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Schwerpunkt LERNEN UND VERGESSEN SUPERHIRNE DES VOGELREICHS VERGESSLICHES INTERNET KÜNSTLICHE GEHIRNE MIT DEMENZ # 29 Nr. 1 | 2019 Jahrgang
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AUS DER REDAKTION V on den Themenideen bis zum gedruckten Heft zieht sich der Redaktionsprozess von Rubin rund sechs Mo- nate hin. Ein besonders schöner Moment ist, wenn die ersten gestalteten Seiten vorliegen, die als Farbausdruck ans Büro-Whiteboard wandern. Wie immer haben wir auch beim aktuellen Schwerpunkt „Lernen und Vergessen“ Themen aus unterschiedlichsten Disziplinen zusammengetragen, wobei das eindrücklichste Erlebnis für mich persönlich der Besuch bei den exzentrischen Krähenvögeln war, mit denen die Bo- chumer Biopsychologen arbeiten. So bekam das Layout dieses Beitrags einen prominenten Platz am Whiteboard. Sehr zum Leidwesen meiner Bürokollegin, die – wie ich erst nach ein paar Tagen herausfand – kein Fan von Vögeln ist. Wie passend, dass die aktuelle Rubin-Ausgabe auch einen Artikel über das Verlernen von Ängsten enthält. Der wieder- um bescherte mir selbst ein mulmiges Gefühl, weil es dabei hauptsächlich um die Konfrontationstherapie bei Spinnen- angst ging – nicht gerade meine favorisierten Tiere. Als Ru- bin-Redakteurin muss man allerhand auch mal selbst auspro- bieren. So fragte ich mich vor dem Interviewtermin, ob ich eines der Krabbeltiere würde auf den Arm nehmen müssen. Zum Glück durfte ich auf Distanz bleiben. Das blieb ich übri- gens auch beim Bestücken des Whiteboards. Die Spinnen ha- ben es dort nicht in die erste Reihe geschafft. Und natürlich habe ich mittlerweile im Interesse des Büroklimas auch den Vogelbeitrag abgehängt. Julia Weiler für das Redaktionsteam Aus der Redaktion Foto: Katja Marquard RUBIN IM NETZ RUBIN 1/19 Alle Rubin-Artikel im Newsportal der RUB: news.rub.de/rubin 3
INHALT 16 03 Aus der Redaktion 06 Forschung in Bildern 12 Wissenshäppchen 14 Biologie · Infografik Ameisen gegen Elefanten 16 Medizin Big Data gegen Hepatitis 20 Erziehungswissenschaft · Im Gespräch „Viele entscheiden aus dem Bauch heraus“ 22 Schwerpunkt LERNEN UND VERGESSEN 24 Biopsychologie · Unterwegs Zu Besuch bei den Superhirnen des Vogelreichs 28 IT-Sicherheit · Im Gespräch Das Internet vergisst doch 32 34 Perspektiven Was Vergessen bedeutet Sportwissenschaft 42 Mit dem Körper lernen 53 Geschichtsdidaktik Inhaltsverzeichnis 38 Psychologie Überfordert im virtuellen Stasigefängnis Angst verlernen 55 Didaktik · Standpunkt 42 Medizin · Im Gespräch Wie Geschichte unterrichtet werden sollte „Häufig sind das sehr tragische Fälle“ 56 Perspektiven 46 Perspektiven Was Vergessen bedeutet Was Vergessen bedeutet 58 Lehr-Lernforschung RUBIN 1/19 48 Biochemie Mit den richtigen Strategien Studienabbruch Alzheimer im Mini-Gehirn vermeiden 4
24 34 62 Chemie Den Star unter den Nanopartikeln finden 58 65 Chemie Silbernanopartikel – Ein Problem für die Umwelt? 66 Redaktionsschluss 62 Inhaltsverzeichnis RUBIN 1/19 5
ROTES MEER Forschung in Bildern Das Foto ist auf einer Forschungsreise nach Ägypten entstan- den, am berühmten Blue Hole des Roten Meeres, einem Loch im Dach des Küstenriffs. Auf dem Bild sind überwiegend Steinkorallen, aber auch einige Weichkorallen zu sehen, sowie rot schillernde Fahnenbarsche. Für seine Forschung am Lehrstuhl Evolutionsökologie und Biodiversität der Tiere reist Dr. Sebastian Striewski an außerge- wöhnliche Orte auf der ganzen Welt. Die schönsten Fotos dieser und weiterer Expeditionen präsentiert er am 18. Juli 2019 auf ei- RUBIN 1/19 ner Veranstaltung im Blue Square in der Bochumer Innenstadt. (Foto: Sebastian Striewski) ììblue-square.rub.de 7
SANDWÜSTE NAMIB Nach der Mongolei ist Namibia das am dünnsten besiedelte Land der Welt. Weite Teile sind von der Sandwüste Namib bedeckt, deren Dünen bis zu 300 Meter Höhe erreichen. Große Flächen des Südens und Westens sind – mit Ausnahme der Küstenstädte – beinahe menschenleer. Zugleich ist die Bevölke- rung Namibias sehr vielfältig, weil Stämme und Bevölkerungs- gruppen aus allen Richtungen einwanderten. Das Zusammen- spiel von Mensch und Natur ist Gegenstand einer Exkursion für Geografie-Studierende der RUB. Es ist eine von mehreren geführten Touren, die André Baumeister vom Geographischen Institut regelmäßig als Lehrveranstaltung anbietet. Über die Er- lebnisse auf seinen Reisen berichtet Baumeister am 7. Novem- ber 2019 im Blue Square in der Bochumer Innenstadt in einem Fotovortrag. (Foto: André Baumeister) ììblue-square.rub.de Forschung in Bildern RUBIN 1/19 9
BAUMFROSCH Die Umwelt der Philippinen ist bedroht, und das gefährdet auch die Bevölkerung, etwa weil das Abholzen von Wäldern dazu führt, dass Sturzfluten ungebremst auf Siedlungen treffen. Die Initiative „Philincon“ setzt sich für den Erhalt der noch vorhandenen Regenwälder und der darin lebenden Arten auf den Philippinen ein und versucht dabei auch, neue Einkom- mensquellen für die Bevölkerung zu erschließen. Christian Schwarz ist Doktorand an der RUB und Projektmanager in dem gemeinnützigen Verein. Er reist regelmäßig auf die philippini- sche Insel Panay, wo dieses Foto eines Baumfrosches der Art Rhacophorus pardalis entstanden ist. (Foto: Christian Schwarz) Forschung in Bildern RUBIN 1/19 10
11 RUBIN 1/19 Forschung in Bildern
