutzten und die sie geerbt hatten, für die sie aber keine Verwaltungstitel besa- ßen, die ihr Eigentum garantierten. Die Region Thiès bleibt von diesen staatlichen Großprojekten, die das Ackerland der Kleinbauern ver- schlingen, nicht verschont. Der internationale Flugha- fen Blaise Diagne ist ein Beispiel dafür. Und in Diam- niadio wurde eine ganz neue Stadt gebaut, in deren neue Verwaltungsgebäude auch viele Ministerien ge- zogen sind. Bei diesen Megaprojekten zeigt der Staat seine ganze Macht und sein Monopol bei der Gestaltung der Bo- denpolitik. Die Menschen haben kaum eine Mitspra- Blick vom Berg Les falaises des mamelles beim alten Flughafen Dakar: Wo viele chemöglichkeit und ihre Felder müssen den Baustel- sich die grüne Lunge von Senegals Hauptstadt erhofft hatten, fressen sich nun len weichen. Neue Wohnungen, die sich enteignete Häuser ins Land. Bauern nicht leisten können, schießen wie Pilze aus dem Boden. In einigen Gemeinden wurden für den Be- völkerung der Region ist von 400.000 in den 1970er darf der Wohlhabenderen bereits zahlreiche Woh- Jahren auf 3,9 Mio im Jahr 2021 gewachsen. Das be- nungsbaugenossenschaften gegründet, vor allem in deutet einen Anstieg von 5 % pro Jahr. Die Region Bambylor, wo es die Akys-Siedlung, die Comico-Sied- Thiès hat etwas mehr als 2 Mio Einwohner. lungen und die BICIS-Siedlung gibt. Jede Genossen- Diese Regionen bestanden aus einem städtischen schaft hat mindestens 3.000 Wohnungen errichtet. und einem ländlichen Gebiet. Die „Niayes“ genannten ländlichen Gebiete an der Atlantikküste bildeten die Diese unkoordinierte Verstädterung und Kornkammer der Regionen und versorgten die Märkte Landaneignung bringt viele Probleme mit sich. der Hauptstadt und der städtischen Zentren mit Obst und Gemüse. Die Landbevölkerung in diesen Gebieten Die grundlegendsten Umwelt- und Hygienestandards war hauptsächlich im Gemüseanbau und in der Vieh- werden oft missachtet und der Zugang zu Wasser wird zucht tätig. Die bäuerlichen Familienbetriebe waren für die Bevölkerung immer schwieriger. In den Regen- die wichtigsten Produzent*innen. Fast jede Familie monaten kommen Überschwemmungen dazu. hatte ein Stück Land, das sie im Regen und in der Tro- Bäuer*innen, die ihres Landes beraubt wurden, ckenzeit bewirtschaftete. Dieses Gebiet war die grüne sind gezwungen, ihren Beruf zu wechseln. Diejenigen, Lunge der beiden Regionen und bot ein natürliches, die ihr Land verkaufen konnten, versuchen oft, nach grünes Lebensumfeld, in dem die Artenvielfalt erhal- Europa auszuwandern oder einem ihrer Kinder die ten blieb. Reise zu finanzieren. Die Ortschaften verlieren ihre Menschen, ihr so- Siedlungen für die Mittelschicht verdrängen ziales Leben und ihr Gesicht. Und mit den Bäumen, die Kleinbäuerinnen der Bauboom gefordert hat, sind auch viele Vögel und andere Tiere verschwunden. So werden die Menschen, Doch seit den 2000er Jahren geht der Trend dahin, für die die Dörfer nur noch Schlafplatz sind, weil sie in dass Felder und landwirtschaftliche Produktionsflä- den Städten arbeiten, auch hier morgens nicht mehr chen in erheblichem Maße verschwinden, um Platz für von Vogelstimmen geweckt, sondern von Autohupen. Wohnungen zu schaffen. Die Städte sind voll und die Mietkosten in Dakar sind drastisch gestiegen. Lösun- gen sind gefragt. In den Gemeinden Bambylor, San- galkam und Tivaouane Peul in der Region Dakar wur- den Bauern und Familienbetriebe gezwungen, ihr Land zu verkaufen – es wurde für große staatliche und pri- vate Immobilienprojekte benötigt. Ministerien erstellten einen Landentwicklungs- plan – ohne jegliche Beteiligung oder Information der lokalen Bevölkerung. Der Staat hat anstelle der Men- 14 I Solidarische Welt, Februar 2022
