AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Freie Rede - Bundeszentrale für politische ...

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70. Jahrgang, 12–13/2020, 16. März 2020

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
     Freie Rede
         Kübra Gümüşay                           Anatol Stefanowitsch
 DIE SPRACHKÄFIGE ÖFFNEN.               POLITISCH KORREKTE SPRACHE
 GEDANKEN ZUR BEDEUTUNG                       UND REDEFREIHEIT
      VON „FREIER REDE“
                                                   Marie-Luisa Frick
   Sandra Kostner · Sabine Hark                STREITKOMPETENZ
       GEFÄHRDETE                             ALS DEMOKRATISCHE
    MEINUNGSFREIHEIT?                             QUALITÄT –
    ZWEI PERSPEKTIVEN                          ODER: VOM WERT
                                              DES WIDERSPRUCHS
          Mathias Hong
    MEINUNGSFREIHEIT                                Patrick Gensing
    UND IHRE GRENZEN                         FAKTUM = MEINUNG?

                    ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                         FÜR POLITISCHE BILDUNG
                Beilage zur Wochenzeitung
Freie Rede
                                       APuZ 12–13/2020
KÜBRA GÜMÜŞAY                                         ANATOL STEFANOWITSCH
DIE SPRACHKÄFIGE ÖFFNEN.                              POLITISCH KORREKTE SPRACHE
GEDANKEN ZUR BEDEUTUNG                                UND REDEFREIHEIT
VON „FREIER REDE“                                     Aus sprachwissenschaftlicher Sicht lässt sich
Allzu oft werden Menschen durch pauschale             Political Correctness deutlich von Tabuwörtern
Kategorisierungen und Zuschreibungen sprach-          und Euphemismen abgrenzen. Politisch korrekte
lich in Käfige gesteckt. Es ist an der Zeit, offene   Sprache dient vor allem der gerechtfertigten
Türen in die Käfige einzubauen und Räume für          Ächtung von „Slurs“ – Wörter, durch die ganze
neue Perspektiven zu schaffen, sodass alle frei       Gruppen pauschal abgewertet werden.
sprechen können.                                      Seite 22–27
Seite 04–07
                                                      MARIE-LUISA FRICK
SANDRA KOSTNER · SABINE HARK                          STREITKOMPETENZ
GEFÄHRDETE MEINUNGSFREIHEIT?                          ALS DEMOKRATISCHE QUALITÄT –
ZWEI PERSPEKTIVEN                                     ODER: VOM WERT DES WIDERSPRUCHS
Woher kommt es, dass die Wahrnehmung, „man            Wir brauchen Widerspruch für qualitätsvolle
kann nicht mehr offen sagen, was man denkt“,          Meinungsbildung. Wie kann politischer Streit
offenbar nennenswerte Zustimmung findet?              aber dazu beitragen? Eine mögliche Antwort
Sind freie Rede und Meinungsfreiheit tatsächlich      liegt darin, dass nur im Bewusstsein von alterna-
gefährdet? Während Sandra Kostner dies bejaht,        tiven Standpunkten und Sichtweisen der eigene
argumentiert Sabine Hark dagegen.                     Standpunkt bestimmt werden kann.
Seite 08–15                                           Seite 28–33

MATHIAS HONG                                          PATRICK GENSING
MEINUNGSFREIHEIT UND IHRE GRENZEN                     FAKTUM = MEINUNG?
Meinungsfreiheit gilt grundsätzlich auch für die      Meinungen und unbelegte Behauptungen
„Feinde der Freiheit“. Werden die bestehenden         werden heute vielfach zu Fakten erklärt,
Grenzen der Meinungsfreiheit jedoch beachtet,         während gleichzeitig wissenschaftlich anerkannte
ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungs-         Erkenntnisse häufig zu Meinungen degradiert
gerichts zu diesem Grundrecht auch im Zeitalter       werden. Dadurch droht letztlich auch eine
der digitalen Empörungsstürme zukunftsfähig.          Entwertung der Meinungsfreiheit.
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EDITORIAL
Sich frei äußern und die eigene Meinung öffentlich verbreiten zu können, ist
für freiheitliche demokratische Gesellschaften unerlässlich: Der ungehinderte
Austausch konkurrierender Argumente und Sichtweisen ermöglicht politischen
Wettbewerb und ist eine wesentliche Voraussetzung für die demokratische
Willensbildung. Entsprechend weitreichend ist der Schutz, den die Meinungs-
äußerungsfreiheit in Deutschland genießt – das in Artikel 5 des Grundgesetzes
verbriefte Grundrecht wird lediglich durch wenige Bestimmungen beschränkt,
etwa durch die Verbote der Beleidigung und der Volksverhetzung.
   Was zulässig ist und was nicht, ist Gegenstand juristischer wie gesellschaft-
licher Aushandlung. Angesichts der on- wie offline zu beobachtenden sprach-
lichen Enthemmung und vermehrten Hassrede werden die Grenzen der freien
Rede gerade vielfach ausgetestet und von Gerichten zum Teil neu definiert.
Zugleich wird über den juristischen Bereich hinaus seit Jahren darüber disku-
tiert, was „man“ „noch“ sagen dürfe. „Politisch korrekter“ Sprachgebrauch wird
von einem nennenswerten Bevölkerungsanteil offenbar als Einschränkung der
freien Rede empfunden. Was es indes bedeuten kann, nicht so bezeichnet zu
werden, wie man es sich wünscht, fällt vielen erst auf, wenn sie selbst fremdbe-
zeichnet werden.
   Meinungsfreiheit ist mühsam und kann schmerzhaft sein: Sie schützt auch
diejenigen, die sich gegen sie aussprechen; und Äußerungen, die moralisch
fragwürdig erscheinen, können juristisch zulässig sein. Die meisten der damit
verbundenen Zumutungen sind jedoch wechselseitig: Freie Rede bedeutet in der
Regel auch freie Widerrede; ein Recht auf Widerspruchsfreiheit gibt es in der
Demokratie nicht. Für den Schutz von Respekt und Anstand reichen Gesetze
allein aber ohnehin nicht aus – letztlich sind wir alle gefragt, im täglichen Mit-
einander (besser) darauf achtzugeben, um einer weiteren Verrohung Einhalt
zu gebieten.

                                                   Johannes Piepenbrink

                                                                                03
APuZ 12–13/2020

                                                  ESSAY

                  DIE SPRACHKÄFIGE ÖFFNEN
                  Gedanken zur Bedeutung von „freier Rede“
                                          Kübra Gümüşay

