NATURGEFAHRENREPORT 2019 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT E. V - GDV
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Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. Die Schaden-Chronik der deutschen Versicherer Naturgefahrenreport 2019
02 Inhaltsverzeichnis Einleitung 03 Editorial Kapitel eins: Lebensstrategie Klimaanpassung 06 „Schutz der Städte sollte Pflicht sein.“ Ein Gespräch mit Klimaexpertin Petra Mahrenholz 09 Leben mit dem Wasser. Klimaangepasste Städte in Deutschland 14 Grün ist längst Alltag. Das Modell Kopenhagen 20 Dem Boden verpflichtet. Klimaangepasste Landwirtschaft 23 Schutz vor jeder Gefahr. Klimaangepasstes Haus 26 Die Schweizer Risikokultur. Ein Gespräch mit den Naturgefahrenexperten Josef Eberli und Bruno Spicher K apitel zwei: Das Jahr der Extreme. Die Schadenbilanz 2018 der Sach- und Kfz-Versicherung 30 Sturm, Hitze, Wasser. Der Jahresrückblick 2018 32 Das vernichtende Heiß. Das zerstörerische Nass. Die Sachschäden 2018 38 20 Minuten Hagel genügen. Die Kfz-Schäden 2018 40 „Verdrängen macht den Alltag einfacher.“ Ein Gespräch mit Risikoexpertin Rita Haverkamp und Klimawandelstrategen Dirk Messner Kapitel drei: Die MacherInnen aus der Risikowelt 44 Netz und doppelter Boden. Das Krisenmanagement der Branche 47 Der richtige Kanal für den Ernstfall. Krisenkommunikation 48 Zerstörung auf kleinstem Raum. Das Starkregenprojekt von DWD und GDV 50 „Es geht ja um Menschen.“ Arbeitsalltag in Versicherungsagenturen 53 Eigenvorsorge vor Naturgefahren: Die Länderkampagnen Anhang 54 Publikationen und Links 55 Bildnachweis 56 Impressum Naturgefahrenreport 2019
Einleitung 03 Editorial D ie Nachricht, die im August 2019 über die Bildschirme flimmert, stimmt nachdenklich. „Island er- klärt erstmals einen Gletscher für tot“ – spätestens mit Botschaften wie diesen ist der Klimawandel mitten in unserer Gesellschaft angekommen. Schon 2018 war in Deutschland und Europa ein Jahr der Wetterextreme – die längste Hitzeperiode, das wärmste Jahr, verheerende Stürme und Sturz- fluten. Und die Extreme werden immer Und abseits der Städte? Die Land- häufiger zur Normalität werden. Darin wirtschaft ist wie keine andere Bran- sind sich führende MeterologInnen ei- che ans Wetter gebunden. In Zeiten nig. Umso mehr geht es in den kommen- extremer Niederschläge und langer den Jahren nicht nur darum, mit muti- Trockenperioden sind flexible Lösun- gen und nachhaltigen Entscheidungen gen gefragt. Dass es sich lohnt, die Her dem Klimawandel entgegenzuwirken. ausforderung anzunehmen, zeigt ein Wir brauchen auch Anpassungs- Agrarbetrieb in Sachsen-Anhalt. Nicht strategien, die es uns ermöglichen, mit zuletzt kann auch jeder einzelne von den Veränderungen umzugehen. Wie uns in seinem privaten Umfeld vielen schützen wir unsere Städte – gegen die möglichen Folgen des Klimawandels Regenmassen, gegen die erbarmungs- begegnen. Zum Beispiel mit einem lose Hitze? Für den Naturgefahren umfassenden Schutz fürs eigene Haus. report haben wir uns auf die Suche nach Versicherer arbeiten aktiv mit Wetter Dr. Wolfgang Weiler klugen Ideen gemacht. Und sind fün- expertInnen, ArchitektInnen und (Präsident) dig geworden: in Hamburg, Münster, MaterialforscherInnen an zukunftsfä- Dresden, Berlin und in anderen euro higen Konzepten – und verstehen sich päischen Ländern. So vereint Kopen als Partner für HausbesitzerInnen, hagen wie kaum eine andere Metropole für Unternehmen, für Städte und für Dr. Jörg von Fürstenwerth Klimaschutz und Klimaanpassung. Gemeinden. (Vorsitzender der Geschäftsführung) Schäden durch Naturgefahren 2018 auf einen Blick 3,1 Mrd. € in der Sach- und Sachversicherung Kfz-Versicherung 2018 Wohngebäude, Hausrat, Industrie, Kfz-Versicherung Gewerbe und Landwirtschaft Voll- und Teilkasko 2,6 2.100 Mio. € 500 Mio. € 500 Mio. € 20 Mio. € 520 Mrd. € Mio. € 1.601.000 111.000 215.000 4.300 Sturm- und weitere Naturgefahren- Sturm- und Überschwemmungs- Hagelschäden schäden (Elementar) Hagelschäden schäden Naturgefahrenreport 2019
Lebensstrategie Klimaanpassung Wie wollen wir leben? Nachhaltig, soll diese Welt nicht an der Erderwärmung ersticken. Der Klimawandel beschleunigt, vergrößert Naturgefahren und Zerstörung auch in Deutschland. Anpassung ist notwendiger denn je. Sie bringt Gewinn und schafft neue Lebensqualität. Besonders dann, wenn Schutz vor Wetterextremen und Klimaschutz sich miteinander verbünden. Beispiele aus Deutschland und den Nachbarländern. Naturgefahrenreport 2019
06 Klimaanpassung „Schutz der Städte sollte Pflicht sein.“ Menschen, Städte, das ganze Land sind verletzlich gegenüber den zunehmenden Wetterextremen. Anpassung an den Klimawandel ist notwendig, sagt Klimaexpertin Petra Mahrenholz vom Unweltbundesamt. Sie skizziert, was eine gute Strategie ausmacht. Frau Mahrenholz, warum ist Anpassung leicht vier Grad. Deswegen ist einerseits an den Klimawandel notwendig? Klimaschutz unabdingbar. Und wir müssen Weil wir mit weitreichenden klimatischen andererseits den Klimawandel mit Anpas- Veränderungen rechnen müssen; selbst sungsmaßnahmen begleiten. wenn wir die Treibhausgasemission sofort auf null fahren würden. Unser Erdsystem Auf welche Wetterextreme müssen wir heizt sich auf, die Durchschnittstempera- uns vor allem einstellen? tur in Deutschland hat sich in den vergan- Auf die Hitze: Wir hatten in den vergangenen genen 130 Jahren um 1,5 Grad erhöht. Die 70, 80 Jahren durchschnittlich sieben heiße Konsequenzen spüren wir auch noch in Tage mit Temperaturen über 30 Grad. Diese Jahrzehnten, denn ein Zurück gibt es nicht. Anzahl wird bis 2100 sehr wahrscheinlich um Und ein Weiter-so auch nicht: Alle Szena 20 bis 30 Tage steigen. Das ist nicht nur für rien sagen: Wenn wir weiter wie bisher fos- ältere Menschen, Kranke und Kinder eine Ge- sile Brennstoffe nutzen, liegt zum Ende des fahr, auch für gesunde Menschen. Gerade in Jahrhunderts die Erwärmung bei drei, viel- den Städten. Heftigere, häufigere Stürme Mehr Hitze und Dürre Folgen des Bedroht sind: Menschliche Gesundheit Städte, Siedlungen, Infrastruktur
