AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Freie Rede - Bundeszentrale für politische ...
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70. Jahrgang, 12–13/2020, 16. März 2020 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Freie Rede Kübra Gümüşay Anatol Stefanowitsch DIE SPRACHKÄFIGE ÖFFNEN. POLITISCH KORREKTE SPRACHE GEDANKEN ZUR BEDEUTUNG UND REDEFREIHEIT VON „FREIER REDE“ Marie-Luisa Frick Sandra Kostner · Sabine Hark STREITKOMPETENZ GEFÄHRDETE ALS DEMOKRATISCHE MEINUNGSFREIHEIT? QUALITÄT – ZWEI PERSPEKTIVEN ODER: VOM WERT DES WIDERSPRUCHS Mathias Hong MEINUNGSFREIHEIT Patrick Gensing UND IHRE GRENZEN FAKTUM = MEINUNG? ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Freie Rede APuZ 12–13/2020 KÜBRA GÜMÜŞAY ANATOL STEFANOWITSCH DIE SPRACHKÄFIGE ÖFFNEN. POLITISCH KORREKTE SPRACHE GEDANKEN ZUR BEDEUTUNG UND REDEFREIHEIT VON „FREIER REDE“ Aus sprachwissenschaftlicher Sicht lässt sich Allzu oft werden Menschen durch pauschale Political Correctness deutlich von Tabuwörtern Kategorisierungen und Zuschreibungen sprach- und Euphemismen abgrenzen. Politisch korrekte lich in Käfige gesteckt. Es ist an der Zeit, offene Sprache dient vor allem der gerechtfertigten Türen in die Käfige einzubauen und Räume für Ächtung von „Slurs“ – Wörter, durch die ganze neue Perspektiven zu schaffen, sodass alle frei Gruppen pauschal abgewertet werden. sprechen können. Seite 22–27 Seite 04–07 MARIE-LUISA FRICK SANDRA KOSTNER · SABINE HARK STREITKOMPETENZ GEFÄHRDETE MEINUNGSFREIHEIT? ALS DEMOKRATISCHE QUALITÄT – ZWEI PERSPEKTIVEN ODER: VOM WERT DES WIDERSPRUCHS Woher kommt es, dass die Wahrnehmung, „man Wir brauchen Widerspruch für qualitätsvolle kann nicht mehr offen sagen, was man denkt“, Meinungsbildung. Wie kann politischer Streit offenbar nennenswerte Zustimmung findet? aber dazu beitragen? Eine mögliche Antwort Sind freie Rede und Meinungsfreiheit tatsächlich liegt darin, dass nur im Bewusstsein von alterna- gefährdet? Während Sandra Kostner dies bejaht, tiven Standpunkten und Sichtweisen der eigene argumentiert Sabine Hark dagegen. Standpunkt bestimmt werden kann. Seite 08–15 Seite 28–33 MATHIAS HONG PATRICK GENSING MEINUNGSFREIHEIT UND IHRE GRENZEN FAKTUM = MEINUNG? Meinungsfreiheit gilt grundsätzlich auch für die Meinungen und unbelegte Behauptungen „Feinde der Freiheit“. Werden die bestehenden werden heute vielfach zu Fakten erklärt, Grenzen der Meinungsfreiheit jedoch beachtet, während gleichzeitig wissenschaftlich anerkannte ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungs- Erkenntnisse häufig zu Meinungen degradiert gerichts zu diesem Grundrecht auch im Zeitalter werden. Dadurch droht letztlich auch eine der digitalen Empörungsstürme zukunftsfähig. Entwertung der Meinungsfreiheit. Seite 16–21 Seite 34–38
EDITORIAL Sich frei äußern und die eigene Meinung öffentlich verbreiten zu können, ist für freiheitliche demokratische Gesellschaften unerlässlich: Der ungehinderte Austausch konkurrierender Argumente und Sichtweisen ermöglicht politischen Wettbewerb und ist eine wesentliche Voraussetzung für die demokratische Willensbildung. Entsprechend weitreichend ist der Schutz, den die Meinungs- äußerungsfreiheit in Deutschland genießt – das in Artikel 5 des Grundgesetzes verbriefte Grundrecht wird lediglich durch wenige Bestimmungen beschränkt, etwa durch die Verbote der Beleidigung und der Volksverhetzung. Was zulässig ist und was nicht, ist Gegenstand juristischer wie gesellschaft- licher Aushandlung. Angesichts der on- wie offline zu beobachtenden sprach- lichen Enthemmung und vermehrten Hassrede werden die Grenzen der freien Rede gerade vielfach ausgetestet und von Gerichten zum Teil neu definiert. Zugleich wird über den juristischen Bereich hinaus seit Jahren darüber disku- tiert, was „man“ „noch“ sagen dürfe. „Politisch korrekter“ Sprachgebrauch wird von einem nennenswerten Bevölkerungsanteil offenbar als Einschränkung der freien Rede empfunden. Was es indes bedeuten kann, nicht so bezeichnet zu werden, wie man es sich wünscht, fällt vielen erst auf, wenn sie selbst fremdbe- zeichnet werden. Meinungsfreiheit ist mühsam und kann schmerzhaft sein: Sie schützt auch diejenigen, die sich gegen sie aussprechen; und Äußerungen, die moralisch fragwürdig erscheinen, können juristisch zulässig sein. Die meisten der damit verbundenen Zumutungen sind jedoch wechselseitig: Freie Rede bedeutet in der Regel auch freie Widerrede; ein Recht auf Widerspruchsfreiheit gibt es in der Demokratie nicht. Für den Schutz von Respekt und Anstand reichen Gesetze allein aber ohnehin nicht aus – letztlich sind wir alle gefragt, im täglichen Mit- einander (besser) darauf achtzugeben, um einer weiteren Verrohung Einhalt zu gebieten. Johannes Piepenbrink 03
APuZ 12–13/2020 ESSAY DIE SPRACHKÄFIGE ÖFFNEN Gedanken zur Bedeutung von „freier Rede“ Kübra Gümüşay SCHREIB DICH NICHT pliment“ verpacken und waren damit also kein zwischen die Welten, Problem. Es musste schon eine Vergewaltigung komm auf gegen geschehen, damit ein Problembewusstsein ent- der Bedeutungen Vielfalt, stand. Im Falle von sexueller Belästigung am vertrau der Tränenspur Arbeitsplatz, so beschreibt es Fricker, war der und lerne leben. belästigende Chef sich keiner Schuld bewusst und profitierte vom fehlenden Verständnis – So heißt es in einem Gedichtfragment des jüdi- während die belästigte Angestellte das Gesche- schen Dichters Paul Celan.01 Er schrieb es in hene weder verstehen, benennen, problema- Frankreich, auf Deutsch – der Sprache seiner tisieren, noch Maßnahmen ergreifen konnte, Mutter, der Sprache ihrer Mörder. Wenn ich die- um sich davor zu schützen. Sie blieb hilf- und ses Gedicht lese, dann höre ich darin nicht nur schutzlos, weil es bis dahin schlicht keinen Be- die Warnung und Selbstermahnung eines Dich- griff gab, der die Situation beschrieb. Damit war ters, sich selbst am Leben zu erhalten – vier Jahre, ihre Erfahrung gleichsam nicht existent. Erst mit bevor er 1970 sein Leben beendete. Ich höre da- der Verbreitung des Begriffes „sexuelle Belästi- rin auch den Ausdruck der Sehnsucht eines Men- gung“ und einem Verständnis davon, konnte der schen nach Existenz, nach dem Sein in der Spra- Missstand auch gesellschaftlich problematisiert che – und dem Sein trotz der Sprache. werden.03 Keine Sprache deckt die gesamte Realität, den Wie dieses Beispiel eindrücklich zeigt, ist die Facettenreichtum, die Perspektivenvielfalt die- Ohnmacht, die diese linguistische Lücke hinter- ser Welt ab. Es ist, wie einst Ludwig Wittgenstein lässt, immens. Unrecht, Unterdrückungen, Unge- schrieb: „Die Grenzen meiner Sprache bedeu- rechtigkeit müssen in Worte gefasst werden kön- ten die Grenzen meiner Welt.