bindet. Zeolithe sind typischerwei- se Aluminiumsi- likate. Das Silikat- gerüst ist negativ Chemie und Mineralogie geladen, und an den Innenseiten WARUM TROCKNET der Poren befin- den sich positiv KUNSTSTOFF geladene Ionen. „Diese sind was- IN DER SPÜLMASCHINE seranziehend, sie möchten sich rund- SO SCHLECHT? herum mit Sauer- stoffatomen um- geben“, erklärt Dr. Geschirr trocken. Besteck trocken. Bernd Marler vom Gläser trocken. RUB-Institut für Geologie, Minera- Plastikschüssel nass. logie und Geo- physik. Ein Teil der Sauerstoffato- W me wird durch er einmal eine Spülmaschine angeschaff t hat, das Silikatgerüst bereitgestellt, der Rest durch die Wassermo- will sie in der Regel nie wieder hergeben. Sie leküle. „Ein wasserfreier Zeolith ist ein Trockenmittel, das spart viel Zeit und lästige Arbeit. Anstellen, auf- sich sofort mit Wasser belädt, wenn man es ungeschützt der machen, abkühlen lassen, ausräumen. Nur die Kunststoff- normalen Luft aussetzt“, erklärt Marler. gegenstände brauchen eine Extrabehandlung. Während Um das Wasser mithilfe eines Zeolithen aus der Spülmaschi- Messer und Teller längst trocken sind, hängen an den Plas- ne zu entfernen, sind daher keine hohen Temperaturen not- tikdosen immer noch die dicken Wassertropfen. Was ist an- wendig. Die feuchte Luft wird über das Mineral gelei- ders bei diesem Material? tet, das das Wasser aufnimmt. Durch „Die meisten Spülmaschinen trocknen, indem sie das Ge- den Prozess der Wasseraufnahme schirr und Besteck durch heiße Luft oder heißes Wasser am Zeolithen erwärmt sich aufwärmen. Das Wasser verdunstet dann an der Oberfläche die Luft ein wenig. Sie wird der Gegenstände“, sagt Prof. Dr. Karina Morgenstern vom zurück zum Geschirr ge- RUB-Lehrstuhl für Physikalische Chemie I. Kunststoff hat leitet, nimmt erneut aber eine geringe Wärmeleitfähigkeit. „Er wird viel langsamer Feuchtigkeit auf und warm als Metall oder Porzellan“, so Morgenstern. An einer strömt dann zurück Kunststoffoberfläche verdunstet somit in der gleichen Zeit zum Zeolithen, wo weniger Wasser als zum Beispiel an einer Metalloberfläche. die Feuchtigkeit wie- Für Quarzglas beträgt die Wärmeleitfähigkeit rund 1,5 Watt der entzogen wird. pro Meter mal Kelvin. Porzellan kommt auf einen Wert von So wird das Geschirr Wissenshäppchen etwa 1. Für Kunststoffe wie Polypropylen hingegen liegt der Schritt für Schritt ge- Wert gerade einmal bei 0,2. Manche Metalle können eine trocknet. „Da primär Wärmeleitfähigkeit von mehreren Hundert Watt pro Meter über die trockene Luft mal Kelvin besitzen; Edelstahl schaff t nicht ganz so viel, er- und nicht über Wärme ge- reicht aber immerhin Werte von 15 bis 20 – was in Zahlen trocknet wird, spielt die unter- zeigt, warum man sich am Besteck vortrefflich die Finger schiedliche Wärmeleitfähigkeit von Metall, Kunststoff und verbrennen kann, wenn man die Spülmaschine zu früh aus- Porzellan für diesen Mechanismus kaum eine Rolle“, resü- räumt. Die Zahlen zeigen auch: Dass Plastikteile im Geschirr- miert Marler. Das entzogene Wasser bleibt bis zum nächsten spüler so schlecht trocknen, liegt an einer grundsätzlichen Ei- Spülvorgang gespeichert. Erst bei hohen Temperaturen gibt RUBIN 1/19 genschaft des Kunststoffs – ändern kann man das nicht. Man der Zeolith es wieder ab – nämlich dann, wenn die Maschine muss zum Handtuch greifen. beim Vorspülen aufgeheizt wird. Abhilfe versprechen aber Maschinen, die mit einem neuen jwe Trocknungsprinzip daherkommen. Sie beinhalten am Boden ein poröses Mineral aus der Zeolith-Familie, das das Wasser 12
AMEISEN UND AKAZIEN LEBEN IN AFRIKA IN EINER MUTUALISTISCHEN BEZIEHUNG: DIE BÄUME BIETEN DEN AMEISEN SCHUTZ UND NAHRUNG, DIE AMEISEN VERTEIDIGEN DIE BÄUME GEGEN FRESSFEINDE. AMEISEN GEGEN ELEFANTEN SÄUGETIERE KÖNNEN GROSSE SCHÄDEN ANRICHTEN, WENN SIE BLÄTTER FRESSEN, ÄSTE ABBRECHEN ODER GANZE BÄUME UMSTÜRZEN. Biologie · Infografik RUBIN 1/19 14
WIRD DIE AKAZIE ANGEFRESSEN, STRÖMEN DIE AMEISEN IN GROSSER ZAHL AUS UND VERTEIDIGEN DEN BAUM. WIE KÖNNEN SIE SO SCHNELL REAGIEREN UND DEN ANGREIFER FINDEN? SELBST NACHTS MIT IHREN RELATIV SCHLECHTEN AUGEN? THEORIE: DIE AMEISEN DETEKTIEREN MECHANISCHE REIZE. ABER NICHT NUR KNABBERNDE TIERE LÖSEN VIBRATIONEN AUS, SONDERN AUCH DER WIND. DIE EFFEKTE DIESER VIBRATIONEN HABEN DIE FORSCHER VERGLICHEN. WIND: LANGE WELLENLÄNGE FRESSENDES TIER: KURZE WELLENLÄNGE LIESSEN DIE FORSCHER EIN TIER AN DER AKAZIE FRESSEN, REAGIERTEN VIBRATIONEN DURCH WIND LÖSTEN DIE AMEISEN MIT VERSTÄRKTEM KEINE VERHALTENSÄNDERUNG BEI PATROUILLIEREN. DEN AMEISEN AUS. MEHR DAZU IM NETZ Weitere Informationen zum Forschungsprojekt: ììnews.rub.de/ameisen-gegen-elefanten
Medizin BIG DATA GEGEN HEPATITIS Eine besonders vermehrungsfreudige Virusvariante ist verantwortlich für die Therapieresistenz von Hepatitis E. Aber sie hat der Forschung auch endlich zu einem Zellkulturmodell verholfen. Medizin · Hepatitis E RUBIN 1/19 Humane Hepatoma-Zellen, die mit Hepa- titis-E-Viren infiziert wurden, werden in der Immunfluoreszenz analysiert. 16
H epatitis E hat für die Forschung lange ein Schattenda- Die Auswertung der Untersuchungen zeigte, dass die Virus sein geführt. Dabei ist es die Hauptursache für virus- populationen bei chronisch HEV-infizierten Patienten beson- verursachte akute Leberentzündungen. Während die ders variantenreich waren. Bestimmte genetische Varianten Infektion bei ansonsten gesunden Menschen ohne Folgen und traten bei Patienten, bei denen die Ribavirintherapie versagte, häufig ohne Symptome wieder ausheilt, kann Hepatitis E für gehäuft auf. „Interessanterweise waren diese Varianten oft Menschen mit schwachem oder unterdrücktem Immunsys- schon vor Therapiebeginn vorhanden, allerdings in geringer tem gefährlich werden. „Organempfänger oder HIV-Patienten Zahl“, beschreibt Daniel Todt. „Mit der Zeit wurden sie dann sind zum Beispiel zwei Risikogruppen für eine chronische He- aber zur dominanten Variante der Population.