SCHREIB DICH NICHT                                      pliment“ verpacken und waren damit also kein
zwischen die Welten,                                    Problem. Es musste schon eine Vergewaltigung
komm auf gegen                                          geschehen, damit ein Problembewusstsein ent-
der Bedeutungen Vielfalt,                               stand. Im Falle von sexueller Belästigung am
vertrau der Tränenspur                                  Arbeitsplatz, so beschreibt es Fricker, war der
und lerne leben.                                        belästigende Chef sich keiner Schuld bewusst
                                                        und profitierte vom fehlenden Verständnis –
So heißt es in einem Gedichtfragment des jüdi-          während die belästigte Angestellte das Gesche-
schen Dichters Paul Celan.01 Er schrieb es in           hene weder verstehen, benennen, problema-
Frankreich, auf Deutsch – der Sprache seiner            tisieren, noch Maßnahmen ergreifen konnte,
Mutter, der Sprache ihrer Mörder. Wenn ich die-         um sich davor zu schützen. Sie blieb hilf- und
ses Gedicht lese, dann höre ich darin nicht nur         schutzlos, weil es bis dahin schlicht keinen Be-
die Warnung und Selbstermahnung eines Dich-             griff gab, der die Situation beschrieb. Damit war
ters, sich selbst am Leben zu erhalten – vier Jahre,    ihre Erfahrung gleichsam nicht existent. Erst mit
bevor er 1970 sein Leben beendete. Ich höre da-         der Verbreitung des Begriffes „sexuelle Belästi-
rin auch den Ausdruck der Sehnsucht eines Men-          gung“ und einem Verständnis davon, konnte der
schen nach Existenz, nach dem Sein in der Spra-         Missstand auch gesellschaftlich problematisiert
che – und dem Sein trotz der Sprache.                  ­werden.03
    Keine Sprache deckt die gesamte Realität, den           Wie dieses Beispiel eindrücklich zeigt, ist die
Facettenreichtum, die Perspektivenvielfalt die-         Ohnmacht, die diese linguistische Lücke hinter-
ser Welt ab. Es ist, wie einst Ludwig Wittgenstein      lässt, immens. Unrecht, Unterdrückungen, Unge-
schrieb: „Die Grenzen meiner Sprache bedeu-             rechtigkeit müssen in Worte gefasst werden kön-
ten die Grenzen meiner Welt.“02 Stattdessen bil-        nen, damit Betroffene und Beteiligte, aber auch
det Sprache lediglich das ab, was diejenigen Men-       Unbeteiligte sie sehen können. Woran aber liegt
schen, die in einer Sprache Herrschaft, Macht und       es, dass die Erfahrungen und Perspektiven be-
Autorität oder Zugang zu diesen besitzen, erfah-        stimmter Gruppen in unserer Gesellschaft nicht
ren. Sprache ist das, was sie erleben und zur Spra-     oder erst nach langen Kämpfen ihren Weg in die
che bringen. Und was ist mit Ereignissen, die sie       Sprache aller finden? Wer hat die Autorität, Er-
nicht erleben? Die sie nicht zur Sprache gebracht       fahrungen, Situationen, Ereignisse, Personen und
haben?                                                  Personengruppen zu benennen?
    Nehmen wir den Begriff „sexuelle Belästi-               Die Lücken in unseren Sprachen sind auch
gung“: Was ist, wenn die meisten Menschen die-          zutiefst politische. Die Diskussionen um Sprache,
sen Begriff nicht kennen? Die Philosophin Mi-           Worte und Benennung sind keine Banalität, kei-
randa Fricker erläutert am Beispiel der USA             ne Nebenschauplätze politischer Auseinanderset-
in den 1960er Jahren, welche Folgen es haben            zungen. Denn Sprache ist der Stoff unseres Den-
kann, Missstände nicht benennen zu können.              kens und Lebens. Sie öffnet uns die Welt, aber
Damals war der Begriff sexual harrassment noch          sie grenzt uns auch zugleich ein. Sie öffnet Tü-
nicht verbreitet, es gab kein gesamtgesellschaft-       ren, aber baut auch Mauern und versperrt unsere
liches Verständnis dessen, was dieser Begriff           Sicht. Ja, keine Unterdrückung wird allein durch
beschreibt. So ließen sich ungewollte Annähe-           eine gerechte Sprache ein Ende finden – aber ohne
rungen sprachlich als „Flirt“ oder gar „Kom-            eine gerechte Sprache eben auch nicht.

04
Freie Rede APuZ

                     SICHTBARKEIT                                vor, die Hamburger Bevölkerung würde infolge
                                                                 dieser „Entdeckung“ nicht nur massenhaft er-
Während ich an diesem Text arbeite, werden in                    mordet und ihres Besitzes beraubt, sondern fort-
der Nacht vom 19. auf den 20. Februar 2020 in                    an auch gegen ihren Widerstand als „Mexikanier“
Hanau zehn Menschen ermordet. Der aus ras-                       bezeichnet. Es wäre ein Beharren auf der Per-
sistischen Motiven handelnde Attentäter war ein                  spektive der Ignoranz, der Gewalt, des Mordens,
Rechtsterrorist. Dennoch ist am Morgen nach                      der kolonialen Herrschaft – und nichts anderes
seinen Taten vielfach wieder von einem „Ein-                     tun wir, wenn wir die indigenen Völker Amerikas
zeltäter“ und „fremdenfeindlichen Motiven“ die                   als „Indianer“ bezeichnen oder wenn wir die Ver-
Rede.04 Aber die Menschen, die ermordet wur-                     wendung des N-Worts verteidigen. Wir beharren
den, waren keine „Fremden“. Das Motiv war                        damit auf der Perspektive der Kolonisierenden,
Rassismus. Und der Mörder war insofern kein                      der Sklaventreiber, der Entmenschlichung.
„Einzeltäter“, als eine ideologisch motivierte Tat                   Letztlich ist es so: „Man“ kann alles sagen.
niemals eine Einzeltat ist. Die Tonangebenden,                   Doch Menschen so zu bezeichnen, wie sie be-
die Entmenschlichenden, die Schreibenden, die                    zeichnet werden wollen, ist keine Frage von
dieser Ideologie den Weg bereiten, sind alle an                  Höflichkeit, auch kein Symbol politischer Kor-
diesen Taten beteiligt. Das wichtigste Wort die-                 rektheit oder einer progressiven Haltung – es ist
ser Ereignisse ist daher: Rechtsterrorismus. Das                 einfach eine Frage des menschlichen Anstands.
ist die einzig korrekte Beschreibung, der richtige               Dabei sind Menschen, die sich gegen „politisch
Name. Und doch: Wir nennen ihn häufig nicht                      korrekte“ Sprache positionieren, weder konser-
beim Namen, weil wir ihn sonst sehen, über ihn                   vativ noch traditionsbewusst. Sie positionieren
sprechen müssten.                                                sich schlicht und einfach gegen Gerechtigkeit. In
    Wenn wir heute gereizt, empört, hoch erhitzt                 ihrem Beharren auf ächtende Sprache verhalten
über gerechte Sprache diskutieren, dann handelt                  sie sich nicht rebellisch, sondern unterdrückungs-
es sich häufig um Stellvertreterdebatten: „Darf                  gehorsam. Sie bekennen sich zur Ächtung von
man x noch sagen?“ „Nicht einmal y soll man                      Menschen.
noch benutzen dürfen?“ Schon diesen Fragen, die                      Wenn es also um freie Sprache und freies Spre-
eine vermeintlich allgemeine Empörung ausdrü-                    chen geht, dann ist doch die eigentliche Frage:
cken sollen, wohnt eine Perspektive inne: Wer ist                Wer kann dies gegenwärtig überhaupt? Kann ein
„man“? Wer spricht hier eigentlich? Um wessen                    Mensch überhaupt sein, frei sein, frei sprechen, in
Vorlieben, Befinden und Perspektive geht es hier                 einer Sprache, in der er als Sprechender nicht vor-
eigentlich?                                                      gesehen war? In einer Sprache, in der er nur vorge-
    Stellen Sie sich vor, ein Spanier kommt bei ei-              sehen ist als einer derjenigen, über die gesprochen
ner Schifffahrt nach Mexiko vom Kurs ab und                      wird? In einer Sprache, die – wie der afroamerika-
legt am Hamburger Hafen an. Er „entdeckt“ für                    nische Schriftsteller James Baldwin 1964 über das
sich also tatsächlich Hamburg. Doch nun stel-                    Englische schrieb – seine „Erfahrung in keiner
len Sie sich vor, dieser Moment ginge als „Ent-                  Weise widerspiegelte“?05 Kann eine Frau in einer
deckung“ Hamburgs nicht nur in seine persönli-                   Sprache wie der deutschen, in der „dämlich“ von
che, sondern in die Weltgeschichte ein. Als hätte                „Dame“ kommt und „herrlich“ von „Herr“, frei
es vor ihm dort nichts gegeben, keine Geschich-                  sprechen? In einer Sprache, in der die Regel gilt:
te, kein Leben, keine Traditionen. Stellen Sie sich              „99 Sängerinnen und 1 Sänger sind zusammen
                                                                 100 Sänger. Futsch sind die 99 Frauen, nicht mehr

01 Aus dem Gedichtband „Eingedunkelt“, hrsg. von Bertrand Ba-
diou/Jean-Claude Rambach, Frank­furt/M. 1991; zur Entstehungs-   05 „My quarrel with the English language has been that the
geschichte siehe www.planetlyrik.de/paul-celan-eingedunkelt/​    language reflected none of my experience. But now I began to
2018/09.                                                         see the matter in quite another way. If the language was not my
02 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Lon-     own, it might be the fault of the language; but it might also be
don 1922, Satz 5.6.                                              my fault. Perhaps the language was not my own because I had
03 Miranda Fricker, Hermeneutical Injustice: Power and the       never attempted to use it, had only learned to imitate it. If this
Ethics of Knowing, Oxford 2007.                                  were so, then it might be made to bear the burden of my expe-
04 Tagesschau-Liveblog, 20. 2. 2020, www.tagesschau.de/          rience if I could find the stamina to challenge it, and me, to such
newsticker/hanau-ermittlungen-101.html#Landtagssitzung-          a test.“ James Baldwin, The Cross of Redemption: Uncollected
abgesagt.                                                        Writings, New York 2010, S. 67 (eig. Übersetzung).