“02 Stattdessen bil- nen, damit Betroffene und Beteiligte, aber auch det Sprache lediglich das ab, was diejenigen Men- Unbeteiligte sie sehen können. Woran aber liegt schen, die in einer Sprache Herrschaft, Macht und es, dass die Erfahrungen und Perspektiven be- Autorität oder Zugang zu diesen besitzen, erfah- stimmter Gruppen in unserer Gesellschaft nicht ren. Sprache ist das, was sie erleben und zur Spra- oder erst nach langen Kämpfen ihren Weg in die che bringen. Und was ist mit Ereignissen, die sie Sprache aller finden? Wer hat die Autorität, Er- nicht erleben? Die sie nicht zur Sprache gebracht fahrungen, Situationen, Ereignisse, Personen und haben? Personengruppen zu benennen? Nehmen wir den Begriff „sexuelle Belästi- Die Lücken in unseren Sprachen sind auch gung“: Was ist, wenn die meisten Menschen die- zutiefst politische. Die Diskussionen um Sprache, sen Begriff nicht kennen? Die Philosophin Mi- Worte und Benennung sind keine Banalität, kei- randa Fricker erläutert am Beispiel der USA ne Nebenschauplätze politischer Auseinanderset- in den 1960er Jahren, welche Folgen es haben zungen. Denn Sprache ist der Stoff unseres Den- kann, Missstände nicht benennen zu können. kens und Lebens. Sie öffnet uns die Welt, aber Damals war der Begriff sexual harrassment noch sie grenzt uns auch zugleich ein. Sie öffnet Tü- nicht verbreitet, es gab kein gesamtgesellschaft- ren, aber baut auch Mauern und versperrt unsere liches Verständnis dessen, was dieser Begriff Sicht. Ja, keine Unterdrückung wird allein durch beschreibt. So ließen sich ungewollte Annähe- eine gerechte Sprache ein Ende finden – aber ohne rungen sprachlich als „Flirt“ oder gar „Kom- eine gerechte Sprache eben auch nicht. 04
Freie Rede APuZ SICHTBARKEIT vor, die Hamburger Bevölkerung würde infolge dieser „Entdeckung“ nicht nur massenhaft er- Während ich an diesem Text arbeite, werden in mordet und ihres Besitzes beraubt, sondern fort- der Nacht vom 19. auf den 20. Februar 2020 in an auch gegen ihren Widerstand als „Mexikanier“ Hanau zehn Menschen ermordet. Der aus ras- bezeichnet. Es wäre ein Beharren auf der Per- sistischen Motiven handelnde Attentäter war ein spektive der Ignoranz, der Gewalt, des Mordens, Rechtsterrorist. Dennoch ist am Morgen nach der kolonialen Herrschaft – und nichts anderes seinen Taten vielfach wieder von einem „Ein- tun wir, wenn wir die indigenen Völker Amerikas zeltäter“ und „fremdenfeindlichen Motiven“ die als „Indianer“ bezeichnen oder wenn wir die Ver- Rede.04 Aber die Menschen, die ermordet wur- wendung des N-Worts verteidigen. Wir beharren den, waren keine „Fremden“. Das Motiv war damit auf der Perspektive der Kolonisierenden, Rassismus. Und der Mörder war insofern kein der Sklaventreiber, der Entmenschlichung. „Einzeltäter“, als eine ideologisch motivierte Tat Letztlich ist es so: „Man“ kann alles sagen. niemals eine Einzeltat ist. Die Tonangebenden, Doch Menschen so zu bezeichnen, wie sie be- die Entmenschlichenden, die Schreibenden, die zeichnet werden wollen, ist keine Frage von dieser Ideologie den Weg bereiten, sind alle an Höflichkeit, auch kein Symbol politischer Kor- diesen Taten beteiligt. Das wichtigste Wort die- rektheit oder einer progressiven Haltung – es ist ser Ereignisse ist daher: Rechtsterrorismus. Das einfach eine Frage des menschlichen Anstands. ist die einzig korrekte Beschreibung, der richtige Dabei sind Menschen, die sich gegen „politisch Name. Und doch: Wir nennen ihn häufig nicht korrekte“ Sprache positionieren, weder konser- beim Namen, weil wir ihn sonst sehen, über ihn vativ noch traditionsbewusst. Sie positionieren sprechen müssten. sich schlicht und einfach gegen Gerechtigkeit. In Wenn wir heute gereizt, empört, hoch erhitzt ihrem Beharren auf ächtende Sprache verhalten über gerechte Sprache diskutieren, dann handelt sie sich nicht rebellisch, sondern unterdrückungs- es sich häufig um Stellvertreterdebatten: „Darf gehorsam. Sie bekennen sich zur Ächtung von man x noch sagen?“ „Nicht einmal y soll man Menschen. noch benutzen dürfen?“ Schon diesen Fragen, die Wenn es also um freie Sprache und freies Spre- eine vermeintlich allgemeine Empörung ausdrü- chen geht, dann ist doch die eigentliche Frage: cken sollen, wohnt eine Perspektive inne: Wer ist Wer kann dies gegenwärtig überhaupt? Kann ein „man“? Wer spricht hier eigentlich? Um wessen Mensch überhaupt sein, frei sein, frei sprechen, in Vorlieben, Befinden und Perspektive geht es hier einer Sprache, in der er als Sprechender nicht vor- eigentlich? gesehen war? In einer Sprache, in der er nur vorge- Stellen Sie sich vor, ein Spanier kommt bei ei- sehen ist als einer derjenigen, über die gesprochen ner Schifffahrt nach Mexiko vom Kurs ab und wird? In einer Sprache, die – wie der afroamerika- legt am Hamburger Hafen an. Er „entdeckt“ für nische Schriftsteller James Baldwin 1964 über das sich also tatsächlich Hamburg. Doch nun stel- Englische schrieb – seine „Erfahrung in keiner len Sie sich vor, dieser Moment ginge als „Ent- Weise widerspiegelte“?05 Kann eine Frau in einer deckung“ Hamburgs nicht nur in seine persönli- Sprache wie der deutschen, in der „dämlich“ von che, sondern in die Weltgeschichte ein. Als hätte „Dame“ kommt und „herrlich“ von „Herr“, frei es vor ihm dort nichts gegeben, keine Geschich- sprechen? In einer Sprache, in der die Regel gilt: te, kein Leben, keine Traditionen. Stellen Sie sich „99 Sängerinnen und 1 Sänger sind zusammen 100 Sänger. Futsch sind die 99 Frauen, nicht mehr 01 Aus dem Gedichtband „Eingedunkelt“, hrsg. von Bertrand Ba- diou/Jean-Claude Rambach, Frankfurt/M. 1991; zur Entstehungs- 05 „My quarrel with the English language has been that the geschichte siehe www.planetlyrik.de/paul-celan-eingedunkelt/ language reflected none of my experience. But now I began to 2018/09. see the matter in quite another way. If the language was not my 02 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Lon- own, it might be the fault of the language; but it might also be don 1922, Satz 5.6. my fault. Perhaps the language was not my own because I had 03 Miranda Fricker, Hermeneutical Injustice: Power and the never attempted to use it, had only learned to imitate it. If this Ethics of Knowing, Oxford 2007. were so, then it might be made to bear the burden of my expe- 04 Tagesschau-Liveblog, 20. 2. 2020, www.tagesschau.de/ rience if I could find the stamina to challenge it, and me, to such newsticker/hanau-ermittlungen-101.html#Landtagssitzung- a test.“ James Baldwin, The Cross of Redemption: Uncollected abgesagt. Writings, New York 2010, S. 67 (eig. Übersetzung). 05