“ patitis-E-Infektion, die schwerwiegend verlaufen kann“, sagt Dr. Daniel Todt von der Abteilung für Medizinische und Mole- Glücklicher Zufall für das Virus kulare Virologie an der Medizinischen Fakultät der RUB. Rund Eine bestimmte genetische Variante fiel den Forschern beson- 70.000 Menschen sterben jedes Jahr an Hepatitis E. ders auf: Sie wirkte sich auf die Vermehrung des Virus extrem Anders als gegen viele andere Viren gibt es gegen Hepatitis E vorteilhaft aus – ein glücklicher Zufall für das Virus. Durch keine Impfung und auch keine spezifisch wirksamen Medi- die rasante Vermehrung wurde diese Variante innerhalb der kamente. Wirkstoffe, die allgemein gegen Viren eingesetzt Population schnell dominant und führte zu einem extremen werden, wie Interferon Alpha oder Ribavirin, wirken bei vielen Anstieg der Viruszahl. „Dagegen konnte der Wirkstoff Ribavi- Patienten, aber nicht bei allen. „Wenn sie versagen, gibt es in rin nichts mehr ausrichten, somit kam es wahrscheinlich zur der Klinik zurzeit keine Alternative“, so Todt. Resistenz“, erklärt Daniel Todt. Für die Forscher ermöglicht Um wirksame Therapien zu entwickeln, fehlt es bisher an es diese Erkenntnis, den Erfolg einer Therapie mit Ribavirin Wissen über das Hepatitis-E-Virus (HEV). Wie genau ver- für einen einzelnen Patienten früh vorherzusagen. „Dafür mehrt es sich? Was macht es so wandelbar? Warum kann es müssen wir zu Beginn der Behandlung die genetische In- sich der Wirkung bekannter Medikamente manchmal ent- formation der Viruspopulation und ihre Entwicklung beob- ziehen? Um das herauszufinden, sammelten und analysier- achten“, so Daniel Todt, der für diese Arbeiten mit mehreren ten Daniel Todt und Prof. Dr. Eike Steinmann Serumproben Preisen ausgezeichnet wurde. von Patientinnen und Patienten mit chronischer HEV-Infek- Für die Bochumer Forscher war die Entdeckung der extrem tion über bis zu ein Jahr. Darunter waren sowohl Patienten, vermehrungsfreudigen Virusvariante auch in anderer Hin- die auf die Behandlung mit Ribavirin ansprachen, als auch sicht ein Glücksfall. Sie erlaubte es erstmals, ein Zellkultur- solche, bei denen diese Therapie versagte. system für Hepatitis E zu etablieren. „Bisher war es nicht gelungen, die Viren in Kultur ausreichend zu vermehren, Viele genetische Varianten sodass das Messfenster für die Untersuchung von Hepatitis E Im Mittelpunkt des Interesses der Forscher stand die Erb in Zellkultur viel zu klein war“, so Eike Steinmann. Die For- information des Virus, denn sie ist der Schlüssel zu seiner scher klonierten daher die Erbinformation der von ihnen ent- Anpassungsfähigkeit. HEV trägt seine genetische Informa- deckten Variante in ein HEV-Zellkultursystem und können tion in Form eines einzigen RNA-Stranges mit rund 7.200 dieses System jetzt nutzen, um zum Beispiel die Wirksamkeit Bausteinen, den Nukleotiden, in sich. Diese RNA enthält un- von Medikamenten auf Hepatitis-E-Viren zu testen. „In der ter anderem den Bauplan für eine Polymerase, ein Enzym, Medizin heißt es normalerweise immer ‚from bench to bed- mit dessen Hilfe die Erbinformation vervielfältigt wird. Sie side‘, also aus dem Labor ans Krankenbett in die Anwendung ist fehleranfällig und enthält im Gegensatz zu beispielswei- am Patienten – in unserem Fall ist der Weg einmal umge- se Polymerasen von Säugetieren keine Fehlerkorrektur. „Das kehrt“, sagt Daniel Todt. „Der Fund, den wir bei der Untersu- bedeutet, dass während der Vervielfältigung des Erbguts chung von Proben von Patienten gemacht haben, ermöglicht durch Fehler unzählige genetische Varianten desselben Vi- uns eine bessere Laborarbeit. Den entsprechenden Artikel rus entstehen“, erklärt Eike Steinmann. „Im Wirt entsteht dazu hoffen wir bald zu veröffentlichen.“ Medizin · Hepatitis E dadurch eine sogenannte virale Population.“ Die Forscher untersuchten das Erbgut dieser Viruspopulatio- Wirkstoff Silvestrol bremst Virusvermehrung nen mittels einer Tiefensequenzierung zu verschiedenen Zeit- Eine erste Variante des Zellkulturmodells kam zum Beispiel punkten. Bei dieser noch neuen Methode geht es darum, die zum Einsatz, um die Wirksamkeit des natürlich vorkommen- genetische Information möglichst aller Viren einer Probe so den Wirkstoffs Silvestrol auf die Vermehrung von Hepati- vollständig wie möglich abzubilden. „Zuvor hat man immer tis-E-Viren zu testen. Silvestrol wird von rund 400 verschie- nur die Geninformationen derjenigen Viruspartikel analysiert, denen Arten von Mahagonipflanzen gebildet und lässt sich die am häufigsten vertreten waren“, erläutert Daniel Todt. Mit aus deren Blättern extrahieren. Es wurde schon als möglicher der Tiefensequenzierung konnten die Forscher hingegen auch Wirkstoff gegen bestimmte Tumore und gegen Ebola disku- RUBIN 1/19 untersuchen, welche Virusvarianten in welcher Menge jeweils tiert, ist aber bisher nicht im klinischen Einsatz. Um heraus- in der Population vorhanden waren und wie sich diese Men- zufinden, welche Wirkung Silvestrol auf Hepatitis-E-Viren genverteilung über die Zeit entwickelte. Insbesondere waren hat, behandelten die Bochumer Forscher als Teil eines in- diese Beobachtungen unter dem Einfluss der Therapie mit ternationalen Teams zunächst sogenannte Reporterviren in dem Wirkstoff Ribavirin interessant. Zellkulturen mit Silvestrol. Dabei stellten sie fest, dass sich ▶ 17
Rosemarie Bohr bereitet Proben des Hepatitis-E-Virus für die Extraktion von Ribonukleinsäuren vor, die das Erbgut des Virus darstellen. Im Hintergrund steht Daniel Todt. Medizin · Hepatitis E RUBIN 1/19 Eike Steinmann leitet die Abteilung für Medizinische und Molekulare Virologie 18 der RUB.
