NATURGEFAHRENREPORT 2019 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV

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NATURGEFAHRENREPORT 2019 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV
Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V.

  Die Schaden-Chronik der deutschen Versicherer

   Naturgefahrenreport
   2019
NATURGEFAHRENREPORT 2019 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV
02     Inhaltsverzeichnis

                  Einleitung
             03         Editorial

                  Kapitel eins: Lebensstrategie Klimaanpassung
             06         „Schutz der Städte sollte Pflicht sein.“ Ein Gespräch mit Klimaexpertin Petra Mahrenholz
             09         Leben mit dem Wasser. Klimaangepasste Städte in Deutschland
             14         Grün ist längst Alltag. Das Modell Kopenhagen
             20         Dem Boden verpflichtet. Klimaangepasste Landwirtschaft
             23         Schutz vor jeder Gefahr. Klimaangepasstes Haus
             26         Die Schweizer Risikokultur.
                        Ein Gespräch mit den Naturgefahrenexperten Josef Eberli und Bruno Spicher

                  K apitel zwei: Das Jahr der Extreme.
                   Die Schadenbilanz 2018 der Sach- und Kfz-Versicherung
             30         Sturm, Hitze, Wasser. Der Jahresrückblick 2018
             32         Das vernichtende Heiß. Das zerstörerische Nass. Die Sachschäden 2018
             38         20 Minuten Hagel genügen. Die Kfz-Schäden 2018
             40         „Verdrängen macht den Alltag einfacher.“
                        Ein Gespräch mit Risikoexpertin Rita Haverkamp und Klimawandelstrategen Dirk Messner

                  Kapitel drei: Die MacherInnen aus der Risikowelt
             44         Netz und doppelter Boden. Das Krisenmanagement der Branche
             47         Der richtige Kanal für den Ernstfall. Krisenkommunikation
             48         Zerstörung auf kleinstem Raum. Das Starkregenprojekt von DWD und GDV
             50         „Es geht ja um Menschen.“ Arbeitsalltag in Versicherungsagenturen
             53         Eigenvorsorge vor Naturgefahren: Die Länderkampagnen

                  Anhang
             54         Publikationen und Links
             55         Bildnachweis
             56         Impressum

     Naturgefahrenreport 2019
NATURGEFAHRENREPORT 2019 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV
Einleitung         03

Editorial

D
        ie Nachricht, die im August 2019
        über die Bildschirme flimmert,
        stimmt nachdenklich. „Island er-
klärt erstmals einen Gletscher für tot“ –
spätestens mit Botschaften wie diesen
ist der Klimawandel mitten in unserer
Gesellschaft angekommen.
     Schon 2018 war in Deutschland und
Europa ein Jahr der Wetterextreme –
die längste Hitzeperiode, das wärmste
Jahr, verheerende Stürme und Sturz-
fluten. Und die Extreme werden immer              Und abseits der Städte? Die Land-
häufiger zur Normalität werden. Darin         wirtschaft ist wie keine andere Bran-
sind sich führende Meterolog­Innen ei-        che ans Wetter gebunden. In Zeiten
nig. Umso mehr geht es in den kommen-         extremer Niederschläge und langer
den Jahren nicht nur darum, mit muti-         Trockenperioden sind flexible Lösun-
gen und nachhaltigen Entscheidungen           gen gefragt. Dass es sich lohnt, die Her­
dem Klimawandel entgegenzuwirken.             ausforderung anzunehmen, zeigt ein
     Wir brauchen auch Anpassungs-            Agrarbetrieb in Sachsen-Anhalt. Nicht
strategien, die es uns ermöglichen, mit       zuletzt kann auch jeder einzelne von
den Veränderungen umzugehen. Wie              uns in seinem privaten Umfeld vielen
schützen wir unsere Städte – gegen die        möglichen Folgen des Klimawandels
Regenmassen, gegen die erbarmungs-            begegnen. Zum Beispiel mit einem
lose Hitze? Für den Naturgefahren­            umfassenden Schutz fürs eigene Haus.
report haben wir uns auf die Suche nach       Versicherer arbeiten aktiv mit Wetter­         Dr. Wolfgang Weiler
klugen Ideen gemacht. Und sind fün-           expertInnen, ArchitektInnen und                (Präsident)
dig geworden: in Hamburg, Münster,            Mate­rialforscherInnen an zukunftsfä-
Dresden, Berlin und in anderen euro­          higen Konzepten – und verstehen sich
päischen Ländern. So vereint Kopen­           als Partner für HausbesitzerInnen,
hagen wie kaum eine andere Metropole          für Unternehmen, für Städte und für            Dr. Jörg von Fürstenwerth
Klimaschutz und Klimaanpassung.               Gemeinden.                                     (Vorsitzender der Geschäftsführung)

Schäden durch Naturgefahren 2018 auf einen Blick

           3,1 Mrd. €
               in der Sach- und                         Sachversicherung
           Kfz-Versicherung 2018             Wohngebäude, Hausrat, Industrie,                                 Kfz-Versicherung
                                                Gewerbe und Landwirtschaft                                    Voll- und Teilkasko

2,6                                2.100 Mio. €                                 500 Mio. €
                                                                                                 500
                                                                                                Mio. €
                                                                                                             20
                                                                                                            Mio. €
                                                                                                                       520
Mrd. €                                                                                                                  Mio. €

                               1.601.000                               111.000               215.000                 4.300
                                    Sturm- und                     weitere Naturgefahren-     Sturm- und      Überschwemmungs-
                                   Hagelschäden                     schäden (Elementar)      Hagelschäden          schäden

Naturgefahrenreport 2019
NATURGEFAHRENREPORT 2019 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV
04   Kapitel eins
NATURGEFAHRENREPORT 2019 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV
Lebensstrategie
Klimaanpassung
Wie wollen wir leben? Nachhaltig, soll diese Welt nicht an der Erderwärmung ersticken. Der Klimawandel
beschleunigt, vergrößert Naturgefahren und Zerstörung auch in Deutschland. Anpassung ist notwendiger denn
je. Sie bringt Gewinn und schafft neue Lebensqualität. Besonders dann, wenn Schutz vor Wetterextremen und
Klimaschutz sich miteinander verbünden. Beispiele aus Deutschland und den Nachbarländern.

  Naturgefahrenreport 2019
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06

     Klimaanpassung

     „Schutz der Städte sollte Pflicht sein.“
     Menschen, Städte, das ganze Land sind verletzlich gegenüber den zunehmenden Wetterextremen. Anpassung
     an den Klimawandel ist notwendig, sagt Klimaexpertin Petra Mahrenholz vom Unweltbundesamt. Sie skizziert,
     was eine gute Strategie ausmacht.

                       Frau Mahrenholz, warum ist Anpassung          leicht vier Grad. Deswegen ist einerseits
                       an den Klimawandel notwendig?                 Klimaschutz unabdingbar. Und wir müssen
                       Weil wir mit weitreichenden klimatischen      andererseits den Klimawandel mit Anpas-
                       Veränderungen rechnen müssen; selbst          sungsmaßnahmen begleiten.
                       wenn wir die Treibhausgasemission sofort
                       auf null fahren würden. Unser Erdsystem       Auf welche Wetterextreme müssen wir
                       heizt sich auf, die Durchschnittstempera-     uns vor allem einstellen?
                       tur in Deutschland hat sich in den vergan-    Auf die Hitze: Wir hatten in den vergangenen
                       genen 130 Jahren um 1,5 Grad erhöht. Die      70, 80 Jahren durchschnittlich sieben heiße
                       Konsequenzen spüren wir auch noch in          Tage mit Temperaturen über 30 Grad. Diese
                       Jahrzehnten, denn ein Zurück gibt es nicht.   Anzahl wird bis 2100 sehr wahrscheinlich um
                       Und ein Weiter-so auch nicht: Alle Szena­     20 bis 30 Tage steigen. Das ist nicht nur für
                       rien sagen: Wenn wir weiter wie bisher fos-   ältere Menschen, Kranke und Kinder eine Ge-
                       sile Brennstoffe nutzen, liegt zum Ende des   fahr, auch für gesunde Menschen. Gerade in
                       Jahrhunderts die Erwärmung bei drei, viel-    den Städten.