APuZ 12–13/2020 auffindbar, verschwunden in der Männerschubla- Weil das Weltbild, das dort im Museum ausge- de.“06 Das schrieb einst Luise F. Pusch, die Mitbe- stellt wird, so sehr ihrem eigenen ähnelt. gründerin der feministischen Sprachwissenschaft Wie frei und unbeschwert sie sich im Museum in Deutschland, über die deutsche Sprache und der Sprache bewegen können, wird erst deutlich, das generische Maskulinum. wenn wir die zweite Kategorie von Menschen in diesem Museum betrachten: die Benannten. Sie SPRACHROHRE sind zuerst einfach nur Menschen, die auf irgend- EINER KATEGORIE eine Weise von der Norm der Unbenannten ab- weichen. Sie sind Anomalien im Weltbild der Un- Lassen Sie uns Sprache als einen Ort denken. Wie benannten, nicht vorhergesehen, anders, fremd. ein unfassbar großes Museum, in dem uns die Manchmal auch einfach nur ungewohnt, unver- Welt da draußen erklärt wird. Wochen, Mona- traut. Sie erzeugen Irritationen. Sie sind nicht te, Jahre, ein ganzes Leben könnten Sie in diesem selbstverständlich. Museum verbringen. Je mehr Zeit Sie dort ver- Die Unbenannten wollen die Benannten ver- bringen, desto mehr Dinge begreifen Sie. Sie kön- stehen – nicht als Einzelne, sondern im Kollektiv. nen eintauchen in Welten, die Sie nie selbst erlebt Sie analysieren sie, inspizieren sie, kategorisieren haben, die hier geordnet und kategorisiert auf- und katalogisieren sie. Sie versehen sie schließ- bereitet sind, begreiflich gemacht in Namen und lich mit einem Kollektivnamen und einer Defini- Definitionen. Sie finden Objekte, Lebewesen und tion, die sie auf die Merkmale und Eigenschaften Pflanzen aus allen Kontinenten, aber auch Ide- reduziert, die den Unbenannten an ihnen bemer- en und Theorien, Gedanken und Gefühle, Fan- kenswert erscheinen. Das ist der Moment, in dem tasien und Träume, längst Vergangenes, aber auch aus Menschen Benannte werden, in dem Men- Hochaktuelles. schen entmenschlicht werden. Diese Menschen, Es gibt zwei Kategorien von Menschen in die nun keine mehr sind – die Benannten – leben diesem Museum: Die Benannten und die Unbe- sorgfältig katalogisiert in Glaskäfigen, beschrif- nannten. Die Unbenannten sind Menschen, de- tet mit ihren Kollektivnamen. Wir betrachten sie ren Existenz unhinterfragt ist. Sie sind der Stan- durch die Augen der Unbenannten: gesichtslo- dard, die Norm, der Maßstab. Unbeschwert und se Wesen, Bestandteile eines Kollektivs. Jede ih- frei laufen die Unbenannten durch das Muse- rer Äußerungen, jede ihrer Handlungen wird auf um der Sprache. Denn das Museum ist für Men- das Kollektiv zurückgeführt, Individualität wird schen wie sie gemacht. Es zeigt die Welt aus ih- ihnen nicht zugestanden. Den Unbenannten, die rer Perspektive. Das ist kein Zufall, denn es sind sie betrachten, erscheint das als normal, obwohl Unbenannte, die dieses Museum kuratieren. Sie für sie selbst ihre Individualität die Grundlage entscheiden darüber, was in diesem Museum aus- ihres Seins ist. gestellt wird und was nicht. Sie geben den Din- So heißen die Benannten manchmal „Ge- gen Namen, ordnen ihnen Definitionen zu. Sie flüchtete“, manchmal „Nordafrikaner“, manch- sind Unbenannte, doch sie selbst machen von der mal „Transfrau“. Dies sind enge, sehr enge Käfi- Macht der Namensgebung Gebrauch. Sie sind ge. Es gibt auch etwas breitere, die ein bisschen auch Benennende. mehr Spielraum lassen, aber dennoch eng sind: Ja, das Museum der Sprache eröffnet uns „Ostdeutscher“ oder „Powerfrau“. Die Be- die Welt. Aber es erfasst sie keineswegs in ihrer nannten fangen nun an, sich zu ihrem Käfig zu Vollständigkeit, in ihrem ganzen Facettenreich- verhalten: bloß nicht gefährlich wirken, nicht tum. Es erfasst lediglich das, was die Benennen- unterdrückt, abgehängt oder zu emanzipiert. In- den selbst erfassen – so weit, wie deren Sinne und dividualität, Komplexität, Ambiguität – alles das, Erfahrungen reichen. Nicht weiter. Die anderen was uns und unser Menschsein ausmacht, wird Unbenannten bemerken diese Einschränkung ihnen abgesprochen, geraubt. Wenn sie zum nicht, sie bemerken nicht einmal, dass ihr Blick Sprechen aufgefordert werden, dann sprechen sie auf die Welt durch den anderer Menschen gelenkt als Vertretende ihrer jeweiligen Kategorien. Sie wird, weil ihnen diese Menschen so ähnlich sind. sprechen, um sich und ihr Dasein zu erklären, zu rechtfertigen, ihre Existenz zu begründen. Die- 06 Luise F. Pusch, Alle Menschen werden Schwestern. Feministi- ses Sprechen ist kein freies Sprechen, sondern sche Sprachkritik, Frankfurt/M. 1990, S. 101. Teil der Inspektion. Wir inspizieren sie, um sie 06
Freie Rede APuZ zu begreifen. Wir betrachten sie. Mit den Augen macht aus Kategorien Käfige. Es gibt viele Per- der Unbenannten schauen wir auf die Benann- spektiven auf diese Welt – so viele, wie es Men- ten (herab). schen gibt. Jede einzelne ist für sich genommen Und in dem Moment, in dem ein Begriff wie beschränkt. Alle Menschen sind vorurteilsbehaf- „Gutmensch“ zur Beleidigung wird, blicken wir tet und begrenzt durch ihre Erfahrungen. Wenn auf die Engagierten und die Toleranten durch die aber bestimmte Perspektiven – etwa die weißer Brille der Rechten. Wir setzen sie in einen Käfig Europäer*innen oder Nordamerikaner*innen – und homogenisieren ein weites und heterogenes gegenüber anderen privilegiert werden, wenn ihre Spektrum von Menschen. Wir reduzieren sie auf eingeschränkte Perspektive hegemonialen An- wenige Facetten. Als sich der Gebrauch des Be- spruch gewinnt, dann verlieren andere Perspek- griffes auf diese Weise wandelte, erlebten Men- tiven und Erfahrungen ihren Geltungsanspruch. schen, die nie zuvor Benannte waren, erstmals, Es ist, als würden sie nicht existieren. Doch an- was es bedeutet, eingesperrt zu sein und auf eine deren die eigene Perspektive zu verordnen, sei, Kategorie reduziert zu werden. so schrieb Friedrich Nietzsche, eine „lächerliche Diese Erfahrung ist auch der Grund, weshalb Unbescheidenheit“.08 der Begriff „alter weißer Mann“07 die so Benann- Letztlich geht es in den Debatten um Spra- ten derart erzürnt. Ihre Reaktion sollte ihnen ei- che und ihren Gebrauch darum, die Architek- nen Spiegel vorhalten, in dem sie jäh erkennen, tur der Sprache zu erkennen, sie wahrzunehmen wie erniedrigend und entmündigend es ist, wenn und zu ertasten. Im übertragenen Sinne: ihre ein Mensch von anderen als bloße Kategorie be- Mauern zu sehen. Es geht darum, die Last, die trachtet wird, welche Zumutung das Betrach- Gewalt, die Perspektiven, die bestimmten Wor- ten von Menschen in vermeintlich absoluten Ka- ten innewohnen, zu begreifen, sich der Macht tegorien ist. Denn in dem Moment, in dem wir der Sprache bewusst zu werden und offene Tü- pauschalisierend von „alten weißen Männern“ ren in die Käfige einzubauen. Letztlich geht es sprechen, betrachten wir sie mit den Augen der darum, Räume für neue Perspektiven zu schaf- anderen. Vielleicht zum ersten Mal überhaupt er- fen. Freie Rede bedeutet, eine sprachliche