Kapitel eins: Lebensstrategie Klimaanpassung 07 Ist Hitze das größte Risiko, an das wir uns Welche Prämissen muss eine Anpassungs- anpassen müssen? strategie setzen? Das zweite ist Starkregen und seine Schäden Sie muss umfassend sein, flexibel und alle an Gebäuden und Infrastruktur durch Sturz- gesellschaftlichen Bereiche mitdenken, Um- fluten und Überschwemmung. Die Heraus welt, Soziales, Wirtschaft und Verkehr. Der forderung ist dabei die zunehmende Varia- Klimawandel schlägt in allen Feldern zu. bilität zwischen Zuviel und Zuwenig Wasser. Oft gibt es dabei eine Kaskadenwirkung, Das haben wir in den vergangenen Jahren ge- die zu berücksichtigen ist: Fällt ein Sys- sehen: 2015 und 2018 hatten wir Hitze- und tem aus, fallen andere mit aus. Dafür Dürrejahre mit insgesamt zu wenig Was- braucht es Generalisten, die Maßnah- ser; 2016 und 2017 vor allem verheerende men in Komplexität denken. Starkregen. Damit einher geht die Beeinträchtigung Haben Sie ein Beispiel dafür? der Wassernutzung. Der Grundwasserspie- Bei der Elbeflut 2013 fielen die Server gel sinkt, die Bodenfeuchte sinkt. Werden eines Rechenzentrums in der Region wegen wir künftig in allen Regionen Deutschlands Überflutung aus. Davon waren überregional genügend Wasser haben? 2018 gab es bereits mehrere Institutionen betroffen, sie hatten Knappheit, etwa im Harzer Vorland. kein Telefon, kein Internet, konnten über ihre Daten nicht verfügen. Obwohl sie weit weg Petra Mahrenholz Welche Veränderungen erleben wir noch? von der Flut waren, spürten sie die Auswir- leitet seit 2010 das Eine weitere Herausforderung ist die Verän- kungen. Wenn wir uns fragen: Was machen Kompetenzzentrum derung der Arten, das Schrumpfen des Arten- wir, wenn bundesweit der Strom ausfällt, der Klimafolgen und Anpassung reichtums. Und der Anstieg des Meeresspiegels Verkehr zusammenbricht, dann wird relevant, (KomPass) des Umwelt bedroht Küstenregionen, zunehmende Fluss- dass wir in Kaskadensystemen quer über die bundesamtes in Dessau. hochwasser bedrohen ganze Landstriche. Infrastruktur denken müssen. Klimawandels Häufigere, extreme Starkregen Häufigere, stärkere Hochwasser Landwirtschaft und Wirtschaft Natur und Landschaft Artenvielfalt
08 Kapitel eins: Lebensstrategie Klimaanpassung Was macht gute Klimaanpassung aus? Wie steht Deutschland im europäischen Dass sie wie beschrieben sektorenübergrei- Vergleich da? fend denkt und sich die Maßnahmen nicht Ich würde Deutschland mit zu den Vorreitern gegenseitig behindern. Dass sie vorausschau- zählen. Wir sind recht weit mit dem Hitze end plant. Zum Beispiel im Hochwasserschutz: schutz. Die Niederlande haben sehr gute Deichbau ist das eine, doch Sie sollten auch Schutzkonzepte für Küsten und Flüsse, da sind hinter dem Deich Flächen für die Renaturie- wir in Deutschland noch nicht so weit. Auch rung freihalten. Das wirkt sich einerseits aufs die Schweiz, Dänemark und Frankreich sind Klima positiv aus, andererseits haben Sie für sehr gut aufgestellt. Extremfälle weitere Überflutungsflächen und schützen die Infrastruktur. Sie sagten, Klimaanpassung ist eine Ein weiteres Kriterium ist die Effizienz, komplexe Aufgabe für alle. Welche dass der Nutzen möglichst höher ist als die Rolle spielt die Bundespolitik, welche Kosten. Dach- und Fassadenbegrünung zum Rolle spielen Städte und Gemeinden? Schutz vor Hitze beispielsweise sind sehr gut, Die Bundespolitik gibt den gesetzlichen Rah- weil der Nutzen auch gesellschaftlich ist. Das men vor, schafft Normen und Richtlinien. In Stadtklima verbessert sich, Artenvielfalt kann der Baugesetzgebung, der Umweltverträglich- erhalten werden. keitsprüfung und dem Hochwasserschutz ha- ben wir bereits gute Vorschriften. Damit gibt Wie weit sind deutsche Städte in Sachen sie den Kommunen rechtliche Sicherheit und Klimaanpassung? erleichtert die Anpassung. Diese sollte zur Es gibt Städte, die schon sehr weit sind. Wir Pflichtaufgabe der Städte werden. Die Bundes zeichnen seit drei Jahren gute Beispiele aus regierung sollte den Klimawandel in Förder- und hatten 2018 etwa 100 Bewerbungen, auch instrumenten verankern, für den Städtebau von städtischen Unternehmen. Viele Städte beispielsweise. An den Kommunen ist es, ent- haben KlimamanagerInnen oder ressortüber- sprechende Maßnahmen umzusetzen. greifende Gremien für die Anpassung, andere Städte Maßnahmenpläne. Stuttgart, Hamburg, Wie können sich BürgerInnen schützen? Berlin beispielsweise setzen Strategien für die Die Verantwortung der Einzelnen wird in euro- Anpassung an Hitze und Starkregen um. Sie päischen Staaten sehr stark diskutiert. Wo hört verändern Kanalisation und oberirdische In- Vorsorge des Staates auf, wo beginnt Eigen- frastruktur, begrünen Flächen und Gebäude. verantwortung? Privatpersonen müssen sich Berlin stellt öffentlich Trinkwasserbrunnen und ihr Eigentum selbst schützen, auch mit auf. Solingen hat seine Straßen so gestaltet, technischen Mitteln. Und jegliche Verände- dass kein Regenwasser auf Grundstücke flie- rung geht auch mit kulturellem Wandel ein- ßen kann. Doch so simpel das klingt, es schei- her, mit sozialer Fürsorge. Bei Hitze sollten wir tert oft an noch geltenden Vorschriften. Und mehr aufeinander achten. Alte Leute beispiels- vielen Kommunen fehlt das Geld. weise trinken oft zu wenig. Darauf kann man sie hinweisen – auch darauf, nicht in der Mit- tagszeit aus dem Haus zu gehen. Die Deutsche Anpassungsstrategie Welche Rolle spielt die Versicherungswirtschaft? Deutschland verfolgt seit 2008 die „Deutsche Anpassungsstrate- Sie spielt zum einen eine große Rolle als Multi gie an den Klimawandel“. Mit diesem Informations- und Maßnah- plikatorin, um für die Risiken von Extrem menpaket soll die Bundesrepublik gegenüber den zu erwarten- ereignissen zu sensibilisieren. Und natürlich den Klimaveränderungen widerstandsfähiger gemacht werden – mit ihren Leistungen, Risiken abzusichern. in 15 gesellschaftlichen Bereichen. Geschützt werden sollen vor Zum anderen nutzt das Umweltbundesamt allem menschliche Gesundheit, Wasser, Infrastrukturen, Land, auch die Erkenntnisse der Assekuranz. Dass Wirtschaft, Raumplanung, angepasst unter anderem der Bevölke- die Schäden mit dem Klimawandel steigen, rungsschutz. 2020 soll eine aktualisierte Strategie vorliegen. wissen wir auch aus ihren Daten. Die Zusam- menarbeit ist sehr lang und vertrauensvoll. Naturgefahrenreport 2019
Kapitel eins: Lebensstrategie Klimaanpassung 09 Klimaangepasste Städte Leben mit dem Wasser Hamburg, Münster, Dresden, Berlin. Deutsche Städte passen sich an den Klimawandel an. Die Reise an diese vier exemplarischen Orte folgt der Frage: Wie? Die Konzepte ähneln sich, Individualität erhalten sie durch Lage und Verfasstheit einer Stadt – und durch ihre Mentalität. Ein Spektrum von Blau bis Grün. W ir können Starkregen so lenken, klimaangepasste Stadt vor allem braucht. dass er keinen Schaden anrichten Grün und Wasser, die eine Symbiose bil- kann und uns nützt“, sagt Christian den. Das Grün fängt den Regen auf, auch das Günner von Hamburg Wasser. „Unsere ge- Zuviel an Regen, das die Kanalisation nicht wachsenen Grünzüge sind unser Kapital für fassen kann. Fängt es auf und speichert es. regenreiche und regenarme Jahre“, sagt Veit Nährt sich davon, schafft durch Verdunstung Muddemann vom Umweltamt in Münster. Feuchtigkeit und Kühle für die Hitzetage. Die Jens Seifert vom Dresdner Umweltamt skiz- Schwammstadt, das blau-grüne Regenwasser ziert die schöne Vision einer „kompakten Stadt management, ist ein Grundbaustein urbaner im ökologischen Netz“. Und Heike Stock vom Anpassung an zunehmenden Starkregen Berliner Umweltsenat zieht auf ihre Weise das einerseits und zunehmende Hitze anderer- Fazit: „Heute sagt niemand mehr: Ach komm, seits. Eine klimaangepasste Stadt braucht da- Klimawandel. Ich kauf Dir ein Eis.“ für freie, unversiegelte Flächen. Eine klima angepasste Stadt braucht zudem Menschen, Und damit ist, einmal kreuz und quer durch die sie vorantreiben – und ein aufgeschlosse- die Bundesrepublik, beschrieben, was eine nes gesellschaftliches Klima. Naturgefahrenreport 2019