           Heftigere, häufigere Stürme             Mehr Hitze und Dürre                          Folgen des

                      Bedroht sind:          Menschliche Gesundheit            Städte, Siedlungen, Infrastruktur
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Kapitel eins: Lebensstrategie Klimaanpassung           07

   Ist Hitze das größte Risiko, an das wir uns      Welche Prämissen muss eine Anpassungs-
   anpassen müssen?                                 strategie setzen?
   Das zweite ist Starkregen und seine Schäden      Sie muss umfassend sein, flexibel und alle
   an Gebäuden und Infrastruktur durch Sturz-       gesellschaftlichen Bereiche mitdenken, Um-
   fluten und Überschwemmung. Die Heraus­           welt, Soziales, Wirtschaft und Verkehr. Der
   forderung ist dabei die zunehmende Varia-        Klimawandel schlägt in allen Feldern zu.
   bilität zwischen Zuviel und Zuwenig Wasser.      Oft gibt es dabei eine Kaskadenwirkung,
   Das haben wir in den vergangenen Jahren ge-      die zu berücksichtigen ist: Fällt ein Sys-
   sehen: 2015 und 2018 hatten wir Hitze- und       tem aus, fallen andere mit aus. Dafür
   Dürrejahre mit insgesamt zu wenig Was-           braucht es Generalisten, die Maßnah-
   ser; 2016 und 2017 vor allem verheerende         men in Komplexität denken.
   Starkregen.
        Damit einher geht die Beeinträchtigung      Haben Sie ein Beispiel dafür?
   der Wassernutzung. Der Grundwasserspie-          Bei der Elbeflut 2013 fielen die Server
   gel sinkt, die Bodenfeuchte sinkt. Werden        eines Rechenzentrums in der Region wegen
   wir künftig in allen Regionen Deutschlands       Überflutung aus. Davon waren überregional
   genügend Wasser haben? 2018 gab es bereits       mehrere Institutionen betroffen, sie hatten
   Knappheit, etwa im Harzer Vorland.               kein Telefon, kein Internet, konnten über ihre
                                                    Daten nicht verfügen. Obwohl sie weit weg        Petra Mahrenholz
   Welche Veränderungen erleben wir noch?           von der Flut waren, spürten sie die Auswir-      leitet seit 2010 das
   Eine weitere Herausforderung ist die Verän-      kungen. Wenn wir uns fragen: Was machen          Kompetenz­zentrum
   derung der Arten, das Schrumpfen des Arten-      wir, wenn bundesweit der Strom ausfällt, der     Klimafolgen und Anpassung
   reichtums. Und der Anstieg des Meeres­spiegels   Verkehr zusammenbricht, dann wird relevant,      (KomPass) des Umwelt­
   bedroht Küstenregionen, zunehmende Fluss-        dass wir in Kaskadensystemen quer über die       bundesamtes in Dessau.
   hochwasser bedrohen ganze Landstriche.           Infrastruktur denken müssen.

Klimawandels                        Häufigere, extreme Starkregen            Häufigere, stärkere Hochwasser

    Landwirtschaft und Wirtschaft            Natur und Landschaft             Artenvielfalt
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08      Kapitel eins: Lebensstrategie Klimaanpassung

                         Was macht gute Klimaanpassung aus?                Wie steht Deutschland im europäischen
                         Dass sie wie beschrieben sektorenübergrei-        Vergleich da?
                         fend denkt und sich die Maßnahmen nicht           Ich würde Deutschland mit zu den Vorreitern
                         gegenseitig behindern. Dass sie vorausschau-      zählen. Wir sind recht weit mit dem Hitze­
                         end plant. Zum Beispiel im Hochwasserschutz:      schutz. Die Niederlande haben sehr gute
                         Deichbau ist das eine, doch Sie sollten auch      Schutzkonzepte für Küsten und Flüsse, da sind
                         hinter dem Deich Flächen für die Renaturie-       wir in Deutschland noch nicht so weit. Auch
                         rung freihalten. Das wirkt sich einerseits aufs   die Schweiz, Dänemark und Frankreich sind
                         Klima positiv aus, andererseits haben Sie für     sehr gut aufgestellt.
                         Extremfälle weitere Überflutungsflächen und
                         schützen die Infrastruktur.                       Sie sagten, Klimaanpassung ist eine
                             Ein weiteres Kriterium ist die Effizienz,     komplexe Aufgabe für alle. Welche
                         dass der Nutzen möglichst höher ist als die       Rolle spielt die Bundespolitik, welche
                         Kosten. Dach- und Fassadenbegrünung zum           Rolle spielen Städte und Gemeinden?
                         Schutz vor Hitze beispielsweise sind sehr gut,    Die Bundespolitik gibt den gesetzlichen Rah-
                         weil der Nutzen auch gesellschaftlich ist. Das    men vor, schafft Normen und Richtlinien. In
                         Stadtklima verbessert sich, Artenvielfalt kann    der Baugesetzgebung, der Umweltverträglich-
                         erhalten werden.                                  keitsprüfung und dem Hochwasserschutz ha-
                                                                           ben wir bereits gute Vorschriften. Damit gibt
                         Wie weit sind deutsche Städte in Sachen           sie den Kommunen rechtliche Sicherheit und
                         Klimaanpassung?                                   erleichtert die Anpassung. Diese sollte zur
                         Es gibt Städte, die schon sehr weit sind. Wir     Pflichtaufgabe der Städte werden. Die Bundes­
                         zeichnen seit drei Jahren gute Beispiele aus      regierung sollte den Klimawandel in Förder-
                         und hatten 2018 etwa 100 Bewerbungen, auch        instrumenten verankern, für den Städtebau
                         von städtischen Unternehmen. Viele Städte         beispielsweise. An den Kommunen ist es, ent-
                         haben KlimamanagerInnen oder ressortüber-         sprechende Maßnahmen umzusetzen.
                         greifende Gremien für die Anpassung, andere
                         Städte Maßnahmenpläne. Stuttgart, Hamburg,        Wie können sich BürgerInnen schützen?
                         Berlin beispielsweise setzen Strategien für die   Die Verantwortung der Einzelnen wird in euro-
                         Anpassung an Hitze und Starkregen um. Sie         päischen Staaten sehr stark diskutiert. Wo hört
                         verändern Kanalisation und oberirdische In-       Vorsorge des Staates auf, wo beginnt Eigen­-
                         frastruktur, begrünen Flächen und Gebäude.        verantwortung? Privatpersonen müssen sich
                         Berlin stellt öffentlich Trinkwasserbrunnen       und ihr Eigentum selbst schützen, auch mit
                         auf. Solingen hat seine Straßen so gestaltet,     technischen Mitteln. Und jegliche Verände-
                         dass kein Regenwasser auf Grundstücke flie-       rung geht auch mit kulturellem Wandel ein-
                         ßen kann. Doch so simpel das klingt, es schei-    her, mit sozialer Fürsorge. Bei Hitze sollten wir
                         tert oft an noch geltenden Vorschriften. Und      mehr aufeinander achten. Alte Leute beispiels-
                         vielen Kommunen fehlt das Geld.                   weise trinken oft zu wenig. Darauf kann man
                                                                           sie hinweisen – auch darauf, nicht in der Mit-
                                                                           tagszeit aus dem Haus zu gehen.

     Die Deutsche Anpassungsstrategie                                      Welche Rolle spielt die
                                                                           Versicherungs­wirtschaft?
     Deutschland verfolgt seit 2008 die „Deutsche Anpassungsstrate-        Sie spielt zum einen eine große Rolle als Multi­
     gie an den Klimawandel“. Mit diesem Informations- und Maßnah-         plikatorin, um für die Risiken von Extrem­
     menpaket soll die Bundesrepublik gegenüber den zu erwarten-           ereignissen zu sensibilisieren. Und natürlich
     den Klimaveränderungen widerstandsfähiger gemacht werden –            mit ihren Leistungen, Risiken abzusichern.
     in 15 gesellschaftlichen Bereichen. Geschützt werden sollen vor       Zum anderen nutzt das Umweltbundesamt
     allem menschliche Gesundheit, Wasser, Infrastrukturen, Land,          auch die Erkenntnisse der Assekuranz. Dass
     Wirtschaft, Raumplanung, angepasst unter anderem der Bevölke-         die Schäden mit dem Klimawandel steigen,
     rungsschutz. 2020 soll eine aktualisierte Strategie vorliegen.        wissen wir auch aus ihren Daten. Die Zusam-
                                                                           menarbeit ist sehr lang und vertrauensvoll.

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NATURGEFAHRENREPORT 2019 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV
Kapitel eins: Lebensstrategie Klimaanpassung   09

Klimaangepasste Städte

Leben mit dem Wasser
Hamburg, Münster, Dresden, Berlin. Deutsche Städte passen sich an den Klimawandel an. Die Reise
an diese vier exemplarischen Orte folgt der Frage: Wie? Die Konzepte ähneln sich, Individualität
erhalten sie durch Lage und Verfasstheit einer Stadt – und durch ihre Mentalität. Ein Spektrum
von Blau bis Grün.