Archi- leben sie, was es bedeutet, nicht nur für das eigene tektur zu schaffen, die es einer pluralen Gesell- Verhalten verantwortlich zu sein, sondern für das schaft ermöglicht, facettenreich, perspektivreich eines konstruierten Kollektivs. Angesichts die- und komplex in ihr zu existieren – sodass alle ser Bezeichnung fühlt sich manch älterer weißer frei sprechen können. Herr womöglich tatsächlich dazu gedrängt, sich dazu zu verhalten – beispielsweise, um sich von der Zuschreibung abzugrenzen, um unter Beweis zu stellen, dass er nicht rassistisch, sexistisch und ignorant ist – oder was auch immer gerade mit dieser Kategorie assoziiert wird. Auf diese Weise der eigenen Freiheit beraubt, lässt sich nicht mehr frei sprechen. Doch natürlich brauchen wir Kategorien – al- lein schon, um uns durch die Welt zu navigieren. Was sich aber ändern muss, ist der Absolutheits- glaube, der an diese Kategorien gekoppelt ist. Der Irrglaube, man könnte einen Menschen oder eine ganze Gruppe von Menschen abschließend ver- stehen und begreifen, wenn man sie der (augen- scheinlich) richtigen Kategorien zugeordnet hat, KÜBRA GÜMÜŞAY 07 Selbstverständlich müsste dieses Beispiel hier spezifiziert ist Journalistin und Bloggerin; 2020 erschien ihr werden: Homosexuelle, Trans- oder Männer mit Behinderung wären hier etwa ausgenommen. Buch „Sprache und Sein“. 08 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: ders., www.kubragumusay.com Sämtliche Werke, Bd. 3, München 1999, S. 627. Twitter: @kuebra 07
APuZ 12–13/2020 GEFÄHRDETE MEINUNGSFREIHEIT? ZWEI PERSPEKTIVEN Woher kommt es, dass die Wahrnehmung, „man kann nicht mehr offen sagen, was man denkt“, offenbar nennenswerte Zustimmung findet? Sind freie Rede und Meinungsfreiheit tatsächlich gefährdet? Während Sandra Kostner dies bejaht, argumentiert Sabine Hark dagegen. duums ab, und damit auch die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.01 Wie notwendig dieser Keine Meinungsfreiheit ohne Grundrechtsschutz ist, ist in den vergangenen ein Klima der Freiheit Jahren wieder sichtbarer geworden: Anstatt sich mit den als Zumutung erachteten Argumenten Andersdenkender auseinanderzusetzen, wird zu- Sandra Kostner nehmend versucht, die jeweils Andersdenkenden mithilfe von herabwürdigenden Labels aus dem Diskurs auszuschließen. Dabei hängt es von der Meinungsfreiheit ist Zumutung, und das muss sie politischen Richtung ab, welche Labels einge- in einem freiheitlichen Staat auch sein. Diese für setzt werden. Auf der rechtsäußeren Seite wer- funktionierende Demokratien grundlegende Er- den vorzugsweise Labels wie „linksgrün versifft“, kenntnis stieß noch nie auf ungeteilte Zustim- „Gutmensch“ oder „Volksfeind“ verwendet; auf mung. Das liegt daran, dass es sich bei der Mei- der linken Seite zuvörderst „Rassist“, „Faschist“ nungsfreiheit um ein besonders herausforderndes oder „Nazi“. Das wirft die Frage auf: Warum sol- Grundrecht handelt, weil es Menschen mit Welt- len gerade heutzutage Meinungen zu spezifischen anschauungen konfrontiert, die ihre tiefsten Themen als unerträgliche Zumutungen aus dem Überzeugungen infrage stellen. Solch unangeneh- Diskurs verbannt werden? men Erfahrungen gehen Menschen gerne aus dem Die genannten Labels zeigen, dass es sich in Weg – zum Beispiel, indem sie Andersdenkende erster Linie um Themen handelt, an denen sich meiden oder, wenn dies nicht möglich ist, versu- der Kampf zwischen linker und rechter Identi- chen, deren Meinungsäußerungen zu diskredi- tätspolitik entzündet. Allen voran sind das die tieren, um vor sich selbst und anderen rechtfer- Themen Migration und kulturell-religiöse Viel- tigen zu können, warum sie sich nicht mit dem falt. Aufgrund ihrer gegenwärtig ungleich grö- Gesagten befassen möchten. Haben Menschen ßeren gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit steht die Macht dazu, unliebsame Meinungen zu un- nachfolgend die linke Identitätspolitik im Fokus. terdrücken und die Verkünder dieser Meinungen Vertreter der linken Identitätspolitik – im Fol- zu bestrafen, erfordert es ein erhebliches Maß an genden Identitätslinke genannt – streben eine Ge- Charakterstärke beziehungsweise Respekt für die sellschaft an, in der die Gruppen, als deren Für- Freiheitsrechte anderer, um dieser Versuchung zu sprecher sie sich sehen, keinem Sprachgebrauch widerstehen. ausgesetzt sind, den sie als Zumutung empfinden Um die freiheitsfeindlichen Folgen dieser psy- könnten. chologischen Disposition zu begrenzen, schützt Warum Identitätslinke Sprachregelungen das Grundgesetz das Recht aller Menschen, ihre nicht nur präferieren, sondern oftmals mit Ve- Meinungen anderen gegenüber kundzutun. Über hemenz einfordern, ergibt sich aus ihren Zielen. diesen Grundrechtsschutz sichert der Staat die Die beiden miteinander verwobenen Ziele lauten: kommunikative Selbstbestimmung des Indivi- Empowerment von Gruppen, die zumeist his- 08
Freie Rede APuZ torisch betrachtet Opfer von Ungleichbehand- Die Behauptung eines Opfers, dass jemand oder lungen waren (Opfergruppen), und moralische etwas, seine Gefühle verletzt habe, darf nicht hin- Läuterung der Gruppen, die Identitätslinke für terfragt werden, da dies zu einer weiteren Ge- die Ungleichbehandlung verantwortlich machen fühlsverletzung führen könnte und so die Läute- (Schuldgruppen). Demzufolge hätten beispiels- rung der Schuldseite in Zweifel zöge. weise kulturell-religiöse Mehrheiten ihre Läute- Heutzutage bedarf es für den Vorwurf eines rung gegenüber Minderheiten zu beweisen. 02 Um diskriminierenden Sprachgebrauchs nicht mehr als geläutert zu gelten, reicht es für Angehörige Begriffe, die geprägt wurden, um Menschen ab- der kulturell-religiösen Mehrheit nicht, individu- zuwerten. Für einen Rassismusvorwurf reicht ell nachweisen zu können, dass sie weder rassis- schon die Verwendung von Begriffen wie „abge- tisch noch nationalistisch denken und handeln. hängter Stadtteil“ oder „Problemviertel“ für so- Erst wenn alle Mitglieder der Mehrheitsgesell- zial schwache Gebiete aus, wenn diese überwie- schaft in keiner Weise mehr ein solches Denken gend von Menschen mit Migrationshintergrund und Handeln erkennen lassen, wird auch jeder bewohnt werden. Ob die Bezeichnung „abge- Einzelne aus dem Schuldstatus entlassen. Die- hängt“ objektiv zutrifft oder nicht, spielt keine ses Abhängigkeitsverhältnis ist der Grund dafür, Rolle. Relevant für die Einstufung des Sprach- dass Identitätslinke auf der Schuldseite Druck auf gebrauchs als rassistisch ist einzig und allein die alle Mitglieder „ihrer“ Schuldgruppe ausüben, emotionale Betroffenheit, die geltend gemacht um sie zur Aufgabe missliebiger Äußerungen zu wird. bewegen. Lange sah es so aus, als wären identitätsrech- Verstärkt wird der Druck von Identitätslin- te