                                                                                                                                  05
APuZ 12–13/2020

auffindbar, verschwunden in der Männerschubla-                   Weil das Weltbild, das dort im Museum ausge-
de.“06 Das schrieb einst Luise F. Pusch, die Mitbe-              stellt wird, so sehr ihrem eigenen ähnelt.
gründerin der feministischen Sprachwissenschaft                      Wie frei und unbeschwert sie sich im Museum
in Deutschland, über die deutsche Sprache und                    der Sprache bewegen können, wird erst deutlich,
das generische ­Maskulinum.                                      wenn wir die zweite Kategorie von Menschen in
                                                                 diesem Museum betrachten: die Benannten. Sie
                    SPRACHROHRE                                  sind zuerst einfach nur Menschen, die auf irgend-
                  EINER KATEGORIE                                eine Weise von der Norm der Unbenannten ab-
                                                                 weichen. Sie sind Anomalien im Weltbild der Un-
Lassen Sie uns Sprache als einen Ort denken. Wie                 benannten, nicht vorhergesehen, anders, fremd.
ein unfassbar großes Museum, in dem uns die                      Manchmal auch einfach nur ungewohnt, unver-
Welt da draußen erklärt wird. Wochen, Mona-                      traut. Sie erzeugen Irritationen. Sie sind nicht
te, Jahre, ein ganzes Leben könnten Sie in diesem                selbstverständlich.
Museum verbringen. Je mehr Zeit Sie dort ver-                        Die Unbenannten wollen die Benannten ver-
bringen, desto mehr Dinge begreifen Sie. Sie kön-                stehen – nicht als Einzelne, sondern im Kollektiv.
nen eintauchen in Welten, die Sie nie selbst erlebt              Sie analysieren sie, inspizieren sie, kategorisieren
haben, die hier geordnet und kategorisiert auf-                  und katalogisieren sie. Sie versehen sie schließ-
bereitet sind, begreiflich gemacht in Namen und                  lich mit einem Kollektivnamen und einer Defini-
Definitionen. Sie finden Objekte, Lebewesen und                  tion, die sie auf die Merkmale und Eigenschaften
Pflanzen aus allen Kontinenten, aber auch Ide-                   reduziert, die den Unbenannten an ihnen bemer-
en und Theorien, Gedanken und Gefühle, Fan-                      kenswert erscheinen. Das ist der Moment, in dem
tasien und Träume, längst Vergangenes, aber auch                 aus Menschen Benannte werden, in dem Men-
Hochaktuelles.                                                   schen entmenschlicht werden. Diese Menschen,
     Es gibt zwei Kategorien von Menschen in                     die nun keine mehr sind – die Benannten – leben
diesem Museum: Die Benannten und die Unbe-                       sorgfältig katalogisiert in Glaskäfigen, beschrif-
nannten. Die Unbenannten sind Menschen, de-                      tet mit ihren Kollektivnamen. Wir betrachten sie
ren Existenz unhinterfragt ist. Sie sind der Stan-               durch die Augen der Unbenannten: gesichtslo-
dard, die Norm, der Maßstab. Unbeschwert und                     se Wesen, Bestandteile eines Kollektivs. Jede ih-
frei laufen die Unbenannten durch das Muse-                      rer Äußerungen, jede ihrer Handlungen wird auf
um der Sprache. Denn das Museum ist für Men-                     das Kollektiv zurückgeführt, Individualität wird
schen wie sie gemacht. Es zeigt die Welt aus ih-                 ihnen nicht zugestanden. Den Unbenannten, die
rer Perspektive. Das ist kein Zufall, denn es sind               sie betrachten, erscheint das als normal, obwohl
Unbenannte, die dieses Museum kuratieren. Sie                    für sie selbst ihre Individualität die Grundlage
entscheiden darüber, was in diesem Museum aus-                   ihres Seins ist.
gestellt wird und was nicht. Sie geben den Din-                      So heißen die Benannten manchmal „Ge-
gen Namen, ordnen ihnen Definitionen zu. Sie                     flüchtete“, manchmal „Nordafrikaner“, manch-
sind Unbenannte, doch sie selbst machen von der                  mal „Transfrau“. Dies sind enge, sehr enge Käfi-
Macht der Namensgebung Gebrauch. Sie sind                        ge. Es gibt auch etwas breitere, die ein bisschen
auch Benennende.                                                 mehr Spielraum lassen, aber dennoch eng sind:
     Ja, das Museum der Sprache eröffnet uns                     „Ostdeutscher“ oder „Powerfrau“. Die Be-
die Welt. Aber es erfasst sie keineswegs in ihrer                nannten fangen nun an, sich zu ihrem Käfig zu
Vollständigkeit, in ihrem ganzen Facettenreich-                  verhalten: bloß nicht gefährlich wirken, nicht
tum. Es erfasst lediglich das, was die Benennen-                 unterdrückt, abgehängt oder zu emanzipiert. In-
den selbst erfassen – so weit, wie deren Sinne und               dividualität, Komplexität, Ambiguität – alles das,
Erfahrungen reichen. Nicht weiter. Die anderen                   was uns und unser Menschsein ausmacht, wird
Unbenannten bemerken diese Einschränkung                         ihnen abgesprochen, geraubt. Wenn sie zum
nicht, sie bemerken nicht einmal, dass ihr Blick                 Sprechen aufgefordert werden, dann sprechen sie
auf die Welt durch den anderer Menschen gelenkt                  als Vertretende ihrer jeweiligen Kategorien. Sie
wird, weil ihnen diese Menschen so ähnlich sind.                 sprechen, um sich und ihr Dasein zu erklären, zu
                                                                 rechtfertigen, ihre Existenz zu begründen. Die-
06 Luise F. Pusch, Alle Menschen werden Schwestern. Feministi-   ses Sprechen ist kein freies Sprechen, sondern
sche Sprachkritik, Frank­furt/M. 1990, S. 101.                   Teil der Inspektion. Wir inspizieren sie, um sie

06
Freie Rede APuZ

zu begreifen. Wir betrachten sie. Mit den Augen                  macht aus Kategorien Käfige. Es gibt viele Per-
der Unbenannten schauen wir auf die Benann-                      spektiven auf diese Welt – so viele, wie es Men-
ten (herab).                                                     schen gibt. Jede einzelne ist für sich genommen
    Und in dem Moment, in dem ein Begriff wie                    beschränkt. Alle Menschen sind vorurteilsbehaf-
„Gutmensch“ zur Beleidigung wird, blicken wir                    tet und begrenzt durch ihre Erfahrungen. Wenn
auf die Engagierten und die Toleranten durch die                 aber bestimmte Perspektiven – etwa die weißer
Brille der Rechten. Wir setzen sie in einen Käfig                Europäer*­innen oder Nordamerikaner*­innen –
und homogenisieren ein weites und heterogenes                    gegenüber anderen privilegiert werden, wenn ihre
Spektrum von Menschen. Wir reduzieren sie auf                    eingeschränkte Perspektive hegemonialen An-
wenige Facetten. Als sich der Gebrauch des Be-                   spruch gewinnt, dann verlieren andere Perspek-
griffes auf diese Weise wandelte, erlebten Men-                  tiven und Erfahrungen ihren Geltungsanspruch.
schen, die nie zuvor Benannte waren, erstmals,                   Es ist, als würden sie nicht existieren. Doch an-
was es bedeutet, eingesperrt zu sein und auf eine                deren die eigene Perspektive zu verordnen, sei,
Kategorie reduziert zu werden.                                   so schrieb Friedrich Nietzsche, eine „lächerliche
    Diese Erfahrung ist auch der Grund, weshalb                  Unbescheidenheit“.08
der Begriff „alter weißer Mann“07 die so Benann-                     Letztlich geht es in den Debatten um Spra-
ten derart erzürnt. Ihre Reaktion sollte ihnen ei-               che und ihren Gebrauch darum, die Architek-
nen Spiegel vorhalten, in dem sie jäh erkennen,                  tur der Sprache zu erkennen, sie wahrzunehmen
wie erniedrigend und entmündigend es ist, wenn                   und zu ertasten. Im übertragenen Sinne: ihre
ein Mensch von anderen als bloße Kategorie be-                   Mauern zu sehen. Es geht darum, die Last, die
trachtet wird, welche Zumutung das Betrach-                      Gewalt, die Perspektiven, die bestimmten Wor-
ten von Menschen in vermeintlich absoluten Ka-                   ten innewohnen, zu begreifen, sich der Macht
tegorien ist. Denn in dem Moment, in dem wir                     der Sprache bewusst zu werden und offene Tü-
pauschalisierend von „alten weißen Männern“                      ren in die Käfige einzubauen. Letztlich geht es
sprechen, betrachten wir sie mit den Augen der                   darum, Räume für neue Perspektiven zu schaf-
anderen. Vielleicht zum ersten Mal überhaupt er-                 fen. Freie Rede bedeutet, eine sprachliche Archi-
leben sie, was es bedeutet, nicht nur für das eigene             tektur zu schaffen, die es einer pluralen Gesell-
Verhalten verantwortlich zu sein, sondern für das                schaft ermöglicht, facettenreich, perspektivreich
eines konstruierten Kollektivs. Angesichts die-                  und komplex in ihr zu existieren – sodass alle
ser Bezeichnung fühlt sich manch älterer weißer                  frei sprechen können.
Herr womöglich tatsächlich dazu gedrängt, sich
dazu zu verhalten – beispielsweise, um sich von
der Zuschreibung abzugrenzen, um unter Beweis
zu stellen, dass er nicht rassistisch, sexistisch und
ignorant ist – oder was auch immer gerade mit
dieser Kategorie assoziiert wird. Auf diese Weise
der eigenen Freiheit beraubt, lässt sich nicht mehr
frei sprechen.
    Doch natürlich brauchen wir Kategorien – al-
lein schon, um uns durch die Welt zu navigieren.
Was sich aber ändern muss, ist der Absolutheits-
glaube, der an diese Kategorien gekoppelt ist. Der
Irrglaube, man könnte einen Menschen oder eine
ganze Gruppe von Menschen abschließend ver-
stehen und begreifen, wenn man sie der (augen-
scheinlich) richtigen Kategorien zugeordnet hat,