W
           ir können Starkregen so lenken,       klima­angepasste Stadt vor allem braucht.
           dass er keinen Schaden anrichten      Grün und Wasser, die eine Symbiose bil-
           kann und uns nützt“, sagt Christian   den. Das Grün fängt den Regen auf, auch das
Günner von Hamburg Wasser. „Unsere ge-           Zuviel an Regen, das die Kanalisation nicht
wachsenen Grünzüge sind unser Kapital für        fassen kann. Fängt es auf und speichert es.
regenreiche und regenarme Jahre“, sagt Veit      Nährt sich davon, schafft durch Verdunstung
Muddemann vom Umweltamt in Münster.              Feuchtigkeit und Kühle für die Hitzetage. Die
Jens Seifert vom Dresdner Umweltamt skiz-        Schwammstadt, das blau-grüne Regenwasser­
ziert die schöne Vision einer „kompakten Stadt   management, ist ein Grundbaustein urbaner
im ökologischen Netz“. Und Heike Stock vom       Anpassung an zunehmenden Starkregen
Berliner Umweltsenat zieht auf ihre Weise das    einer­seits und zunehmende Hitze anderer-
Fazit: „Heute sagt niemand mehr: Ach komm,       seits. Eine klimaangepasste Stadt braucht da-
Klimawandel. Ich kauf Dir ein Eis.“              für freie, unversiegelte Flächen. Eine klima­
                                                 angepasste Stadt braucht zudem Menschen,
Und damit ist, einmal kreuz und quer durch       die sie vorantreiben – und ein aufgeschlosse-
die Bundesrepublik, beschrieben, was eine        nes gesellschaftliches Klima.

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     Regenwasseraffin: Hamburger Schulen.

     Hamburg. Die Vorreiterin.                                   regenwasseraffin zu gestalten. 2019 ziehen Bewohner-
                                                                 Innen in die Jenfelder Au, eines der ersten Regenwasser­
     Hamburg baut. Erhöht die Deiche um rund 80 Zentime-         quartiere. Das Areal einer ehemaligen Kaserne bietet
     ter. Damit sie auch zunehmenden Sturmfluten aus der         Raum für 2.000 Menschen zum Leben und Arbeiten
     Nordsee und dem Hochwasser der Elbe trotzen können.         – und für das Wasser. In den Parks und naturnahen
     Die rund 103 Kilometer lange sogenannte Hochwasser­         Innenhöfen des Viertels steht es im Mittelpunkt: Eine
     linie der Hansestadt, entstanden nach der verheerenden      Wasserkaskade sprudelt, in Teichen, Gräben und Mul-
     Sturmflut 1962, wächst bis 2050. Wo keine Deiche Platz      den sammelt sich der Regen. Das Abwassermanagement
     haben, entstehen Bauten. Der Entwurf für das Werk an        funktioniert nach dem Hamburg Water Cycle, einem
     den Landungsbrücken zeigt einen schicken Boulevard          trennenden Kreislaufsystem. Der Regen kühlt, Toilet-
     entlang des Wassers.                                        tenabwasser wird erneuerbare Energie in Biogasanlagen,
          Hamburg baut. „Eigentlich brauchen wir gar kei-        das weitere gereinigte Abwasser wieder dem Wasser-
     nen Klimawandel. Die Versiegelung reicht schon“, sagt       kreislauf zugeführt.
     Christian Günner von Hamburg Wasser und meint da-
     mit: Jährlich nimmt sich die wachsende Stadt durch
     Wohnungsbau rund 100 Hektar freie Fläche, die Größe Mehr Bekenntnis
     von etwa 100 Fußballfeldern. Und dann kommt der Auch für die Schulen gibt es ein solches Bündnis. Alle
     Klima­wandel obendrauf. Zu viel Wasser, das klingt im der 40 neu geplanten Schulen etwa erhalten ein neues
     Hitzejahr 2019 weit weg. Ein Jahr zuvor, im wärmsten Regenwassermanagement, sichtbar durch viel Grün, das
     bis dahin gemessenen Jahr, prasseln im Mai 60 Liter pro die Kinder auch zum Spielen nutzen können.
     Quadratmeter auf den Stadtteil Bergedorf.                                          Schritt für Schritt, Projekt für
     Die Wasserwucht reißt sogar Straßen weg Hamburg will bis 2050 Cli- Projekt, arbeitet Hamburg das RISA-
     und lässt Häuser einbrechen.                   mate Smart City werden – mit Programm ab. Ein Nachfolgepro-
          Mit RISA legen Stadt und ihre Wasser- 80 Prozent weniger CO2-Aus- gramm, RISA plus, entsteht derzeit. Es
     betriebe 2015 ein umfangreiches Regen- stoß und klimaangepasst.               soll der Stadt konkrete Leitlinien einer
     wasserinfrastrukturprogramm vor: „Leben                                       dezentralen Regenwasserwirtschaft
     mit dem Wasser.“ Die MacherInnen wollen                                       geben. Dazu gehört neben Dachbegrü-
     den Regen über der Erde leiten und speichern. Erste Pro- nung auch Fassadenbegrünung. Hamburg braucht zu-
     jekte, wie ein Regenwasserspielplatz, entstehen bereits in sätzliche Speicher, die Wasser halten und für Hitzetage
     den Jahren zuvor. Weitere folgen. Sportplätze und Parks verdunsten können. „Klimaanpassung ist ein Projekt
     werden so umgestaltet, dass sie das Regenwasser aufneh- von Generationen“, sagt Günner und unterschlägt da-
     men können. Im Alltag sind sie das, was sie sind. Wege bei im typischen Hamburger Understatement, wie viel
     und Straßen dorthin erhalten ein passenderes Profil: das bereits geschehen ist.
     Schwammstadt-Modell. „RISA ist eine Gemeinschafts-              Was den InitiatorInnen von Hamburg Wasser fehlt,
     aufgabe – von Verkehrs-, Grünflächen-, Bauämtern und ist ein politisches Bekenntnis, dass Starkregen und Hitze
     Wasserwirtschaft“, sagt Christian Günner. Es bedeutet künftig in allen Belangen Hamburgs berücksichtigt wer-
     Überzeugungs- und Verhandlungsarbeit bis ins Detail. den. Es erleichtert vieles im Klein-Klein der Verhand-
     Günner: „Wer bezahlt den versetzten Bordstein?“             lungen und Verwaltungsvorgänge, kann klarere Regeln
          Es bedeutet Kooperationen. Ein Bündnis für städti- schaffen, Zuständigkeiten ordnen. Vieles sei derzeit
     schen Wohnungsbau beschließt, Wohnquartiere künftig noch „Infiltration“, so Günner.

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Kapitel eins: Lebensstrategie Klimaanpassung             11

Münster. Die Pragmatische.                                Mehr privates Grün
                                                             Eine engere Zusammenarbeit mit der Stadtplanung hat
„Hausaufgaben des Starkregens“ nennt Tiefbauamts­ der Regen gebracht, auch ein ganzheitlicheres Denken –
leiter Michael Grimm das, was die Stadt seit dem wie in Hamburg, wie in Berlin oder Dresden. Die Stadt
28. Juli 2014 umtreibt. Als Jahrhundertregen geht die setzt bei neuen Wohngebieten von vornherein auf eine
Natur­katastrophe mit 292 Litern pro Quadratmeter auf oberirdische Regenwasserinfrastruktur. Das dezentrale
die völlig unvorbereitete Großstadt in Nordrhein-West- Regenwassermanagement fließt in das Konzept von Hitze-
falen nieder – 40 Millionen Liter, das sind 26 Mal so und Sturmschutz mit ein. Derzeit erhält die 310.000-Ein-
viel, wie Abläufe und Kanalisation zu diesem Zeitpunkt wohnerInnen-Stadt dafür konkrete Handlungsrichtli-
fassen können. Zwei Menschen sterben. Halb Münster nien. „Wir brauchen vor allem privates Grün, das unser
steht unter Wasser. Der Regen flutet unzählige Keller öffentliches Grün ergänzt“, sagt Veit Muddemann vom
und Erdgeschosse, vernichtet Wohn-                                         Umweltamt. Zwar verfügt Münster über
raum und Hausrat. Münster erleidet die Das Klimaanpassungskon- einen Grüngürtel und Frischluftschnei-
zweitgrößte Regenmenge seit Beginn zept von 2017 bescheinigt sen, doch das reicht der wachsenden Stadt
der Wetteraufzeichnungen im Jahr 1881. Münster einen guten stadt- nicht. Der Trend der MünsteranerInnen ist
     Fünf Jahre nach der Sturzflut arbei- klimatischen Komfort, der eher, Vorgärten zu versiegeln.
tet Münster die Hausaufgaben ab. Sie erhalten und ausgebaut wer-               Münsters Verwaltung will mit gutem
sind ein umfangreiches Programm, das den soll.                             Beispiel vorangehen. Alle geeigneten
vom verbesserten Betrieb des Entwäs-                                       Gebäude erhalten entsprechende grüne
serungssystems über neue Regeninfra-                                       Dächer, die Kitas und Schulen vor allem
struktur bis zu angepasster Stadtplanung reicht. Ein Pro- Sonnensegel, dazu Solaranlagen und eine energetische
gramm für rund 30 Jahre. Der Takt der Gullyreinigung Wärmedämmung, die auch bei Temperaturen über
ist jetzt höher, gefährdete Stadtteile besitzen neuere, grö- 30 Grad den Innenraum kühl hält. „Das Klima in der
ßere Durchfluss- und Abflussrohre. Derzeit entsteht eine Stadt ist aufgeschlossen“, sagt Muddemann, „dafür ha-
breitere Brücke über die Aa. Das Flüss­chen selbst erhält ben alle noch zu gut im Gedächtnis, was eine einzige
mehr naturnahe Auslauffläche. Unter­irdisch wächst das Naturkatastrophe anrichten kann.“ Diese Aufgeschlos-
Kanalsystem mit Rückhaltebecken. Kanäle und Abflüsse senheit verbindet sich mit dem Image als lebenswer-
sind digital überwacht, sodass bei erhöhtem Wasser- ter Stadt. 2019 hat Münster den deutschen Nachhaltig-
stand sofort reagiert werden kann.                           keitspreis gewonnen, als „enkeltaugliche Stadt“.