Positionen, das heißt Positionen, die der kul- ken auf der Opferseite, die wissen, dass ihre ge- turell-religiösen Mehrheit grundsätzlich den Vor- sellschaftliche Relevanz davon abhängt, dass auf rang einräumen, im öffentlichen Diskurs allenfalls der Schuldseite ein Läuterungsbedürfnis besteht. noch von marginaler Bedeutung. Dass dem nicht Daher ist der weit fortgeschrittene Abbau von mehr so ist, trat in Deutschland spätestens mit Ungleichbehandlungen für sie ein zweischneidi- der „Flüchtlingskrise“ im Herbst 2015 klar zuta- ges Schwert: Einerseits ist jeder Abbau ein Ge- ge. Die Unerbittlichkeit, mit der Identitätslinke winn für sie, andererseits büßen sie dadurch ihre gerade in den zurückliegenden Jahren agieren, um Wirkmächtigkeit ein. Um den Läuterungsdruck Themen zu verschließen und Sprechakte als un- aufrechtzuerhalten, werden deshalb immer häu- erträgliche Zumutungen zu klassifizieren, hat viel figer Gefühlsverletzungen ins Spiel gebracht.03 mit dem Aufstieg der AfD zu tun. Die Rückkehr Da jede Gefühlsverletzung den Läuterungsgrad identitätsrechter Positionen auf die politische der Schuldseite infrage stellt, achten deren nach Bühne wird von Identitätslinken als Bedrohung Läuterung strebende Mitglieder peinlich genau erlebt: auf der Schuldseite im Hinblick darauf, darauf, dass es nicht zu einer solchen Infragestel- dass der Wählerzuspruch für die AfD Zweifel an lung kommt. Gefühlsverletzungen sind zudem der Läuterung der gesamten Schuldgruppe weckt; eng mit Sprache verknüpft, weshalb Identitäts- auf der Opferseite hinsichtlich der – nicht unbe- linke so großen Wert auf einen sensiblen Sprach- gründeten – Sorge, dass ihnen eine gesellschaft- gebrauch legen. Niemanden verletzen zu wollen, liche Schlechterstellung droht. Die Ausgrenzung ist ein hehres Anliegen. Die Folgen für ein mei- von Positionen, die nur annäherungsweise mit nungsoffenes Diskursklima sind jedoch hoch- der AfD in Verbindung gebracht werden könn- problematisch. Denn: Wer Ungleichbehandlung ten, avancierte deshalb zum obersten Gebot. So an Gefühlen festmacht, dehnt die Palette der Ta- werden viele, die sich kritisch zur Flüchtlings- buthemen ins nahezu Unendliche aus. Dabei gilt: politik der Bundesregierung geäußert haben, mit dem Satz vertraut sein, dass man solche Äußerun- 01 Vgl. Sebastian Müller-Franken, Meinungsfreiheit im freiheit- gen lieber unterlasse, weil man sonst AfD-Positi- lichen Staat, Paderborn 2013, S. 19. onen stärke. 02 Vgl. Sandra Kostner, Identitätslinke Läuterungsagenda. Offenbar hat der Aufstieg der AfD dem Welche Folgen hat sie für Migrationsgesellschaften?, in: dies. Diskursklima in Deutschland geschadet: so- (Hrsg.), Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschafften, Stuttgart 2019, S. 17–73. wohl durch Meinungsäußerungen von AfD- 03 Vgl. Sandra Kostner, Contra. Streiten mit dem Unterstrich, lern, als auch durch die Mittel, mit denen insbe- in: Der Tagesspiegel, 24. 11. 2019, S. 5. sondere Identitätslinke den Kampf gegen rechts 09
APuZ 12–13/2020 führen. Ob nun durch die Belastung des Dis- instrument, das zur Unterdrückung unliebsamer kursklimas die Meinungsfreiheit in Deutsch- Meinungen eingesetzt wird, seine Wirksamkeit land eingeschränkt oder gar gefährdet sei, darü- verliert. Dieses Hauptinstrument heißt Kon- ber scheiden sich die Geister. So haben wir laut formitätsdruck, wobei dieser wirksam nur von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier „kein Gruppen erzeugt werden kann, die in ihrem so- Problem mit der Meinungsfreiheit“, sondern nur zialen Umfeld über Macht und Einfluss verfü- ein „Problem mit unserer Streitkultur“.04 Ver- gen. Wie bereits 1840 eindrucksvoll von Alexis steht man unter Meinungsfreiheit, dass es staat- de Tocqueville in seinem Buch „Über die Demo- licherseits keine Eingriffe in dieses Grundrecht kratie in Amerika“ beschrieben, ist soziale Aus- im Sinne von Strafandrohungen für unliebsa- grenzung das wirkmächtigste Mittel zur Erzeu- me Meinungen gibt, dann ist der Aussage des gung von Konformitätsdruck. Erreicht wird sie Bundespräsidenten zuzustimmen. Nur: Wie alle durch das Mittel der Moral, das heißt durch die Grundrechte lebt auch die Meinungsfreiheit von Einteilung von Meinungen in moralisch gute und Voraussetzungen, die der Staat allein nicht ga- schlechte. rantieren kann.05 Zu ihrer vollumfänglichen Ver- Im Frühjahr 2019 gaben fast zwei Drit- wirklichung ist auch das gleichermaßen freiheits- tel der Befragten in einer Allensbach-Umfrage liebende, mutige und verantwortungsbewusste an, dass man heutzutage „sehr aufpassen [müs- Individuum erforderlich. se], zu welchen Themen man sich wie äußert“. Anders gesagt: Der Staat kann Freiheitsrechte Dies betreffe vor allem die Themen Flüchtlinge garantieren und schützen, voll entfalten können und Islam.06 Offensichtlich besteht hauptsäch- sie sich aber nur in einem gesellschaftlichen Kli- lich bei diesen Themen ein sozial hochwirksa- ma der Freiheit. Und für dieses Klima der Frei- mer Konformitätsdruck. Überdies deuten die heit ist die Zivilgesellschaft maßgeblich verant- Befragungsergebnisse darauf hin, dass vielen wortlich. Der Staat kann und muss dieses Klima die Bereitschaft fehlt, den erwarteten Preis für fördern, erzwingen kann er es jedoch nicht. Er eine öffentliche Meinungsbekundung zu zah- kann, wenn Individuum A durch die Inanspruch- len. Wie bei allen sozialen Interaktionen sind nahme der Meinungsfreiheit Individuum B Scha- zwei Seiten beteiligt: in diesem Fall eine Seite, den zufügt, eingreifen, um A vor B zu schützen. die einen Preis für Meinungsäußerungen fest- Er kann aber nicht bei jeder sozialen Interaktion setzt, und eine Seite, die sich diesem Preisdiktat einschreiten, bei der A versucht, eine Meinungs- beugt. Solange Menschen sich einem Preisdik- äußerung von B moralisch zu diskreditieren be- tat beugen, funktioniert der von gesellschaftlich ziehungsweise versucht, B aufgrund dieser Mei- diskursmächtigen Gruppen erzeugte Konfor- nungsäußerung sozial auszugrenzen. Täte er dies, mitätsdruck. Das wissen natürlich auch die- würde er schnell zu einem freiheitsfeindlichen In- se Gruppen, weshalb sie mit sozialer Ausgren- terventionsstaat mutieren. zung und moralischer Herabsetzung drohen, Kurzum: Der freiheitliche Staat lebt davon, um ihre Diskursmacht abzusichern. Migration dass Menschen einerseits bereit sind, die Frei- und Islam sind für Identitätslinke zentrale Läu- heit Andersdenkender zu achten, und dass ih- terungsthemen. Deshalb setzen sie alles daran, nen andererseits die Meinungsfreiheit so viel wert hier diskursbestimmend zu sein. Der zu diesem ist, dass sie willens sind, für ihre Überzeugungen Zweck ausgeübte Konformitätsdruck verfehlt, einzutreten, auch wenn sie negative