                                                                 KÜBRA GÜMÜŞAY
07 Selbstverständlich müsste dieses Beispiel hier spezifiziert
                                                                 ist Journalistin und Bloggerin; 2020 erschien ihr
werden: Homosexuelle, Trans- oder Männer mit Behinderung
wären hier etwa ausgenommen.
                                                                 Buch „Sprache und Sein“.
08 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: ders.,   www.kubragumusay.com
Sämtliche Werke, Bd. 3, München 1999, S. 627.                    Twitter: @kuebra

                                                                                                                     07
APuZ 12–13/2020

         GEFÄHRDETE MEINUNGSFREIHEIT?
              ZWEI PERSPEKTIVEN
Woher kommt es, dass die Wahrnehmung, „man kann nicht mehr offen sagen,
was man denkt“, offenbar nennenswerte Zustimmung findet? Sind freie Rede
und Meinungsfreiheit tatsächlich gefährdet? Während Sandra Kostner dies
bejaht, argumentiert Sabine Hark dagegen.

                                                     duums ab, und damit auch die freie Entfaltung
                                                     seiner Persönlichkeit.01 Wie notwendig dieser
 Keine Meinungsfreiheit ohne                         Grundrechtsschutz ist, ist in den vergangenen

    ein Klima der Freiheit                           Jahren wieder sichtbarer geworden: Anstatt sich
                                                     mit den als Zumutung erachteten Argumenten
                                                     Andersdenkender auseinanderzusetzen, wird zu-
                  Sandra Kostner                     nehmend versucht, die jeweils Andersdenkenden
                                                     mithilfe von herabwürdigenden Labels aus dem
                                                     Diskurs auszuschließen. Dabei hängt es von der
Meinungsfreiheit ist Zumutung, und das muss sie      politischen Richtung ab, welche Labels einge-
in einem freiheitlichen Staat auch sein. Diese für   setzt werden. Auf der rechtsäußeren Seite wer-
funktionierende Demokratien grundlegende Er-         den vorzugsweise Labels wie „linksgrün versifft“,
kenntnis stieß noch nie auf ungeteilte Zustim-       „Gutmensch“ oder „Volksfeind“ verwendet; auf
mung. Das liegt daran, dass es sich bei der Mei-     der linken Seite zuvörderst „Rassist“, „Faschist“
nungsfreiheit um ein besonders herausforderndes      oder „Nazi“. Das wirft die Frage auf: Warum sol-
Grundrecht handelt, weil es Menschen mit Welt-       len gerade heutzutage Meinungen zu spezifischen
anschauungen konfrontiert, die ihre tiefsten         Themen als unerträgliche Zumutungen aus dem
Überzeugungen infrage stellen. Solch unangeneh-      Diskurs verbannt werden?
men Erfahrungen gehen Menschen gerne aus dem             Die genannten Labels zeigen, dass es sich in
Weg – zum Beispiel, indem sie Andersdenkende         erster Linie um Themen handelt, an denen sich
meiden oder, wenn dies nicht möglich ist, versu-     der Kampf zwischen linker und rechter Identi-
chen, deren Meinungsäußerungen zu diskredi-          tätspolitik entzündet. Allen voran sind das die
tieren, um vor sich selbst und anderen rechtfer-     Themen Migration und kulturell-religiöse Viel-
tigen zu können, warum sie sich nicht mit dem        falt. Aufgrund ihrer gegenwärtig ungleich grö-
Gesagten befassen möchten. Haben Menschen            ßeren gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit steht
die Macht dazu, unliebsame Meinungen zu un-          nachfolgend die linke Identitätspolitik im Fokus.
terdrücken und die Verkünder dieser Meinungen        Vertreter der linken Identitätspolitik – im Fol-
zu bestrafen, erfordert es ein erhebliches Maß an    genden Identitätslinke genannt – streben eine Ge-
Charakterstärke beziehungsweise Respekt für die      sellschaft an, in der die Gruppen, als deren Für-
Freiheitsrechte anderer, um dieser Versuchung zu     sprecher sie sich sehen, keinem Sprachgebrauch
widerstehen.                                         ausgesetzt sind, den sie als Zumutung empfinden
    Um die freiheitsfeindlichen Folgen dieser psy-   könnten.
chologischen Disposition zu begrenzen, schützt           Warum Identitätslinke Sprachregelungen
das Grundgesetz das Recht aller Menschen, ihre       nicht nur präferieren, sondern oftmals mit Ve-
Meinungen anderen gegenüber kundzutun. Über          hemenz einfordern, ergibt sich aus ihren Zielen.
diesen Grundrechtsschutz sichert der Staat die       Die beiden miteinander verwobenen Ziele lauten:
kommunikative Selbstbestimmung des Indivi-           Empowerment von Gruppen, die zumeist his-

