Zukunft 2022 FESTIVAL - Literarisches Colloquium Berlin
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FESTIVAL 2022 Zukunft Literarisches Colloquium Berlin Positionen Kuratiert von Essays Shida Bazyar und Gespräche Emma Braslavskyß
›Zukunft‹ wird dann zum Thema, wenn Und seitab liegt die Stadt ist eine Initiative wir an ihr zu scheitern drohen, wenn wir der Beauftragten der Bundesregierung merken, dass zu viele Fragen brennen, für Kultur und Medien und des Literari- auf die wir keine Antworten haben. Natur, schen Colloquiums Berlin. Sie wird Gesellschaft und Liebe sind klassische gefördert im Rahmen des BKM-Förder- Stoffe der Literatur. Und Literatur ist programms Kultur in ländlichen Räumen. immer noch das ideale Labor, um Alter- Die Mittel stammen aus dem Bundes- nativen auszutesten, gerade weil man programm Ländliche Entwicklung Zukunft dort zwar fühlen, aber nicht (BULE) des Bundesministeriums für Er- sehen kann. Dort keimt sie bestenfalls nährung und Landwirtschaft. als Vision in jeder·jedem einzelnen. Shida Bazyar und Emma Braslavsky haben zwölf Gäste zum dritten Festival des Programms Und seitab liegt die Stadt am 12. und 13. Mai 2022 eingela- den, um ihre Visionen zu teilen. In sechs Tandem-Panels sind sie in Zukünfte gereist, haben brennende Fragen disku- tiert und im Austausch mit dem Publi- kum neue Ansätze auf ihre Machbarkeit geprüft.
5 Einführung: Über die Zukunft S. 7 Shida Bazyar & Emma Braslavsky Inhalt Auf gut Deutsch S. 13 Naika Foroutan S. 18 Alexander Häusler Afrotopia S. 23 Patricia Nana Yaa Seiwaa Anin S. 29 Matthias Lohre Stadt, Land, Frust S. 35 Thomas Gäbert S. 39 Lisa-Marie Reuter Wir schreiben in Zukunft besser S. 45 Stefan Petermann S. 50 Stefanie de Velasco Sagen wir: Literaturmaschine S. 55 Katharina Schultens S. 61 Nicole Seifert Relationshits S. 67 Şeyda Kurt S. 72 Tijan Sila S. 76 Biografien S. 80 Liste der geförderten Projekte S. 82 Impressum
7 Einführung Shida Bazyar und Emma Braslavsky Über die Zukunft Emma: Als Kind dachte ich, Zukunft sei ein ferner Ort, so wie ein Brieasten auf dem Mond, an den ich meine Träume und Sorgen adressieren könnte. Ich empfand Zukunft als Wohltat, weil ich dort oft meinen Kram loswurde, mit dem ich mich gerade nicht beschäftigen wollte. Zukunft war mir mehr Trost als Herausfor- derung, mehr Abenteuer als Vision. Das änderte sich, als ich im Teenager-Alter war. Plötzlich wurde Zukunft für mich immer dort sichtbar, wo Menschen scheiterten. Ich spürte ihre Abwe- senheit, die einzige Möglichkeit, in der ich bis heute Zukunft ›wahrnehmen‹ kann, denn sie existiert als Zeitraum in unserer physischen Welt nicht, sie ist nur das Labor, die Erzählung, in der sich der Mensch noch nicht zurechtfindet. Sie ›existiert‹ erst, seit Menschen ein Zeitverständnis entwickelt haben, das über ihr Leben hinausgeht, seit sie theologisch denken, d. h., mit sich als Mittelpunkt einer universellen Geschichte. Seit sie aufgehört ha- ben, nur in natürlichen Zyklen zu denken, und sich einredeten, dass sie und ihr Leben einzigartig seien. Zukunft ist immer bloß eine Keimzelle, wenn wir ihr begegnen. Und wenn sie sich ent- wickelt, dann wird sie Gegenwart und schnell zur Geschichte. Shida: Wenn man mich als Kind gefragt hätte, was die Zukunft ist, hätte ich vermutlich geantwortet, das ist der Ort, an dem Marty McFly mit einem fliegenden Skateboard unterwegs ist. Die Zu- rück in die Zukunft-Filme waren der einzige Kontext, in dem mir
8 der Begriff begegnete. Ich frage mich, ob das an dem allgemeinen Privileg einer mehr oder weniger sorglosen Kindheit lag oder da- ran, dass niemand mir so recht vorleben konnte, was die Zukunft Zukunft sein könnte. Die individuelle Ebene meines Elternhauses war zu eng gekoppelt an eine politische und diese ließ wenig Raum zum Träumen oder Planen oder sagen wir einfach mal: zum Voraus- denken. Während es als Kind ein Privileg ist, sich keine Vorstel- 2022 lung von einer Zukunft zu machen, ist es als Erwachsene wieder- um eines, sich überhaupt eine Vorstellung machen zu dürfen. Sich selbst als Mittelpunkt zu begreifen, sich der Illusion des Und seitab liegt die Stadt Einzigartigen hinzugeben – welchen gesellschaftlichen Gruppen steht das zu? Wenn einzelnen Gruppen auf unterschiedlichen Ebenen die Partizipation und Verantwortung für eine Gesamtge- sellschaft verwehrt bleibt, macht man dann nicht zwangsläufig unmündige, ungewollte Kinder aus ihnen? Und mit denen will man dann trotzdem zusammen eine Zukunft gestalten, wie soll das eigentlich gehen? Emma: Mein Zukunftsgefühl wurde stark vom sogenannten real existierenden Sozialismus geprägt, der die Utopie als Endzeit- modell wollte. Nach dem Sozialismus oder Kommunismus kam da nichts mehr, dort sollte die Ziellinie sein, dort war die Zeit des Strebens und der gesellschaftlichen Entwicklung zu Ende. Dagegen rebellierte ich als Teenager im Staatsbürgerkundeunter- richt, als ich mich mit dem Kapitalismus, insbesondere der sozialen Marktwirtschaft, als dynamischem gesellschaftlichem Kontinuum beschäftigte. Ich lehnte mich natürlich ideologisch an Lenins NÖP an, auch um zu verhindern, dass sie mich als unbelehrbar abstempelten. Da ich stereo aufgewachsen bin – d. h. meine Cousins und Cousinen in Hessen schickten mir über meine Großmutter eine Zeit lang ihre Schulbücher –, habe ich gelernt, wie stark die Sicht auf die Gegenwart und Zukunft von der gelenkten Sicht auf die Vergangenheit abhängt, welche Rolle dabei Begriffe spielen, die den Blick kanalisieren, und wie stark Formulierungen das Lebensgefühl prägen können, wie sie zu Architekten der Welt werden, in der ein Mensch zu leben glaubt. Von heute aus in die Vergangenheit geblickt könnte man verein- fachend sagen: Unser Leben ist immer besser geworden. Linear gedacht hieße das: Unser Leben wird in der Zukunft immer bes- ser werden. Beim genaueren Hinschauen erkennen wir aber:
Unser Leben ist zwar besser, friedlicher, aber immer komplizier- 9 ter und komplexer geworden. Wir sind kreativ und finden Lösun- gen, aber wir verursachen gleichzeitig enorme Kollateralschä- Einführung den. Dieser in der Zukunft ansteigenden Komplexität unseres besseren Lebens werden sogenannte reine Dystopien oder Uto- pien nicht mehr gerecht. Wenn wir uns und unsere Umgebung nicht zerstören wollen, müssen wir uns technologisch entwi- ckeln und gleichzeitig die Nebenwirkungen dieser Entwicklun- gen bekämpfen, wir müssen gesellschaftlich in Bewegung blei- ben, wollen aber unseren Wohlstand nicht gefährden. Reine Zustandserhaltung oder apokalyptische Zustandsbeschreibun- gen sind unterkomplex und oft kontraproduktiv, haben aber lei- der als Kampfmittel um eine bessere Zukunft nicht ausgedient. Shida: Als ich in Hildesheim angefangen habe, Kreatives Schrei- ben zu studieren, war ich ziemlich perplex über die Texte der an- deren. Nicht über deren Qualität (ich war lediglich perplex, nicht arrogant), sondern über deren selbstbewusstes, unverhohlenes Apolitischsein. Ich wertete das nicht einmal, ich nahm es zur Kenntnis, und Popliteratur fand ich ja auch ganz bekömmlich. Aber heimlich fragte ich mich, was das für ein Land bedeutet, wenn das die angehende Autor·innenschaft ist. Vielleicht passiert das, wenn man eben nicht im sogenannten real existierenden So- zialismus aufwächst, sondern mit dem erträumten Ideal dessen: Ich dachte, dass wir doch ›eine Aufgabe‹ haben sollten, dass wir als Schreibende doch auch die Funktion eines ›Gewissens‹ ein- nehmen müssen, dass wir ›Verantwortung‹ haben. Wenn DAS mal Deutschlands Gewissen wird, so dachte ich mit Blick auf die anderen, dann wird das Gesicht dieses Landes ein durchaus merkwürdiges sein. Heute mache ich zwar circa drei der min- destens fünf in diesen Überlegungen steckenden Denkfehler nicht mehr, frage mich aber trotzdem: Wie sieht es aus, für Deutschlands Dichter·innen? Ich gönne ihnen und mir ja jede weitere Runde Texte über Eiscreme und Zuckerwatte. Nur, ob wir uns die wirklich leisten können, das frage ich mich bei jedem Spaziergang über den Literaturjahrmarkt auch. Ich greife in die Hosentasche und zähle die Münzen. Die mikrophone Stimme dröhnt rüber und fragt nach einer neuen Runde, einer Runde Ex- traspaß, fragt nach Papiermangel und Ressourcen, nach Buch- messenboykott und Migrationsmaskottchen. Ich will nächstes
10 Jahr wiederkommen, verdammt, aber wäre schön, wenn die Stimmung dann ein bisschen besser wäre. Dann bringe ich auch meine Enkel und deren Gewissen mit. Zukunft Emma: Menschen haben sich an Geschichten in die Zukunft ge- hangelt. Damit wir uns verändern können, müssen wir sie uns erst vorstellen. Und gute Erzählungen über ›Zukunft‹ brauchen 2022 vor allem Held·innen in allzu menschlichen Situationen. Also stellt euch vor, ihr bestellt online einen Esstisch, weil er euch am besten gefallen hat. Die Beschreibung habt ihr nur teilweise Und seitab liegt die Stadt gelesen, weil es spät war und ihr nicht so viel Text lesen wolltet. Ihr habt was von ›nachhaltig‹ verstanden, aber es ist euch entgan- gen, dass es sich um ein vollkommen neues Holzimitat handelt, das sich in 24 Monaten dematerialisieren wird, also in Luft auf- löst. Das ist revolutionär, aber auch blöd, wenn man noch die ausdrücklichen Hinweise des Möbelstücks, die drei Monate vor dessen Dematerialisierung geäußert werden, überhört und just an diesem besagten Tag die Chefin oder die neue Geliebte zum Essen eingeladen hat. Zukunft war immer ein Dilemma für Men- schen, weil sie unsere Gewohnheiten infrage stellt. Denn wenn es um Zukunft geht, geht es um Grenzerfahrungen zwischen dem, was wir mitnehmen, und dem, was wir zurücklassen müs- sen. Aber nichts ist so menschlich wie das Paradox: Nur in der Fiktion kann Zukunft erlebt werden, ansonsten wird sie zur Realität, und der Realität versucht der moderne Mensch gern zu entfliehen. Shida: Ich schaffe es nicht, die Gegenwart in meinen Geschichten auszulassen. Selbst wenn ich über die Vergangenheit schreibe, selbst, wenn ich über historische Begebenheiten der 1970er Jahre schreibe: Ich kann die Folgen, die Gegenwart nicht verschwei- gen, sonst fühlt sich jeder Text nach Heuchelei an. Denn in der Gegenwart existiere ich, hier, an diesem Schreibtisch sitze ich und schreibe ich, und wenn der Schreibtisch unaufgeräumt ist, dann kann ich nicht schreiben, und wenn die Wäsche nicht ge- macht ist, dann kann ich nicht schreiben, und wenn die Spülma- schine ruft, wie könnte ich mich denn dann hinsetzen und schreiben. Weil ich immerzu die Gegenwart aufräume, merke ich vielleicht gar nicht, dass ich das alles für die Zukunft mache. Für meine Texte der Zukunft, über die Zukunft.
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Naika 12 Foroutan & Alexander Häusler im Tandem
13 Auf gut Deutsch Naika Foroutan Es wäre einmal deutsch Auf dem Weg zum Bolu, die Badstraße hoch. Jemand hupt laut, weil wir kurz in zweiter Reihe anhalten. »Was für ein Alman!«, beschwert sich mein Junge neben mir im Auto laut. Wir schauen beide nach links, wer da kopfschüttelnd und fluchend an uns vorbeifährt – ein Mann: Schnauzer, Schwarzkopf erste Generati- on. Vorwurfsvoll sehe ich zu meinem Jungen rüber, in meinem Kopf gehe ich die Sätze durch: »Du sollst kein Stereotyping ma- chen.« »Du bist selber deutsch.« »Rede nicht schlecht über die Deutschen.« »Warum sagst du einfach ›Alman‹, wenn jemand blöd hupt?!« »Er ist Türke!!!«, sage ich. Seine Antwort, kurz hoch vom Handy: »Türken können auch Almans sein. Weißt DU das nicht?« Ok. Kartoffel versus Süßkartoffel konnte ich noch verstehen – das zweite waren die Freunde und Allies. Aber Türken als Almans? Als Iranerin schießen mir Erinnerungen in den Kopf: Damals, in den Jahren, in denen die Türkei plötzlich ökonomisch und kultu- rell am Iran vorbeizog, hörten wir: »Die Türken arbeiten ja auch nur die ganze Zeit. Die sind wie die Deutschen.« Als ich mal mit meinem jüngsten Sohn, der blond und blauäugig ist, in Teheran war, sagten alle: »Mashallah, der sieht ja aus wie ein Türke.« Die Türken als blonde, blauäugige, dauerarbeitende, hupende Nation? Die Frage der Perspektive wird einem klarer, wenn man mal kurz die Seite wechselt. Für meinen Sohn schien ›Alman‹ einfach nur ein Synonym für ›Spießer‹ zu sein – und die finden sich tatsächlich in jeder Bevöl- kerungsgruppe. Leider. Geht man im Gesundbrunnenviertel