                                                                                         Hitze- und Regenschutz:
                                                                                         Münsters Fassadengrün.

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12     Kapitel eins: Lebensstrategie Klimaanpassung

      Dresden. Die Wissbegierige.                                Der Zwinger und die gesamte historische Innenstadt
                                                                 bedroht, binnen kurzer Zeit müssen die einzigartigen
      Der kleine Kaitzbach schlängelt sich im heißen Sommer Kunstschätze gerettet werden. Nach dieser Katastrophe
      2019 als dünnes Rinnsal durch sein junges Tal. Auf sei- investiert Dresden massiv in den Hochwasserschutz.
      nen Wiesen stehen hölzerne Schwimminseln mit Sitz- 2013 bewahrt die Strategie die Stadt vor einer erneuten
      bänken. Wenn es regnet, werden sie zu Flößen – eine Katastrophe.
      Bade­leiter signalisiert das. Noch vor einigen Jahren ver-     Dresdens Klimaanpassungskonzept, die kompakte
      läuft der Kaitzbach unterirdisch und unsichtbar durch Stadt im ökologischen Netz, integriert den Hochwasser-
      das Wohnquartier unweit der Dresdner City. Jetzt bildet schutz in Pläne für Hitze und Stark­regen. Gemeinsam
      er, gemeinsam mit rund 500 weiteren Gewässern, das mit dem Umland, „weil weder das Hochwasser in Dres-
      ökologische Netz der sächsischen Landeshauptstadt. den entsteht noch die Hitze“, sagt Seifert. Integriert heißt
      „Unsere Bäche und Flüsse sollen gefahrlos Hochwas- auch: technischer Schutz wie die beiden Fluttore für die
      ser und Regen aus der Stadt leiten und                                     Innenstadt, Risikominderung wie die
      außerdem Freiräume schaffen: Renatu- Mit dem Klimaanpassungs- blau-grüne Infrastruktur rund um die
      rierung “, sagt Jens Seifert vom Umwelt­ konzept REGKLAM verpflich- Gewässer – und ein Restrisiko. Und das
      amt. Wie der befreite Kaitzbach erhal- tet sich die sächsische Lan- treibt Seifert derzeit um: Wie lässt sich
      ten die Gewässer Dresdens wieder mehr deshauptstadt mit ihrem den BewohnerInnen der vielen einzel-
      Raum zum Auslaufen. Städtebauliche Umland zu einer integrierten nen Stadtteile vermitteln, dass Dresden
      Vergangenheit, wie der 90-Grad-Knick Klimaanpassung.                       nicht alles leisten kann, dass sie eigene
      der Weißeritz, wird sanft verändert. Der                                   Vorsorge brauchen? „Vielleicht sollten
      künstliche Knick ist 2002 dafür verant-                                    wir weniger in den technischen Schutz
      wortlich, dass die Innenstadt bis zum Hauptbahnhof investieren und mehr in den privaten Schutz.“ Geplant ist
      geflutet wird. Die Weißeritz hält sich nicht an den gerad­ zunächst eine 3-D-Simulation der Überflutungs­flächen
      linigen Winkel, sucht sich ihren Weg durch den besie- der Elbe zum Anschauen.
      delten Raum.                                                   Was Seifert noch umtreibt, ist die Gefahr durch Stark­
                                                                 regen. „Da haben wir Nachholbedarf.“ Derzeit läuft ein
                                                                 Forschungsprogramm mit der Dresdner Hochschule für
      Mehr Schutz vor Wasser                                     Technik und Wirtschaft. Untersucht wird, wie verwund-
      Dresden. 555.000 EinwohnerInnen. Stadt an der Elbe, bar unterschiedliche Gebäudetypen gegenüber Stark-
      Hochwasserstadt 2002 und gleich wieder 2013. 2002 regen sind – und wie sie sich baulich schützen lassen.
      steigt der Elbpegel auf 9,40 Meter. Noch nie da gewe- Rund 750 verschiedene Gebäude – von der Gründerzeit
      sen. Das Wasser trifft die sächsische Metropole völlig bis zum 50er-Jahre-Bau – erhalten den Wasser-Check.
      unvorbereitet und mit Wucht. 15 Menschen sterben. Das soll in konkreten Leitfäden münden.

                                                                              Technischer Hochwasserschutz: Dresdner Fluttor.

Renaturiert: Dresdener Bach und Grünzug.

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  Urbane Landschaft: Regenwasserquartier in Berlin.

Berlin. Die Anspruchsvolle.                                dermitteln für BauherrInnen ausgestattet. Grün werden
                                                           sollen die Dächer vor allem in den urbanen Quartieren,
2017 ist in Berlin ein Regenjahr. Gleich zweimal, im Juni  in denen städtischer Raum für Regen fehlt, die arm an
und Juli, regnet es ungewohnt viel und heftig, am 29. Juni Grün­flächen sind und sich besonders stark erhitzen.
mit über 200 Litern pro Quadratmeter in sechs Stunden      Das zweite Programm für Regen und Stadtklima ist die
die höchste Menge in der Geschichte der Hauptstadt.        „Charta für das Stadtgrün“. Sie soll in allen zwölf Bezir-
Berlin unter Wasser, viele Keller mit ihr. „Der Impuls für ken der 4-Millionen-Metropole bestehende Parks, Gär-
die Regenwasseragentur“, sagt Heike Stock. Die Klima-      ten und Bäume schützen und aufwerten. Durch mehr
anpassungs-Referentin im Berliner Senat bringt die Idee    Personal, durch bessere Ausstattung, durch entspre-
einer Managementstelle für Regenwasser aus Amster-         chendes Know-how. Daran hatte die notorisch klamme
dam mit. Als erste in Deutschland steuert die Agentur,     Hauptstadt in den zurückliegenden Jahren gespart.
getragen von der Stadt Berlin und ihren Wasserbetrie-
ben, das blau-grüne Regenwassermanagement.
    Wie Hamburg, wie Münster und Dresden will auch Mehr Freiraum beim Planen
Berlin sein Regenwasser oberirdisch leiten und für Nun also Kehrtwende, klarer politischer Wille. Dieser
heiße Tage speichern. Jährlich soll ein Prozent der Ber- trägt auch den Stadtentwicklungsplan Klima (StEP), den
liner Siedlungsfläche von der Kanalisation abgekoppelt Heike Stock 2011 vorlegt – als einer der ersten in Deutsch-
werden. Für alle Neubauten ist eine de-                                   land zeichnet er das Leitbild einer hitze-
zentrale Regenwasserbewirtschaftung Der Stadtentwicklungsplan und wassersensiblen Metropole. Dank
verpflichtend. 19 Gebäude und Quar- Klima (StEP) und der StEP dieses politischen Willens ist es inzwi-
tiere in Berlin sind bereits blau-grün. Klima KONKRET liefern Strate- schen selbstverständlich, dass Freiflächen
Der Potsdamer Platz, das Wahrzeichen gien für eine hitze­angepasste in allen Planungen berücksichtigt wer-
der deutschen Wiedervereinigung in und wassersensible Haupt- den. StadtplanerInnen und Umweltamts-
der neuen Berliner Mitte, gilt seit 1999 stadt, vereint mit Klimaschutz. MitarbeiterInnen gibt er zudem Spiel-
auch als ästhetisches Wahrzeichen des                                     raum für Auflagen an Inves­torInnen.
neuen Regenwassermanagements.                                             „Ums Eck denken“ nennt Heike Stock das,
Schilfbewachsene Wasserflächen umrunden den urba- was Christian Günner in Hamburg „Infiltration“ nennt.
nen Komplex. Wasser spielt in zahlreichen Skulpturen Lösungen suchen, obwohl entsprechende Gesetze fehlen.
im Innen- und Außenraum. 85 Prozent des Regens fan-             Im Jahr 2019 braucht der StEP Klima eine Aktualisie-
gen Mulden und begrünte Dächer auf. 15 Prozent werden rung, denn das Wachstum der Hauptstadt ist 2011 noch
für die Toilettenspülung genutzt.                           nicht abzusehen. In etwa zwei Jahren soll ein neues,
    Eine Schwammstadt braucht freie, unversiegelte verbindliches Werk vorgelegt werden. „Wo starker Bau-
Flächen. Und da übersteigt auch in Berlin, der Stadt, druck ist, da brauchen wir Lösungen“, so Heike Stock.
die jährlich um 40.000 Menschen wächst, die Nach- Die Frage sei, ob überall gebaut werden müsse. Und
frage den Bestand. Wie in Hamburg, wie in Dresden. wenn ja, warum dann nicht mit mehr Grünflächen?
Abhilfe schaffen soll zweierlei: ein Dachbegrünungs- Die Charta jedenfalls formuliert einen „Anspruch auf
programm, 2019 endlich gestartet und mit reichlich För- Grün“ für alle BerlinerInnen.