08
Freie Rede APuZ

torisch betrachtet Opfer von Ungleichbehand-                       Die Behauptung eines Opfers, dass jemand oder
lungen waren (Opfergruppen), und moralische                        etwas, seine Gefühle verletzt habe, darf nicht hin-
Läuterung der Gruppen, die Identitätslinke für                     terfragt werden, da dies zu einer weiteren Ge-
die Ungleichbehandlung verantwortlich machen                       fühlsverletzung führen könnte und so die Läute-
(Schuldgruppen). Demzufolge hätten beispiels-                      rung der Schuldseite in Zweifel zöge.
weise kulturell-religiöse Mehrheiten ihre Läute-                       Heutzutage bedarf es für den Vorwurf eines
rung gegenüber Minderheiten zu beweisen. 02 Um                     diskriminierenden Sprachgebrauchs nicht mehr
 als geläutert zu gelten, reicht es für Angehörige                 Begriffe, die geprägt wurden, um Menschen ab-
 der kulturell-religiösen Mehrheit nicht, individu-                zuwerten. Für einen Rassismusvorwurf reicht
 ell nachweisen zu können, dass sie weder rassis-                  schon die Verwendung von Begriffen wie „abge-
 tisch noch nationalistisch denken und handeln.                    hängter Stadtteil“ oder „Problemviertel“ für so-
 Erst wenn alle Mitglieder der Mehrheitsgesell-                    zial schwache Gebiete aus, wenn diese überwie-
 schaft in keiner Weise mehr ein solches Denken                    gend von Menschen mit Migrationshintergrund
 und Handeln erkennen lassen, wird auch jeder                      bewohnt werden. Ob die Bezeichnung „abge-
 Einzelne aus dem Schuldstatus entlassen. Die-                     hängt“ objektiv zutrifft oder nicht, spielt keine
 ses Abhängigkeitsverhältnis ist der Grund dafür,                  Rolle. Relevant für die Einstufung des Sprach-
 dass Identitätslinke auf der Schuldseite Druck auf                gebrauchs als rassistisch ist einzig und allein die
 alle Mitglieder „ihrer“ Schuldgruppe ausüben,                     emotionale Betroffenheit, die geltend gemacht
 um sie zur Aufgabe missliebiger Äußerungen zu                     wird.
­bewegen.                                                              Lange sah es so aus, als wären identitätsrech-
     Verstärkt wird der Druck von Identitätslin-                   te Positionen, das heißt Positionen, die der kul-
ken auf der Opferseite, die wissen, dass ihre ge-                  turell-religiösen Mehrheit grundsätzlich den Vor-
sellschaftliche Relevanz davon abhängt, dass auf                   rang einräumen, im öffentlichen Diskurs allenfalls
der Schuldseite ein Läuterungsbedürfnis besteht.                   noch von marginaler Bedeutung. Dass dem nicht
Daher ist der weit fortgeschrittene Abbau von                      mehr so ist, trat in Deutschland spätestens mit
Ungleichbehandlungen für sie ein zweischneidi-                     der „Flüchtlingskrise“ im Herbst 2015 klar zuta-
ges Schwert: Einerseits ist jeder Abbau ein Ge-                    ge. Die Unerbittlichkeit, mit der Identitätslinke
winn für sie, andererseits büßen sie dadurch ihre                  gerade in den zurückliegenden Jahren agieren, um
Wirkmächtigkeit ein. Um den Läuterungsdruck                        Themen zu verschließen und Sprechakte als un-
aufrechtzuerhalten, werden deshalb immer häu-                      erträgliche Zumutungen zu klassifizieren, hat viel
figer Gefühlsverletzungen ins Spiel gebracht.03                    mit dem Aufstieg der AfD zu tun. Die Rückkehr
Da jede Gefühlsverletzung den Läuterungsgrad                       identitätsrechter Positionen auf die politische
der Schuldseite infrage stellt, achten deren nach                  Bühne wird von Identitätslinken als Bedrohung
Läuterung strebende Mitglieder peinlich genau                      erlebt: auf der Schuldseite im Hinblick darauf,
darauf, dass es nicht zu einer solchen Infragestel-                dass der Wählerzuspruch für die AfD Zweifel an
lung kommt. Gefühlsverletzungen sind zudem                         der Läuterung der gesamten Schuldgruppe weckt;
eng mit Sprache verknüpft, weshalb Identitäts-                     auf der Opferseite hinsichtlich der – nicht unbe-
linke so großen Wert auf einen sensiblen Sprach-                   gründeten – Sorge, dass ihnen eine gesellschaft-
gebrauch legen. Niemanden verletzen zu wollen,                     liche Schlechterstellung droht. Die Ausgrenzung
ist ein hehres Anliegen. Die Folgen für ein mei-                   von Positionen, die nur annäherungsweise mit
nungsoffenes Diskursklima sind jedoch hoch-                        der AfD in Verbindung gebracht werden könn-
problematisch. Denn: Wer Ungleichbehandlung                        ten, avancierte deshalb zum obersten Gebot. So
an Gefühlen festmacht, dehnt die Palette der Ta-                   werden viele, die sich kritisch zur Flüchtlings-
buthemen ins nahezu Unendliche aus. Dabei gilt:                    politik der Bundesregierung geäußert haben, mit
                                                                   dem Satz vertraut sein, dass man solche Äußerun-
01 Vgl. Sebastian Müller-Franken, Meinungsfreiheit im freiheit-    gen lieber unterlasse, weil man sonst AfD-Positi-
lichen Staat, Paderborn 2013, S. 19.                               onen stärke.
02 Vgl. Sandra Kostner, Identitätslinke Läuterungsagenda.              Offenbar hat der Aufstieg der AfD dem
Welche Folgen hat sie für Migrationsgesellschaften?, in: dies.
                                                                   Diskursklima in Deutschland geschadet: so-
(Hrsg.), Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren
Folgen für Migrationsgesellschafften, Stuttgart 2019, S. 17–73.
                                                                   wohl durch Meinungsäußerungen von AfD-
03 Vgl. Sandra Kostner, Contra. Streiten mit dem Unterstrich,      lern, als auch durch die Mittel, mit denen insbe-
in: Der Tagesspiegel, 24. 11. 2019, S. 5.                          sondere Identitätslinke den Kampf gegen rechts

                                                                                                                    09
APuZ 12–13/2020

führen. Ob nun durch die Belastung des Dis-                     instrument, das zur Unterdrückung unliebsamer
kursklimas die Meinungsfreiheit in Deutsch-                     Meinungen eingesetzt wird, seine Wirksamkeit
land eingeschränkt oder gar gefährdet sei, darü-                verliert. Dieses Hauptinstrument heißt Kon-
ber scheiden sich die Geister. So haben wir laut                formitätsdruck, wobei dieser wirksam nur von
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier „kein                   Gruppen erzeugt werden kann, die in ihrem so-
Problem mit der Meinungsfreiheit“, sondern nur                  zialen Umfeld über Macht und Einfluss verfü-
ein „Problem mit unserer Streitkultur“.04 Ver-                  gen. Wie bereits 1840 eindrucksvoll von Alexis
steht man unter Meinungsfreiheit, dass es staat-                de Tocqueville in seinem Buch „Über die Demo-
licherseits keine Eingriffe in dieses Grundrecht                kratie in Amerika“ beschrieben, ist soziale Aus-
im Sinne von Strafandrohungen für unliebsa-                     grenzung das wirkmächtigste Mittel zur Erzeu-
me Meinungen gibt, dann ist der Aussage des                     gung von Konformitätsdruck. Erreicht wird sie
Bundespräsidenten zuzustimmen. Nur: Wie alle                    durch das Mittel der Moral, das heißt durch die
Grundrechte lebt auch die Meinungsfreiheit von                  Einteilung von Meinungen in moralisch gute und
Voraussetzungen, die der Staat allein nicht ga-                 schlechte.
rantieren kann.05 Zu ihrer vollumfänglichen Ver-                    Im Frühjahr 2019 gaben fast zwei Drit-
wirklichung ist auch das gleichermaßen freiheits-               tel der Befragten in einer Allensbach-Umfrage
liebende, mutige und verantwortungsbewusste                     an, dass man heutzutage „sehr aufpassen [müs-
Individuum erforderlich.                                        se], zu welchen Themen man sich wie äußert“.
     Anders gesagt: Der Staat kann Freiheitsrechte              Dies betreffe vor allem die Themen Flüchtlinge
garantieren und schützen, voll entfalten können                 und Islam.06 Offensichtlich besteht hauptsäch-
sie sich aber nur in einem gesellschaftlichen Kli-              lich bei diesen Themen ein sozial hochwirksa-
ma der Freiheit. Und für dieses Klima der Frei-                 mer Konformitätsdruck. Überdies deuten die
heit ist die Zivilgesellschaft maßgeblich verant-               Befragungsergebnisse darauf hin, dass vielen
wortlich. Der Staat kann und muss dieses Klima                  die Bereitschaft fehlt, den erwarteten Preis für
fördern, erzwingen kann er es jedoch nicht. Er                  eine öffentliche Meinungsbekundung zu zah-
kann, wenn Individuum A durch die Inanspruch-                   len. Wie bei allen sozialen Interaktionen sind
nahme der Meinungsfreiheit Individuum B Scha-                   zwei Seiten beteiligt: in diesem Fall eine Seite,
den zufügt, eingreifen, um A vor B zu schützen.                 die einen Preis für Meinungsäußerungen fest-
Er kann aber nicht bei jeder sozialen Interaktion               setzt, und eine Seite, die sich diesem Preisdiktat
einschreiten, bei der A versucht, eine Meinungs-                beugt. Solange Menschen sich einem Preisdik-
äußerung von B moralisch zu diskreditieren be-                  tat beugen, funktioniert der von gesellschaftlich
ziehungsweise versucht, B aufgrund dieser Mei-                  diskursmächtigen Gruppen erzeugte Konfor-
nungsäußerung sozial auszugrenzen. Täte er dies,                mitätsdruck. Das wissen natürlich auch die-
würde er schnell zu einem freiheitsfeindlichen In-              se Gruppen, weshalb sie mit sozialer Ausgren-
terventionsstaat mutieren.                                      zung und moralischer Herabsetzung drohen,
     Kurzum: Der freiheitliche Staat lebt davon,                um ihre Diskursmacht abzusichern. Migration
dass Menschen einerseits bereit sind, die Frei-                 und Islam sind für Identitätslinke zentrale Läu-
heit Andersdenkender zu achten, und dass ih-                    terungsthemen. Deshalb setzen sie alles daran,
nen andererseits die Meinungsfreiheit so viel wert              hier diskursbestimmend zu sein. Der zu diesem
ist, dass sie willens sind, für ihre Überzeugungen              Zweck ausgeübte Konformitätsdruck verfehlt,
einzutreten, auch wenn sie negative Reaktionen                  wie die Allensbach-Studie zeigt, seine Wirkung
zu erwarten haben. Die Wertschätzung der eige-                  nicht. Das heißt nicht, dass Identitätslinke die
nen kommunikativen Selbstbestimmung ist die                     Macht haben, jeden zu disziplinieren, der von
wichtigste Voraussetzung dafür, dass das Haupt­                 ihren Dogmen abweicht. Damit der sogenann-
                                                                te chilling effect eintritt, reicht es aus, dass sie in
04 Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnung    der Lage sind, gelegentlich ein Exempel zu sta-
der Jahresversammlung der Hochschulrektorenkonferenz am         tuieren. Wissen Menschen, dass bestimmte Mei-
18. November 2019 in Hamburg, www.bundespraesident.de/​         nungsäußerungen potenziell mit sozialem Aus-
SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/​
                                                                schluss, moralischem Reputationsverlust, einem
2019/11/191118-Hochschulrektorenkonferenz-HH.html.
05 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft,
Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht,   06 Vgl. Renate Köcher, Grenzen der Freiheit, in: Frankfurter
Frank­furt/M. 1976.                                             Allgemeine Zeitung, 23. 5. 2019, S. 12.