die Viren weniger stark vermehrten als ohne die Behandlung. Im nächsten Schritt nutzten die Forscher Stammzellen, die sie zu Leberzellen ausdifferenziert hatten. Sie infizierten sie mit Hepatitis-E-Viren – sowohl solchen, die sie zuvor im Labor produziert hatten, als auch solchen, die aus Patienten stammten und gereinigt worden waren. Die Forscher beob- achteten den Infektionsverlauf mit und ohne Silvestrol meh- rere Tage lang. Nach der Behandlung mit Silvestrol sanken die Vermehrungsrate und die Zahl der infizierten Zellen stark ab. „Die Wirkung von Silvestrol war stärker als die von Ribavirin“, erklärt Daniel Todt. Um zu untersuchen, ob der 70.000 Wirkstoff die Virusvermehrung auch in lebenden Organis- men hemmt, testeten sie seine Wirkung bei Mäusen, denen menschliche Leberzellen eingepflanzt und mit Hepatitis E Rund 70.000 Menschen sterben infiziert wurden. Auch bei ihnen führte die Behandlung mit jedes Jahr an Hepatitis E. Silvestrol dazu, dass sich die Viren weniger häufig replizier- ten. Diese Ergebnisse wecken die Hoffnung, dass Silvestrol ein wirksames Mittel gegen Hepatitis E sein könnte. „Das klinische Potenzial muss in weiteren Studien ausgelotet wer- den“, so Eike Steinmann. „Unsere Untersuchungen legen da- für den Grundstein.“ Text: md, Fotos: dg Anzeige
Im Gespräch »VIELE ENTSCHEIDEN AUS DEM BAUCH HERAUS« Durch Traumata bedingte Leistungseinschränkungen bei geflüchteten Kindern werden nicht standardmäßig erfasst. Dabei ist das Potenzial vorhanden. Kinder, die nach Deutschland flüchten, sind hier schulpflichtig. (Foto: Tim Kramer) Wenn Kinder nach der Flucht aus ihrem Heimatland in eingeschult? Wie viele Jahre ist es zur Schule gegangen? In Deutschland ankommen, sind sie in Nordrhein-Westfalen – welchem Land, und welche Sprachen spricht es? Keiner der nach der kommunalen Zuweisung – schulpflichtig. Aber auf Interviewten hat ein Diagnoseinstrument an die Hand be- welche Schule sollen sie gehen? Welche Leistungen können kommen. Manche haben eigene Fragebögen entwickelt, viele sie erbringen, auf welchem Lernstand sind sie? Um das zu entscheiden aus dem Bauch heraus. Entsprechend unzufrie- ermitteln und (gesundheitliche) Einschränkungen zu erfas- den sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Integrati- sen, gibt es zwei Anlaufstellen, die jedes geflüchtete Kind onszentren. Sie können ihrer Aufgabe nicht gerecht werden, aufsuchen muss: die kommunalen Integrationszentren und weil ihnen das Handwerkszeug fehlt. Dabei sind die Leute die Gesundheitsämter, wo eine Schuleingangsuntersuchung sehr engagiert. stattfindet. Prof. Dr. Karim Fereidooni, Juniorprofessor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Fakul- Pia Jäger: Wir haben in den Interviews auch gefragt, was die tät für Sozialwissenschaft der RUB, und die Medizinerin Dr. Befragten tun, wenn sie ein Kind sehen, das durch sehr star- Pia Jäger haben die dortige Testung untersucht. ke Leistung auffällt. Und für solche Kinder – die Mitarbeite- rinnen und Mitarbeiter der Integrationszentren schätzen den Im Gespräch · Leistungstests Herr Professor Fereidooni, worum ging es in dieser Anteil auf etwa drei Prozent – setzen sie sich teils gezielt ein, Untersuchung? um sie beispielsweise aufs Gymnasium zu bringen. Das fußt Karim Fereidooni: Wir wollten wissen, wie in der Erstbe- aber auf persönlichem Engagement, nicht auf einer adäqua- ratung der kommunalen Integrationszentren und bei der ten Testung der Leistung. Schul eingangsuntersuchung die schulische Leistung der Kinder beurteilt wird und wie untersucht wird, ob die Kinder Wie wirkt sich diese Situation auf die Kinder aus? psychosoziale Auffälligkeiten haben, weil sie zum Beispiel Fereidooni: Was die Leistungstestung anbelangt, wird oft traumatisiert sind. Dazu haben wir auf freiwilliger Basis qua- ohnehin nicht entsprechend entschieden, auf welche Schule litative Interviews mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von ein Kind geht. Diese Entscheidung trifft letztlich das Schul- kommunalen Integrationszentren an sechs verschiedenen amt unabhängig vom Ergebnis der Beratung beim kommu- Standorten durchgeführt. Dort arbeiten Lehrerinnen und nalen Integrationszentrum. Oft wird dort einfach nach Alter Lehrer, die für diese Aufgabe abgeordnet worden sind. entschieden: Alle 12-Jährigen gehen aufs Gymnasium, alle RUBIN 1/19 13-Jährigen auf die Hauptschule. Wie sahen die Ergebnisse aus? Fereidooni: Von den Ergebnissen waren wir sehr überrascht. Warum denn das? Es stellte sich nämlich heraus, dass gar keine standardisierte Fereidooni: Gerade die prestigeträchtigen Schulen, also die Testung stattfindet. Es wird gefragt: Wann wurde das Kind Gymnasien, wollen keine geflüchteten Kinder aufnehmen, 20
Karim Fereidooni wollte wissen, wie die Leistungs- Pia Jäger weiß um die Folgen unerkannter Traumata fähigkeit von Kindern bei der Erstberatung erfasst bei geflüchteten Kindern. (Foto: St. Elisabeth-Gruppe, wird. (Foto: Katja Marquard) Katholische Kliniken Rhein-Ruhr) aus der Befürchtung heraus, dass das Niveau sinken würde. darüber. Das Resultat ist, dass die Kinder in eine falsche Ent- Gegen Einzelfallentscheidungen legen die Schulen dann Pro- wicklungsschiene geraten können. Ihre Leistung verschlech- test ein, dem es schwierig ist standzuhalten. Wenn das Schul- tert sich, ihr Bildungsgang ebenso, und die Krankheit kann amt einfach argumentiert, alle 12-jährigen Geflüchteten ge- sich verschlimmern. hen aufs Gymnasium, ist es nicht so angreif bar. Was müsste denn idealerweise passieren, wenn bei Jäger: Genauso schlimm ist aber, dass psychische bezie- einem Kind eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit hungsweise psychososoziale Auffälligkeiten oder Erkran- oder psychische Erkrankung erkannt werden würde? kungen oder auch Einschränkungen der Leistungsfähigkeit Jäger: Es müsste eine begleitende Therapie stattfinden, eine in der Erstberatung oder beim Gesundheitsamt nicht erfasst psychosoziale Unterstützung auch in der Schule. Da das Pro- werden. Die Schätzungen über die Häufigkeit variieren stark. blem an die Lehrer weitergeschoben wird, können im Mo- Wissenschaftliche Untersuchungen berichten, dass zwischen ment nur sie die Weichen richtig stellen. Dafür wollen wir sie 20 und 80 Prozent der geflüchteten Kinder von psychischen mit unseren Ergebnissen erreichen und sensibilisieren. Störungen, vor allem Traumafolgestörungen, betroffen sind. Im Gespräch · Leistungstests Diese können hier nur anhand von mitgebrachten Unterlagen Was können Lehrerinnen und Lehrer bei dem Ver- diagnostiziert werden. Aber wenn Familien auf der Flucht dacht, ein Kind könnte traumatisiert sein, tun? sind, bringen sie solche Unterlagen meist nicht mit, und Jäger: An den meisten Schulen gibt es Schulsozialarbeiter, wenn eine Traumafolgestörung erst auf Basis von Erlebnissen die man einschalten kann, dann greifen verschiedene Kon- während der Flucht zurückgeht, gibt es gar keine. zepte. Das