10 Regenwasseraffin: Hamburger Schulen. Hamburg. Die Vorreiterin. regenwasseraffin zu gestalten. 2019 ziehen Bewohner- Innen in die Jenfelder Au, eines der ersten Regenwasser Hamburg baut. Erhöht die Deiche um rund 80 Zentime- quartiere. Das Areal einer ehemaligen Kaserne bietet ter. Damit sie auch zunehmenden Sturmfluten aus der Raum für 2.000 Menschen zum Leben und Arbeiten Nordsee und dem Hochwasser der Elbe trotzen können. – und für das Wasser. In den Parks und naturnahen Die rund 103 Kilometer lange sogenannte Hochwasser Innenhöfen des Viertels steht es im Mittelpunkt: Eine linie der Hansestadt, entstanden nach der verheerenden Wasserkaskade sprudelt, in Teichen, Gräben und Mul- Sturmflut 1962, wächst bis 2050. Wo keine Deiche Platz den sammelt sich der Regen. Das Abwassermanagement haben, entstehen Bauten. Der Entwurf für das Werk an funktioniert nach dem Hamburg Water Cycle, einem den Landungsbrücken zeigt einen schicken Boulevard trennenden Kreislaufsystem. Der Regen kühlt, Toilet- entlang des Wassers. tenabwasser wird erneuerbare Energie in Biogasanlagen, Hamburg baut. „Eigentlich brauchen wir gar kei- das weitere gereinigte Abwasser wieder dem Wasser- nen Klimawandel. Die Versiegelung reicht schon“, sagt kreislauf zugeführt. Christian Günner von Hamburg Wasser und meint da- mit: Jährlich nimmt sich die wachsende Stadt durch Wohnungsbau rund 100 Hektar freie Fläche, die Größe Mehr Bekenntnis von etwa 100 Fußballfeldern. Und dann kommt der Auch für die Schulen gibt es ein solches Bündnis. Alle Klimawandel obendrauf. Zu viel Wasser, das klingt im der 40 neu geplanten Schulen etwa erhalten ein neues Hitzejahr 2019 weit weg. Ein Jahr zuvor, im wärmsten Regenwassermanagement, sichtbar durch viel Grün, das bis dahin gemessenen Jahr, prasseln im Mai 60 Liter pro die Kinder auch zum Spielen nutzen können. Quadratmeter auf den Stadtteil Bergedorf. Schritt für Schritt, Projekt für Die Wasserwucht reißt sogar Straßen weg Hamburg will bis 2050 Cli- Projekt, arbeitet Hamburg das RISA- und lässt Häuser einbrechen. mate Smart City werden – mit Programm ab. Ein Nachfolgepro- Mit RISA legen Stadt und ihre Wasser- 80 Prozent weniger CO2-Aus- gramm, RISA plus, entsteht derzeit. Es betriebe 2015 ein umfangreiches Regen- stoß und klimaangepasst. soll der Stadt konkrete Leitlinien einer wasserinfrastrukturprogramm vor: „Leben dezentralen Regenwasserwirtschaft mit dem Wasser.“ Die MacherInnen wollen geben. Dazu gehört neben Dachbegrü- den Regen über der Erde leiten und speichern. Erste Pro- nung auch Fassadenbegrünung. Hamburg braucht zu- jekte, wie ein Regenwasserspielplatz, entstehen bereits in sätzliche Speicher, die Wasser halten und für Hitzetage den Jahren zuvor. Weitere folgen. Sportplätze und Parks verdunsten können. „Klimaanpassung ist ein Projekt werden so umgestaltet, dass sie das Regenwasser aufneh- von Generationen“, sagt Günner und unterschlägt da- men können. Im Alltag sind sie das, was sie sind. Wege bei im typischen Hamburger Understatement, wie viel und Straßen dorthin erhalten ein passenderes Profil: das bereits geschehen ist. Schwammstadt-Modell. „RISA ist eine Gemeinschafts- Was den InitiatorInnen von Hamburg Wasser fehlt, aufgabe – von Verkehrs-, Grünflächen-, Bauämtern und ist ein politisches Bekenntnis, dass Starkregen und Hitze Wasserwirtschaft“, sagt Christian Günner. Es bedeutet künftig in allen Belangen Hamburgs berücksichtigt wer- Überzeugungs- und Verhandlungsarbeit bis ins Detail. den. Es erleichtert vieles im Klein-Klein der Verhand- Günner: „Wer bezahlt den versetzten Bordstein?“ lungen und Verwaltungsvorgänge, kann klarere Regeln Es bedeutet Kooperationen. Ein Bündnis für städti- schaffen, Zuständigkeiten ordnen. Vieles sei derzeit schen Wohnungsbau beschließt, Wohnquartiere künftig noch „Infiltration“, so Günner. Naturgefahrenreport 2019
Kapitel eins: Lebensstrategie Klimaanpassung 11 Münster. Die Pragmatische. Mehr privates Grün Eine engere Zusammenarbeit mit der Stadtplanung hat „Hausaufgaben des Starkregens“ nennt Tiefbauamts der Regen gebracht, auch ein ganzheitlicheres Denken – leiter Michael Grimm das, was die Stadt seit dem wie in Hamburg, wie in Berlin oder Dresden. Die Stadt 28. Juli 2014 umtreibt. Als Jahrhundertregen geht die setzt bei neuen Wohngebieten von vornherein auf eine Naturkatastrophe mit 292 Litern pro Quadratmeter auf oberirdische Regenwasserinfrastruktur. Das dezentrale die völlig unvorbereitete Großstadt in Nordrhein-West- Regenwassermanagement fließt in das Konzept von Hitze- falen nieder – 40 Millionen Liter, das sind 26 Mal so und Sturmschutz mit ein. Derzeit erhält die 310.000-Ein- viel, wie Abläufe und Kanalisation zu diesem Zeitpunkt wohnerInnen-Stadt dafür konkrete Handlungsrichtli- fassen können. Zwei Menschen sterben. Halb Münster nien. „Wir brauchen vor allem privates Grün, das unser steht unter Wasser. Der Regen flutet unzählige Keller öffentliches Grün ergänzt“, sagt Veit Muddemann vom und Erdgeschosse, vernichtet Wohn- Umweltamt. Zwar verfügt Münster über raum und Hausrat. Münster erleidet die Das Klimaanpassungskon- einen Grüngürtel und Frischluftschnei- zweitgrößte Regenmenge seit Beginn zept von 2017 bescheinigt sen, doch das reicht der wachsenden Stadt der Wetteraufzeichnungen im Jahr 1881. Münster einen guten stadt- nicht. Der Trend der MünsteranerInnen ist Fünf Jahre nach der Sturzflut arbei- klimatischen Komfort, der eher, Vorgärten zu versiegeln. tet Münster die Hausaufgaben ab. Sie erhalten und ausgebaut wer- Münsters Verwaltung will mit gutem sind ein umfangreiches Programm, das den soll. Beispiel vorangehen. Alle geeigneten vom verbesserten Betrieb des Entwäs- Gebäude erhalten entsprechende grüne serungssystems über neue Regeninfra- Dächer, die Kitas und Schulen vor allem struktur bis zu angepasster Stadtplanung reicht. Ein Pro- Sonnensegel, dazu Solaranlagen und eine energetische gramm für rund 30 Jahre. Der Takt der Gullyreinigung Wärmedämmung, die auch bei Temperaturen über ist jetzt höher, gefährdete Stadtteile besitzen neuere, grö- 30 Grad den Innenraum kühl hält. „Das Klima in der ßere Durchfluss- und Abflussrohre. Derzeit entsteht eine Stadt ist aufgeschlossen“, sagt Muddemann, „dafür ha- breitere Brücke über die Aa. Das Flüsschen selbst erhält ben alle noch zu gut im Gedächtnis, was eine einzige mehr naturnahe Auslauffläche. Unterirdisch wächst das Naturkatastrophe anrichten kann.“ Diese Aufgeschlos- Kanalsystem mit Rückhaltebecken. Kanäle und Abflüsse senheit verbindet sich mit dem Image als lebenswer- sind digital überwacht, sodass bei erhöhtem Wasser- ter Stadt. 2019 hat Münster den deutschen Nachhaltig- stand sofort reagiert werden kann. keitspreis gewonnen, als „enkeltaugliche Stadt“. Hitze- und Regenschutz: Münsters Fassadengrün. Naturgefahrenreport 2019