HINTERGRUND Landgrabbing: eine bleibende Bedrohung für Kleinbäuer*innen des Globalen Südens Der Begriff Landgrabbing (wörtl. „Land ergreifen“) wurde in der Nahrungskrise 2007–08 geprägt, als sprunghaft gestiegene Le- bensmittel- und Rohstoffpreise zu einem beispiellosen Rennen auf die verfügbaren Ackerflächen der Welt führten. Über Kauf oder langlaufende Pachtverträge sicherten sich Getreidedefizit- und Wüstenländer wie China, Korea, Saudi Arabien oder Katar ihre künftige Ernährungsbasis. Investoren und Agrarkonzerne setzten auf Agrarrohstoffe als neue Profitquellen. Andere sahen in Ackerland einfach einen sicheren Hafen für überschüssiges Kapital. Denn 2008 war auch das Jahr der Finanzkrise. In der Folgezeit sollte sich Land als sichere Sachanlage für Investoren und die Finanzwirtschaft etablieren und aufgrund der Niedrigzinspolitik der EZB gerade auch für europäische An- leger an Bedeutung gewinnen. Bald mischten auch Pensions- fons und Versicherungen mit, u.a. auch die Münchner Rück, die Entwicklungsbank DEG oder die Ärztepensionskasse aus West- falen (ÄVWL). Landgrabbings entziehen oft traditionellen Nutzer*innen von Als sich im Juni 2012 in London Investoren zu einem „Agricul- Gemeinschaftsland ihre Weidegründe – z.B. für die Produk- ture Investment Summit“ trafen, machte ein Bündnis von 60 eu- tion von Agrosprit. ropäischen Nichtregierungsorganisationen in einer gemeinsa- men Erklärung auf die Rolle von Pensionsfonds bei Landraub aufmerksam. Und damit auch auf die Gefahr, dass arglose eu- ropäische Renter*innen ihren Lebensabend auf dem Rücken von Kleinbäuer*innen des Globalen Südens sichern könnten. Bericht, seien weniger als 0,5 % der Arbeitskraft der von LSLA Im gleichen Jahr hatte es aber auch eine erfreuliche Ent- betroffenen Länder auf diesen akquirierten Landflächen be- wicklung gegeben: Angesichts der Dynamik, die große Landan- schäftigt. eignungen im Süden gewonnen hatten, hatte das Ernährungs- Besonders katastrophal ist die Umweltbilanz von LSLAs, sicherheitskomitee der UN-Agrarorganisation (FAO) globale denn sie tragen „wesentlich zur Entwaldung, zur Zerstörung von Mindeststandards für Staaten im Umgang mit Landkäufen ver- Lebensräumen und zur Verschlechterung der Bodenqualität bei abschiedet, kurz VGGT. Und doch war die Freude der Zivilgesell- und sind folglich mit massiven Verlusten an biologischer Vielfalt schaft nicht ganz ungetrübt, denn die Leitlinien blieben freiwil- und hohen Kohlenstoffemissionen verbunden.” lig. Und weil 54 % aller in der Land Matrix-Datenbank erfassten Deals für den Anbau wasserintensiver Kulturen wie Baumwolle, Das unabhängige Land-Monitoring-Netzwerk „Land Matrix“ hat Ölpalme, Kautschuk und Zuckerrohr bestimmt sind, sind die im September 2021 eine Bilanz der zwischen 2008 und bis Auswirkungen auf die Wasserhaushalte der Regionen gravie- 2020 verzeichneten (also öffentlich gewordenen) 1.865 großen rend. Landdeals (Large Scale Land Acquisitions LSLA; insgesamt 33 Auch die Prognose von Land Matrix ist nicht rosig: Nach- Mio. ha) vorgelegt und darin auch die Umsetzung der freiwilli- dem der Ansturm auf Land des globalen Südens nach 2010 gen Leitlinien thematisiert. Diese sei nach wie vor gering, heißt leicht abgeflaut war, könnte er nun wieder zunehmen, „wenn es in dem Bericht. „Unsere Analyse zeigt, dass beispielsweise die Volkswirtschaften versuchen, sich von der pandemiebeding- in Afrika fast ein Drittel der bewerteten Geschäfte die VGGT- ten Wirtschaftskrise zu erholen“. Richtlinien und -Standards überhaupt nicht einhalten.“ So seien betroffene Gemeinden nicht konsultiert und Klein- Von Isabel Armbrust bäuer*innen, Hirt*innen und Sammelwirtschaft Betreibende von ihrem Land vertrieben worden. Arbeitsplätze für die lokale Bevölkerung seien zu wenige entstanden, allerdings mit regio- nalen Unterschieden und abhängig von der angebauten Feld- frucht. In Südostasien hatte der recht arbeitsintensive Palmöl- sektor einen Beschäftigungseffekt. Im Durchschnitt aber, so der Solidarische Welt, Februar 2022 I 15