10
Freie Rede APuZ

Karriereknick oder gar dem Jobverlust einher-                   Politikern. Identitätslinke und Identitätsrechte
gehen können, schalten viele lieber in den Risi-                betätigen sich also beide bewusst als Preistreiber,
kovermeidungsmodus.                                             um Andersdenkende davon abzuhalten, von ih-
    Durchaus verständlich ist diese Reaktion in                 rem Grundrecht auf Meinungsfreiheit Gebrauch
Institutionen und Betrieben, wo mithilfe von                    zu machen. Sie bringen damit diejenigen zum
Hierarchien und Gruppendynamiken dafür ge-                      Verstummen, denen der Preis zu hoch ist. Selten
sorgt werden kann, dass Andersdenkende mit                      sind das Personen, die dem jeweiligen Gegenpol
Nachteilen – zum Beispiel im Hinblick auf Ver-                  angehören, sondern Menschen in der großen Mit-
tragsverlängerungen, Beurteilungen oder Beför-                  te der Gesellschaft: Menschen, die glauben, dass
derungen – rechnen müssen. Daneben gibt es                      sie etwas zu verlieren haben.
aber viele soziale Interaktionssituationen, in de-                  Woran es in Deutschland mangelt, geht folg-
nen Individuen außer einem Ansehensverlust                      lich deutlich über „Probleme mit unserer Streit-
beim Gesprächspartner und einer Abkühlung der                   kultur“ hinaus, um auf die Diagnose des Bun-
zwischenmenschlichen Beziehung nichts zu be-                    despräsidenten zurückzukommen. Woran es
fürchten haben. Nur: Der Mensch ist ein soziales                mangelt, ist ein Klima der Freiheit, welches die un-
Wesen. Als solchem ist es ihm nicht gleichgültig,               abdingbare Voraussetzung dafür ist, dass grund-
welches moralische Ansehen er bei seinem Ge-                    rechtlich garantierte Freiheiten auch in Anspruch
genüber genießt. Aus diesem Grund versuchen                     genommen werden. Machen viele Menschen von
viele, bevor sie anderen gegenüber ihre Meinung                 ihrem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Sor-
kundtun, herauszufinden, woher der moralische                   ge vor dem erwarteten Preis nicht oder nur einge-
Wind weht, und mit welchem Preis sie für eine                   schränkt Gebrauch, dann ist der Preis eindeutig
moralisch „falsche“ Meinung in dem für sie maß-                 zu hoch. Dann muss er reduziert werden, damit
geblichen sozialen Umfeld rechnen müssen.07 Die                 er nicht das Grundrecht in seinem Gehalt aus-
wichtigsten Orientierungspunkte für die aufge-                  höhlt. Zumindest in Bezug auf bestimmte The-
stellte Kosten-Nutzen-Rechnung sind: die veröf-                 men ist eine Preisreduktion offenkundig geboten,
fentlichte Meinung, die Positionierung diskurs-                 damit die Aushöhlung der Meinungsfreiheit nicht
starker Eliten und das direkte soziale Umfeld.                  weiter voranschreitet.
Die ersten beiden betreffend, lässt sich feststel-                  Hier sind sowohl die Zivilgesellschaft als auch
len, dass sie vornehmlich beim Thema Flucht-                    der Staat gefragt. Letzterer muss darauf achten,
migration zu identitätslinken Moralvorstellun-                  dass ein Klima der Freiheit besteht. Zu dessen
gen tendieren.08 Ist das direkte soziale Umfeld                 Förderung können seine Amtsträger allein schon
nicht meinungsoffen beziehungsweise weicht es                   dadurch viel beitragen, dass sie mit gutem Bei-
nicht mehrheitlich von den ersten beiden Orien-                 spiel vorangehen – indem sie selbst davon Ab-
tierungspunkten ab, ist die Wahrscheinlichkeit                  stand nehmen, sozialen und moralischen Druck
hoch, dass Menschen die Kosten einer abwei-                     auf andere auszuüben und Personen, die zu die-
chenden Meinungsäußerung höher einschätzen                      sem freiheitsfeindlichen Mittel greifen, nicht be-
als den potenziellen Nutzen.                                    lohnen. Der Zivilgesellschaft fallen zwei Aufga-
    Die Identitätsrechten befinden sich in keiner               ben zu: Die eine Seite sollte den Preis reduzieren,
vergleichbaren gesellschaftlichen Position, aus                 die andere den Preis nicht länger leichtfertig ak-
der heraus sie größere Teile der Bevölkerung aus                zeptieren. Letzteres erfordert Resilienz, Mut und
Sorge vor sozialer Ausgrenzung und moralischer                  den Willen, sich nicht bevormunden zu lassen,
Diskreditierung zum Verstummen bringen kön-                     Ersteres Offenheit und Wertschätzung der Mei-
nen. Den Preis für unliebsame Meinungen trei-                   nungsfreiheit als Grundrecht für alle – und nicht
ben aber auch sie hoch, und zwar vor allem durch                nur für diejenigen mit der „richtigen“ Meinung.
Beschimpfungen und Bedrohungen von Einzel-
personen, insbesondere von Politikerinnen und

                                                                SANDRA KOSTNER
07 Vgl. John Stuart Mill, On Liberty, Oxford 1991; Elisabeth
                                                                ist promovierte Historikerin und Migrations­
Noelle-Neumann, Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung –
unsere soziale Haut, München 1980.
                                                                forscherin an der Pädagogischen Hochschule
08 Vgl. Michael Haller, Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien,   Schwäbisch Gmünd.
Frank­furt/M. 2017.                                             sandra.kostner@ph-gmuend.de