12 Kapitel eins: Lebensstrategie Klimaanpassung Dresden. Die Wissbegierige. Der Zwinger und die gesamte historische Innenstadt bedroht, binnen kurzer Zeit müssen die einzigartigen Der kleine Kaitzbach schlängelt sich im heißen Sommer Kunstschätze gerettet werden. Nach dieser Katastrophe 2019 als dünnes Rinnsal durch sein junges Tal. Auf sei- investiert Dresden massiv in den Hochwasserschutz. nen Wiesen stehen hölzerne Schwimminseln mit Sitz- 2013 bewahrt die Strategie die Stadt vor einer erneuten bänken. Wenn es regnet, werden sie zu Flößen – eine Katastrophe. Badeleiter signalisiert das. Noch vor einigen Jahren ver- Dresdens Klimaanpassungskonzept, die kompakte läuft der Kaitzbach unterirdisch und unsichtbar durch Stadt im ökologischen Netz, integriert den Hochwasser- das Wohnquartier unweit der Dresdner City. Jetzt bildet schutz in Pläne für Hitze und Starkregen. Gemeinsam er, gemeinsam mit rund 500 weiteren Gewässern, das mit dem Umland, „weil weder das Hochwasser in Dres- ökologische Netz der sächsischen Landeshauptstadt. den entsteht noch die Hitze“, sagt Seifert. Integriert heißt „Unsere Bäche und Flüsse sollen gefahrlos Hochwas- auch: technischer Schutz wie die beiden Fluttore für die ser und Regen aus der Stadt leiten und Innenstadt, Risikominderung wie die außerdem Freiräume schaffen: Renatu- Mit dem Klimaanpassungs- blau-grüne Infrastruktur rund um die rierung “, sagt Jens Seifert vom Umwelt konzept REGKLAM verpflich- Gewässer – und ein Restrisiko. Und das amt. Wie der befreite Kaitzbach erhal- tet sich die sächsische Lan- treibt Seifert derzeit um: Wie lässt sich ten die Gewässer Dresdens wieder mehr deshauptstadt mit ihrem den BewohnerInnen der vielen einzel- Raum zum Auslaufen. Städtebauliche Umland zu einer integrierten nen Stadtteile vermitteln, dass Dresden Vergangenheit, wie der 90-Grad-Knick Klimaanpassung. nicht alles leisten kann, dass sie eigene der Weißeritz, wird sanft verändert. Der Vorsorge brauchen? „Vielleicht sollten künstliche Knick ist 2002 dafür verant- wir weniger in den technischen Schutz wortlich, dass die Innenstadt bis zum Hauptbahnhof investieren und mehr in den privaten Schutz.“ Geplant ist geflutet wird. Die Weißeritz hält sich nicht an den gerad zunächst eine 3-D-Simulation der Überflutungsflächen linigen Winkel, sucht sich ihren Weg durch den besie- der Elbe zum Anschauen. delten Raum. Was Seifert noch umtreibt, ist die Gefahr durch Stark regen. „Da haben wir Nachholbedarf.“ Derzeit läuft ein Forschungsprogramm mit der Dresdner Hochschule für Mehr Schutz vor Wasser Technik und Wirtschaft. Untersucht wird, wie verwund- Dresden. 555.000 EinwohnerInnen. Stadt an der Elbe, bar unterschiedliche Gebäudetypen gegenüber Stark- Hochwasserstadt 2002 und gleich wieder 2013. 2002 regen sind – und wie sie sich baulich schützen lassen. steigt der Elbpegel auf 9,40 Meter. Noch nie da gewe- Rund 750 verschiedene Gebäude – von der Gründerzeit sen. Das Wasser trifft die sächsische Metropole völlig bis zum 50er-Jahre-Bau – erhalten den Wasser-Check. unvorbereitet und mit Wucht. 15 Menschen sterben. Das soll in konkreten Leitfäden münden. Technischer Hochwasserschutz: Dresdner Fluttor. Renaturiert: Dresdener Bach und Grünzug. Naturgefahrenreport 2019
13 Urbane Landschaft: Regenwasserquartier in Berlin. Berlin. Die Anspruchsvolle. dermitteln für BauherrInnen ausgestattet. Grün werden sollen die Dächer vor allem in den urbanen Quartieren, 2017 ist in Berlin ein Regenjahr. Gleich zweimal, im Juni in denen städtischer Raum für Regen fehlt, die arm an und Juli, regnet es ungewohnt viel und heftig, am 29. Juni Grünflächen sind und sich besonders stark erhitzen. mit über 200 Litern pro Quadratmeter in sechs Stunden Das zweite Programm für Regen und Stadtklima ist die die höchste Menge in der Geschichte der Hauptstadt. „Charta für das Stadtgrün“. Sie soll in allen zwölf Bezir- Berlin unter Wasser, viele Keller mit ihr. „Der Impuls für ken der 4-Millionen-Metropole bestehende Parks, Gär- die Regenwasseragentur“, sagt Heike Stock. Die Klima- ten und Bäume schützen und aufwerten. Durch mehr anpassungs-Referentin im Berliner Senat bringt die Idee Personal, durch bessere Ausstattung, durch entspre- einer Managementstelle für Regenwasser aus Amster- chendes Know-how. Daran hatte die notorisch klamme dam mit. Als erste in Deutschland steuert die Agentur, Hauptstadt in den zurückliegenden Jahren gespart. getragen von der Stadt Berlin und ihren Wasserbetrie- ben, das blau-grüne Regenwassermanagement. Wie Hamburg, wie Münster und Dresden will auch Mehr Freiraum beim Planen Berlin sein Regenwasser oberirdisch leiten und für Nun also Kehrtwende, klarer politischer Wille. Dieser heiße Tage speichern. Jährlich soll ein Prozent der Ber- trägt auch den Stadtentwicklungsplan Klima (StEP), den liner Siedlungsfläche von der Kanalisation abgekoppelt Heike Stock 2011 vorlegt – als einer der ersten in Deutsch- werden. Für alle Neubauten ist eine de- land zeichnet er das Leitbild einer hitze- zentrale Regenwasserbewirtschaftung Der Stadtentwicklungsplan und wassersensiblen Metropole. Dank verpflichtend. 19 Gebäude und Quar- Klima (StEP) und der StEP dieses politischen Willens ist es inzwi- tiere in Berlin sind bereits blau-grün. Klima KONKRET liefern Strate- schen selbstverständlich, dass Freiflächen Der Potsdamer Platz, das Wahrzeichen gien für eine hitzeangepasste in allen Planungen berücksichtigt wer- der deutschen Wiedervereinigung in und wassersensible Haupt- den. StadtplanerInnen und Umweltamts- der neuen Berliner Mitte, gilt seit 1999 stadt, vereint mit Klimaschutz. MitarbeiterInnen gibt er zudem Spiel- auch als ästhetisches Wahrzeichen des raum für Auflagen an InvestorInnen. neuen Regenwassermanagements. „Ums Eck denken“ nennt Heike Stock das, Schilfbewachsene Wasserflächen umrunden den urba- was Christian Günner in Hamburg „Infiltration“ nennt. nen Komplex. Wasser spielt in zahlreichen Skulpturen Lösungen suchen, obwohl entsprechende Gesetze fehlen. im Innen- und Außenraum. 85 Prozent des Regens fan- Im Jahr 2019 braucht der StEP Klima eine Aktualisie- gen Mulden und begrünte Dächer auf. 15 Prozent werden rung, denn das Wachstum der Hauptstadt ist 2011 noch für die Toilettenspülung genutzt. nicht abzusehen. In etwa zwei Jahren soll ein neues, Eine Schwammstadt braucht freie, unversiegelte verbindliches Werk vorgelegt werden. „Wo starker Bau- Flächen. Und da übersteigt auch in Berlin, der Stadt, druck ist, da brauchen wir Lösungen“, so Heike Stock. die jährlich um 40.000 Menschen wächst, die Nach- Die Frage sei, ob überall gebaut werden müsse. Und frage den Bestand. Wie in Hamburg, wie in Dresden. wenn ja, warum dann nicht mit mehr Grünflächen? Abhilfe schaffen soll zweierlei: ein Dachbegrünungs- Die Charta jedenfalls formuliert einen „Anspruch auf programm, 2019 endlich gestartet und mit reichlich För- Grün“ für alle BerlinerInnen. Naturgefahrenreport 2019