Problem unerkannter psychosozialer Erkrankun- gen und Traumafolgestörungen ist übrigens kein isoliertes Fereidooni: Diese traumatisierten Kinder werden ganz nor- Problem von Geflüchteten; auch deutsche Kinder können mal mit allen anderen zur Schule geschickt, wo sie auffällig betroffen sein. Bei geflüchteten Kindern liegt der Anteil al- werden, sozial oder auch durch mangelhafte Leistungen. Oft lerdings höher. Bei ihnen könnten die Erfassung und Einlei- werden die betroffenen Kinder dann einfach auf eine andere, tung einer entsprechenden Unterstützung oder Behandlung weniger anspruchsvolle Schulform geschickt. Das Problem im Rahmen dieser Erstkontakte erfolgen, weil alle in die Be- verschiebt sich nur, und eine Behandlung verzögert sich. ratung der Kommunalen Integrationszentren müssen. Es ist RUBIN 1/19 wichtig, dass die Potenziale, die diese Institutionen haben, Jäger: Dabei wäre es sehr einfach, die Kinder einem Screening ausgeschöpft werden. Die Zusammenarbeit in multiprofessi- zu unterziehen. Dafür gibt es Instrumente, die jede Mitarbei- onellen Teams wäre zum Beispiel ein guter Weg, die Situation terin und jeder Mitarbeiter einfach anwenden könnte, und die zu verbessern. sehr sensitiv sind. Nur verfügen die Integrationszentren nicht 21 md
22 RUBIN 1/19 Schwerpunkt · Lernen und Vergessen
Schwerpunkt LERNEN UND VERGESSEN Wie können Menschen effizient lernen? Können Tiere ihnen das Wasser reichen? Was passiert im Gehirn Schwerpunkt · Lernen und Vergessen beim Vergessen, und kann auch das Internet vergessen? Was ist Vergessen überhaupt? RUBIN 1/19 23
Unterwegs mit den Biopsychologen ZU BESUCH BEI DEN SUPERH Krähenvögel sind unheimlich schlau. Aber im Alltag haben Forscher mit ihnen manchmal ihre liebe Müh und Not. A cht Augenpaare schauen mich neugierig an. Mit versität. Dabei sind die Forscherinnen und Forscher auf die wachem Blick, aber auch etwas skeptisch. Dicht zu- Kooperation der Wildvögel angewiesen. Um sie an den Men- sammengekuschelt und auf Distanz bleibend sitzen schen zu gewöhnen, ziehen sie sie von klein auf mit der Hand die Dohlen auf ihrer Stange, ganz ruhig. „Hier kann es auch auf und verbringen sehr viel Zeit mit ihnen. Es kommt auf anders zugehen“, erzählt Dr. Jonas Rose. „Wenn die Dokto- jedes Detail an. „Wenn man das falsche T-Shirt anhat, kann randin hereinkommt, die mit den Tieren arbeitet, streiten die es ein, dass der Vogel nicht zum Arbeiten kommt“, sagt Rose Vögel, wer auf ihrem Arm sitzen darf.“ Der Biopsychologe und gibt zu, dass nicht immer nur die Forscher die Vögel trai- forscht seit vielen Jahren mit Krähenvögeln und weiß, dass nieren, sondern es manchmal auch umgekehrt läuft. „Wir sie Neues überhaupt nicht mögen. Neue Besucherinnen zum hatten mal eine Krähe in unserer Gruppe, die nur beim Ver- Beispiel, wie mich. Trotzdem darf ich heute live zuschauen, such mitgemacht hat, wenn der Doktorand seine Hand in den wie die Dohlen eine komplexe Aufgabe lernen, nämlich sich Versuchsraum gehalten hat“, erinnert er sich. eine Sequenz von Orten zu merken, an denen sie gewesen sind, und welche Farben sie dort gesehen haben. Es ist ein Experiment testet das Arbeitsgedächtnis harter Test für das Arbeitsgedächtnis, das bei Menschen und Unweigerlich muss ich an kleine Kinder denken, die ihre El- Tieren als kurzfristiger Informationsspeicher dient. tern um den Finger gewickelt haben. Man fragt sich, warum Seit einem Jahr trainieren Athene und Kramurx in einer die Forscher die Arbeit mit den exzentrischen Krähenvögeln speziellen Voliere, der sogenannten Arena, an der Ruhr-Uni- auf sich nehmen. Die Antwort ist einfach: Sie sind äußerst Schwerpunkt · Lernen und Vergessen RUBIN 1/19 24
IRNEN DES VOGELREICHS intelligent, und das, obwohl sie evolutionär gesehen weit vom der RUB-Arbeitsgruppe Avian Cognitive Neuroscience soll Menschen entfernt sind. Wie ihr Gehirn diese Leistungen helfen, den neuronalen Grundlagen auf die Schliche zu kom- vollbringt und was es mit dem von Säugetieren gemein hat, men. Es testet zwar nicht direkt das episodische Gedächtnis, möchte Jonas Rose mit seinem Team herausfinden. Seine Ar- also nicht die Erinnerung an einzigartige Erlebnisse, aber die beitsgruppe ist eine von zweien weltweit, die diese Art von Basis dafür: nämlich wie die Vögel kurzzeitig im Arbeitsge- Forschung mit Krähenvögeln betreiben. Dass die Tiere zu dächtnis speichern, was sie wann wo gemacht haben. erstaunlichen Gedächtnisleistungen imstande sind, haben Wir gehen ins Labor, wo eine sechseckige Voliere steht, die andere Gruppen in den vergangenen Jahren bereits gezeigt. an jeder Innenseite dicht über dem Boden einen Touchscreen Lange hatten viele Forscher geglaubt, dass nur Menschen ein enthält. Doktorandin Aylin Klarer demonstriert das Experi- episodisches Gedächtnis besitzen, sich also an einzelne Er- ment. Sie steigt selbst in die Arena, legt dort vor drei Touch- lebnisse erinnern können, zum Beispiel wie sie gestern in screens kleine Spickzettel aus. Darauf steht „Hafen“, „Cam- einem Restaurant zu Abend gegessen haben. Verschiedene pingplatz“ und „Toilette“. Am Hafen-Touchscreen leuchtet Experimente haben mittlerweile belegt, dass auch Krähenvö- ein blauer Punkt auf, den die Forscherin ein paar Mal mit gel sich erinnern, was sie wann wo getan haben, und dass sie dem Finger antippt, bevor sie sich schnell umschaut, wo der sogar für die Zukunft planen können. Es ist jedoch noch un- nächste Punkt erscheint. Am Campingplatz. Sie tippt ihn klar, wie ihr Gehirn das schaff t. Schließlich ist es völlig an- an, wendet sich dem dritten Punkt am Toilettenhäuschen ders aufgebaut als das menschliche. Das Arena-Experiment zu, tippt ihn an. Alles in der Hocke, denn das Experiment ▶ 60 BIS 80 % Schwerpunkt · Lernen und Vergessen RICHTIG Sollen die Vögel im Versuch die Reihenfolge von drei besuchten Orten nennen, liegen sie in 60 bis 80 Prozent der Durchgänge richtig. Mit Raten dürften sie nur auf 17 Prozent kommen. RUBIN 1/19 25