Reaktionen wie die Allensbach-Studie zeigt, seine Wirkung zu erwarten haben. Die Wertschätzung der eige- nicht. Das heißt nicht, dass Identitätslinke die nen kommunikativen Selbstbestimmung ist die Macht haben, jeden zu disziplinieren, der von wichtigste Voraussetzung dafür, dass das Haupt ihren Dogmen abweicht. Damit der sogenann- te chilling effect eintritt, reicht es aus, dass sie in 04 Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnung der Lage sind, gelegentlich ein Exempel zu sta- der Jahresversammlung der Hochschulrektorenkonferenz am tuieren. Wissen Menschen, dass bestimmte Mei- 18. November 2019 in Hamburg, www.bundespraesident.de/ nungsäußerungen potenziell mit sozialem Aus- SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/ schluss, moralischem Reputationsverlust, einem 2019/11/191118-Hochschulrektorenkonferenz-HH.html. 05 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, 06 Vgl. Renate Köcher, Grenzen der Freiheit, in: Frankfurter Frankfurt/M. 1976. Allgemeine Zeitung, 23. 5. 2019, S. 12. 10
Freie Rede APuZ Karriereknick oder gar dem Jobverlust einher- Politikern. Identitätslinke und Identitätsrechte gehen können, schalten viele lieber in den Risi- betätigen sich also beide bewusst als Preistreiber, kovermeidungsmodus. um Andersdenkende davon abzuhalten, von ih- Durchaus verständlich ist diese Reaktion in rem Grundrecht auf Meinungsfreiheit Gebrauch Institutionen und Betrieben, wo mithilfe von zu machen. Sie bringen damit diejenigen zum Hierarchien und Gruppendynamiken dafür ge- Verstummen, denen der Preis zu hoch ist. Selten sorgt werden kann, dass Andersdenkende mit sind das Personen, die dem jeweiligen Gegenpol Nachteilen – zum Beispiel im Hinblick auf Ver- angehören, sondern Menschen in der großen Mit- tragsverlängerungen, Beurteilungen oder Beför- te der Gesellschaft: Menschen, die glauben, dass derungen – rechnen müssen. Daneben gibt es sie etwas zu verlieren haben. aber viele soziale Interaktionssituationen, in de- Woran es in Deutschland mangelt, geht folg- nen Individuen außer einem Ansehensverlust lich deutlich über „Probleme mit unserer Streit- beim Gesprächspartner und einer Abkühlung der kultur“ hinaus, um auf die Diagnose des Bun- zwischenmenschlichen Beziehung nichts zu be- despräsidenten zurückzukommen. Woran es fürchten haben. Nur: Der Mensch ist ein soziales mangelt, ist ein Klima der Freiheit, welches die un- Wesen. Als solchem ist es ihm nicht gleichgültig, abdingbare Voraussetzung dafür ist, dass grund- welches moralische Ansehen er bei seinem Ge- rechtlich garantierte Freiheiten auch in Anspruch genüber genießt. Aus diesem Grund versuchen genommen werden. Machen viele Menschen von viele, bevor sie anderen gegenüber ihre Meinung ihrem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Sor- kundtun, herauszufinden, woher der moralische ge vor dem erwarteten Preis nicht oder nur einge- Wind weht, und mit welchem Preis sie für eine schränkt Gebrauch, dann ist der Preis eindeutig moralisch „falsche“ Meinung in dem für sie maß- zu hoch. Dann muss er reduziert werden, damit geblichen sozialen Umfeld rechnen müssen.07 Die er nicht das Grundrecht in seinem Gehalt aus- wichtigsten Orientierungspunkte für die aufge- höhlt. Zumindest in Bezug auf bestimmte The- stellte Kosten-Nutzen-Rechnung sind: die veröf- men ist eine Preisreduktion offenkundig geboten, fentlichte Meinung, die Positionierung diskurs- damit die Aushöhlung der Meinungsfreiheit nicht starker Eliten und das direkte soziale Umfeld. weiter voranschreitet. Die ersten beiden betreffend, lässt sich feststel- Hier sind sowohl die Zivilgesellschaft als auch len, dass sie vornehmlich beim Thema Flucht- der Staat gefragt. Letzterer muss darauf achten, migration zu identitätslinken Moralvorstellun- dass ein Klima der Freiheit besteht. Zu dessen gen tendieren.08 Ist das direkte soziale Umfeld Förderung können seine Amtsträger allein schon nicht meinungsoffen beziehungsweise weicht es dadurch viel beitragen, dass sie mit gutem Bei- nicht mehrheitlich von den ersten beiden Orien- spiel vorangehen – indem sie selbst davon Ab- tierungspunkten ab, ist die Wahrscheinlichkeit stand nehmen, sozialen und moralischen Druck hoch, dass Menschen die Kosten einer abwei- auf andere auszuüben und Personen, die zu die- chenden Meinungsäußerung höher einschätzen sem freiheitsfeindlichen Mittel greifen, nicht be- als den potenziellen Nutzen. lohnen. Der Zivilgesellschaft fallen zwei Aufga- Die Identitätsrechten befinden sich in keiner ben zu: Die eine Seite sollte den Preis reduzieren, vergleichbaren gesellschaftlichen Position, aus die andere den Preis nicht länger leichtfertig ak- der heraus sie größere Teile der Bevölkerung aus zeptieren. Letzteres erfordert Resilienz, Mut und Sorge vor sozialer Ausgrenzung und moralischer den Willen, sich nicht bevormunden zu lassen, Diskreditierung zum Verstummen bringen kön- Ersteres Offenheit und Wertschätzung der Mei- nen. Den Preis für unliebsame Meinungen trei- nungsfreiheit als Grundrecht für alle – und nicht ben aber auch sie hoch, und zwar vor allem durch nur für diejenigen mit der „richtigen“ Meinung. Beschimpfungen und Bedrohungen von Einzel- personen, insbesondere von Politikerinnen und SANDRA KOSTNER 07 Vgl. John Stuart Mill, On Liberty, Oxford 1991; Elisabeth ist promovierte Historikerin und Migrations Noelle-Neumann, Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut, München 1980. forscherin an der Pädagogischen Hochschule 08 Vgl. Michael Haller, Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien, Schwäbisch Gmünd. Frankfurt/M. 2017. sandra.kostner@ph-gmuend.de 11
APuZ 12–13/2020 tungsloser Kräfte herein“. Und wer schließlich versuche, „Verständnis aufzubringen für die an- Gleichheit ist nicht geblich gefühlte Freiheitsbeschränkung, die doch verhandelbar in Wahrheit nur eine massiv eingeredete“ sei, be- sorge „schon das Geschäft der Scharfmacher“.01 Unmissverständliche Worte des Bundespräsiden- Sabine Hark ten, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig las- sen. Gefährdete Meinungsfreiheit? Weit gefehlt. Wer dies dennoch behauptet, schadet der Demo- Das Desaster ruiniert alles und lässt doch alles kratie selbst. bestehen. Aus Steinmeiers Rede lässt sich freilich noch Maurice Blanchot, 1980 eine andere, vielleicht sogar gewichtigere Einsicht gewinnen. Nicht jede Meinung ist grundgesetzlich Zu den unverhandelbaren Prinzipien unserer de- geschützt. Wer andere sprachlich verunglimpft, mokratischen Grundordnung zählt die Achtung diskriminiert, wer ihre Würde verletzt oder ih- vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und nen gar nach Leib und Leben trachtet, kann sich freie Entfaltung, allen voran die Achtung vor der nicht auf das Recht der