SACKGASSEN DER LANDNUTZUNG Keine Dekolonisierung des Naturschutzes in Aussicht VON LINDA POPPE Vor 30 Jahren, beim 9. Weltkongresses der Weltnatur- lionen Menschen für Naturschutzgebiete von ihrem schutzunion, klang es wie der ersehnte Durchbruch: Land vertrieben wurden. Oft waren davon indigene Ge- Die wichtigsten Naturschutzorganisationen und viele meinden betroffen, die ihre Gebiete so gut erhalten Regierungen erklärten, dass Schutzgebiete nicht exis- hatten, dass Naturschützer*innen sie besonders at- tieren könnten, wenn die lokalen Anwohner*innen traktiv fanden. ausgeschlossen werden. Zu oft seien indigene Völker und ihre besonderen Beziehungen zu ihrem Land Der Yellowstone-Nationalpark – der älteste National- ignoriert oder durch Naturschutzvorhaben sogar zer- park der Welt – gab den buchstäblichen Startschuss stört worden. Dies müsse sich ändern. Landbesitz und für die Vertreibung indigener Völker im Namen des Na- turschutzes. Wenige Jahre nach seiner Gründung 1872 wurden die indigenen Bewohner*innen gezwungen, das Gebiet zu verlassen. In einer Auseinandersetzung wurden Berichten zufolge 300 Menschen getötet. Auch wenn später die Einrichtung von Naturschutzge- bieten nicht immer mit solch tödlichen Vertreibungen einherging, bedeuteten sie für indigene Gemeinden weiterhin einen Verlust von Land und Rechten, von heiligen Stätten, medizinischen Pflanzen, Wasser, Es- sen, Häusern und von Zukunft. Doch statt einer Revolution folgte den Erklärungen der 90er Jahre die Erkenntnis, dass die Naturschutzbran- che zwar mit der Mode gehen kann, sie aber unter den neuen Gewändern weiterhin Uniform trägt. Die europäische Idee von „Wildnis“ Die Idee einer menschenleeren Wildnis führt bis heute zur Verletzung von Land- und Zugangsrechten indige- ner Völker. Indigene Gemeinden erfahren meist erst Protest bei der „Our Land Our Nature“ Konferenz September 2021 in Marseille. spät von Schutzgebiet-Projekten auf ihrem Land und Foto: Survival International werden nicht wirkungsvoll dazu befragt. Dabei ist ge- rade für indigene Völker ihr Land zentral für ihre Iden- Gewohnheitsrechte sollten anerkannt werden. Die Ex- tität und ihr Überleben. Hinzu kommt, dass im „Krieg pertise indigener Völker für den Erhalt der biologi- gegen Wilderei“ Indigene und andere Anwohner*in- schen Vielfalt sei unerlässlich. Und wenig später nen zur Zielscheibe aufgerüsteter Sicherheitskräfte preschte der WWF mit einem Papier vor, demzufolge werden – dies ist vor allem in Afrika und Asien eine er keine Projekte auf indigenem Land ohne Zustim- dramatische Entwicklung. Ranger besitzen dort in ei- mung der Bewohner*innen durchführen wolle. nigen Ländern weitreichende Befugnisse zum Einsatz von Schusswaffen und müssen selten mit Strafverfol- Kein Platz für lokale Naturschützer*innen gung rechnen. Geberländer wie Deutschland, die Prä- mien für Festnahmen zahlen, verstärken die Anreize, Es war nicht weniger als eine Revolution. Denn wei- die Schwächsten ins Visier zu nehmen. testgehend unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit, hatte im Naturschutz ein „Hundertjähriger Konflikt“ Auch andere Überzeugungen halten sich im Natur- (Mark Dowie) getobt: Indigene Völker waren seit der schutz hartnäckig. Der Rassismus und die Annahme, Entstehung der ersten Naturschutzgebiete ins Visier dass „wir“ es besser wissen, ist erschreckend. Natur- von wohlmeinenden – und weniger wohlmeinenden – schutzvorhaben problematisieren fast immer die Le- Naturschützer*innen geraten. Genaue Zahlen existie- bensweise indigener Völker und wirken darauf hin, ren nicht, aber einige schätzen, dass über hundert Mil- diese grundlegend zu verändern. So sollen Land- 16 I Solidarische Welt, Februar 2022
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