ist auf Vogel-Augenhöhe ausgelegt. An einem vierten Monitor Mittlerweile hat Aylin Klarer eine der Dohlen für das tägliche erscheinen in einer zufälligen Anordnung drei Symbole: Ha- Training ins Labor geholt. Ihre Strickjacke hat die Doktoran- fen, Campingplatz, Toilette. Sie müssen nun in der gleichen din dafür ausgezogen, obwohl die Temperaturen draußen Reihenfolge angetippt werden, in der die Punkte zuvor an den heute winterlich sind. „Athene kennt mich nur in Top“, er- drei Orten erschienen sind. Aylin Klarer macht alles richtig; klärt sie. Klar, Veränderungen sind hier unerwünscht. Wäh- eine Klappe öffnet sich und Futterkügelchen rollen heraus. rend die Dohle auf der Stange sitzt, darf ich vorsichtige An- näherungsversuche wagen. Ich strecke meine Hand mit ein Spickzettel nur für Menschen paar Mehlwürmern und Futterkügelchen aus. Athene zögert, Dank der Spickzettel können wir ständig nachlesen, wo Cam- schaut hektisch hin und her. Für einen Moment befürchte pingplatz, Toilette und Hafen eigentlich sind. Aber wie ma- ich, dass sie die Köstlichkeiten verschmähen wird, doch dann chen das die Vögel? Alle Seiten der Arena sehen exakt gleich schnappt sie zu. „Einem leckeren Würmchen kann sie eigent- aus. Woher wissen sie, welcher Touchscreen am Hafen und lich nicht widerstehen“, weiß Klarer. welcher am Campingplatz ist? „Die Zuordnungen der Sym- Dann ist es Zeit für die Arbeit. Aylin Klarer setzt die Dohle bole zu den Orten haben die Tiere assoziativ gelernt“, erklärt in die Arena, schließt die Tür und startet das Experiment. An Jonas Rose. Anfangs haben sie einfach zufällig auf die Sym- einem Monitor können wir live per Videoübertragung ver- bole gepickt; nur wenn die Reihenfolge stimmte, gab es eine folgen, was der Vogel macht. Athene wartet, hüpft ein wenig Futterbelohnung. „Es hat nur einen Monat gedauert, ihnen irritiert hin und her. „Wir sollten rausgehen“, sagt die Dokto- das beizubringen, das können sie richtig gut“, erzählt der For- randin. „Sie ist es gewohnt, ihre Ruhe im Labor zu haben.“ scher. Athene und Kramurx trainieren dafür jeden Tag zwei- Wir gehen. Im Büro können wir die Kamerabilder ebenfalls einhalb Stunden. Inzwischen ist der Test allerdings wesent- verfolgen. Als wir dort ankommen, ist Athene bereits fleißig lich komplizierter geworden. Denn an jedem der drei Orte bei der Arbeit. Eifrig hüpft sie von Monitor zu Monitor, pickt leuchtet nun ein Kreis in einer anderen Farbe auf, blau, rot die Punkte an und kann es scheinbar kaum erwarten, ihre oder grün. Die Dohlen müssen sich merken, welche Farbe sie Antwort geben zu dürfen. Die ersten Versuchsdurchgänge an welchem Ort gesehen haben und in welcher Reihenfolge. laufen schief. Vielleicht ist Athene immer noch von der frem- Die Zuordnung der Farben zu den Orten und die Reihenfolge den Besucherin irritiert, fürchte ich. In dem Moment öffnet der Orte ändern sich in jedem Versuchsdurchgang. sich die Klappe und Futterkügelchen rollen heraus. Richtige Aylin Klarer hockt noch immer in der Arena. Sie demons Antwort. Ich bin erleichtert. triert einen Versuchsdurchgang mit Ort und Farbe. Rot, blau, Text: jwe, Fotos: dg grün. Das war die Reihenfolge. Aber ging es am Hafen oder Campingplatz los? Gar nicht so einfach! Ohne die Spickzet- tel wären wir aufgeschmissen. Und die Vögel? „Wenn sie nur die Reihenfolge der Orte nennen müssen, liegen sie in 60 bis 80 Prozent der Durchgänge richtig. Mit den Farben tun sie sich noch schwer“, sagt Jonas Rose. „Wir haben erst kürzlich das Versuchsdesign angepasst, um herauszufinden, woran DIE NEURONALE BASIS FINDEN das liegt.“ Sind es einfach zu viele Informationen für das Ar- beitsgedächtnis der Tiere? Oder haben die Forscher bloß noch Schwerpunkt · Lernen und Vergessen nicht die richtige Trainingsstrategie gefunden? Das sollen die Das Forschungsteam der Arbeitsgruppe Avian Cognitive kommenden Wochen zeigen. Neuroscience interessiert sich vor allem für die Aktivität von Nervenzellen im Hippocampus. Diese Hirnregion Unwiderstehliche Mehlwürmer könnte an der Codierung der Information beteiligt sein, Die Biopsychologen könnten das Experiment auch einfacher was ein Vogel wann wo gemacht hat. In Nagern wurde gestalten. „Aber wir wollten zunächst das Gewagteste auspro- bereits gezeigt, dass der Hippocampus besondere Zellen bieren, was uns einfällt“, schildert Jonas Rose. Für seine Stu- für Ortsrepräsentationen enthält. Läuft das Tier eine be- dien erhält er Fördermittel aus dem Sonderforschungsbereich stimmte Route ab, werden die Zellen in einer charakteris- 874 und aus einem Freigeist-Fellowship der Volkswagen-Stif- tischen Reihenfolge aktiv. Und zwar nicht nur, während tung, das speziell für Forschungsvorhaben gedacht ist, in de- es sich entlang dieser Strecke bewegt, sondern auch später nen Neuland betreten wird und deren Ausgang ungewiss ist. wieder, wenn das Gehirn die Strecke erinnert. Mittels Noch ist Rose hoffnungsvoll, dass die Tiere die komplizierte neurophysiologischer Experimente wollen die Bochumer Aufgabe lernen werden. Zumindest Athene macht Fortschrit- Biopsychologen untersuchen, ob die Gehirne von Krähen- te. Kramurx hingegen scheint sich nur den Ort zu merken vögeln mit vergleichbaren Ortsrepräsentationen arbeiten RUBIN 1/19 und die Farbe zu ignorieren. „Diese Vögel sind schlau. Kra- wie die von Nagern. Falls ja, wollen die Wissenschaftle- murx weiß, dass er mit dieser Strategie genug Futter be- rinnen und Wissenschaftler auch nach anderen Zellen kommt, um nicht mehr hungrig zu sein“, so der Bochumer suchen, die Informationen über das Was, Wann und Wo Forscher. „Wenn man kognitiv sehr anspruchsvolle Experi- zusammenbringen. mente macht, ist der billigere Ausweg oft der attraktivere.“ 26
Doktorandin Aylin Klarer verbringt viel Zeit mit den Dohlen – das muss sie auch, denn die Wildvögel sind Neuem gegenüber sehr skeptisch. WENN MAN DAS FALSCHE T-SHIRT ANHAT, KANN ES SEIN, DASS DER VOGEL NICHT ZUM ARBEITEN KOMMT. Jonas Rose Schwerpunkt · Lernen und Vergessen RUBIN 1/19 Jonas Rose leitet an der RUB die Arbeitsgruppe Avian Cognitive Neuro- science am Institut für Kognitive 27 Neurowissenschaft.
Im Gespräch DAS INTERNET VERGISST DOCH Menschen vergessen regelmäßig Dinge – das kann lästig sein, aber es ist auch unerlässlich für die mentale Gesundheit. Das Internet ist da ganz anders gestrickt. Bislang. D as menschliche Gedächtnis ist alles andere als perfekt. fentlicht hat. Sie konnte ihr Studium nicht abschließen, weil Zumindest, wenn man es mit einem wahrhaften In- Universitätsmitarbeiter das Foto gefunden und veranlasst ha- formationsspeicher vergleicht. Menschen können sich ben, dass sie nicht zu der Abschlussprüfung zugelassen wird. nicht immer an alles erinnern, und teils erinnern sie sich so- In unserer Arbeit betrachten wir Vergessen als etwas Positi- gar falsch, ohne sich dessen bewusst zu sein. Vergessen zu ves, eine Art Filterfunktion, die uns davor bewahrt, von zu können ist allerdings auch eine Gabe, wie sich unschwer an vielen Informationen erschlagen zu werden und Dinge zu fin- dem Leiden von Trauma-Patienten erkennen lässt. Computer den, die nicht mehr relevant oder überholt sind. Es gibt aber sind viel näher an einem perfekten Informationsspeicher als auch kritische Stimmen, die Vergessen im digitalen Kontext das Gehirn. Ob es ihnen ebenfalls guttun würde, mehr zu mit Zensur in Verbindung bringen. vergessen, erzählt Doktorand Florian Farke im Interview. Er studierte Praktische Informatik und IT-Sicherheit und pro- Kann das Internet im Zeitalter der Sozialen Medien moviert nun im NRW-Forschungskolleg Sec-Human, das sich überhaupt noch vergessen? Es wird doch alles stän- mit der Sicherheit von Menschen im Cyberspace beschäftigt. dig geteilt und kopiert. Das Internet vergisst schon. Es gibt einen Datenverlust, da- Herr Farke, wofür ist Vergessen im digitalen Kontext durch, dass Dienste eingestellt oder Server abgeschaltet wer- wichtig? den – es wird nicht unbedingt alles, was einmal online war, Da gibt es ein viel zitiertes Beispiel von einem Foto einer an anderer Stelle archiviert und weiterhin verfügbar gehalten. Lehramtsstudentin mit Piratenhut und Plastikbecher, das sie Aber es stimmt natürlich, dass Kopien leicht erstellt werden unter der Überschrift „Drunken Pirate“ im Internet veröf- können und sich Dinge dadurch verbreiten. ▶ Schwerpunkt · Lernen und Vergessen RUBIN 1/19 28