                                                                                                                  11
APuZ 12–13/2020

                                                        tungsloser Kräfte herein“. Und wer schließlich
                                                        versuche, „Verständnis aufzubringen für die an-
          Gleichheit ist nicht                          geblich gefühlte Freiheitsbeschränkung, die doch

            verhandelbar                                in Wahrheit nur eine massiv eingeredete“ sei, be-
                                                        sorge „schon das Geschäft der Scharfmacher“.01
                                                        Unmissverständliche Worte des Bundespräsiden-
                  Sabine Hark                           ten, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig las-
                                                        sen. Gefährdete Meinungsfreiheit? Weit gefehlt.
                                                        Wer dies dennoch behauptet, schadet der Demo-
Das Desaster ruiniert alles und lässt doch alles        kratie selbst.
­bestehen.                                                  Aus Steinmeiers Rede lässt sich freilich noch
                        Maurice Blanchot, 1980          eine andere, vielleicht sogar gewichtigere Einsicht
                                                        gewinnen. Nicht jede Meinung ist grundgesetzlich
Zu den unverhandelbaren Prinzipien unserer de-          geschützt. Wer andere sprachlich verunglimpft,
mokratischen Grundordnung zählt die Achtung             diskriminiert, wer ihre Würde verletzt oder ih-
vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und          nen gar nach Leib und Leben trachtet, kann sich
freie Entfaltung, allen voran die Achtung vor der       nicht auf das Recht der freien Rede berufen. Ei-
durch Artikel 1 Grundgesetz geschützten Würde           nen „Freibrief für die Verbreitung von rücksichts-
jedes einzelnen Menschen. Auch das „Recht, seine        losen Beleidigungen und für ungebremsten Hass
Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern        auf alle, die anders leben, anders denken, anders
und zu verbreiten und sich aus allgemein zugäng-        aussehen, anders lieben“, könne es in der Demo-
lichen Quellen ungehindert zu unterrichten“, wie        kratie nicht geben. Meinungsfreiheit, so Steinmei-
es Artikel 5 Absatz 1 GG festlegt, gehört zu diesen     ers eindeutige Botschaft, darf niemals als Legiti-
unverhandelbaren Prinzipien. Daraus leiten nicht        mation für sprachliche und andere Gewalt dienen.
wenige die absolute Freiheit der Rede ab und in-        Kürzer gesagt: Hass ist keine Meinung. Und er ist
sinuieren immer wieder gezielt, die Meinungs-           nicht grundgesetzlich ­geschützt.
freiheit sei beispielsweise auch dort gefährdet, wo         Wer nun annimmt, damit sei alles zum The-
Minderheiten auf angemessener sprachlicher Be-          ma gefährdete Meinungsfreiheit und zum Unter-
rücksichtigung beharren oder die Verwendung ge-         schied zwischen Zensur einerseits und der Kritik
waltförmiger und verletzender Rede anprangern,          an Hassrede andererseits gesagt, muss sich wieder
wo Femi­nist*­innen Sexismus skandalisieren und         und wieder eines Besseren belehren lassen. Denn
rassistisch Diskriminierte diese Diskriminierung        die Behauptung, die Meinungsfreiheit sei bedroht
bekämpfen, wo Schü­     ler*­
                            innen für Klimaschutz       – eine Behauptung im Übrigen, die mindestens in-
streiken und Studierende Vorlesungen stören, wo         direkt oft so tut, als sei sie das einzig schützens-
Menschen auf geschlechtlich angemessenen Pro-           werte Gut, das unsere Verfassung kennt –, tritt
nomen und Anreden bestehen und keine rassisti-          noch in einer anderen, nicht ganz so leicht erkenn-
schen Vokabeln in Kinderbüchern lesen wollen.           baren Variante auf. Sie lässt sich als weiche Versi-
    Wie wenig plausibel die Behauptung einer ge-        on der „Hufeisentheorie“ beschreiben: die politik-
fährdeten oder eingeschränkten Meinungsfreiheit         wissenschaftlich zwar haltlose, gleichwohl immer
allerdings ist, darauf hat Bundespräsident Frank-       wieder aufs Neue aktivierte Theorie, einer bürger-
Walter Steinmeier in seiner Rede anlässlich der         lichen Mitte stünden sich am linken und rechten
Jahresversammlung der Hochschulrektorenkon-             Ende des Hufeisens zwei extreme, den Rechtsstaat
ferenz in Hamburg im November 2019 noch ein-            und jene Mitte gleichermaßen bedrohende politi-
mal hingewiesen: „Die Behauptung, man dürfe             sche Kräfte gegenüber. In dieser weichen Varian-
in Deutschland seine Meinung nicht (mehr) frei          te wird zwar durchaus ein Unterschied zwischen
aussprechen, ist ein längst ausgeleiertes Klischee      rechter Hassrede und linker Kritik an diskrimi-
aus der reaktionären Mottenkiste.“ Es gebe we-          nierender Sprache eingeräumt, gleichwohl ist es in
der eine „staatliche Meinungszensur“ noch eine          beiden Fällen die mit „der Demokratie“ implizit
„staatliche Sprachpolizei“, so Steinmeier ent-          gleichgesetzte „bürgerliche Mitte“, die als die ei-
schieden. Wer das behaupte, lüge und führe Men-         gentlich bedrohte Gruppe ausgemacht wird. Hier
schen gezielt in die Irre; wer das glaube, falle „auf   heißt es folglich, nicht die Meinungsfreiheit an
eine bewusste Strategie interessierter verantwor-       sich sei gefährdet, sondern jene bürgerliche Mit-

12
Freie Rede APuZ

te werde durch linke und feministische Sprech-                    gewalt im negativen Sinne des Wortes, die Ein-
diktate derart eingeschüchtert, dass sie sich nicht               schüchterung“, denn immer nur von rechts kom-
mehr traue, zu reden, wie sie es kenne oder wolle,                me, antwortet die Ministerin: „Nein, die kommt
wie ihr also „der Schnabel gewachsen“ sei, so eine                natürlich auch von links. Also ich sage mal, eine
Formulierung der Bundesministerin für Bildung                     Linke, die Diskriminierung und Ausgrenzung
und Forschung, Anja Karliczek. Sie hatte kurz                     mit Gendersternchen oder Sprachschöpfungen
vor Steinmeiers Hamburger Rede in einem Inter-                    wie PoC, People of Color, aus der Welt schaffen
view mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“                     will, hat ja nicht die Diskriminierer und Ausgren-
dergestalt vor einer von links betriebenen Veren-                 zer, sondern die gemäßigte demokratische Mit-
gung des politischen Diskurses besonders an den                   te zum Schweigen gebracht.“ Doch damit nicht
Hochschulen und Universitäten gewarnt: „Es geht                   genug: „Wenn man die gemäßigte demokratische
nicht, dass sich Studenten oder Aktivisten als Mei-               Mitte mit solchen hysterischen political correcten
nungszensoren aufspielen.“ Zu viele säßen „auf ei-                Dingen zum Schweigen bringt, dann macht man
nem moralischen Thron“, und all diejenigen, die                   auch die demokratische Immunabwehr gegen die-
sich „nicht voll gendergerecht“ ausdrückten, dürf-                se rechten Ausgrenzer, gegen totalitäre Anwand-
ten „nicht gleich runtergemacht werden“.02                        lungen kaputt.“03 Eine, gelinde gesagt, durchaus
     Ähnlich besorgt um die Möglichkeiten der                     erstaunlich zu nennende Sicht der gegenwärtigen
bürgerlichen Mitte, sich ungehemmt äußern zu                      politischen Dinge.
können, zeigte sich jüngst auch Kulturstaats-                         In ihrer Weimarer Rede am selben Abend führ-
ministerin Monika Grütters. Wie es der politi-                    te Grütters ihre Überlegungen weiter aus. Und
sche Zufall wollte, sprach Grütters just am 5. Fe-                nicht nur, weil sie dabei Ross und Reiter verwech-
bruar 2020 – dem Tag, an dem erstmals bei einer                   selt, indem sie Linke, Queers, Fem­     in
                                                                                                           ­ist*innen
Ministerpräsidentenwahl Stimmen der AfD den                       und People of Color für das Erstarken autoritärer
Ausschlag gaben – in Weimar zum Thema „Die                        Kräfte verantwortlich macht, lohnt es, ausführ-
Macht der Worte: Wieviel Freiheit braucht die                     lich aus der Rede zu zitieren. Noch bevor Grüt-
Demokratie – und wieviel Freiheit verträgt die                    ters also auch nur ein Wort über Hassrede, rechts-
Demokratie?“ In einem Radiointerview im Vor-                      extreme Gewalt und den Angriff von rechtsaußen
feld ihres Auftritts machte auch sie jene bürger-                 auf die demokratische Grundordnung verloren
liche Mitte als das wahre Opfer der Forderung                     hat – was sie im zweiten Teil ihrer Rede, das soll
nach geschlechtergerechten Sprechweisen und der                   hier nicht verschwiegen werden, auch tut –, hat
Ächtung rassistischer Begriffe aus. Solche Forde-                 sie bereits detailliert ausgemalt, von wem in ih-
rungen und Gebote schüchterten diese über Ge-                     ren Augen die Schwächung der Demokratie tat-
bühr ein und produzierten selbst bei eigentlich                   sächlich ausgeht. Nämlich nicht von jenen, die
wohlmeinenden bürgerlichen Politikern und Po-                     täglich auf den Straßen und in den sozialen Me-
litikerinnen vor allem Angst. Und das wiederum                    dien, in den Parlamenten und Talkshows die Frei-
führe dazu, dass diese sich, um nur ja in kein Gen-               heit der anderen infrage stellen, von jenen, denen
der-Fettnäpfchen zu treten, lieber gar nicht mehr                 demokratische Verfahren und Institutionen kein
äußerten, als sich den Angriffen von rechts ent-                  Wert an sich, sondern lediglich Mittel zum Zweck
gegenzustellen. Wortreich beklagt die Ministerin                  der Aushöhlung und Usurpation der Demokra-
eine „hysterische Political Correctness“, die „viel               tie sind, sondern ausgerechnet von jenen, die die-
Raum“ frei mache „für das, was dann an den Rän-                   se Demokratie (bislang) am wenigsten schützt. In
dern sich tut“. Es gehe dabei, insinuiert sie, „man-              „beinahe keiner öffentlichen Kontroverse“, erläu-
chen wirklich nicht um Verständigung“, sondern                    tert Grütters einleitend, fehle „das moralisieren-
darum, „Andersdenkende“ zum Verstummen zu                         de Machtwort, das andere Sichtweisen als illegi-
bringen. Auf die Frage, ob „Demagogie, Sprach-                    tim stigmatisiert: als diskriminierend, rassistisch,
                                                                  islamophob, frauen- oder fremdenfeindlich oder
01 Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnung      in anderer Weise reaktionär: sei es des Themas
der Jahresversammlung der Hochschulrektorenkonferenz am
18. November 2019 in Hamburg, www.bundespraesident.de/​
SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/​               03 Die Radikalisierung des öffentlichen Sprechens, Monika
2019/11/191118-Hochschulrektorenkonferenz-HH.html.                Grütters im Interview, 5. 2. 2020, www.deutschlandfunkkultur.de/​
02 „Weimar ist auch heute eine Mahnung“, Anja Karliczek im        kulturstaatsministerin-ueber-sprache-und-demokratie-die.​
Interview, in: Der Spiegel, 26. 10. 2019, S. 34 f., hier S. 34.   1008.​de.html?dram:article_id=469544.