14 Klimastadt Kopenhagen Grün ist längst Alltag Kopenhagen vereint wie keine andere europäische Metropole Klimaschutz und Klimaanpassung. Das gelingt durch den gemeinsamen Willen und das Zusammenspiel aller. Es lebt sich gelassen mit dem grünen Bekenntnis. Ein Spaziergang durch die dänische Hauptstadt. alderdbeeren wachsen hier, Kirsch- beschreiben aufs Prägnanteste, was es bedeu- bäume, Kamille, Hirtentäschel, tet, wenn Rasmussen sagt: Klimaschutz und Mohn. Auf gerundeten Beeten, die Klimaanpassung sind zwei Seiten der gleichen ein wenig tiefer liegen und über Treppenstufen Medaille. Und, um im Bild zu bleiben, der Titel zu erreichen sind. Oben, auf dem Wiesenhü- der Medaille lautet: Lebensqualität für alle. Da- gel zwischen Wacholder- und Ginsterhecken, für steht Kopenhagen wie kaum eine andere stehen überdachte Tische und Bänke aus Holz. europäische Metropole. Sie vereint die beiden Und unten, direkt vor Ricos Café, sitzen junge Seiten der Medaille, indem sie ihre natürlichen Mütter, ihre Säuglinge in Kinderwagen; ein äl- Qualitäten annimmt – die Lage am Wasser, die teres Ehepaar und junge Männer und Frauen Frische des Windes und das gewachsene Grün. vor ihren Tablets – unter Sonnenschirmen Sie lässt sie gedeihen und nutzt sie. mit WLAN-Zugang. Der leichte Wind nimmt Klimaschutz, die eine Seite der Medaille. die Stadthitze fort, das vielfältige, wilde Grün Bis 2025, in sechs Jahren, will Kopenhagen schluckt die menschlichen Stimmen. klimaneutral sein, als erste Großstadt welt- Noch im Jahr 2014 parken auf dem be- weit. Mit und durch mehr Grün. Jedes einzelne tonierten Tåsinge Plads im Nordosten Ko- Blatt, jeder Grashalm verbraucht CO2 und penhagens Autos. Dann kommt Klimaanpas- macht daraus Sauerstoff, jedes einzelne Blatt sungsmanager Jan Rasmussen in das Wohn- und jeder Grashalm sorgt für gutes Klima. Also quartier aus den 50er-Jahren und versammelt pflanzt und sät Kopenhagen. Menschen aus Anwohnerschaft und Politik. Stellt auf erneuerbare Energien um. Ver- „Wollt Ihr Grün oder wollt Ihr Autoverkehr?“, bannt CO2-Emissionen aus der Stadt. Seit Jah- fragt Rasmussen. Die einhellige Antwort lau- ren baut Kopenhagen die Infrastruktur für tet: Grün. Und diese Frage und diese Antwort Fuß- und Radverkehr aus und vernachlässigt Naturgefahrenreport 2019
Kapitel eins: Lebensstrategie Klimaanpassung 15 den Autoverkehr. Das flächendeckende Radwegenetz ist mindestens zwei-, oft dreispurig. Nebeneinander haben bequem zwei Lastenräder und ein Elektroroller Platz. Ausgeklügelte Ampelschaltungen sorgen dafür, dass Radfahrende bei Grün vor Autofahrenden star- ten können und von diesen besser gesehen werden. Diesen Sicherheitsvorsprung verstärken Haltelinien, die für Räder einen knappen Meter vor Autos liegen. Seit 2009 verkehren mehr Menschen per Rad als per Auto in Kopenhagen. Viele pendeln von au- ßerhalb, jeder U-Bahn-Wagen hat ein komfortables Fahrradabteil. Die neuen Brücken der Inselstadt die- nen ausschließlich dem Fuß- und Radverkehr. Auch das ist ein Aspekt der Kopenhagener Lebensqualität: Kopenhagen Sicherheit, Ruhe. Am Tåsinge Plads, dem früheren Autopark- platz, flankieren Räder an metallenen Ständern das Grün. Der Platz ist 2015 der erste regenaffine Platz der zweiten Medaillen-Seite: Klimaanpassung. Sein Grün schützt. „Jede Stadt hat ein Risiko“, sagt Rasmussen. Das muss sie zur Kenntnis nehmen und sich dafür wapp- nen. Auf eine Weise, die wirtschaftlich rentabel ist, innovationsfördernd und „sozioökonomischen Bene fit“ bringt. Was für eine Formel. Steckbrief Kopenhagen Das Risiko Kopenhagens besteht vor allem im Starkregen. Die Stadt erlebt im Juli 2011 den schlimms- In der dänischen Hauptstadt leben 630.000 Menschen, ten Starkregen ihrer Geschichte. 120 Liter pro Qua- Tendenz steigend. Die Stadt, die sich auf mehreren In- dratmeter fluten Kopenhagen, der Strom fällt aus, seln im Öresund der Ostsee erstreckt, gilt als eine der beide Krankenhäuser sind bedroht. Unzählige Ge- lebenswertesten Städte der Welt. 2025 will sie als erste bäudekeller und Erdgeschosse laufen voll. Die Stadt Weltstadt klimaneutral sein, 2035 klimaresilient. ist tagelang im Dunkel, im Ausnahmezustand. Grün statt Grau: Tåsinge Plads.
16 Kapitel eins: Lebensstrategie Klimaanpassung „Jeder Baum, den wir pflanzen, schützt auch das Klima für die nächsten Generationen.“ Jan Rasmussen, Klimaanpassungsmanager Kopenhagens Jan Rasmussen arbeitet zu diesem Zeit- punkt bereits seit vier Jahren an einer neuen Regenwasserinfrastruktur. Die Katastrophe bestätigt: Kopenhagen ist den zunehmen- den Wetterextremen nicht gewachsen. Bis zu 55 Prozent mehr Regen kann es im Winter geben, bis zu 40 Prozent mehr Regen im Sommer, so die Klimaprogno- sen. Der Starkregen beschleunigt mög- licherweise den politischen Willen. 2011 noch beschließt das Parlament den Klima- anpassungsplan. 2012 wird die Stadt in sie- ben Regenwasser-Quartiere unterschiedlichen Risikos aufgeteilt, werden Projekte für die ge- fährdeten Stellen entworfen. 2015 beginnt die Umsetzung, 2035 soll Kopenhagen regenwas- Grüne Inseln: Ruhebänke. serresistent sein. weg von Häusern, Kellern, Eingängen. In re- Der blaue Speicher genreichen Zeit ist der Ort ein großes Sam- Grün schützt. Der früher versiegelte Boden melbecken, in regenarmen Zeiten eine urbane des Tåsinge Plads, der nun die artenreiche Idylle. So dient er auf vielfältige Weise den Wildnis wachsen lässt, kann das Wasser spei- Menschen. Und sie nehmen diesen sozioöko- chern. Unterschiedliche Bodenebenen fangen nomischen Benefit gern an. den Regen auf, führen ihn zu den tiefsten Stel- Kopenhagens Klimaanpassungsplan be- len, wo er sich zu Teichen sammeln kann – ruht auf einer rein finanziellen Erwägung: Es Naturgefahrenreport 2019 Grünes Band: Sankt Annæ Plads.