14 durch die Straßen, sieht man überall gehäkelte Gardinen, und das Auto wird von den türkeistämmigen Weddingern samstags nur deswegen nicht vor der Tür gewaschen – sondern in der Wasch- Zukunft anlage –, weil vor der Tür kein Platz ist. Es fehlt nur noch der Wackeldackel. Ist das das neue Deutschland? Es wäre einmal deutsch – mit Schnauzer, schwarzen Haaren und Kopftuch –, aber alles bleibt beim Alten? 2022 Die 2010er waren geprägt von zahlreichen Aufsätzen zum ›neuen deutschen Wir‹. Quasi als Widerspruch zu Thilo Sarrazins Thesen Und seitab liegt die Stadt gab es ein ganzes Bataillon an migrantischen Neugründungen, die explizit das Deutsche im Titel verankerten: DeutschPlus, Deutscher.Soldat, Typisch Deutsch, DeuKische Generation, Neue deutsche Medienmacher*innen etc. Die Idee war, allen zu zeigen, dass ihre Bilder falsch waren, dass wir ab der zweiten Generation dazugehören. Dass wir auch mit Messer und Gabel essen können und Zugehörigkeit wollen. Zum Wir. Zum Deutschsein. Zum Hiersein. Zehn Jahre lang war das der Tenor. Ich erinnere mich, wie ich einmal mit Fatih Çevikkollu, in Dortmund-Nord in einem Gym- nasium vor einem Oberstufenjahrgang aufgetreten bin – Fatih hatte aus unserem damaligen Zeitgeist mehrere Comedypro- gramme gemacht: Sie hießen Komm zu Fatih; Fatihland usw., und er spielte darin immer mit dieser Irritation, sich explizit als deutsch zu claimen, während das Mainstreampublikum ihn als Türken sah. Wir beide waren vom Schuldirektorium eingeladen worden, um den jungen Menschen zu erklären, wie das so ist mit dem Deutschsein. Beide standen wir auf der Bühne – die Ober- stufe hatte genau 100 % Migrationshintergrund. Es war das Jahr 2019 – da war der Sarrazin-Diskurs schon zehn Jahre alt. Wir beide hatten also schon eine Dekade des Deutschseinwollens hinter uns und waren eingeübt: »Deutschsein ist keine Frage der Herkunft«, »Frag mich nicht, warum ich so gut Deutsch spre- che«, »Ihr müsst Euch zu Eurer deutschen Identität aktiv beken- nen!«, und so weiter und so fort. Das Spannende an unsrem Auf- tritt war, dass wir irgendwann merkten, dass dieser Talk nicht funktioniert. Dass diese Jugendlichen uns anschauten, als wären wir aus einem absurden dadaistischen Rollenspiel. Die hätten alle unsere Kinder sein können und sie verstanden einfach nicht,
warum wir beide von da oben auf der Bühne sie auffordern woll- 15 ten, etwas zu sein, was für sie überhaupt nicht erstrebenswert schien. Wir kamen uns vor, als wollten wir ihnen einen Walkman Auf gut Deutsch andrehen. Jedes narrative Modell hat seine Zeit. Das ›neue deutsche Wir‹ ist jetzt out. Niemand will mehr Deutscher sein. Jetzt, wo es immer mehr schon sind. Wir – ja, ich weiß: Ein Wir ist amorph und kon- tingent. Es ist immer konstruiert, und es beruht auf Ein- und Ausschlüssen. Auf Selbst- und Fremdbildern. Möge sich zu mei- nem Wir hinzuzählen, wer mag! – Wir hatten damals unseren Feldzug für das ›neue Deutsche‹ zu einer Zeit begonnen, als gera- de das Wort Migrationshintergrund erfunden wurde. Das war 2005. Vorher hatten wir schon mit vielen anderen für eine dop- pelte Staatsbürgerschaft, für ein kommunales Wahlrecht und ge- gen Diskriminierung und Rassismus in den 1990ern gekämpft. Davor auch gegen den Nato-Doppelbeschluss – auch das war ein neues deutsches Wir. Aber das ist eine andere Geschichte. Wir dachten, mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts und der Süssmuth-Kommission 2001 einen Riesenerfolg gelandet zu ha- ben. Man konnte nun Deutscher werden, ohne es schon immer gewesen zu sein. Endlich hieß es: »Deutschland ist ein Einwan- derungsland.« Aber nichts fühlte sich danach an. Wir hatten den Satz gewonnen – aber nicht das Feeling. Also pushten wir weiter. Vor allem, weil uns Friedrich Merz (ja, den gab es damals auch schon!) in die Parade gefahren war. Mit seiner Leitkulturdebatte hatte er uns die Party vom Einwanderungsland vermiest: »Ihr habt zwar gewonnen, aber ich ändere jetzt die Spielregeln. Ihr könnt zwar Deutsche werden, aber keine richtigen, denn dafür braucht es einen geheimen Code – und der heißt Leitkultur.« Also bemühten wir uns, diesen Code zu knacken: Sprachadapti- on, Ironie, Comedy, Aufstiege, Sichtbarkeit, Musik, Politiker·in- nen, Nachrichtensprecher·innen, Minister·innen, Professor·in- nen, Texte, Twitter und Theater – mit aller Wucht begaben wir uns in die Challenge. Das Spannende ist: Je mehr wir erreichten, je höher die Aufstie- ge, desto schärfer wurde der Integrationsdiskurs. Er flog uns wie Pershing-II-Raketen (die heute leider wieder jeder kennt) ins Ge- sicht. Während wir an Peter, Paul und Marie vorbeizogen, hörten
16 wir Thilo im Vorbeirauschen noch rufen: »Das schaffen die nie …!« Ihre Gene, ihre Kultur. Wir heulten kurz und spien Feuer dagegen. Und wenn wir heute in die Statistiken schauen, dann Zukunft wissen wir: Es ist keine Frage der Benevolenz mehr, kein ›Inter- kulturelle Öffnungs- oder Charta-der-Vielfalt-Gehabe‹: Es ist purer Widerstand, Aktivismus und die Statistik, die die Fernseh- anstalten mit migrantischen Protagonist·innen füllen, die Medi- 2022 en mit migrantischen Journalist·innen und die Parteien mit mig- rantischen Politiker·innen. Auch die Studiengänge von Jura bis Soziologie – und nicht mehr nur BWL und Medizin – sind zuneh- Und seitab liegt die Stadt mend schwarzköpfig. Die Chefs haben dabei immer noch das Gefühl, sie hätten gerade für Brot für die Welt gespendet, wenn sie eine migrantische Sprecherin in ihrem Unternehmen einstel- len – in Wahrheit haben sie keine andere Wahl. Knapp 40 % der Menschen unter 18, die in diesem Land leben, haben eine famili- äre Migrationsbiografie. 13 % der Wähler·innen bei der letzten Bundestagswahl waren Migranten oder hatten migrantische El- tern. Würde man in dieser Legislatur das Wahlalter auf 16 Jahre senken, dann hätten wir bald 20 % Wählende, die mit unter- schiedlichen zusätzlichen Ländern der Welt familiär verbunden wären. Das ist grob so viel, wie die CDU bei der letzten Bundes- tagswahl an Stimmen bekommen hat. Es ist ein Machtfaktor. Das Spannende ist auch: Je mehr wir aufstiegen, um zu beweisen, dass wir keine Ausländer mehr sind, sondern Deutsche mit Leis- tungsethos und so, desto cooler wurde es wieder, Ausländer zu sein. Kein Wunder – es gab Role Models, und die hießen nicht nur Klaus und Tobias. Mein großer Sohn sagt, wenn er mir was erklären will: »Wir Aus- länder«. Als ich ihm irgendwann mal klarmachen wollte, dass er gar kein Ausländer ist – er hat nämlich nur einen deutschen Pass und ist hier geboren –, meinte er zu mir: »Mama, du in deinem Büro in Berlin Mitte kannst ja Person mit Migrationshintergrund zu mir sagen – für mich sind wir Ausländer und bleiben das auch!« Und es klang weder gekränkt noch klang es diskriminiert. Interessanterweise klang es stolz. Und kein bisschen spießig – aber das kann sich ja noch ändern. Nun könnte man lange über Selbstethnisierung streiten, über Internalisierung von Ausgren- zung, über negative Identität. Man kann aber als Mutter ziemlich gut erkennen, ob etwas widerständig artikuliert wird, selfproud