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14

        Klimastadt Kopenhagen

        Grün ist längst Alltag
        Kopenhagen vereint wie keine andere europäische Metropole Klimaschutz und Klimaanpassung. Das
        gelingt durch den gemeinsamen Willen und das Zusammenspiel aller. Es lebt sich gelassen mit dem grünen
        Bekenntnis. Ein Spaziergang durch die dänische Hauptstadt.

                                   alderdbeeren wachsen hier, Kirsch-       beschreiben aufs Prägnanteste, was es bedeu-
                                   bäume, Kamille, Hirtentäschel,           tet, wenn Rasmussen sagt: Klimaschutz und
                                   Mohn. Auf gerundeten Beeten, die         Klimaanpassung sind zwei Seiten der gleichen
                         ein wenig tiefer liegen und über Treppenstufen     Medaille. Und, um im Bild zu bleiben, der Titel
                         zu erreichen sind. Oben, auf dem Wiesenhü-         der Medaille lautet: Lebensqualität für alle. Da-
                         gel zwischen Wacholder- und Ginsterhecken,         für steht Kopenhagen wie kaum eine andere
                         stehen überdachte Tische und Bänke aus Holz.       europäische Metropole. Sie vereint die beiden
                         Und unten, direkt vor Ricos Café, sitzen junge     Seiten der Medaille, indem sie ihre natürlichen
                         Mütter, ihre Säuglinge in Kinderwagen; ein äl-     Qualitäten annimmt – die Lage am Wasser, die
                         teres Ehepaar und junge Männer und Frauen          Frische des Windes und das gewachsene Grün.
                         vor ihren Tablets – unter Sonnenschirmen           Sie lässt sie gedeihen und nutzt sie.
                         mit WLAN-Zugang. Der leichte Wind nimmt                 Klimaschutz, die eine Seite der Medaille.
                         die Stadthitze fort, das vielfältige, wilde Grün   Bis 2025, in sechs Jahren, will Kopenhagen
                         schluckt die menschlichen Stimmen.                 klima­neutral sein, als erste Großstadt welt-
                              Noch im Jahr 2014 parken auf dem be-          weit. Mit und durch mehr Grün. Jedes einzelne
                         tonierten Tåsinge Plads im Nordosten Ko-           Blatt, jeder Grashalm verbraucht CO2 und
                         penhagens Autos. Dann kommt Klimaanpas-            macht daraus Sauerstoff, jedes einzelne Blatt
                         sungsmanager Jan Rasmussen in das Wohn-            und jeder Grashalm sorgt für gutes Klima. Also
                         quartier aus den 50er-Jahren und versammelt        pflanzt und sät Kopenhagen.
                         Menschen aus Anwohnerschaft und Politik.                Stellt auf erneuerbare Energien um. Ver-
                         „Wollt Ihr Grün oder wollt Ihr Autoverkehr?“,      bannt CO2-Emissionen aus der Stadt. Seit Jah-
                         fragt Rasmussen. Die einhellige Antwort lau-       ren baut Kopenhagen die Infrastruktur für
                         tet: Grün. Und diese Frage und diese Antwort       Fuß- und Radverkehr aus und vernachlässigt

     Naturgefahrenreport 2019
Kapitel eins: Lebensstrategie Klimaanpassung              15

   den Autoverkehr. Das flächendeckende Radwegenetz
   ist mindestens zwei-, oft dreispurig. Nebeneinander
   haben bequem zwei Lastenräder und ein Elektroroller
   Platz. Ausgeklügelte Ampelschaltungen sorgen dafür,
   dass Radfahrende bei Grün vor Autofahrenden star-
   ten können und von diesen besser gesehen werden.
   Diesen Sicherheitsvorsprung verstärken Haltelinien,
   die für Räder einen knappen Meter vor Autos liegen.
        Seit 2009 verkehren mehr Menschen per Rad
   als per Auto in Kopenhagen. Viele pendeln von au-
   ßerhalb, jeder U-Bahn-Wagen hat ein komfortables
   Fahrradabteil. Die neuen Brücken der Inselstadt die-
   nen ausschließlich dem Fuß- und Radverkehr. Auch
   das ist ein Aspekt der Kopenhagener Lebensqualität:                                                     Kopenhagen
   Sicherheit, Ruhe.
        Am Tåsinge Plads, dem früheren Autopark-
   platz, flankieren Räder an metallenen Ständern das
   Grün. Der Platz ist 2015 der erste regenaffine Platz
   der zweiten Medaillen-Seite: Klimaanpassung. Sein
   Grün schützt.
        „Jede Stadt hat ein Risiko“, sagt Rasmussen. Das
   muss sie zur Kenntnis nehmen und sich dafür wapp-
   nen. Auf eine Weise, die wirtschaftlich rentabel ist,
   innovationsfördernd und „sozioökonomischen Bene­
   fit“ bringt. Was für eine Formel.                         Steckbrief Kopenhagen
        Das Risiko Kopenhagens besteht vor allem im
   Starkregen. Die Stadt erlebt im Juli 2011 den schlimms-   In der dänischen Hauptstadt leben 630.000 Menschen,
   ten Starkregen ihrer Geschichte. 120 Liter pro Qua-       Tendenz steigend. Die Stadt, die sich auf mehreren In-
   dratmeter fluten Kopenhagen, der Strom fällt aus,         seln im Öresund der Ostsee erstreckt, gilt als eine der
   beide Krankenhäuser sind bedroht. Unzählige Ge-           lebenswertesten Städte der Welt. 2025 will sie als erste
   bäudekeller und Erdgeschosse laufen voll. Die Stadt       Weltstadt klimaneutral sein, 2035 klimaresilient.
   ist tagelang im Dunkel, im Ausnahmezustand.

Grün statt Grau: Tåsinge Plads.
16    Kapitel eins: Lebensstrategie Klimaanpassung

               „Jeder Baum, den wir pflanzen, schützt auch das Klima für die
               nächsten Generationen.“
               Jan Rasmussen, Klimaanpassungsmanager Kopenhagens

                             Jan Rasmussen arbeitet zu diesem Zeit-
                         punkt bereits seit vier Jahren an einer neuen
                           Regenwasserinfrastruktur. Die Katastrophe
                             bestätigt: Kopenhagen ist den zunehmen-
                              den Wetterextremen nicht gewachsen.
                              Bis zu 55 Prozent mehr Regen kann es
                               im Winter geben, bis zu 40 Prozent mehr
                              Regen im Sommer, so die Klimaprogno-
                              sen. Der Starkregen beschleunigt mög-
                            licherweise den politischen Willen. 2011
                           noch beschließt das Parlament den Klima-
                         anpassungsplan. 2012 wird die Stadt in sie-
                         ben Regenwasser-Quartiere unterschied­lichen
                         Risikos aufgeteilt, werden Projekte für die ge-
                         fährdeten Stellen entworfen. 2015 beginnt die
                         Umsetzung, 2035 soll Kopenhagen regenwas-                                      Grüne Inseln: Ruhebänke.
                         serresistent sein.