17 Grün schützt: Hausfassade. wäre doppelt so teuer, die Kanalisation für ein den bekiesten Gehwegen links und rechts, Mehr an Regen auszubauen, als das Wasser die wiederum von Reihen junger Platanen ge- oberirdisch zu halten und zu führen. Es wäre säumt werden. Jutesäcke schützen die jungen teurer, es würde jahrelange Bauarbeiten, Lärm Stämme vor dem Austrocknen und vor Verlet- und Dreck bedeuten. Also setzt die Stadt auf zungen. Diese behausten Bäume sind überall einen Mix: den Ausbau der Kanalisation und in Kopenhagen zu sehen. Sie verlängern die der unterirdischen Regenwasserspeicher und vorhandenen Grünzüge, schaffen ein grünes eine oberirdische Regenwasserwirtschaft – die Band durch den gesamten Stadtraum, das blau-grüne Infrastruktur. 300 Projekte ähnlich Wasser aufnehmen kann. „Jeder Baum, den des Tåsinge Plads entstehen, 55 Projekte er- wir heute setzen, kommt auch den nächsten weitern die Kanalisation und trennen Regen- Generationen zugute“, sagt Jan Rasmussen. und Abwasser. Der sozioökonomische Bene- Den Sankt Annæ Plads, die einstige un- fit umfasst den Schutz, die Lebensqualität für scheinbare Durchgangsstraße, verwandeln die Bevölkerung ebenso wie wirtschaftlichen die Bäume in einen Boulevard. Bänke stehen Gewinn: Planung und Umsetzung schaffen unter ihnen, Mülleimer für getrennten Abfall. Arbeitsplätze, fördern Innovationen: neue ge- Ein Ort zum Verweilen, mitten in der Stadt. stalterische Ideen, das Zusammendenken von Kopenhagen durchzieht bereits jetzt ein Netz bisher getrennten Bereichen eines kommuna- solcher Ruhe-Inseln. Vor dem Rathaus, auf je- len Wandels. dem kleinen Platz der Innenstadt, in den Parks und Grünanlagen ohnehin. Bänke unter Bäu- men, auf denen öffentliches Leben draußen Das grüne Band stattfinden kann. Kinder, Männer, Frauen Wie ein grünes Band zieht sich die Rasenflä- jeden Alters und unterschiedlicher Nationa che in der Mitte des Sankt Annæ Plads von lität sitzen, entspannen oder arbeiten zu den der Innenstadt zum Meer, zum Kopenhagen unterschiedlichsten Tageszeiten darauf. Ein Havn. Flache Stufen trennen den Rasen von weiteres Benefit: Aufenthaltsqualität. Naturgefahrenreport 2019
18 Kapitel eins: Lebensstrategie Klimaanpassung „Das größte Talent der Klimaanpassung ist die Synergie, die Zusammenarbeit aller.“ Jan Rasmussen, Klimaanpassungsmanager Kopenhagens Der Stadtraum gehört den Menschen, nicht Wasser, dazwischen schlendern Touristen. Das dem Fahrzeugverkehr. urbane Meer hat seit einigen Jahren wieder Auch der Sankt Annæ Plads ist ein Regen- Badequalität. Weil der Schiffsverkehr weitest- wasser-Boulevard. Die Rasenfläche in der Mitte gehend emissionsfrei ist, weil Boulevards wie kann das Wasser sammeln, das von den leicht der Sankt Annæ Plads verhindern, dass Regen- abschüssigen Gehwegen und Fahrbahnen dort wasser Dreck ins Meer spült. Lebensqualität hineinfließt. Die bekiesten Wege und Stand- einer maritimen Stadt: Das Wasser gehört den orte der Bäume nehmen zusätzlich Wasser auf. Menschen. Die Analyse des Regenwasser-Risikos Vor dem Zuviel an Wasser, das aus dem der Stadt belegt: Einen hundertprozentigen Meer kommt, schützen Parks entlang der Schutz gibt es nicht, erst recht nicht bei all begrünten Deiche, in deren Hinterland wie- den Unwägbarkeiten von Wetter und Klima. derum Parks mit Mulden angesiedelt sind. Zehn Zentimeter Wasser auf der Straße müs- Sturmflut ist die zweite Gefahr für Kopen- sen die Menschen im Extremfall verkraften, hagen. Zwar liegt die Stadt in der Meerenge nicht jeder Schaden kann verhindert werden. Öresund im eher ruhigen Gefilde, doch kann Minimieren sollen wasserdichte Keller, Pum- ein steigender Meeresspiegel, verbunden mit pen und Schutz der Hauseingänge, die für öf- stärkeren Stürmen, auch Kopenhagen über- fentliche und private Gebäude verpflichtend fluten. Der Klimaanpassungsplan sieht dafür sind. Die Kosten für die Anpassung teilen sich am Nordhafen neue, höhere Deiche mit grü- Stadt, Wasserbetriebe, Sponsoren und Privat- nem Hinterland als Auffangflächen vor. Das leute. Kopenhagen setzt eine landesweite Ge- Gelände am Südhafen wird insgesamt höher setzgebung dafür durch. gelegt, ein Schleusensystem eingebaut. Der bunte Alltag Von allen mit allen Die breiten Stufen am Kopenhagen Havn am Auf der anderen Seite des Öresund liegt Land Ende des Sankt Annæ Plads füllen sich mit noch brach. Nicht mehr lange. Ab 2021 ist Menschen, die Ständer davor mit Fahrrädern. die Fläche eine der weiteren grün-blauen Rushhour an einer der vielen kostenfreien Baustellen Kopenhagens, die größte dann. Badestellen. Am Espresso-Mobil gibt es Kaf- Auf dem ehemaligen Hafengelände entsteht fee, daneben im Restaurant des Theaters auch Udviklingsselskab, ein neues Wohn-, Arbeits- Weißweinschorle und Snacks, Smørrebrød mit und Kulturquartier für 800 Menschen. Kopen- Lachs oder Rührei. Einige Menschen sitzen ar- hagen wächst. So viel Lebensqualität zieht beitend an ihren Tablets, andere springen ins Menschen an. „Auch bei jedem Neubau den- Naturgefahrenreport 2019 Grün und Blau: Parklandschaft.