oder eskapistisch. Ob er vermeidet zu sagen, »Wir sind Deutsche«, 17 weil er das Gefühl hat, das würde ihm bei seinem Aussehen so- wieso niemand glauben, oder ob er das Ausländermotiv rausholt, Auf gut Deutsch weil es in den letzten Jahren und in denen, die noch vor uns lie- gen, möglicherweise zum Mainstreamkriterium schlechthin wird und gleichzeitig noch ein Coding mitliefert, das urbane Coolness, Aufstiegsgeschichten und Weltanschlüssigkeit er- laubt?! Das alles wäre dann wohl doch wieder anschlussfähig an das ›neue deutsche Wir‹, von dem wir so träumten – in den be- ginnenden 2000ern. Inshallah be it. Als mein Vater im März 2021 die erste Corona-Impfung erhielt, rief er mich an: Zum ersten Mal in »diese Deutschland« sei er glücklich. Er habe so ein Stressgefühl gehabt vorher, dass man ihn nicht impfen würde, dass man ihn schlecht behandeln wür- de, falls er etwas nicht versteht. »Mein Zucker war auf 240 – jetzt ist auf 112!«, rief er durchs Telefon. Alle im Impfzentrum seien Schwarzköpfe gewesen. »Alle sahen aus wie Ali Maddi!« (der Sohn von seinem Freund). »Aber trotzdem (sic!)« sei alles so wahnsinnig gut organisiert gewesen. Das betonte mein Vater mehrfach, ungläubig und glücklich: »So ein gute Organisation! Das ist jetzt Deutschland?«, fragte er mich mehrfach. Der Arzt, der ihn geimpft habe, sei als einziger Deutscher gewesen – »aber (sic!) auch soo nett!« Ich habe es mir gespart, ihm meine alte Leier auszupacken (»Papa, woher willst du wissen, dass die Ali Maddis nicht auch Deutsche waren. Du musst das endlich mal lernen!« usw.). Er brachte das dann am Ende alles selber auf einen Nenner: »Ich habe gesagt, Herr Doktor, was haben Sie gemacht mit diese Land? Sie sind jetzt so nett wie die Ausländer, und die Ausländer sind so organisiert wie die Deutschen?! Das ist ein gutes Land. Schade, dass ich so alt bin. Früher war nicht so …« Und ich dachte mir, ja, die letzten zehn Jahre, die mein Vater nicht mehr da war, waren wohl dynamischer als wir glauben. Der Kampf gegen Sar- razin, NSU, Halle, Hanau, unsre Schmerzen, unsre Ängste, unsre Trauer – sie haben eine Wut erzeugt und ein Zusammenkommen und eine Klarheit: Wir sind hier – wir gehen nicht mehr weg, und das ist unser Land, und wir machen es jetzt schön!
18 Zukunft Alexander Häusler 2022 Das rechte Ringen um Identität Und seitab liegt die Stadt Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine überschattet aktuell alle Debatten über die Möglichkeiten friedlichen Zusammenle- bens und symbolisiert eine Zeitenwende hinsichtlich vermeint- licher Gewissheiten – seien es nun das von Francis Fukuyama verkündete ›Ende der Geschichte‹ in Form einer unumkehrbaren Vorherrschaft liberalkapitalistischer Gesellschaften oder etwa das vom Weltwirtschaftsforum verkündete Versprechen eines ›großen Neustarts‹ in eine mehr sozial, gerecht und nachhaltig gestaltete Weltwirtschaft. Wunschbilder eines westlich-demo- kratischen Universalismus und eines friedlichen, postnationalen Europas zerschellen jedoch nicht nur an den grausamen Bildern dieses Krieges und dessen ethnonationalistischer Rechtferti- gungsversuche. Eine rechte Regression in demokratiefeindlicher, ethnonatio- nalistischer sowie auch in offen völkischer Stoßrichtung ist in vielen Ländern Europas so stark geworden, dass sie deren politi- schen Kernbestand bedroht. In den Mitgliedsländern der als politisches Erfolgsmodell gefeierten Europäischen Union haben
radikal rechte Parteien mit Hetze gegen Migration, pluralistische 19 Identitätsentwürfe und eine Gesellschaft der Vielfalt an Einfluss gewonnen. ›Retrotopia‹ nannte der Soziologe Zygmunt Bauman Auf gut Deutsch diese rückwärtsgewandte Gesellschaftsutopie. Sie sei geprägt durch die Rehabilitation des tribalen Gemeinschaftsmodells, den Rückgriff auf das Bild einer angeblich ursprünglichen natio- nalen Identität, deren Schicksal durch nichtkulturelle Faktoren vorherbestimmt sei: Laut Bauman herrsche in der öffentlichen Meinung die populäre Ansicht vor, es gebe wesensmäßige, nicht verhandelbare sine qua non-Voraussetzungen »zivilisatorischer Ordnung«. Auch in Deutschland entpuppt sich die Großerzählung von einer gefestigten Demokratie als fragil: Mit der AfD erzielt eine regres- sive Kraft Zustimmung, die einen rückwärtsgewandten Nationa- lismus in Kombination mit völkischen Identitätskonzepten brei- tenwirksam wieder attraktiv erscheinen lässt. Für den AfD-Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland stehen Identität und Nationales augenscheinlich über den Werten der Verfassung, da sie angeblich unveränderliche Lebensmerkmale darstellen: Wir lieben nicht die Verfassung, wir lieben unser deutsches Volk. Aber wir wissen, dass die Ver- fassung richtig und nützlich ist und wir stehen für sie ein. Sie ist ein Kleid, das man verändern kann. Identität, Nationales, Kultur kann man nicht verändern. Sie ist uns angeboren und sie ist etwas, was wir alle zum Leben brauchen. Die rechte Identitätspolitik beinhaltet und mündet in die Pro- phezeiung einer völkischen Apokalypse, die bei der AfD zum Schreckgespenst eines angeblichen ›Aussterbens des deutschen Volkes‹ mutiert. Die Rechtsaußenpartei hat programmatisch ein Verständnis von Identität entwickelt, das sich gegen die multi- kulturelle Verfasstheit unserer Einwanderungsgesellschaft rich- tet. So heißt es in ihrem Programm zur letzten Bundestagswahl: Unsere Identität ist geprägt durch unsere deutsche Sprache, unsere Werte, unsere Geschichte und unsere Kultur. Letztere sind eng verbunden mit dem Christentum, der Aulärung, unseren künstlerischen und wissenschaftlichen Werken. Unsere Identität bestimmt die grundlegenden Werte, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Die deutsche Leitkultur be- schreibt unseren Wertekonsens, der für unser Volk identitätsbildend ist und uns von anderen unterscheidet. Sie sorgt für den Zusammenhalt der Gesellschaft und ist Voraussetzung für das Funktionieren unseres Staates. Die gemeinschaftsstiftende Wirkung der deutschen Kultur ist Fundament unseres Grundgesetzes und kann nicht durch einen Verfassungspatriotismus er- setzt werden.