760.000 LÖSCHANTRÄGE Zwischen Mai 2014 und Dezember 2018 wurden rund 760.000 Löschanträge bei Google gestellt. Schwerpunkt · Lernen und Vergessen RUBIN 1/19 29
Als was ist digitales Vergessen dann definiert? zum Hochladen, sondern auch zum Anschauen. Außerdem Es gibt keine einheitliche Definition. Juristisch gibt es seit musste er beim Hochladen angeben, wie lange der Schlüssel Einführung der EU-Datenschutz-Grundverordnung, die im gültig sein sollte. Aber man kann nicht immer prognostizie- Mai 2016 in Kraft getreten ist, ein umfangreiches Recht auf ren, wann man etwas vergessen möchte. Vergessenwerden. Jede Bürgerin und jeder Bürger, von dem oder der personenbezogene Daten gesammelt wurden, kann Ist es realistisch, dass solche Ansätze irgendwann die datensammelnde Stelle auffordern, diese Informationen flächendeckend im Internet eingesetzt werden? zu löschen. Die Organisation oder das Unternehmen muss Derzeit ist noch nicht klar, ob und in welcher Form Nutzer dann prüfen, ob etwas gegen die Löschung spricht, etwa eine überhaupt ein digitales Vergessen haben möchten. Es gibt gesetzliche Auf bewahrungsfrist. Falls nicht, muss sie der zwar ein paar Nutzerstudien zu dem Thema, die aber das Ob Aufforderung nachkommen. und Wie nicht wirklich klären. Wir erleben allerdings gerade Diese Regelung geht auf einen spanischen Bürger zurück, eine Zentralisierung des Internets: Es gibt wenige große An- der gegen Google geklagt hat. Wenn man nach seinem Na- bieter, die sehr viel genutzt werden, etwa die Suchmaschine men suchte, bekam man Informationen zur Zwangsverstei- Google oder Facebook und Instagram als Soziale Netzwerke. gerung seines Eigentums aufgrund von Sozialversicherungs- Sie haben direkten Zugriff auf Daten und somit auch die schulden angezeigt. Dieser Vorgang lag zum Zeitpunkt der Möglichkeit, direkt zu löschen – was sie in der Regel nicht Klage bereits zehn Jahre zurück und war in seinen Augen gern tun, weil das ihrem Geschäftsmodell widerspricht. nicht mehr relevant. Das Gericht hat ihm 2014 recht gegeben. Eine rein technische Lösung ist meines Erachtens nicht Seitdem gibt Google Bürgerinnen und Bürgern der EU die praktikabel, man müsste sie mit gesetzlichen Vorgaben Möglichkeit, Suchergebnisse zum eigenen Namen entfernen kombinieren. Das ist in gewissem Umfang mit der Daten- zu lassen. schutz-Grundverordnung schon passiert. Allerdings ist das Recht auf Vergessen in der Verordnung so schwammig for- Ist durch die Verordnung dann also das Vergessen im muliert, dass viele Anbieter nicht wissen, wie sie es umsetzen Internet geregelt? sollen. Das war allerdings Absicht vom Gesetzgeber, damit Die Datenschutz-Grundverordnung gilt nur auf europäischer sich mögliche Lösungen in der Praxis herausbilden können. Ebene. Aber das Internet kennt keine Staatsgrenzen, auch wenn Politiker die gerne fordern. So ist es nicht aufgebaut, Was bedeutet das in der Praxis? und solche Grenzen würden den Charakter des Internets, wie Gemäß Googles Transparenzbericht wurden zwischen Mai wir es heute kennen, stark verändern. Dies würde, meiner 2014 und Dezember 2018 circa 760.000 Löschanträge ge- Meinung nach, den Effekt von Informationsblasen, also der stellt. Der Konzern hat ein eigenes Team, das solche Anfragen Isolierung gegenüber ungelegenen Standpunkten, verstär- prüft. Google kann sich das leisten, kleinere Unternehmen ken; man hätte zusätzlich noch eine nationale Blasenbildung. oder Start-ups sicher nicht. Natürlich kann man argumen- Das widerspricht der ursprünglichen Idee des Internets be- tieren, dass bei diesen auch nicht so viele Anfragen aufschla- ziehungsweise des World Wide Webs. gen. Aber gerade im Internet-of-Things-Bereich gibt es sehr datenhungrige Geräte, sodass es nicht unwahrscheinlich ist, Wie könnte digitales Vergessen im Internet noch dass Anfragen von Kunden oder ehemaligen Kunden kom- Schwerpunkt · Lernen und Vergessen geregelt werden? men, die Daten gelöscht haben wollen. Natürlich könnten Es gibt verschiedene Ansätze. Man könnte zum Beispiel sich die Unternehmen auf die sichere Seite begeben und ein- sagen, dass Daten, auf die eine gewisse Zeit keine Zugriffe fach immer löschen, wenn ein Nutzer das möchte. Das geht mehr erfolgt sind, nicht mehr relevant sind – und vergessen bei Internet-of-Things-Geräten vielleicht, aber bei Sozialen werden können. Es müssten auch gar nicht die Daten selbst Netzwerken wäre man dann schnell wieder bei der Zensur. gelöscht werden, es würde reichen, wenn man nicht mehr auf Man denke nur an einen Politiker, der eine Aussage tätigt, die sie zugreifen könnte. Beim Hochladen könnte man die Daten ihm später nicht mehr passt, und diese gelöscht haben will. mit einem kryptografischen Schlüssel versehen, den man be- Ich schaue mir derzeit technische Möglichkeiten an, mit de- nötigt, um sie einzusehen. Würde der Schlüssel vergessen, nen man den Prozess automatisieren kann. Natürlich nicht könnten die Daten nicht mehr ausgelesen werden. vollständig, das geht nicht, wenn es um juristische Abwä- gungsentscheidungen geht. Aber eventuell könnte man die Gibt es solche Verfahren schon? Anträge automatisch vorsortieren und so die Entscheidungs- In der breiten Anwendung meines Wissens nicht, aber es exis- prozesse verkürzen. tieren schon Umsetzungen. Es gab beispielsweise ein System, RUBIN 1/19 bei dem man verschlüsselte Bilder hochladen konnte. Wurde Generell scheint es schwer zu sein, eine Balance zwi- der Schlüssel vergessen, also gelöscht, konnte man die Bilder schen nützlichem Vergessen und Zensur zu finden. nicht mehr sehen. Aus technischer Sicht war das eine relativ Das ist es in der Tat. In meiner Doktorarbeit möchte ich mir simple Realisierung. Aber der Nutzer musste dafür viel ma- daher die Nutzersicht ansehen. Was wollen die Menschen 30 chen. Er brauchte ein Plug-in für den Browser – nicht nur überhaupt? Soll das Internet vergessen? Oder haben sie sich
Florian Farke promoviert zum Thema digitales Vergessen im Forschungskol- leg Sec-Human, das sich mit techni- schen und gesellschaftlichen Proble- men der IT-Sicherheit befasst. IN UNSERER ARBEIT BETRACHTEN WIR VERGESSEN Schwerpunkt · Lernen und Vergessen ALS ETWAS POSITIVES. schon damit arrangiert, dass Daten dauerhaft gespeichert werden. Es ist allerdings schwer, Nutzerinnen und Nutzer danach zu fragen, ohne sie zu beeinflussen. Die Aussagen dürften je nach Kontext sehr unterschiedlich ausfallen, wenn man an die Beispiele vom Drunken-Pirate-Foto und vom Po- litiker, der seine Aussage gelöscht haben möchte, denkt. Der- Florian Farke zeit suche ich nach der optimalen Methode für die Studie. Zum Abschluss: Was meinen Sie, sollte sich die Technik an den Menschen anpassen und vergessen RUBIN 1/19 lernen? Oder muss sich der Mensch mit der neuen Technik arrangieren? Das Vergessen hat eine wichtige Funktion in der Gesellschaft. Ich denke, wir sollten die Technik entsprechend anpassen. 31 Text: jwe, Fotos: dg