                                                                           weg von Häusern, Kellern, Eingängen. In re-
                         Der blaue Speicher                                genreichen Zeit ist der Ort ein großes Sam-
                         Grün schützt. Der früher versiegelte Boden        melbecken, in regenarmen Zeiten eine urbane
                         des Tåsinge Plads, der nun die artenreiche        Idylle. So dient er auf vielfältige Weise den
                         Wildnis wachsen lässt, kann das Wasser spei-      Menschen. Und sie nehmen diesen sozioöko-
                         chern. Unterschiedliche Bodenebenen fangen        nomischen Benefit gern an.
                         den Regen auf, führen ihn zu den tiefsten Stel-       Kopenhagens Klimaanpassungsplan be-
                         len, wo er sich zu Teichen sammeln kann –         ruht auf einer rein finanziellen Erwägung: Es

     Naturgefahrenreport 2019
                                                                                       Grünes Band: Sankt Annæ Plads.
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                                                                                                   Grün schützt: Hausfassade.

wäre doppelt so teuer, die Kanalisation für ein   den bekiesten Gehwegen links und rechts,
Mehr an Regen auszubauen, als das Wasser          die wiederum von Reihen junger Platanen ge-
oberirdisch zu halten und zu führen. Es wäre      säumt werden. Jutesäcke schützen die jungen
teurer, es würde jahrelange Bauarbeiten, Lärm     Stämme vor dem Austrocknen und vor Verlet-
und Dreck bedeuten. Also setzt die Stadt auf      zungen. Diese behausten Bäume sind überall
einen Mix: den Ausbau der Kanalisation und        in Kopenhagen zu sehen. Sie verlängern die
der unterirdischen Regenwasserspeicher und        vorhandenen Grünzüge, schaffen ein grünes
eine oberirdische Regenwasserwirtschaft – die     Band durch den gesamten Stadtraum, das
blau-grüne Infrastruktur. 300 Projekte ähnlich    Wasser aufnehmen kann. „Jeder Baum, den
des Tåsinge Plads entstehen, 55 Projekte er-      wir heute setzen, kommt auch den nächsten
weitern die Kanalisation und trennen Regen-       Generationen zugute“, sagt Jan Rasmussen.
und Abwasser. Der sozioökonomische Bene-               Den Sankt Annæ Plads, die einstige un-
fit umfasst den Schutz, die Lebensqualität für    scheinbare Durchgangsstraße, verwandeln
die Bevölkerung ebenso wie wirtschaftlichen       die Bäume in einen Boulevard. Bänke stehen
Gewinn: Planung und Umsetzung schaffen            unter ihnen, Mülleimer für getrennten Abfall.
Arbeitsplätze, fördern Innovationen: neue ge-     Ein Ort zum Verweilen, mitten in der Stadt.
stalterische Ideen, das Zusammendenken von        Kopenhagen durchzieht bereits jetzt ein Netz
bisher getrennten Bereichen eines kommuna-        solcher Ruhe-Inseln. Vor dem Rathaus, auf je-
len Wandels.                                      dem kleinen Platz der Innenstadt, in den Parks
                                                  und Grünanlagen ohnehin. Bänke unter Bäu-
                                                  men, auf denen öffentliches Leben draußen
Das grüne Band                                    stattfinden kann. Kinder, Männer, Frauen
Wie ein grünes Band zieht sich die Rasenflä-      jeden Alters und unterschiedlicher Nationa­
che in der Mitte des Sankt Annæ Plads von         lität sitzen, entspannen oder arbeiten zu den
der Innenstadt zum Meer, zum Kopenhagen           unterschiedlichsten Tageszeiten darauf. Ein
Havn. Flache Stufen trennen den Rasen von         weiteres Benefit: Aufenthaltsqualität.

Naturgefahrenreport 2019
18    Kapitel eins: Lebensstrategie Klimaanpassung

                „Das größte Talent der Klimaanpassung ist die Synergie, die
                Zusammenarbeit aller.“
                                                                          Jan Rasmussen, Klimaanpassungsmanager Kopenhagens

                         Der Stadtraum gehört den Menschen, nicht          Wasser, dazwischen schlendern Touristen. Das
                         dem Fahrzeugverkehr.                              urbane Meer hat seit einigen Jahren wieder
                             Auch der Sankt Annæ Plads ist ein Regen-      Badequalität. Weil der Schiffsverkehr weitest-
                         wasser-Boulevard. Die Rasenfläche in der Mitte    gehend emissionsfrei ist, weil Boulevards wie
                         kann das Wasser sammeln, das von den leicht       der Sankt Annæ Plads verhindern, dass Regen-
                         abschüssigen Gehwegen und Fahrbahnen dort         wasser Dreck ins Meer spült. Lebensqualität
                         hineinfließt. Die bekiesten Wege und Stand-       einer maritimen Stadt: Das Wasser gehört den
                         orte der Bäume nehmen zusätzlich Wasser auf.      Menschen.
                             Die Analyse des Regenwasser-Risikos               Vor dem Zuviel an Wasser, das aus dem
                         der Stadt belegt: Einen hundertprozentigen        Meer kommt, schützen Parks entlang der
                         Schutz gibt es nicht, erst recht nicht bei all    begrünten Deiche, in deren Hinterland wie-
                         den Unwägbarkeiten von Wetter und Klima.          derum Parks mit Mulden angesiedelt sind.
                         Zehn Zentimeter Wasser auf der Straße müs-        Sturmflut ist die zweite Gefahr für Kopen-
                         sen die Menschen im Extremfall verkraften,        hagen. Zwar liegt die Stadt in der Meerenge
                         nicht jeder Schaden kann verhindert werden.       Öresund im eher ruhigen Gefilde, doch kann
                         Minimieren sollen wasserdichte Keller, Pum-       ein steigender Meeresspiegel, verbunden mit
                         pen und Schutz der Hauseingänge, die für öf-      stärkeren Stürmen, auch Kopenhagen über-
                         fentliche und private Gebäude verpflichtend       fluten. Der Klimaanpassungsplan sieht dafür
                         sind. Die Kosten für die Anpassung teilen sich    am Nordhafen neue, höhere Deiche mit grü-
                         Stadt, Wasserbetriebe, Sponsoren und Privat-      nem Hinterland als Auffangflächen vor. Das
                         leute. Kopenhagen setzt eine landesweite Ge-      Gelände am Südhafen wird insgesamt höher
                         setzgebung dafür durch.                           gelegt, ein Schleusensystem eingebaut.

                         Der bunte Alltag                                  Von allen mit allen
                         Die breiten Stufen am Kopenhagen Havn am          Auf der anderen Seite des Öresund liegt Land
                         Ende des Sankt Annæ Plads füllen sich mit         noch brach. Nicht mehr lange. Ab 2021 ist
                         Menschen, die Ständer davor mit Fahrrädern.       die Fläche eine der weiteren grün-blauen
                         Rushhour an einer der vielen kostenfreien         Baustellen Kopenhagens, die größte dann.
                         Bade­stellen. Am Espresso-Mobil gibt es Kaf-      Auf dem ehemaligen Hafengelände entsteht
                         fee, daneben im Restaurant des Theaters auch      Udviklingsselskab, ein neues Wohn-, Arbeits-
                         Weißweinschorle und Snacks, Smørrebrød mit        und Kulturquartier für 800 Menschen. Kopen-
                         Lachs oder Rührei. Einige Menschen sitzen ar-     hagen wächst. So viel Lebensqualität zieht
                         beitend an ihren Tablets, andere springen ins     Menschen an. „Auch bei jedem Neubau den-

     Naturgefahrenreport 2019                                                                 Grün und Blau: Parklandschaft.
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          „Klimaanpassung ist sozioökonomischer Benefit.“
                                                                   Jan Rasmussen, Klimaanpassungsmanager Kopenhagens

ken wir Klimaanpassung von Anfang an mit“,       berücksichtigen, Lösungen aushandeln – von
sagt Rasmussen. Mit öffentlichen Plätzen,        den Stadtplanenden über Wirtschaftsunter-
komplett versorgt aus erneuerbarer Energie       nehmen bis hin zur Bevölkerung. Durch den
aus Erde, Wind und Biogas. Der Autoverkehr       sozioökonomischen Benefit.
bleibt draußen.                                      So viel Lebensqualität zieht auch immer
    Grün statt Parkplätze. Wie schafft Kopen-    mehr TouristInnen an, die wiederum Geld in
hagen dieses ganzheitliche Konzept, an dem       die Stadt bringen. Die Tourismus- und Gastro­
sich andere Kommunen im Klein-Klein von          nomiebranche wächst. Der Handel, die Kultur­
Verwaltung und Zuständigkeiten aufreiben?        einrichtungen. Auch am späten Frühsommer-
Durch den gemeinsamen Willen aller, sagt         abend, im lange dauernden Sonnenuntergang
Jan Rasmussen – der Menschen aus Politik,        Skandinaviens, flanieren TouristInnen am
Verwaltung, der Bevölkerung. Durch Syner-        Wasser, posieren vor der Skulptur der kleinen
gien und Netzwerke, die alle Beteiligten an      Meerjungfrau. Die Lille Havfrue auf ihrem Fel-
einen Tisch bringen und deren Bedürfnisse        sen nimmt die unzähligen Berührungen und
                                                 Selfies aus aller Welt auf dänische Weise hin:
                                                 gelassen, mit freundlicher Autarkie.