20 Eine populistische Ansprache wird in der AfD verknüpft mit völ- kisch-nationalistischen und apokalyptischen Narrativen. So postete z. B. der AfD-Politiker Thorsten Weiß, Mitglied im Berliner Abge- Zukunft ordnetenhaus, auf seiner Facebookseite in Bezug auf die prognosti- zierte Zunahme von Staatsbürger·innen mit Migrationshinter- grund: »Die Regierung plant den Volkstod!«. 2022 Merkmal eines solchen Populismus mit völkisch-autoritärer Stoßrichtung ist eine rechte Identitätspolitik, die folgende Merk- male aufweist: eine ethnonationalistische Herleitung von Identi- Und seitab liegt die Stadt tät sowie eine Inanspruchnahme der Identifikationsbegriffe ›Heimat‹, ›Glaube‹ und ›Gemeinschaft‹, die eine kulturell exklu- dierende Deutung nationaler Identität beinhalten. ›Identität‹ wird dort als angeblich angeborenes und unveränderliches Merkmal einer ›nationalen Gemeinschaft‹ gedeutet. Das Schlagwort der Identität ist laut dem Erziehungswissenschaftler Georg Auern- heimer als ›nationale‹ oder ›kulturelle Identität‹ zur zentralen Ka- tegorie der Neuen Rechten geworden. Gemeinsam ist ihnen laut Rechtsextremismusforscher Helmut Kellershohn, dass sie auf eine Entität (deutsches Volk, deutsche Kultur) rekurrieren, deren einfache Identität (»wir sind wir«) sie als immer schon gegeben voraussetzen. Verbindend ist hierbei die vorgängige Setzung des ›Volkes‹ als Abstammungs- und Zeugungsgemeinschaft. Ein sol- ches, identitätsstiftendes Kollektivsubjekt müsse sich gegen die Bedrohungen von außen verteidigen – seien es nun die als fremd Markierten oder das Feindbild einer ›globalistischen Elite‹, die ›die Völker‹ bedrohe bzw. gar deren ›Auslöschung‹ anstrebe. In diesem Duktus bezeichnet Gauland die Zuwanderung als eine »Politik der menschlichen Überflutung«. Zuwanderung stehe für den »Versuch, das deutsche Volk allmählich zu ersetzen durch eine aus allen Teilen dieser Erde herbeigekommene Bevölke- rung.« Für den ehemaligen CDU-Politiker geht es bei der AfD- Politik offenbar um einen existenziellen Daseinskampf: »Das elementare Bedürfnis eines Volkes besteht darin, sich im Dasein zu erhalten. Das ist im Grunde das AfD-Parteiprogramm in einem Satz. Es geht uns einzig um die Erhaltung unserer Art zu leben.« Solcherlei Vorstellungen führen auch andere rechtsextreme Strömungen wie die Identitäre Bewegung, neurechte Denkfabri- ken wie das Institut für Staatspolitik, neofaschistische Parteien wie Die Rechte oder die NPD sowie neue, in der Corona-Krise
entstandene rechte Protestbewegungen geistig zusammen. In 21 rechtsextremen Blättern wie dem Compact-Magazin werden Konzepte wie der oben erwähnte ›Great Reset‹ des Weltwirt- Auf gut Deutsch schaftsforums umgedichtet zu völkischen Verschwörungsfanta- sien: Der verkündete große Neustart wird dort – in Analogie zur rechtsextremen Erzählung vom ›Großen Austausch‹ angestamm- ter mit zugewanderten Bevölkerungsteilen – verklärt zu einem von sogenannten internationalen Eliten in Gang gesetzten Plan zur Neuordnung der Welt zum Austausch der ›Völker‹. Solche Verschwörungserzählungen dienen antisemitischen Feindbild- setzungen in Tradition der berüchtigten Protokolle der Weisen von Zion. Die Abstrusität eines solchen völkisch-apokalyptischen Rein- heitswahns offenbart sich in rechten Reaktionen auf den russi- schen Angriffskrieg: Während etwa die rechtsextremen Parteien Der Dritte Weg und die Freien Sachsen in ihrer völkisch-nationa- listischen Stoßrichtung identisch sind, mobilisiert die eine For- mation zur Unterstützung ukrainischer Nationalisten und die an- dere fordert mit gleicher Argumentation eine Unterstützung der russischen Aggression. Vielleicht besteht Hoffnung, dass dieser Wahnsinn eine Abkehr von den Fallstricken nationaler Identi- tätspolitik bewirken kann und die Notwendigkeit zum entschie- denen Eintreten für eine Gesellschaft der Vielen mehr in das öffentliche Bewusstsein rückt.
Patricia 22 Nana Yaa Seiwaa Anin & Matthias Lohre im Tandem
23 Afrotopia Patricia Nana Yaa Seiwaa Anin Afrotopia Einer der größten Fehler, den der Westen bei seinen futuristi- schen Visionen begeht, ist Afrika aus den schillernden Zukunfts- erzählungen und Science-Fiction-Narrativen auszulassen. Es ist ignorant und realitätsfern, eine Zukunftsprognose zu entwerfen, in der Afrika nicht erwähnt wird. Die Bevölkerungszahlen des Kontinents sind am Explodieren: Bis zum Jahr 2050 werden sich die 1,2 Milliarden Bewohner·innen verdoppelt haben. Das bedeu- tet, dass im Jahr 2050 25 Prozent der Weltbevölkerung Afrika- ner·innen sein werden. Anders gesagt: Jeder vierte Mensch wird dann Afrikaner·in sein, wovon wiederum ca. 50 % jünger als 18 Jahre alt sein werden. Das bedeutet auch, dass auf Europa die ge- ballte Kraft von 1,2 Milliarden jungen Menschen zurollt. Afrika ist also ein Thema, dem sich der Westen irgendwann nicht mehr wird entziehen können. Vielmehr noch muss der Westen verste- hen, dass er gemeinsam mit Afrika in die Zukunft blicken sollte, um nicht übermannt zu werden von den gewaltigen menschli- chen Ressourcen, die der Kontinent bieten wird. Damit meine ich allerdings nicht, Afrika als Bedrohung oder als Entwicklungs- aufgabe zu betrachten (zwei andere fatale Fehler, die der Westen
24 begeht), sondern als Chance, als Perspektive. Die Jugend Afrikas, angetrieben von Entwicklungen wie Digitalisierung und Globali- sierung, ist im Auruch. Wir befinden uns gerade an einem Zukunft Schlüsselpunkt, ein neues Zeitalter der Selbstermächtigung ist angebrochen, und es geht uns alle etwas an, denn die afrikani- schen Jugendlichen sind die Träger·innen der Zukunft. 