freien Rede berufen. Ei- durch Artikel 1 Grundgesetz geschützten Würde nen „Freibrief für die Verbreitung von rücksichts- jedes einzelnen Menschen. Auch das „Recht, seine losen Beleidigungen und für ungebremsten Hass Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern auf alle, die anders leben, anders denken, anders und zu verbreiten und sich aus allgemein zugäng- aussehen, anders lieben“, könne es in der Demo- lichen Quellen ungehindert zu unterrichten“, wie kratie nicht geben. Meinungsfreiheit, so Steinmei- es Artikel 5 Absatz 1 GG festlegt, gehört zu diesen ers eindeutige Botschaft, darf niemals als Legiti- unverhandelbaren Prinzipien. Daraus leiten nicht mation für sprachliche und andere Gewalt dienen. wenige die absolute Freiheit der Rede ab und in- Kürzer gesagt: Hass ist keine Meinung. Und er ist sinuieren immer wieder gezielt, die Meinungs- nicht grundgesetzlich geschützt. freiheit sei beispielsweise auch dort gefährdet, wo Wer nun annimmt, damit sei alles zum The- Minderheiten auf angemessener sprachlicher Be- ma gefährdete Meinungsfreiheit und zum Unter- rücksichtigung beharren oder die Verwendung ge- schied zwischen Zensur einerseits und der Kritik waltförmiger und verletzender Rede anprangern, an Hassrede andererseits gesagt, muss sich wieder wo Feminist*innen Sexismus skandalisieren und und wieder eines Besseren belehren lassen. Denn rassistisch Diskriminierte diese Diskriminierung die Behauptung, die Meinungsfreiheit sei bedroht bekämpfen, wo Schü ler* innen für Klimaschutz – eine Behauptung im Übrigen, die mindestens in- streiken und Studierende Vorlesungen stören, wo direkt oft so tut, als sei sie das einzig schützens- Menschen auf geschlechtlich angemessenen Pro- werte Gut, das unsere Verfassung kennt –, tritt nomen und Anreden bestehen und keine rassisti- noch in einer anderen, nicht ganz so leicht erkenn- schen Vokabeln in Kinderbüchern lesen wollen. baren Variante auf. Sie lässt sich als weiche Versi- Wie wenig plausibel die Behauptung einer ge- on der „Hufeisentheorie“ beschreiben: die politik- fährdeten oder eingeschränkten Meinungsfreiheit wissenschaftlich zwar haltlose, gleichwohl immer allerdings ist, darauf hat Bundespräsident Frank- wieder aufs Neue aktivierte Theorie, einer bürger- Walter Steinmeier in seiner Rede anlässlich der lichen Mitte stünden sich am linken und rechten Jahresversammlung der Hochschulrektorenkon- Ende des Hufeisens zwei extreme, den Rechtsstaat ferenz in Hamburg im November 2019 noch ein- und jene Mitte gleichermaßen bedrohende politi- mal hingewiesen: „Die Behauptung, man dürfe sche Kräfte gegenüber. In dieser weichen Varian- in Deutschland seine Meinung nicht (mehr) frei te wird zwar durchaus ein Unterschied zwischen aussprechen, ist ein längst ausgeleiertes Klischee rechter Hassrede und linker Kritik an diskrimi- aus der reaktionären Mottenkiste.“ Es gebe we- nierender Sprache eingeräumt, gleichwohl ist es in der eine „staatliche Meinungszensur“ noch eine beiden Fällen die mit „der Demokratie“ implizit „staatliche Sprachpolizei“, so Steinmeier ent- gleichgesetzte „bürgerliche Mitte“, die als die ei- schieden. Wer das behaupte, lüge und führe Men- gentlich bedrohte Gruppe ausgemacht wird. Hier schen gezielt in die Irre; wer das glaube, falle „auf heißt es folglich, nicht die Meinungsfreiheit an eine bewusste Strategie interessierter verantwor- sich sei gefährdet, sondern jene bürgerliche Mit- 12
Freie Rede APuZ te werde durch linke und feministische Sprech- gewalt im negativen Sinne des Wortes, die Ein- diktate derart eingeschüchtert, dass sie sich nicht schüchterung“, denn immer nur von rechts kom- mehr traue, zu reden, wie sie es kenne oder wolle, me, antwortet die Ministerin: „Nein, die kommt wie ihr also „der Schnabel gewachsen“ sei, so eine natürlich auch von links. Also ich sage mal, eine Formulierung der Bundesministerin für Bildung Linke, die Diskriminierung und Ausgrenzung und Forschung, Anja Karliczek. Sie hatte kurz mit Gendersternchen oder Sprachschöpfungen vor Steinmeiers Hamburger Rede in einem Inter- wie PoC, People of Color, aus der Welt schaffen view mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ will, hat ja nicht die Diskriminierer und Ausgren- dergestalt vor einer von links betriebenen Veren- zer, sondern die gemäßigte demokratische Mit- gung des politischen Diskurses besonders an den te zum Schweigen gebracht.“ Doch damit nicht Hochschulen und Universitäten gewarnt: „Es geht genug: „Wenn man die gemäßigte demokratische nicht, dass sich Studenten oder Aktivisten als Mei- Mitte mit solchen hysterischen political correcten nungszensoren aufspielen.“ Zu viele säßen „auf ei- Dingen zum Schweigen bringt, dann macht man nem moralischen Thron“, und all diejenigen, die auch die demokratische Immunabwehr gegen die- sich „nicht voll gendergerecht“ ausdrückten, dürf- se rechten Ausgrenzer, gegen totalitäre Anwand- ten „nicht gleich runtergemacht werden“.02 lungen kaputt.“03 Eine, gelinde gesagt, durchaus Ähnlich besorgt um die Möglichkeiten der erstaunlich zu nennende Sicht der gegenwärtigen bürgerlichen Mitte, sich ungehemmt äußern zu politischen Dinge. können, zeigte sich jüngst auch Kulturstaats- In ihrer Weimarer Rede am selben Abend führ- ministerin Monika Grütters. Wie es der politi- te Grütters ihre Überlegungen weiter aus. Und sche Zufall wollte, sprach Grütters just am 5. Fe- nicht nur, weil sie dabei Ross und Reiter verwech- bruar 2020 – dem Tag, an dem erstmals bei einer selt, indem sie Linke, Queers, Fem in ist*innen Ministerpräsidentenwahl Stimmen der AfD den und People of Color für das Erstarken autoritärer Ausschlag gaben – in Weimar zum Thema „Die Kräfte verantwortlich macht, lohnt es, ausführ- Macht der Worte: Wieviel Freiheit braucht die lich aus der Rede zu zitieren. Noch bevor Grüt- Demokratie – und wieviel Freiheit verträgt die ters also auch nur ein Wort über Hassrede, rechts- Demokratie?