Der Klimaanpassungsplan
„Eine grünere Stadt ist besser auf das Klima von morgen vorbereitet“, lautet der erste Satz des
Klimaanpassungskonzepts von 2011. Es umfasst bis 2035 die Umgestaltung der Stadt zu einer
grün-blauen Metropole, die vor Starkregen und Sturmflut geschützt ist. Straßen, Plätze, Parks
und Quartiere erhalten eine Regenwasser-Infrastruktur, die Kanalisation wird erweitert, Deiche
gebaut. Ein grünes Band trägt diese Infrastruktur durch alle Stadtteile Kopenhagens. Vor vier
Jahren beginnen Bau und Umgestaltung. Von den insgesamt etwa 350 Projekten sind etwa
15 Prozent umgesetzt, rund 20 Prozent stehen kurz vor Beginn. Im zuständigen Zentrum für
Klimaanpassung arbeiten 40 Menschen.

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20                                                                   Gesundes Feld: Neben Getreide wachsen Wildblumen.

     Klimaangepasste Landwirtschaft

     Dem Boden verpflichtet
     Klimaanpassung in der Landwirtschaft heißt: Flexibilität. Der Klimawandel verschiebt die Wachstums-
     und Reifeperioden – oder vernichtet Ernten wie im Dürrejahr 2018. Ein Agrar­betrieb aus Sachsen-Anhalt
     setzt auf den Kreislauf von Geschäftsfeldern. Eine Visite.

                        K
                                urz vor Eins kommt die Sonne raus. Eine          Die Agrargenossenschaft Löberitz ist breit
                                Stunde später fährt der erste Mähdre-        aufgestellt, auch mit Geschäftsfeldern, die mit
                                scher und testet, ob der Raps reif zur       Boden und Vieh wenig zu tun haben. Sie wirt-
                         Ernte ist. Es sind die wenigen kühlen Tage des      schaftet in Kreisläufen, einen Großteil dessen,
                         Sommers 2019. Es hat genieselt, winzige Trop-       was sie braucht, produziert sie selbst. Das
                         fen für jeden ausgetrockneten Quadratmeter          macht sie ein Stück weit marktunabhängig.
                         Land. Der erste Regen des Sommers. Im Jahr              Statt unrentabler Milchkühe leben nun
                         zuvor hat es nicht geregnet. Thomas Külz er-        750 Färsen im Laufstall, mit Auslauf nach
                         hält das Ergebnis des digitalen Tests per Handy,    draußen. Einige Monate im Jahr lebt ein
                         gibt das Okay. Erntebeginn. „Viel mehr als 60,      Bulle mit den Jungkühen. Auf natürlichem
                         70 Prozent des üblichen Ertrages sind auch in       Weg kommen die Kälber zur Welt. Die weib-
                         diesem Jahr nicht drin“, sagt der Chef der Agrar­   lichen Kälber bleiben für die eigene Zucht in
                         genossenschaft Löberitz unweit Bitterfelds.         der Agrar­genossenschaft. Die Jungbullen wer-
                             Mähen auf Abruf, Leben nach dem Rhyth-          den verkauft. Ebenso die Muttertiere, wenn die
                         mus von Wetter und Klima. Wie kaum eine             Kälber groß sind.
                         andere Branche ist die Landwirtschaft an das            Seit zwei Jahren grasen 100 Fleischrinder
                         Wetter gebunden.                                    auf den Wiesen, bleiben nahezu das ganze Jahr
                             Landwirtschaft ist heute breit aufgestellt      draußen, ihre Kälber mit ihnen. 60 sind es in
                         und hoch spezialisiert gleichermaßen, sagt          diesem Jahr. Löberitz eröffnet mit dieser Herde
                         Dr. Rainer Langner, Vorstandsvorsitzender der       ein neues ökologisches Geschäftsfeld. Noch
                         Vereinigten Hagelversicherung und Präven-           ein Jahr der Übergangszeit, dann erhalten sie
                         tionsexperte fürs Land. Das heißt zweierlei:        das Zertifikat. Schöner Nebeneffekt der Weide-
                         Anpassung an den gesellschaftlichen Wandel,         haltung: Das Gras muss nicht mehr aufwendig
                         Anpassung an den Klimawandel. Was verlangt          gemäht werden. „Was will man mit so mage-
                         der Markt, steuert die Subventionspolitik?          rem Gras anderes machen, als es durch einen
                         Regionale Produkte sind gefragt, möglichst          Kuhmagen zu schicken? Auch das ist Energie“,
                         vielfältig, möglichst nachhaltig produziert,        sagt Thomas Külz und beschreibt damit As-
                         dennoch mit Gewinn und mit Bestand auf dem          pekte der Kreislaufwirtschaft: Alle Ressourcen
                         Weltmarkt. Ein Spagat, oft genug ein Balancie-      nutzen. Der Boden in dieser Gegend ist nur
                         ren an den Grenzen der Existenz.                    von mittlerer Qualität.

     Naturgefahrenreport 2019
21

     Energie speist auch die genossenschaftli-
che Biogasanlage ins Netz ein, eine zusätzliche
Einnahmequelle. Sie liefert zudem die Wärme
für die Schweineställe, die das Unternehmen
verpachtet hat. Die Gülle der Schweine wiede­
rum landet in der Biogasanlage. Dazu Mais,
der als Futter nicht verwertbar ist. Solaranla-
gen beliefern den gesamten Betrieb mit Ener-
gie – auch sie liefern Strom ins Netz.
     Haupterwerb der Löberitzer Genossen-
schaft ist das Feld, sind 2.700 Hektar eigenes
und gepachtetes Land. Wintergerste und Rog-            Der Mais steht noch auf dem Feld. Er hat    Thomas Külz
gen, Weizen, Raps, Mais, Zuckerrüben wach-        im Sommer 2019 nur knapp die Hälfte sei-         leitet die Agrar-
sen im jährlichen Wechsel. Diese Fruchtfolge      ner Höhe und Üppigkeit – zu trocken. Rund        genossenschaft
ist eine Möglichkeit, sich dem Klimawandel        50 Prozent des Üblichen, schätzt Külz, wird      Löberitz.
anzupassen. Je ausgezehrter der Boden durch       die Ernte hergeben. „Mais ist eine subtropi-
Monokultur, je trockener, desto mehr trägt        sche Pflanze. Der verträgt Trockenheit.“ Mais
der Wind davon. Neben den Feldern wachsen         ist auch ein guter Klimageist. Ein Hektar Mais
Wildkräuter auf schmalen Streifen. Biotope,       produziert so viel Sauerstoff wie vier Hektar
die der Artenvielfalt dienen – und dem Boden      Buchenwald.
guttun. Zwischen den Blühstreifen und den              In Löberitz wird grundsätzlich nicht ge-
Feldern liegt ein schmaler Streifen unbewach-     pflügt. Külz: „Wir wollen dem ohnehin tro-
senen Landes, damit das Kraut sich nicht mit      ckenen Boden nicht noch mehr Wasser ent-
dem Getreide vermischt. Diesen Streifen nut-      ziehen.“ Der Eingriff der Pflugschar bringt
zen inzwischen Rehe und Hasen als sichere         die feuchte Erde nach oben und liefert sie der
Wege statt der nahe gelegenen Straße.             Sonne aus. Sie mulchen, der Boden wird nur
     Zehn Prozent der Ackerfläche werden          leicht an der Oberfläche aufgelockert, alles
nicht bewirtschaftet, auf ihnen wachsen Wild-     Weitere zur Bodengesundheit besorgen die
blumen, bieten natürlichen Lebensraum für         Mikroorganismen. Die Reste aus der Biogas-
Insekten. Auch hier kann sich der Boden er-       anlage landen als Dünger auf dem Feld. Külz:
holen, und der Imker erntet Honig.                „Alles drin, was die Pflanzen brauchen.“

Die Elemente zukunftsfähiger Landwirtschaft

           Klimaresiliente                           Schonende                          Versicherungs-
           Anbaukulturen                          Bodenbearbeitung                          schutz