2022 Die Jugend Ghanas ist mit einer Aufgabe konfrontiert, die kon- fliktgeladener nicht sein könnte: die Herstellung eines fragilen Gleichgewichts zwischen lokaler und kultureller Verwurzelung Und seitab liegt die Stadt und der globalen Konsumkultur, zwischen Selbstverwirklichung und der gesellschaftlichen Realität. In Zeiten wachsender Über- forderung und Unsicherheit angesichts der Globalisierung su- chen junge Afrikaner·innen nach ihren Wurzeln, um aus ihnen etwas Neues wachsen zu lassen. Eine der größten Herausforde- rungen liegt dabei meiner Beobachtung zufolge in der Kollision des kollektivistischen Wertesystems der lokalen Kultur und des kapitalistischen Individualismus des Westens, der immer weiter hinüberschwappt und die lokalen Normen zu überschwemmen droht. Ghanaer·innen sind ein sehr stolzes Volk, und Kultur – Familie, Sprache, Spiritualität – bilden einen elementaren Bau- stein des gesellschaftlichen Zusammenlebens; eine Zuwendung zu westlich liberalen Werten wird von der Familie als eine Ab- wendung von Kultur und Tradition gewertet. Allerdings bin ich während meines Aufenthalts in Accra, der Hauptstadt Ghanas, auf so viele weltoffene, kreative, schlaue und politisierte junge Menschen getroffen, die sich gleichzeitig in ihrem Kern mit afri- kanischen Werten identifizieren und stolz auf ihre Kultur sind, diese nicht verlieren wollen und eine Westernisierung strikt ab- lehnen. Doch auf das Land kommen eine Reihe radikaler Verän- derungen zu. Einer der größten Transformationsprozesse, der gerade in afrika- nischen Ländern zu beobachten ist, ist die Urbanisierung. Bis 2050 wird sich die urbane Bevölkerung Afrikas verdreifacht, die Anzahl afrikanischer Städte verfünffacht haben. Mehr als die Hälfte der Stadtbewohner·innen werden Jugendliche sein, denn junge Menschen ziehen mit höherer Wahrscheinlichkeit von ländlichen Regionen in Städte, was den Anteil der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter in urbanen Regionen erhöht. Der Prozess
der Urbanisierung in Afrika bringt also ein enormes Potenzial 25 mit sich. Städte sind schließlich – das zeigen Erkenntnisse aus der Geschichte – die Zentren für menschliche Entwicklung, trei- Afrotopia bende Faktoren für das Wirtschaftsgeschehen und somit die wichtigste Transformationskraft des Kontinents. In Städten wer- den neue Märkte für Investitionen geschaffen, Angebote bei Wissenstransfer und Logistik sind einfacher verfügbar. Städte sind der Raum, in dem sozialer, politischer, kultureller, techni- scher und ökonomischer Wandel passiert, und Hotspots für Kreativität, Innovation und Produktivität. Wenn ich dabei an Accra und Kumasi, die beiden einflussreichsten Städte Ghanas, denke, dann fallen mir die bunten, pulsierenden Straßen ein, die sich wie Adern durch die Städte ziehen und eine·n mit ihrem Sog verschlucken. Die Großstädte sind ein lebhafter und über- wältigender Ort der Inspiration und des Chaos – für mich reprä- sentieren sie Selbstverwirklichung, einen Raum für unglaublich viele Möglichkeiten. Ich habe selten Orte gesehen, die für mich so prickelnd, so stimulierend, so reizüberflutend waren wie die hektischen Märkte oder die überlaufenen Stadtzentren Ghanas. Gerade unter jungen Menschen haben sich Accra und Kumasi zu Brutstätten für künstlerische Kollektive, zu einem Knotenpunkt kreativen Schaffens und schöpferischer Innovation entwickelt, was in mir einen sehr optimistischen Zukunftsglauben weckt. Eine weitere Dynamik, der nicht nur Ghana, sondern ganz Afrika ausgesetzt ist, ist die Digitalisierung. Auf meiner Reise durch das Land wurde ich – nach einer mehrstündigen Fahrt durch den hektischen Verkehr Accras und dessen Vororte sowie durch malerische Landschaften und über Straßen voller Schlaglöcher, die die Fahrt zu einer Herausforderung machten – in ein kleines Dorf gespült, um das sich ringsherum atemberaubend schöne Hügel, riesige Wasserfälle und vor allem dichter, grüner Regenwald erstreckten. Ich fühlte mich in der Idylle unglaublich wohl und hatte das Gefühl, noch nie so abgeschnitten vom Rest der Welt gewesen zu sein. Bei einem ersten Spaziergang durch das Dorf wurde mir jedoch zunächst ein bisschen schlecht. All meine internalisierten Klischees über Afrika materialisierten sich vor meinen Augen: Die Leute lebten in Lehmhütten, kochten ihr Essen über dem Feuer und hatten teilweise auch keinen rich- tigen Zugang zu fließendem Wasser, die Wäsche wurde im Fluss
26 direkt neben dem Dorf gewaschen. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht ein kleines bisschen geschockt war, doch ich musste die westliche Brille, die meinen Blick trübte, ab- Zukunft setzen. Schließlich suchte ich Kontakt zu den Locals. Ich wurde von einem siebzehnjährigen Jungen aus dem Dorf namens Jona- than durch den Regenwald geführt. Zunächst fiel es mir etwas schwer, eine Verbindung zu ihm aufzubauen, schließlich hätten 2022 unsere Lebensrealitäten unterschiedlicher nicht sein können. Doch als er das Thema ›Musik‹ aurachte, verwandelte sich die anfänglich peinliche Stille in ein angeregtes Gespräch. Zunächst Und seitab liegt die Stadt unterhielten wir uns nur über aktuelle Chart-Trends in Ghana, dann schwang das Gespräch um in eine Diskussion über Popkul- tur und die neuesten Entwicklungen in der Kunst- und Musik- szene. Natürlich war er besser informiert als ich, und als er mich nach irgendeinem Sänger fragte, den ich nicht kannte, angelte er ungläubig sein Smartphone aus der Hosentasche und zeigte mir ein Album. Später wurde ich von ihm noch zu seinem Onkel ein- geladen, um mit ihnen gemeinsam zu essen. Es gab Reis und sehr scharf gewürzte Bohnen, das Essen köchelte auf der Feuerflam- me auf dem Boden. Und nun saß ich da, in einer kleinen Lehm- hütte mit Wellblechdach, umgeben von rund zehn Menschen, die sich alle um einen Flachbildfernseher drängten und mit gebann- ten Blicken auf den Bildschirm starrten. Und da begriff ich, dass die Digitalisierung ihre drahtigen Finger bereits in jeden Winkel dieser Erde gespreizt hatte, dass sie vor nichts und niemandem mehr haltmachte. Und das verändert vieles. Jonathan erzählte mir von seinen Träumen, nach Accra zu ziehen und dort Touris- ten-Guide zu werden. Er will einen festen Job mit zuverlässiger Gehaltsauszahlung und fairen Arbeitsbedingungen. Er muss sich nicht mehr mit dem zufrieden geben, was seine Eltern und Groß- eltern besaßen. Dieses handgroße Display in seiner Hosentasche ermöglicht ihm den Zugang zu Träumen, an die die Generatio- nen vor ihm nicht einmal zu denken gewagt hätten. Er kann sein Leben nun mit dem von Menschen in den Großstädten des Lan- des, gar mit dem von Menschen international vergleichen. Er darf größere Gedanken für seine Zukunft spinnen. Er darf mehr wollen. Jonathans Zukunftsträume unterscheiden sich nicht we- sentlich von meinen, wir beide wollen ähnliche Dinge vom Le- ben, was fast schon absurd ist, wenn man bedenkt, wie sehr sich unsere Lebensweisen voneinander unterscheiden.