“ In einem Radiointerview im Vor- extreme Gewalt und den Angriff von rechtsaußen feld ihres Auftritts machte auch sie jene bürger- auf die demokratische Grundordnung verloren liche Mitte als das wahre Opfer der Forderung hat – was sie im zweiten Teil ihrer Rede, das soll nach geschlechtergerechten Sprechweisen und der hier nicht verschwiegen werden, auch tut –, hat Ächtung rassistischer Begriffe aus. Solche Forde- sie bereits detailliert ausgemalt, von wem in ih- rungen und Gebote schüchterten diese über Ge- ren Augen die Schwächung der Demokratie tat- bühr ein und produzierten selbst bei eigentlich sächlich ausgeht. Nämlich nicht von jenen, die wohlmeinenden bürgerlichen Politikern und Po- täglich auf den Straßen und in den sozialen Me- litikerinnen vor allem Angst. Und das wiederum dien, in den Parlamenten und Talkshows die Frei- führe dazu, dass diese sich, um nur ja in kein Gen- heit der anderen infrage stellen, von jenen, denen der-Fettnäpfchen zu treten, lieber gar nicht mehr demokratische Verfahren und Institutionen kein äußerten, als sich den Angriffen von rechts ent- Wert an sich, sondern lediglich Mittel zum Zweck gegenzustellen. Wortreich beklagt die Ministerin der Aushöhlung und Usurpation der Demokra- eine „hysterische Political Correctness“, die „viel tie sind, sondern ausgerechnet von jenen, die die- Raum“ frei mache „für das, was dann an den Rän- se Demokratie (bislang) am wenigsten schützt. In dern sich tut“. Es gehe dabei, insinuiert sie, „man- „beinahe keiner öffentlichen Kontroverse“, erläu- chen wirklich nicht um Verständigung“, sondern tert Grütters einleitend, fehle „das moralisieren- darum, „Andersdenkende“ zum Verstummen zu de Machtwort, das andere Sichtweisen als illegi- bringen. Auf die Frage, ob „Demagogie, Sprach- tim stigmatisiert: als diskriminierend, rassistisch, islamophob, frauen- oder fremdenfeindlich oder 01 Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnung in anderer Weise reaktionär: sei es des Themas der Jahresversammlung der Hochschulrektorenkonferenz am 18. November 2019 in Hamburg, www.bundespraesident.de/ SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/ 03 Die Radikalisierung des öffentlichen Sprechens, Monika 2019/11/191118-Hochschulrektorenkonferenz-HH.html. Grütters im Interview, 5. 2. 2020, www.deutschlandfunkkultur.de/ 02 „Weimar ist auch heute eine Mahnung“, Anja Karliczek im kulturstaatsministerin-ueber-sprache-und-demokratie-die. Interview, in: Der Spiegel, 26. 10. 2019, S. 34 f., hier S. 34. 1008.de.html?dram:article_id=469544. 13
APuZ 12–13/2020 oder auch der Wortwahl wegen, oder weil Humor Stattdessen wird das Begehren nach Sichtbar- und Ironie im Spiel sind, wo manche keinen Spaß keit und Gehörtwerden, also danach, Gleiche un- verstehen“. So schwelle die „Lautstärke der Ex- ter Gleichen zu sein, als Knebelung der wahren treme links und rechts im Meinungsspektrum“ an, Bürger, als Verrohung von Sprache, Literatur und „die ausgedünnte, gemäßigte Mitte“ verstumme, Kultur abgetan. Um der Behauptung der Äqui- sei „intellektuell wie gelähmt und sprachlich ein- valenz von rechts und links willen ist Grütters gehegt. Die selbstgerechte Intoleranz der vorgeb- so letztendlich bereit zu verkennen, dass es im lich Toleranten, die geradezu obsessive Beschäfti- einen Fall um die Fundamentalisierung des Un- gung mit dem Kränkungspotential von Worten, terschieds zwischen „Menschen wie wir“ und die reflexhafte Neigung, Andersdenkende an den „keine Menschen wie wir“ geht,06 während im Pranger zu stellen und sie ohne nähere Auseinan- anderen Dialog, Deliberation, die Erweiterung dersetzung mit ihrer Position des Sexismus, des von Vorstellungsräumen und Möglichkeiten zu Rassismus oder anderer Formen der Diskrimi- existieren, also der Kampf um Gleichheit, auf der nierung zu bezichtigen, hat die Demokratie nicht Agenda stehen. stärker gemacht, im Gegenteil. Menschen, die Um hier nicht missverstanden zu werden: sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht Zensur und die Verhinderung freier Meinungsäu- wortgewandt genug fühlen, um sich unfallfrei auf ßerungen sind fraglos kritisch zu reflektieren, wo sprachpolitisch vermintem Gelände zu bewegen, immer sie auftreten. Kritische Begleitung brau- bleiben öffentlich lieber stumm als ihre Meinung chen auch die ohne Zweifel existierenden dog- zu äußern.“04 Ein „krachendes Eigentor“, findet matischen, moralisierenden und, ja, manchmal die Kulturstaatsministerin. auch kläglichen Anwandlungen in den Politiken Ein krachendes Eigentor ist indes diese Rede jener, die gerade erst begonnen haben, „in der selbst, lässt sie doch zumindest nicht zweifelsfrei ersten Person Singular zu sprechen“, wie Achille erkennen, ob es für Grütters einen Unterschied Mbembe sagt,07 das „Alphabetisierungsprojekt in ums Ganze macht, ob ich jemanden rassistisch oder der Sprache des Schmerzes“, um eine Formulie- sexistisch beleidige oder ob ich darauf hingewie- rung von Lauren Berlant aufzugreifen.08 Aber soll sen werde, dass dies eine rassistische, eine sexisti- damit auch gesagt sein, dass freie Rede radikal un- sche, eine homo- oder trans*feindliche Praxis ist, gehemmte Rede sein sollte? Dass wir keinen Un- dass Rassismus und Sexismus selbst und nicht de- terschied machen sollten zwischen gewaltförmi- ren Skandalisierung die Demokratie schwächen. ger, entindividualisierender Rede einerseits und Ebenso wenig ist erkennbar, dass sie sich die Mühe Rede, die die Würde jedes Einzelnen achtet, an- gemacht hat, jenen zuzuhören, die für eine ihnen dererseits? Dass wir uns beteiligen sollten an Bos- gemäße sprachliche Adressierung kämpfen, dass haftigkeit und sich als Humor tarnender Karika- sie sich ernsthaft beispielsweise mit den unter den tur, an der Verweigerung von Rechenschaft und Hashtags #metoo und #metwo gesammelten Erfah- Reziprozität? Von einem Absolutismus der freien rungen von täglicher Ausgrenzung und Herabset- Rede ist Grütters zwar weit entfernt. Doch ist sie zung, der Verweigerung von Respekt, Würde und bereit, den Schaden zu erkennen, den (auch ihre) Anerkennung, der Erfahrung von Gewalt, also mit Worte anrichten können, wie Judith Butler un- der Erfahrung der Verweigerung von Gleichheit, längst in anderem Zusammenhang fragte?09 Und auseinandergesetzt hat. Ihre Worte lassen weder de- mehr noch: Sind nicht gerade jene Räume demo- mokratische Empathie noch das Wissen darum ver- kratische Räume, in denen, mit Hannah Arendt muten, was es bedeutet, „wenn Menschen aus dieser Welt herausgestoßen werden, wenn die gemeinsam 06 Richard Rorty, Menschenrechte, Rationalität und Gefühl, in: bewohnte Welt auseinanderbricht und Menschen Stephen Shute/Susan Hurley (Hrsg.), Die Idee der Menschen- allein auf sich selbst zurückgeworfen sind“.05 rechte, Frankfurt/M. 1996, S. 144–170, hier S. 145. 07 Achille Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, Frank furt/M. 2014, S. 139. 04 Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der 08 Lauren Berlant, Das Subjekt wahrer Gefühle. Schmerz, Klassik Stiftung Weimar, 5. 2. 2020, www.bundesregierung.de/ Privatheit und Politik, in: Angelika Baier et al. (Hrsg.), Affekt und -1719614. Geschlecht, Wien 2014, S. 87–115, hier S. 88. 05 Christina Thürmer-Rohr, Kontroversen zur Kohabitation 09 Judith Butler, Verletzungen bilden gesellschaftliche Struktu- – „Denken von anderswo“, in: Feministische Studien 2/2015, ren ab. Judith Butler im Gespräch mit Svenja Flaßpöhler und Nils S. 308–322, hier S. 320. Markwardt, in: Philosophie Magazin 6/2019, S. 62–65. 14
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