Naturgefahrenreport 2019
22    Kapitel eins: Lebensstrategie Klimaanpassung

                              Klimaanpassung, das ist für Külz neben       Leute bezahlen und notwendiges Futter kau-
                         schonender Bodenbearbeitung und resisten-         fen.“ 24 Beschäftigte gibt es.
                         ten Sorten auch die Form der Bewirtschaf-             Külz hat vor einigen Jahren einen Vortrag
                         tung. Für Böden mittlerer Qualität wie den        über Risikomanagement gehalten. Klima-
                         sachsen-anhaltinischen rund um Bitterfeld         wandelanpassung, Kreislaufwirtschaft, breit
                         ist extensives Wirtschaften sinnvoll, zugleich    aufgestelltes Geschäft – das gehört für den
                         nachhaltig: Die Felder werden nicht künstlich     Landmanager dazu. Auch die Versicherung
                         gedüngt, keine Pestizide ausgebracht. Das         für Feld, Vieh und Gebäude. Eine Hagelversi-
                         schützt die Umwelt, stärkt die Pflanzen in ih-    cherung hat die Genossenschaft. Eine Dürre-
                         rer natürlichen Widerstandsfähigkeit – be-        versicherung indes ist für sie nicht bezahlbar.
                         deutet indes auch weniger Ertrag und weniger      Der Staat besteuert sie so hoch, dass sie für
                         Einnahmen. Die mit neuen Wirtschaftszwei-         die Löberitzer­Innen genauso viel pro Hektar
                         gen wie dem Solarenergieverkauf kompensiert       kosten würde, wie die Ernte einbringt. In ei-
                         werden sollen. „Auf guten Böden kann man          nem guten Jahr. Als Vorsitzender des Anhalter
                         auch über künstliche Bewässerung nachden-         Kreisbauernverbandes macht sich Külz des-
                         ken“, sagt Külz. Und auch über Genforschung       wegen für eine Landwirtschaftliche Mehrge-
                         für klimaresistente Sorten. Warum mitteleuro-     fahrenversicherung stark, die staatlich bezu-
                         päisches Getreide nicht mit Wüstenpflanzen        schusst wird, wie es in anderen europäischen
                         kreuzen? „Das Denkverbot für genetische For-      Ländern üblich ist. Eine Versicherung, die
                         schung stellen inzwischen ja auch die Grünen      Ernte­ausfälle durch unterschiedliche Natur-
                         infrage.“                                         gefahren schützt. Solidarisch getragen von
                              Trockenheit kennen die Menschen hier         LandwirtInnen aller Branchen: „Für Weinbäu-
                         seit Jahrhunderten. Der Regen geht westlich       erInnen sind Wärme und Trockenheit ja gut.
                         von ihnen, am Harz, herunter. Trockenheit         Uns schaden dafür Spätfröste nicht so stark.“
                         und Dürre wie 2018 und 2019 kennen sie nicht.         „Vor Dürrejahren wie 2018 können sich
                         50 Prozent Ernteausfälle im Vorjahr. Keine Ein-   LandwirtInnen nicht schützen“, sagt Präven-
                         nahmen. 2018 hat Löberitz eine Entschädi-         tionsexperte Rainer Langner. „Als gute Ma-
                         gung vom Land bekommen. 200.000 Euro für          nagerInnen passen sie sich weitestgehend an
                         rund eine Million ausgefallene Ernte­erträge.     den Klimawandel an. Das verbleibende Risiko
                         Besser als nichts. Külz: „Wir wollen in solchen   muss ein bezahlbarer Versicherungsschutz
                         Jahren ja keinen Gewinn machen, nur unsere        tragen.“

     Naturgefahrenreport 2019
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Klimaangepasstes Haus

Schutz vor jeder Gefahr
Sturm, Starkregen, Überschwemmung – mit dem Klimawandel mehren sich auch die
Gefahren fürs Haus. Wirksamer Schutz richtet sich nach der jeweiligen Risikolage.
VersicherungsexpertInnen arbeiten an neuen Kriterien mit. Ein Überblick.

E
      in Schutzkonzept für das eigene Heim       an die Statik. Weitere Details, wie exponierte
      sollte mit einer Risikoanalyse beginnen,   Standorte am Hang oder in Alleinlage, konkre-
      sagt Volker Schrimb. Je nach Standort      tisieren, wie ein Haus gebaut werden darf. Was
sind Gebäude auf unterschiedliche Weise den      am Haus ist dann besonders gefährdet? Dach,
Gefahren durch Sturm und Hagel, Stark­regen      Fensterläden und angebrachte Fassadenteile.
oder Flusshochwasser ausgesetzt. Schrimb, Ri-    Auch Bäume auf dem Grundstück. Durch die
sikoexperte der R+V Versicherung, empfiehlt      Verkehrssicherungspflicht sind alle Eigen-
HauseigentümerInnen für die Vorsorge eine        tümerInnen an regelmäßige Kontrollen und
Konsultation mit ihrem Versicherungsunter-       Wartung gebunden. Lockere oder beschädigte
nehmen. Denn auch bestehende Gebäude las-        Dachziegel etwa sollten ausgetauscht, Risse in
sen sich ans Klima anpassen.                     der Dachhaut beseitigt werden. Bäume benöti-
                                                 gen eine Kontrolle auf Standfestigkeit. Je nach
                                                 Alter und Zustand sollte diese alle ein bis zwei
Schutz vor Sturm                                 Jahre erfolgen.
Die Sturmresilienz richtet sich nach den soge-        Für Flachdächer empfiehlt Schrimb eine
nannten Windlastzonen. Diese teilen Deutsch-     gleichmäßige Kiesschicht. Diese schützt die
land in vier unterschiedliche Regionen. An den   Dachabdichtung vor Abnutzung und gleich-
Küsten und auf den Inseln in Nord- und Ost-      zeitig vor Feuchtigkeit, Hagel und Sonnenein-
see herrscht die höchste Windstärke, in Tei-     strahlung. „So hält die Bitumenschicht darun-
len West- und Süddeutschlands die geringste.     ter länger als 15 Jahre.“
Die Baunorm stellt vor allem Anforderungen            Dass ein Check der Dächer oft ver-

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                                                                      Klimaangepasst: Häuser, die Naturgewalten standhalten.

     nachlässig wird, kennt auch Natur-        es für Hagelschutz in Deutschland           in Planung und Bau einbezogen“,
     gefahrenexpertin Meike Müller von         keine Bauvorschriften. Die Versiche-        so Volker Schrimb. Wie etwa eine
     der Deutschen Rückversicherung.           rungswirtschaft arbeitet deswegen           Rückstausicherung, die verhindert,
     Sie arbeitet in der Projektgruppe         derzeit an einer Hagelrisikokarte,          dass Wasser aus der Kanalisation ins
     Naturgefahren beim GDV an Leit-           die die Gefährdung lokal sichtbar           Haus fließt. Je nach Funktion der
     linien zum Umgang mit Klimarisi-          macht. Weil Hagelunwetter zuneh-            Kellerräume sind das ein Rückstau-
     ken. „Vor allem nach einem Sturm          men, empfiehlt sich Hagelschutz in          verschluss im Abwasserrohr oder
     oder einem starken Gewitter sollte        ganz Deutschland, so Meike Müller.          eine Hebeanlage, die mit hohem
     das Dach unbedingt in Augenschein         Ab Korngrößen von drei Zentime-             Druck das Wasser zurück in die Ka-
     genommen werden.“ Am besten von           tern wird es für Dächer gefährlich,         nalisation pumpt. Weil Stark­regen
     einer Fachkraft.                          ab zwei Zentimetern für Glas. Sie           intensiver werden und jede Region
                                               verweist auf die Nachbarländer              in Deutschland gefährdet ist, liegt
                                               Schweiz und Österreich. Die dorti-          den Risikoexperten Müller und
     Schutz vor Hagel                          gen Hagelregister listen Materialien        Schrimb die individuelle Präven­tion
     Hagelgefährdet sind die gleichen          für Gebäudeteile wie Dach, Dachrin-         besonders am Herzen.
     Hausteile wie beim Sturm: Dach,           nen, Fassaden und Solaranlagen auf.             Diese umfasst das Haus samt
     Fassaden, dazu Fenster, Jalousien         Diese sind durchaus auf Deutsch-            Grundstück. Barrieren vor Keller­
     und alle Teile aus Glas und Kunst-        land übertragbar. Für Lichtkuppeln          eingängen und Lichtschächten,
     stoff. Anders als beim Sturm gibt         empfiehlt sie Hagelschutzgitter.            etwa 30 Zentimeter hoch, erhöhte
                                                                                           Eingänge schützen vor Überflutung.
                                                                                           Druckdichte Kellerfenster halten das
                                               Schutz vor Starkregen                       Wasser draußen. Mulden auf dem
                                               Für Starkregen gibt es gesetzliche          Grundstück fangen das Wasser vom
                                               Präventionsvorschriften. „Leider            höher gelegenen Haus auf. Eine
                                               werden diese oft nicht vollständig          Mauer oder eine Aufschüttung an

                           „Auch bestehende Gebäude können vor Wetterextremen
                           geschützt werden.“
                      Volker Schrimb, Präventionsexperte, R+V Allgemeine Versicherung AG

     Naturgefahrenreport 2019
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