Technische Entwicklungen wurden nicht schrittweise in den 27 Alltag in Ghana eingeleitet und integriert, sondern kamen ziem- lich plötzlich. Noch vor ein paar Jahren waren Smartphones und Afrotopia Fernseher ein rares Gut, das einem mit hoher Wahrscheinlich- keit geklaut wurde, wenn man nicht achtgab. Vor der Reise hatte ich meinen Vater gefragt, ob ich mein Handy auch in der Öffent- lichkeit zücken könne oder ob ich dann damit rechnen müsse, dass es mir entwendet wird. Er begann, schallend zu lachen, und blickte mich amüsiert an, ich kam mir sofort dumm vor. »Keiner wird dir dein Handy klauen. Jeder in Ghana besitzt mittlerweile ein Smartphone.« Dieser drastische Wandel von unzureichender technologischer Infrastruktur hin zu einer Verteilung, bei der Menschen eher ein eigenes Smartphone mit Internetzugang besitzen als fließendes Wasser, ist so paradox, dass es fast schon amüsant ist. Die Digitalisierung entfaltet so ein enormes Wir- kungspotenzial und stärkt nach meinen Beobachtungen die Jugendlichen in ihrem Selbstbewusstsein, stößt außerordentlich viele Prozesse der Identitätssuche und Selbstfindung an. Die ghanaische Jugend findet ihren Platz in der Welt, kann die Dimensionen und Machtstrukturen unserer Gesellschaften und die Geltung, die sie im globalen Kontext einnehmen kann, ver- stehen. Junge Leute werden mobilisiert und ihnen wird die Mög- lichkeit zum Austausch und zur Vernetzung mit anderen Men- schen sowie auch mit der Diaspora gegeben. Das afrikanische Selbstverständnis und Bewusstsein werden so gefüttert mit neu- er Energie, was in einer vor allem in Westafrika gesteigerten Poli- tisierung der jungen Bevölkerung resultiert. Die jungen Leute in Ghana haben nämlich durch ihre gefestigte Identität verstanden, dass Afrika ein unheimlich reicher Kontinent ist, dass Ghana ein Land mit reichen Ressourcen ist und alles hat, was es braucht, um sich, ja sogar die ganze Welt zu versorgen. Es drängt sich also die Frage auf, warum nur ausländische Unternehmen zu profitie- ren scheinen und nicht die Bevölkerung selbst. Warum das Land noch immer mit Grundproblemen zu kämpfen hat, die es längst hätte hinter sich lassen können. Die Wut, die bei den Jugendli- chen viel zu lange erstickt wurde, kann nun endlich lichterloh emporflammen. Es wächst eine Generation von jungen Leuten heran, die sich nicht mehr mit leeren Versprechen der Politik vertrösten lässt und die ganz genau weiß, wie ihre Zukunft aus- sehen soll. Eine Generation, die stolz auf ihr Heimatland und ihre
28 Kultur ist und sie nicht mehr unterschätzt, die ihr Potenzial be- griffen hat und es vollends ausschöpfen will. Afrikaner·innen steht die Möglichkeit offen, aus allen Entwicklungen und Werte- Zukunft systemen dieser Welt jene Teile auszuwählen, die zu ihnen am besten passen. Sie können aus den Fehlern, die der Westen in sei- nen Strukturen gemacht hat, lernen und von ihrer eigenen kultu- rellen Perspektive profitieren, sich ihr eigenes Fundament auf- 2022 bauen. Für mich lässt sich die neue Denkweise, die gerade zu beobachten ist, vor allem als ein Liebesgeständnis an Ghana, an Afrika deuten. Und seitab liegt die Stadt Mir persönlich ist es ein großes Anliegen, Menschen vermitteln zu können, wie wichtig es ist, ein Bewusstsein für Afrika im All- gemeinen und Ghana im Besonderen zu entwickeln, und wie dringlich es ist, damit aufzuhören, den Kontinent in seiner Di- versität, Stärke und Schönheit zu unterschätzen, ja nahezu zu übergehen. Ich wünsche mir, in einer Welt zu leben, in der wir von Afrikas Potenzial sprechen können, ohne im selben Atemzug von den Problemen reden zu müssen. In einer Welt, in der das Narrativ der hilfsbedürftigen Afrikaner·innen einem Austausch auf Augenhöhe weichen kann. Einer Welt, die Afrika nicht als Problem betrachtet, sondern als Lösung. Und vor allem wünsche ich mir, dass wir die Zukunft nicht für, sondern mit Afrika ent- werfen.
29 Afrotopia Matthias Lohre Atlantropa Um zu begreifen, was ›Atlantropa‹ ist, brauchen wir uns bloß vor- zustellen, wir stiegen am Berliner Hauptbahnhof in den Zug. In unserem privaten Abteil verstauen wir das Gepäck unter den Bet- ten, legen Getränke und Essen bereit und setzen uns auf die Fens- terplätze. Wir werden mehrere Tage unterwegs sein. Unsere Rei- se führt uns nach Kapstadt. Umsteigen müssen wir nicht. Nachdem der Zug Berlin verlassen hat, sehen wir zunächst Wäl- der und Städte hinter dem Fenster vorüberziehen, danach schneebedeckte Alpengipfel und schließlich über viele Stunden das Azurblau von Italiens Westküste. Das schier unendliche Gleichmaß schläfert uns vielleicht ein wenig ein, und so bemer- ken wir nicht sofort, wie der Zug die Spitze des italienischen Stie- fels erreicht. Denn wo einst das Mittelmeer den Kontinent von Sizilien trennte, fahren wir nun über festes Land. Italiens Küsten haben sich weit ins Meer vorgeschoben. Kurz darauf erblicken wir zu beiden Seiten des Abteils nichts als Wasser: Der Zug gleitet über einen sechsundsechzig Kilometer langen Staudamm. Das größte Bauwerk der Erde schließt die letzte verbliebene Lücke zwischen Europa und Afrika.
30 Der Tunisdamm ist mehr als doppelt so groß wie sein Vorbild in der Meerenge von Gibraltar. Das dortige, mehr als dreißig Kilo- meter breite Bollwerk drängt seit Jahrzehnten die Ströme des Zukunft Atlantiks zurück. Weil dem Mittelmeer so der wichtigste Zufluss genommen wurde, ist dessen Spiegel durch Verdunstung nach und nach um hundert Meter gesunken. 2022 Der neue Tunisdamm, über den unser Zug rollt, teilt das Mittel- meer in zwei Hälften. Während der Spiegel des westlichen Beckens hundert Meter niedriger als früher verharrt, wird das Und seitab liegt die Stadt Wasser im östlichen Becken um weitere hundert Meter abge- senkt. Als Folge fällt die Adria trocken; die Inseln der Ägäis ver- schmelzen miteinander, ebenso Sardinien und Korsika und die Balearen; Israel wächst weit über seine engen Grenzen hinaus; am meisten Land jedoch steigt vor Tunesien, Libyen und Ägypten aus den Fluten. Unser Schnellzug Berlin-Kapstadt rast jetzt über afrikanische Erde weiter nach Süden. Parallel zur Strecke sehen wir Reihen stählerner Masten und Rohrleitungen. Die Masten verteilen elek- trischen Strom, den gewaltige Wasserkraftwerke erzeugen, in ganz Afrika und Europa. Die zwei Milliarden Bewohner·innen des Doppelkontinents verfügen über saubere, unerschöpfliche Energie. Die Rohre wiederum leiten entsalztes Meerwasser in die Senken der nördlichen Sahara. Wo bis vor wenigen Jahrzehnten fast alles Leben vertrocknete, erstrecken sich nun zwei Millionen Quad- ratkilometer blühender Landschaften. Immer tiefer hinein geht es in den Kontinent. Doch uns kommt es vor, als führe der Zug ins Freie, an die Küste. Denn zu unserer Linken, wo einst Sandstürme riesige Gebiete schier unpassierbar machten, erstreckt sich heute das Tschadmeer. Von der Nord- zur Südspitze ist es mehr als tausend Kilometer lang und verfügt über 6.400 Kilometer lange Uferlinien. Es mildert das Klima, er- nährt seine Anrainer und dient als Verkehrsweg. Aus der Wüste ist ein Knotenpunkt geworden.