19 „Klimaanpassung ist sozioökonomischer Benefit.“ Jan Rasmussen, Klimaanpassungsmanager Kopenhagens ken wir Klimaanpassung von Anfang an mit“, berücksichtigen, Lösungen aushandeln – von sagt Rasmussen. Mit öffentlichen Plätzen, den Stadtplanenden über Wirtschaftsunter- komplett versorgt aus erneuerbarer Energie nehmen bis hin zur Bevölkerung. Durch den aus Erde, Wind und Biogas. Der Autoverkehr sozioökonomischen Benefit. bleibt draußen. So viel Lebensqualität zieht auch immer Grün statt Parkplätze. Wie schafft Kopen- mehr TouristInnen an, die wiederum Geld in hagen dieses ganzheitliche Konzept, an dem die Stadt bringen. Die Tourismus- und Gastro sich andere Kommunen im Klein-Klein von nomiebranche wächst. Der Handel, die Kultur Verwaltung und Zuständigkeiten aufreiben? einrichtungen. Auch am späten Frühsommer- Durch den gemeinsamen Willen aller, sagt abend, im lange dauernden Sonnenuntergang Jan Rasmussen – der Menschen aus Politik, Skandinaviens, flanieren TouristInnen am Verwaltung, der Bevölkerung. Durch Syner- Wasser, posieren vor der Skulptur der kleinen gien und Netzwerke, die alle Beteiligten an Meerjungfrau. Die Lille Havfrue auf ihrem Fel- einen Tisch bringen und deren Bedürfnisse sen nimmt die unzähligen Berührungen und Selfies aus aller Welt auf dänische Weise hin: gelassen, mit freundlicher Autarkie. Der Klimaanpassungsplan „Eine grünere Stadt ist besser auf das Klima von morgen vorbereitet“, lautet der erste Satz des Klimaanpassungskonzepts von 2011. Es umfasst bis 2035 die Umgestaltung der Stadt zu einer grün-blauen Metropole, die vor Starkregen und Sturmflut geschützt ist. Straßen, Plätze, Parks und Quartiere erhalten eine Regenwasser-Infrastruktur, die Kanalisation wird erweitert, Deiche gebaut. Ein grünes Band trägt diese Infrastruktur durch alle Stadtteile Kopenhagens. Vor vier Jahren beginnen Bau und Umgestaltung. Von den insgesamt etwa 350 Projekten sind etwa 15 Prozent umgesetzt, rund 20 Prozent stehen kurz vor Beginn. Im zuständigen Zentrum für Klimaanpassung arbeiten 40 Menschen. Naturgefahrenreport 2019
20 Gesundes Feld: Neben Getreide wachsen Wildblumen. Klimaangepasste Landwirtschaft Dem Boden verpflichtet Klimaanpassung in der Landwirtschaft heißt: Flexibilität. Der Klimawandel verschiebt die Wachstums- und Reifeperioden – oder vernichtet Ernten wie im Dürrejahr 2018. Ein Agrarbetrieb aus Sachsen-Anhalt setzt auf den Kreislauf von Geschäftsfeldern. Eine Visite. K urz vor Eins kommt die Sonne raus. Eine Die Agrargenossenschaft Löberitz ist breit Stunde später fährt der erste Mähdre- aufgestellt, auch mit Geschäftsfeldern, die mit scher und testet, ob der Raps reif zur Boden und Vieh wenig zu tun haben. Sie wirt- Ernte ist. Es sind die wenigen kühlen Tage des schaftet in Kreisläufen, einen Großteil dessen, Sommers 2019. Es hat genieselt, winzige Trop- was sie braucht, produziert sie selbst. Das fen für jeden ausgetrockneten Quadratmeter macht sie ein Stück weit marktunabhängig. Land. Der erste Regen des Sommers. Im Jahr Statt unrentabler Milchkühe leben nun zuvor hat es nicht geregnet. Thomas Külz er- 750 Färsen im Laufstall, mit Auslauf nach hält das Ergebnis des digitalen Tests per Handy, draußen. Einige Monate im Jahr lebt ein gibt das Okay. Erntebeginn. „Viel mehr als 60, Bulle mit den Jungkühen. Auf natürlichem 70 Prozent des üblichen Ertrages sind auch in Weg kommen die Kälber zur Welt. Die weib- diesem Jahr nicht drin“, sagt der Chef der Agrar lichen Kälber bleiben für die eigene Zucht in genossenschaft Löberitz unweit Bitterfelds. der Agrargenossenschaft. Die Jungbullen wer- Mähen auf Abruf, Leben nach dem Rhyth- den verkauft. Ebenso die Muttertiere, wenn die mus von Wetter und Klima. Wie kaum eine Kälber groß sind. andere Branche ist die Landwirtschaft an das Seit zwei Jahren grasen 100 Fleischrinder Wetter gebunden. auf den Wiesen, bleiben nahezu das ganze Jahr Landwirtschaft ist heute breit aufgestellt draußen, ihre Kälber mit ihnen. 60 sind es in und hoch spezialisiert gleichermaßen, sagt diesem Jahr. Löberitz eröffnet mit dieser Herde Dr. Rainer Langner, Vorstandsvorsitzender der ein neues ökologisches Geschäftsfeld. Noch Vereinigten Hagelversicherung und Präven- ein Jahr der Übergangszeit, dann erhalten sie tionsexperte fürs Land. Das heißt zweierlei: das Zertifikat. Schöner Nebeneffekt der Weide- Anpassung an den gesellschaftlichen Wandel, haltung: Das Gras muss nicht mehr aufwendig Anpassung an den Klimawandel. Was verlangt gemäht werden. „Was will man mit so mage- der Markt, steuert die Subventionspolitik? rem Gras anderes machen, als es durch einen Regionale Produkte sind gefragt, möglichst Kuhmagen zu schicken? Auch das ist Energie“, vielfältig, möglichst nachhaltig produziert, sagt Thomas Külz und beschreibt damit As- dennoch mit Gewinn und mit Bestand auf dem pekte der Kreislaufwirtschaft: Alle Ressourcen Weltmarkt. Ein Spagat, oft genug ein Balancie- nutzen. Der Boden in dieser Gegend ist nur ren an den Grenzen der Existenz. von mittlerer Qualität. Naturgefahrenreport 2019
21 Energie speist auch die genossenschaftli- che Biogasanlage ins Netz ein, eine zusätzliche Einnahmequelle. Sie liefert zudem die Wärme für die Schweineställe, die das Unternehmen verpachtet hat. Die Gülle der Schweine wiede rum landet in der Biogasanlage. Dazu Mais, der als Futter nicht verwertbar ist. Solaranla- gen beliefern den gesamten Betrieb mit Ener- gie – auch sie liefern Strom ins Netz. Haupterwerb der Löberitzer Genossen- schaft ist das Feld, sind 2.700 Hektar eigenes und gepachtetes Land. Wintergerste und Rog- Der Mais steht noch auf dem Feld. Er hat Thomas Külz gen, Weizen, Raps, Mais, Zuckerrüben wach- im Sommer 2019 nur knapp die Hälfte sei- leitet die Agrar- sen im jährlichen Wechsel. Diese Fruchtfolge ner Höhe und Üppigkeit – zu trocken. Rund genossenschaft ist eine Möglichkeit, sich dem Klimawandel 50 Prozent des Üblichen, schätzt Külz, wird Löberitz. anzupassen. Je ausgezehrter der Boden durch die Ernte hergeben. „Mais ist eine subtropi- Monokultur, je trockener, desto mehr trägt sche Pflanze. Der verträgt Trockenheit.“ Mais der Wind davon. Neben den Feldern wachsen ist auch ein guter Klimageist. Ein Hektar Mais Wildkräuter auf schmalen Streifen. Biotope, produziert so viel Sauerstoff wie vier Hektar die der Artenvielfalt dienen – und dem Boden Buchenwald. guttun. Zwischen den Blühstreifen und den In Löberitz wird grundsätzlich nicht ge- Feldern liegt ein schmaler Streifen unbewach- pflügt. Külz: „Wir wollen dem ohnehin tro- senen Landes, damit das Kraut sich nicht mit ckenen Boden nicht noch mehr Wasser ent- dem Getreide vermischt. Diesen Streifen nut- ziehen.“ Der Eingriff der Pflugschar bringt zen inzwischen Rehe und Hasen als sichere die feuchte Erde nach oben und liefert sie der Wege statt der nahe gelegenen Straße. Sonne aus. Sie mulchen, der Boden wird nur Zehn Prozent der Ackerfläche werden leicht an der Oberfläche aufgelockert, alles nicht bewirtschaftet, auf ihnen wachsen Wild- Weitere zur Bodengesundheit besorgen die blumen, bieten natürlichen Lebensraum für Mikroorganismen. Die Reste aus der Biogas- Insekten. Auch hier kann sich der Boden er- anlage landen als Dünger auf dem Feld. Külz: holen, und der Imker erntet Honig. „Alles drin, was die Pflanzen brauchen.“ Die Elemente zukunftsfähiger Landwirtschaft Klimaresiliente Schonende Versicherungs- Anbaukulturen Bodenbearbeitung schutz Naturgefahrenreport 2019