Fotos: dg WAS BEDEUTET VERGESSEN? Medienwissenschaft MATERIELLE GEDÄCHTNISORTE A ls Medienwissenschaftler ist Vergessen für mich kein primär psychischer oder neuronaler Zustand, den man durch Gedächtnistraining vermeiden kann. Nicht nur unser Gehirn, auch Speichermedien bewahren auf, was eine Kultur hervorgebracht hat, und stellen das Wissen zur Verfügung, ohne das Gesellschaften nicht funktionieren. Dazu gehören nicht nur Texte, Bilder oder Daten, sondern auch Objekte, die sich in Museen oder Sammlungen finden. Materielle Gedächtnisorte entlasten das menschliche Ge- dächtnis und schaffen Raum für kreative Prozesse. Anders als das Löschen ist Vergessen niemals definitiv, weshalb in den Medien- und Kulturwissenschaften die unerwartete Rück- kehr des Vergessenen, zum Beispiel in Traum und Trauma, ein wichtiges Thema ist. Aus medienwissenschaftlicher Sicht bringe ich Vergessen daher mit dem technischen und organi- satorischen Umbau oder der Zerstörung von Gedächtnisor- Schwerpunkt · Lernen und Vergessen ten (Archiven, Bibliotheken, Datenbanken) in Verbindung. Wie haben zum Beispiel spektakuläre Bibliotheksbrände kul- turelle Tradierungsprozesse beeinflusst? Wie wird Vergessen unter digitalen Bedingungen erzeugt, wenn man bedenkt, dass die technische Verfallszeit digitaler Medien die zukünf- tige Lesbarkeit von Daten gefährdet? An dieser Frage arbeiten wir derzeit in dem langfristig angelegten Forschungsvorha- ben „Medienphilologie“. Prof. Dr. Friedrich Balke RUBIN 1/19 32
Erziehungswissenschaft LERNINHALTE OPTIMAL FESTIGEN I n der Pädagogischen Psychologie beschäftigen wir uns in der Regel mit der Frage, wie wir Lernende dabei unter- Neuropsychologie stützen können, Lerninhalte am besten im Gedächtnis zu behalten. Vergessen ist also etwas, das wir zu verhindern „ECHTES VERGESSEN suchen. Ein Forschungsschwerpunkt meiner Arbeitsgruppe liegt auf Lernmethoden, die zum Ziel haben, die Aneignung IST SELTENER, ALS WIR von Lerninhalten nachhaltig zu fördern, indem das zu Ler- nende möglichst intensiv verarbeitet wird. Dies kann bei- DENKEN“ W spielsweise durch kooperatives Lernen in Kleingruppen ge- schehen. Beim gemeinsamen Lernen werden Inhalte durch ie heißt der doch gleich? Vergessen ist häufig ein Schwerpunkt · Lernen und Vergessen gegenseitiges Erklären und Fragen vertieft elaboriert. Ärgernis und schlimmstenfalls – etwa bei der Alz- Ebenfalls wichtig für nachhaltiges Merken ist das Anknüp- heimer-Demenz – ein Krankheitssymptom. Ver- fen an bereits bestehendes Wissen. Wir untersuchen in die- gessen kann aber auch adaptiv sein: Wenn wir uns jeden Tag sem Zusammenhang die Rolle von Instruktionen, die erst neu merken müssen, wo das Auto geparkt ist, hilft es, wenn erfolgen, nachdem die Lernenden versucht haben, eine für uns nicht alle früheren Parkplätze in den Sinn kommen. sie schwierige Aufgabe zu lösen. Wenn wir gezwungen sind, Vergessen kann sogar zu unserer psychischen Gesundheit eine Aufgabe erst einmal mit all dem zu lösen, was wir schon beitragen, etwa wenn Erinnerungen an emotional belasten- können und wissen, dann müssen wir unser Vorwissen akti- de Lebensereignisse mit der Zeit abklingen. In vielen dieser vieren. Auf diese Aktivierung kann die nachfolgende Instruk- Fälle beruht Vergessen jedoch nur scheinbar darauf, dass tion aufsetzen, sodass neue Lerninhalte optimal angedockt eine Erinnerung wirklich verloren geht – tatsächlich wird sie werden können. oft nur unterdrückt und kann später wieder zum Vorschein kommen. Diese Prozesse werden im Bochumer Sonderfor- Prof. Dr. Nikol Rummel schungsbereich „Extinktionslernen“ untersucht. Scheinbares Vergessen kann im Extremfall sogar dazu führen, dass die RUBIN 1/19 unterdrückten Erinnerungen sich auf krankhafte Weise wie- der äußern, wie bei der Verdrängung. Echtes Vergessen ist also vermutlich seltener, als wir denken. 33 Prof. Dr. Nikolai Axmacher
Sportwissenschaft MIT DEM KÖRPER LERNEN Sport im klassischen Sinne lernen die Stu- dierenden in den Kursen von Antje Klinge nicht. Dafür aber viel über sich selbst. A ntje Klinge bezeichnet sich selbst als Grenzgängerin in ihrer Fakultät. Die Professorin leitet den Lehr- und Forschungsbereich Sportpädagogik und Sportdidaktik an der RUB und hat ein etwas anderes Verständnis von Sport als die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen. „In Bochum ist die Sportfakultät eher klassisch ausgerichtet. Viele denken bei Sport an körperliche Hochleistung, fitte Körper und vor allem Wettkämpfe“, sagt sie. Das gehöre natürlich auch dazu, für sie ist es aber noch mehr. „Ich fasse den Begriff Sport viel weiter, spreche lieber von Bewegung, noch lieber von spieleri- schem Bewegungshandeln.“ Im Sinn hat sie dabei nicht Spie- le mit vorgegebenen Techniken, sondern ein Bewegen ohne festgelegte Grenzen und Regeln, wie man es vor allem bei Kindern beobachten kann und für das man nie zu alt sei. Leistungssportlerin war Antje Klinge nie, der kreative Tanz ICH ist ihre Profession. Er wird von der Kunst beeinflusst und begreift den Körper als sinnliches Organ, mit dem Men- FASSE schen Empfindungen aufnehmen und ihr Inneres ausdrü- cken können. Nicht bestimmte Tanzstile stehen hierbei im Vordergrund, sondern Improvisation und das Entdecken der DEN BE- eigenen Bewegungs- und Spielräume. Vor allem die Studie- GRIFF Schwerpunkt · Lernen und Vergessen renden, die lange Jahre Wettkampfsport betrieben haben, äu- ßern oft Vorbehalte gegen solche Übungen. Aus Angst, sich ungeschickt anzustellen, sich schlimmstenfalls lächerlich zu machen. „Die meisten merken aber schnell, dass diese Sor- SPORT gen unbegründet sind. Einige blühen regelrecht auf. Denn wie schon der Tanztheoretiker Rudolf von Laban sagte: ‚Jeder VIEL Mensch ist ein Tänzer‘“, erklärt die Wissenschaftlerin. Ihre Beobachtungen in den Kursen wie auch im Schulsport zeigten ihr, dass das Tanzen etwas mit den Menschen macht: WEITER. „Da passiert etwas mit ihrer Identität. Sie stellen sich anders dar als im herkömmlichen Sport, individueller“, so Klinge. Über diesen Zusammenhang zwischen spielerischer Bewe- gung und Identitätsentwicklung wollte Antje Klinge mehr he- rausfinden. Antworten auf ihre Fragen fand sie in leibphäno- Antje Klinge RUBIN 1/19 menologischen, körpersoziologischen und Bildungstheorien. Der Bildungswissenschaftler Jürgen Baumert unterscheidet vier Zugänge des Menschen zur Welt: den kognitiv/rationa- len, den religiös/philosophischen, den normativ/evaluati- ven und den ästhetisch/expressiven, zu dem die physische ▶ 34
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