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APuZ 12–13/2020

oder auch der Wortwahl wegen, oder weil Humor                       Stattdessen wird das Begehren nach Sichtbar-
und Ironie im Spiel sind, wo manche keinen Spaß                 keit und Gehörtwerden, also danach, Gleiche un-
verstehen“. So schwelle die „Lautstärke der Ex-                 ter Gleichen zu sein, als Knebelung der wahren
treme links und rechts im Meinungsspektrum“ an,                 Bürger, als Verrohung von Sprache, Literatur und
„die ausgedünnte, gemäßigte Mitte“ verstumme,                   Kultur abgetan. Um der Behauptung der Äqui-
sei „intellektuell wie gelähmt und sprachlich ein-              valenz von rechts und links willen ist Grütters
gehegt. Die selbstgerechte Intoleranz der vorgeb-               so letztendlich bereit zu verkennen, dass es im
lich Toleranten, die geradezu obsessive Beschäfti-              einen Fall um die Fundamentalisierung des Un-
gung mit dem Kränkungspotential von Worten,                     terschieds zwischen „Menschen wie wir“ und
die reflexhafte Neigung, Andersdenkende an den                  „keine Menschen wie wir“ geht,06 während im
Pranger zu stellen und sie ohne nähere Auseinan-                anderen Dialog, Deliberation, die Erweiterung
dersetzung mit ihrer Position des Sexismus, des                 von Vorstellungsräumen und Möglichkeiten zu
Rassismus oder anderer Formen der Diskrimi-                     existieren, also der Kampf um Gleichheit, auf der
nierung zu bezichtigen, hat die Demokratie nicht                Agenda stehen.
stärker gemacht, im Gegenteil. Menschen, die                        Um hier nicht missverstanden zu werden:
sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht                   Zensur und die Verhinderung freier Meinungsäu-
wortgewandt genug fühlen, um sich unfallfrei auf                ßerungen sind fraglos kritisch zu reflektieren, wo
sprachpolitisch vermintem Gelände zu bewegen,                   immer sie auftreten. Kritische Begleitung brau-
bleiben öffentlich lieber stumm als ihre Meinung                chen auch die ohne Zweifel existierenden dog-
zu äußern.“04 Ein „krachendes Eigentor“, findet                 matischen, moralisierenden und, ja, manchmal
die Kulturstaatsministerin.                                     auch kläglichen Anwandlungen in den Politiken
    Ein krachendes Eigentor ist indes diese Rede                jener, die gerade erst begonnen haben, „in der
selbst, lässt sie doch zumindest nicht zweifelsfrei             ersten Person Singular zu sprechen“, wie Achille
erkennen, ob es für Grütters einen Unterschied                  Mbembe sagt,07 das „Alphabetisierungsprojekt in
ums Ganze macht, ob ich jemanden rassistisch oder               der Sprache des Schmerzes“, um eine Formulie-
sexistisch beleidige oder ob ich darauf hingewie-               rung von Lauren Berlant aufzugreifen.08 Aber soll
sen werde, dass dies eine rassistische, eine sexisti-           damit auch gesagt sein, dass freie Rede radikal un-
sche, eine homo- oder trans*feindliche Praxis ist,              gehemmte Rede sein sollte? Dass wir keinen Un-
dass Rassismus und Sexismus selbst und nicht de-                terschied machen sollten zwischen gewaltförmi-
ren Skandalisierung die Demokratie schwächen.                   ger, entindividualisierender Rede einerseits und
Ebenso wenig ist erkennbar, dass sie sich die Mühe              Rede, die die Würde jedes Einzelnen achtet, an-
gemacht hat, jenen zuzuhören, die für eine ihnen                dererseits? Dass wir uns beteiligen sollten an Bos-
gemäße sprachliche Adressierung kämpfen, dass                   haftigkeit und sich als Humor tarnender Karika-
sie sich ernsthaft beispielsweise mit den unter den             tur, an der Verweigerung von Rechenschaft und
Hashtags #metoo und #metwo gesammelten Erfah-                   Reziprozität? Von einem Absolutismus der freien
rungen von täglicher Ausgrenzung und Herabset-                  Rede ist Grütters zwar weit entfernt. Doch ist sie
zung, der Verweigerung von Respekt, Würde und                   bereit, den Schaden zu erkennen, den (auch ihre)
Anerkennung, der Erfahrung von Gewalt, also mit                 Worte anrichten können, wie Judith Butler un-
der Erfahrung der Verweigerung von Gleichheit,                  längst in anderem Zusammenhang fragte?09 Und
auseinandergesetzt hat. Ihre Worte lassen weder de-             mehr noch: Sind nicht gerade jene Räume demo-
mokratische Empathie noch das Wissen darum ver-                 kratische Räume, in denen, mit Hannah Arendt
muten, was es bedeutet, „wenn Menschen aus dieser
Welt herausgestoßen werden, wenn die gemeinsam
                                                                06 Richard Rorty, Menschenrechte, Rationalität und Gefühl, in:
bewohnte Welt auseinanderbricht und Menschen
                                                                Stephen Shute/Susan Hurley (Hrsg.), Die Idee der Menschen-
allein auf sich selbst zurückgeworfen sind“.05                  rechte, Frank­furt/M. 1996, S. 144–170, hier S. 145.
                                                                07 Achille Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, Frank­
                                                                furt/M. 2014, S. 139.
04 Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der      08 Lauren Berlant, Das Subjekt wahrer Gefühle. Schmerz,
Klassik Stiftung Weimar, 5. 2. 2020, www.bundesregierung.de/​   Privatheit und Politik, in: Angelika Baier et al. (Hrsg.), Affekt und
-1719614.                                                       Geschlecht, Wien 2014, S. 87–115, hier S. 88.
05 Christina Thürmer-Rohr, Kontroversen zur Kohabitation        09 Judith Butler, Verletzungen bilden gesellschaftliche Struktu-
– „Denken von anderswo“, in: Feministische Studien 2/2015,      ren ab. Judith Butler im Gespräch mit Svenja Flaßpöhler und Nils
S. 308–322, hier S. 320.                                        Markwardt, in: Philosophie Magazin 6/2019, S. 62–65.

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