Nach mehreren Stunden Fahrt entlang des Ufers wird die Meeres- 31 oberfläche immer schmaler, bis sie sich zu einem Kanal verengt. Der künstliche Flusslauf verbindet das Tschadmeer mit seinem Afrotopia Quell: dem Kongomeer. Hierfür staut ein Damm in der Nähe Kinshasas den Kongofluss auf, so dass dessen Süßwasser, anstatt ungenutzt in den Atlantik abzufließen, das Kongobecken füllt. Das Ergebnis, mit 900.000 Quadratkilometer größer als Deutschland und Frankreich zu- sammengenommen, mildert das schwülheiße Klima am Äqua- tor. Tropenkrankheiten wie Malaria plagen die Menschen weit weniger als früher, die Lebenserwartung ist deutlich gestiegen. Unsere Reise dauert bereits mehrere Tage und Nächte, doch be- vor sie endet, passieren wir ein drittes von Menschenhand ange- legtes Gewässer, das sich südlich der Victoriafälle erstreckt. Für den Victoriasee staut ein Damm den Sambesi-Fluss auf dem Ter- ritorium von Sambia, Botswana und Simbabwe. Als wir schließlich wenige Stunden später im Hauptbahnhof von Kapstadt einfahren, begleiten uns noch Bilder von in der Dunkel- heit leuchtenden Städten, großen Schiffen in modernen Häfen und bis zum Horizont reichenden, fruchtbaren Äckern. Das also sind, kurz zusammengefasst, die gewaltigen Baupläne des Atlantropa-Projekts. Erdacht hat sie der Münchner Architekt und Ingenieur Herman Sörgel, und gemeinsam mit seiner jü- dischstämmigen, in Berlin geborenen Ehefrau Irene, geborene Villanyi, warb er von 1928 bis zu seinem Tod 1952 in vier grund- verschiedenen politischen Systemen unerschütterlich für seine Ideen. Von diesem faszinierenden Paar und seinem Weltrettungsvorha- ben handelt auch mein Debütroman Der kühnste Plan seit Men- schengedenken (Verlag Klaus Wagenbach, 2021). In den insgesamt vier Jahren, in denen ich mich mit den Argumenten, Ideen, Ängs- ten und Hoffnungen der Sörgels auseinandersetzte, stellte ich mir immer wieder eine Frage: Wussten sie, was sie taten?
32 Die Antwort scheint klar: Die Sörgels wollten zwei Kontinente wirtschaftlich und politisch verzahnen. Afrika, so ihr Plan, würde Rohstoffe und Nahrungsmittel nach Norden liefern, Europa im Zukunft Gegenzug Fertiggüter und Know-how nach Süden. Atlantropa sollte sich dauerhaft behaupten können gegen einen Doppelkon- tinent Panamerika unter Kontrolle der USA und gegen einen Asi- en-Pazifikraum unter chinesischer oder japanischer Führung. Als 2022 geopolitisches Ziel formulierten die Sörgels ein stabiles Macht- gleichgewicht der ›drei großen A‹, also Amerika, Atlantropa und Asien. Diese Großräume wären jeweils autark, Eroberungskriege Und seitab liegt die Stadt daher überflüssig. Mit den Mitteln modernster Technik sollte so ein Menschheitstraum in Erfüllung gehen: der Weltfrieden. Aber meine Frage zielt tiefer: Begriffen die Sörgels wirklich, wel- che Auswirkungen es für Milliarden Menschen hätte, wäre ihr Traum vom Doppelkontinent heute Wirklichkeit? Wen hätte das Paar, wäre es auf einer Bahnreise in Tunesien, dem Kongo oder Simbabwe aus dem Zug gestiegen, dort sehen wollen? Herman Sörgel verstand sich als weltgewandter Pazifist, und doch stünde er, wäre es nach ihm gegangen, inmitten weißhäuti- ger europäischer Siedler, die afrikanischen Untergebenen Befeh- le erteilen. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs schrieb er: »Wir haben nicht nur ein Recht, sondern geradezu die Pflicht, den dunklen Erdteil zu erobern und zu kultivieren; denn wir sind die Fähigeren; während noch nie ein Schwarzer eine wirklich kulturelle Tat vollbracht, eine geniale Erfindung gemacht oder eine philosophische Weltordnung erdacht hat.« 1 Sörgel war ein Visionär und zugleich Vertreter einer von rassistischen Vorstel- lungen geprägten Ära. Zur Wahrheit über ihn gehört auch, dass er nach dem Krieg Afri- kaner in den Vorstand seines Atlantropa-Vereins lud, darunter den späteren ersten Präsidenten des Senegal, Léopold Sédar Senghor. Hatte Sörgel also seinen Eurozentrismus überwunden oder lediglich erkannt, dass er die erstarkenden Unabhängig- keitsbestrebungen in seinen Plänen berücksichtigen musste? Wir wissen es nicht. 1 Herman Sörgel: Die drei großen »A«, München 1938, 60.
Aber ist eine Idee nur so gut wie die moralische Intention ihrer 33 Schöpfer·innen? Wenn wir das mit »Ja« beantworten, könnten wir es uns leicht machen und den Atlantropa-Plan als kolonialis- Afrotopia tisch und größenwahnsinnig abtun. Aber wir brauchen einen Gedanken nicht zu teilen, um von der Auseinandersetzung mit ihm zu profitieren. Indem wir in diesem wundersamen, schil- lernden Ideengebäude umherstreifen, können wir Einsichten über uns selbst gewinnen: auch darüber, wie neuartig zu denken wir lernen müssen, damit wir die Welt in einem besseren Zu- stand hinterlassen können als jenem, in dem sie ist. Atlantropa, dieser im Glauben an die Allmacht der Technik ge- borene Traum vom neuen Superkontinent, mag gestrig wirken. Aber was sagt es aus über uns, dass so viele der Probleme, für deren Lösung er vor fast hundert Jahren erdacht wurde, bis heute fortleben?
Thomas 34 Gäbert & Lisa-Marie Reuter im Tandem
35 Stadt, Land, Frust Thomas Gäbert Aus der Vergangenheit gelernt! Heute ist für den dreijährigen Doron ein ganz besonderer Tag. Statt weiterhin das Töpfchen, darf er zum ersten Mal die große Toilette benutzen. Sein Vater Timon nimmt sich die Zeit, um all die aufgeregten Fragen zu beantworten. Denn im Jahr 2050 sind die Toiletten nicht mehr rein entsorgende Sanitäranlagen, son- dern vielmehr kleine Labore, in denen jeweils mehrere chemi- sche und physikalische Prozesse in Windeseile ablaufen. Neben Phosphor und Kalium wird auch eine Vielzahl von weiteren Ele- menten und Verbindungen zurückgewonnen. Timon erklärt sei- nem Sohn geduldig, wo und wie die Exkremente aufgefangen werden und dass sie nicht wie früher einfach in der Kanalisation verschwinden. Doron darf vor der Nutzung einmal die Schutz- blende abnehmen und sich den Ort, an dem aus den Exkremen- ten Nährstoffe zurückgewonnen werden, ganz genau anschauen. Im Auffangbehälter befinden sich bereits einige Pellets von vor- herigen Toilettengängen. Sie sind klein, dünn und länglich. So sehr Doron auch daran riecht, die Pellets haben nichts mehr mit dem Ausgangsprodukt zu tun, sind völlig trocken und geruchs- frei. Er wirkt fast etwas enttäuscht.
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