22 Kapitel eins: Lebensstrategie Klimaanpassung Klimaanpassung, das ist für Külz neben Leute bezahlen und notwendiges Futter kau- schonender Bodenbearbeitung und resisten- fen.“ 24 Beschäftigte gibt es. ten Sorten auch die Form der Bewirtschaf- Külz hat vor einigen Jahren einen Vortrag tung. Für Böden mittlerer Qualität wie den über Risikomanagement gehalten. Klima- sachsen-anhaltinischen rund um Bitterfeld wandelanpassung, Kreislaufwirtschaft, breit ist extensives Wirtschaften sinnvoll, zugleich aufgestelltes Geschäft – das gehört für den nachhaltig: Die Felder werden nicht künstlich Landmanager dazu. Auch die Versicherung gedüngt, keine Pestizide ausgebracht. Das für Feld, Vieh und Gebäude. Eine Hagelversi- schützt die Umwelt, stärkt die Pflanzen in ih- cherung hat die Genossenschaft. Eine Dürre- rer natürlichen Widerstandsfähigkeit – be- versicherung indes ist für sie nicht bezahlbar. deutet indes auch weniger Ertrag und weniger Der Staat besteuert sie so hoch, dass sie für Einnahmen. Die mit neuen Wirtschaftszwei- die LöberitzerInnen genauso viel pro Hektar gen wie dem Solarenergieverkauf kompensiert kosten würde, wie die Ernte einbringt. In ei- werden sollen. „Auf guten Böden kann man nem guten Jahr. Als Vorsitzender des Anhalter auch über künstliche Bewässerung nachden- Kreisbauernverbandes macht sich Külz des- ken“, sagt Külz. Und auch über Genforschung wegen für eine Landwirtschaftliche Mehrge- für klimaresistente Sorten. Warum mitteleuro- fahrenversicherung stark, die staatlich bezu- päisches Getreide nicht mit Wüstenpflanzen schusst wird, wie es in anderen europäischen kreuzen? „Das Denkverbot für genetische For- Ländern üblich ist. Eine Versicherung, die schung stellen inzwischen ja auch die Grünen Ernteausfälle durch unterschiedliche Natur- infrage.“ gefahren schützt. Solidarisch getragen von Trockenheit kennen die Menschen hier LandwirtInnen aller Branchen: „Für Weinbäu- seit Jahrhunderten. Der Regen geht westlich erInnen sind Wärme und Trockenheit ja gut. von ihnen, am Harz, herunter. Trockenheit Uns schaden dafür Spätfröste nicht so stark.“ und Dürre wie 2018 und 2019 kennen sie nicht. „Vor Dürrejahren wie 2018 können sich 50 Prozent Ernteausfälle im Vorjahr. Keine Ein- LandwirtInnen nicht schützen“, sagt Präven- nahmen. 2018 hat Löberitz eine Entschädi- tionsexperte Rainer Langner. „Als gute Ma- gung vom Land bekommen. 200.000 Euro für nagerInnen passen sie sich weitestgehend an rund eine Million ausgefallene Ernteerträge. den Klimawandel an. Das verbleibende Risiko Besser als nichts. Külz: „Wir wollen in solchen muss ein bezahlbarer Versicherungsschutz Jahren ja keinen Gewinn machen, nur unsere tragen.“ Naturgefahrenreport 2019
23 Klimaangepasstes Haus Schutz vor jeder Gefahr Sturm, Starkregen, Überschwemmung – mit dem Klimawandel mehren sich auch die Gefahren fürs Haus. Wirksamer Schutz richtet sich nach der jeweiligen Risikolage. VersicherungsexpertInnen arbeiten an neuen Kriterien mit. Ein Überblick. E in Schutzkonzept für das eigene Heim an die Statik. Weitere Details, wie exponierte sollte mit einer Risikoanalyse beginnen, Standorte am Hang oder in Alleinlage, konkre- sagt Volker Schrimb. Je nach Standort tisieren, wie ein Haus gebaut werden darf. Was sind Gebäude auf unterschiedliche Weise den am Haus ist dann besonders gefährdet? Dach, Gefahren durch Sturm und Hagel, Starkregen Fensterläden und angebrachte Fassadenteile. oder Flusshochwasser ausgesetzt. Schrimb, Ri- Auch Bäume auf dem Grundstück. Durch die sikoexperte der R+V Versicherung, empfiehlt Verkehrssicherungspflicht sind alle Eigen- HauseigentümerInnen für die Vorsorge eine tümerInnen an regelmäßige Kontrollen und Konsultation mit ihrem Versicherungsunter- Wartung gebunden. Lockere oder beschädigte nehmen. Denn auch bestehende Gebäude las- Dachziegel etwa sollten ausgetauscht, Risse in sen sich ans Klima anpassen. der Dachhaut beseitigt werden. Bäume benöti- gen eine Kontrolle auf Standfestigkeit. Je nach Alter und Zustand sollte diese alle ein bis zwei Schutz vor Sturm Jahre erfolgen. Die Sturmresilienz richtet sich nach den soge- Für Flachdächer empfiehlt Schrimb eine nannten Windlastzonen. Diese teilen Deutsch- gleichmäßige Kiesschicht. Diese schützt die land in vier unterschiedliche Regionen. An den Dachabdichtung vor Abnutzung und gleich- Küsten und auf den Inseln in Nord- und Ost- zeitig vor Feuchtigkeit, Hagel und Sonnenein- see herrscht die höchste Windstärke, in Tei- strahlung. „So hält die Bitumenschicht darun- len West- und Süddeutschlands die geringste. ter länger als 15 Jahre.“ Die Baunorm stellt vor allem Anforderungen Dass ein Check der Dächer oft ver- Naturgefahrenreport 2019
24 Klimaangepasst: Häuser, die Naturgewalten standhalten. nachlässig wird, kennt auch Natur- es für Hagelschutz in Deutschland in Planung und Bau einbezogen“, gefahrenexpertin Meike Müller von keine Bauvorschriften. Die Versiche- so Volker Schrimb. Wie etwa eine der Deutschen Rückversicherung. rungswirtschaft arbeitet deswegen Rückstausicherung, die verhindert, Sie arbeitet in der Projektgruppe derzeit an einer Hagelrisikokarte, dass Wasser aus der Kanalisation ins Naturgefahren beim GDV an Leit- die die Gefährdung lokal sichtbar Haus fließt. Je nach Funktion der linien zum Umgang mit Klimarisi- macht. Weil Hagelunwetter zuneh- Kellerräume sind das ein Rückstau- ken. „Vor allem nach einem Sturm men, empfiehlt sich Hagelschutz in verschluss im Abwasserrohr oder oder einem starken Gewitter sollte ganz Deutschland, so Meike Müller. eine Hebeanlage, die mit hohem das Dach unbedingt in Augenschein Ab Korngrößen von drei Zentime- Druck das Wasser zurück in die Ka- genommen werden.“ Am besten von tern wird es für Dächer gefährlich, nalisation pumpt. Weil Starkregen einer Fachkraft. ab zwei Zentimetern für Glas. Sie intensiver werden und jede Region verweist auf die Nachbarländer in Deutschland gefährdet ist, liegt Schweiz und Österreich. Die dorti- den Risikoexperten Müller und Schutz vor Hagel gen Hagelregister listen Materialien Schrimb die individuelle Prävention Hagelgefährdet sind die gleichen für Gebäudeteile wie Dach, Dachrin- besonders am Herzen. Hausteile wie beim Sturm: Dach, nen, Fassaden und Solaranlagen auf. Diese umfasst das Haus samt Fassaden, dazu Fenster, Jalousien Diese sind durchaus auf Deutsch- Grundstück. Barrieren vor Keller und alle Teile aus Glas und Kunst- land übertragbar. Für Lichtkuppeln eingängen und Lichtschächten, stoff. Anders als beim Sturm gibt empfiehlt sie Hagelschutzgitter. etwa 30 Zentimeter hoch, erhöhte Eingänge schützen vor Überflutung. Druckdichte Kellerfenster halten das Schutz vor Starkregen Wasser draußen. Mulden auf dem Für Starkregen gibt es gesetzliche Grundstück fangen das Wasser vom Präventionsvorschriften. „Leider höher gelegenen Haus auf. Eine werden diese oft nicht vollständig Mauer oder eine Aufschüttung an „Auch bestehende Gebäude können vor Wetterextremen geschützt werden.“ Volker Schrimb, Präventionsexperte, R+V Allgemeine Versicherung AG Naturgefahrenreport 2019
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