S ADT in Der Schwebe - sz-media

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S ADT in Der Schwebe - sz-media
Nummer 18 | 2. Mai 2014

 eine
   S ADT
  in der
schwebe
       Zwischen Straßenfest und Straßenkampf:
Rio de Janeiro vor der Fußball-WM – ein Stadtgespräch
S ADT in Der Schwebe - sz-media
INHALT
                                                                                                                                                                                                          2. Mai 2014

True love has a colour and a name
                                                                                                                                                                                                                                           28
                                                                                                                                                                                                                                       »Man muss
                                                                                                                                                                                                                                seine Abgründe kennen«
                                                                                                                                                                                                                          Ein Gespräch mit dem Schauspieler
                                                                                                                                                                                                                           Vincent Cassel über Schlägereien,
                                                                                                                                                                                                                              Ballett und seine feminine
                                                                                                                                                                                                                                         Seite.

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                                                                                                                                                                                                                                  Hier ruht ein Schatz
                                                                                                                                                                                                                            Autositze sind Münzschlucker,
                                                                                                                                                                                                                         denn wer im Wagen sein Geld verliert,
                                                                                                                                                                                                                            findet es meist nie wieder. Eine
                                                                                                                                                                                                                           Chinesin hat daraus ein Geschäft
                                                                                                                                                                                                                                       gemacht.

                                                                                                                                                                                                                                           36
                                                                                                                                                                                                                                       Au Backe
                                                                                                                                                                                                                                Kinder mögen schmieriges
                                                                                                                                                                                                                        Essen, schmierige Finger – nur schmierige
                                                                                                                                                                                                                             Sonnencreme mögen sie nicht,
                                                                                                                                                                                                                                 wie unsere Fotos zeigen.

                                                                                                                                                                               10
                                                                                                                                                                Eine Stadt kämpft um ihre Seele
                                                                                                                                                             Kurz vor der Fußball-WM haben wir elf

                                                                                       Titelfoto: John Dalkin; Foto Inhalt: Ralph Gibson, Nolan Conway
                                                                                                                                                         Persönlichkeiten der brasilianischen Metropole
                                                                                                                                                         an einem Tisch versammelt, um über das Flair,
                                                                                                                                                             die Sorgen und die Zukunft von Rio de

                                    Online Boutique www.cartier.de + 49 89 55984-221
                                                                                                                                                           Janeiro zu diskutieren – ein Stadtgespräch.

                                                                                                                                                                               24
                                                                                                                                                                 Sind wir nicht alle ein bisschen
                                                                                                                                                                           Mad Men?
                                                                                                                                                           Amerikanische Fernsehserien sind klug und
                                                                                                                                                         spannend. Aber warum muss mit ihnen immer
                                                                                                                                                            gleich der Lauf der Welt erklärt werden?
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F   O   L   L    O     W            Y      O       U      R          O     W       N           S   T   A   R

                                                                                                                                                                                                                                         38                                                                   48
                                                                                                                                                                                                                                  Im Musentempel                                                           Stil leben
                                                                                                                                                                                                                     Die neue Sommermode ist große Kunst –                              Abriss und Wiederaufbau? In Oslo wurde
                                                                                                                                                                                                                        und eine Villa, in der Jean Cocteau                                drei Jahre darüber gestritten, was mit
                                                                                                                                                                                                                      gemalt hat, genau der richtige Ort, um                          den Gebäuden passieren soll, die durch Anders
                                                                                                                                                                                                                               sie zu präsentieren.                                     Breiviks Bombe verwüstet worden waren.
                                                                                                                                                                                                                                                                                        Jetzt kam der Bürgermeister auf eine Idee.

                                                                                                                                                                                                                                         46
                                                                                                                                                                                                                                SehenswürdICHkeit
                                                                                                                                                                                                                      Wie fühlt es sich an, ständig fotografiert
                                                                                                                                                                                                                          zu werden? Unser Autor ist auf
                                                                                                                                                                                                                      einer Asienreise zum Motiv geworden.

                                                                                                                                                                                                                                    6 Sagen Sie jetzt nichts 8 Gewissensfrage, Gefühlte Wahrheit, Gemischtes
                                                                                                                                                                                                                                           Doppel, Die drei großen Lügen 52 Kosmos 53 Hotel Europa
                                                                                                                                                                                                                                   54 Das Kochquartett 56 Das Kreuz mit den Worten 57 Gewinnen, Impressum
                                                                                                                                                                                                                                                            58 Das Beste aus aller Welt

                                                                                                                                                                                                                                                       W W W. G E M I S C H T E S D O P P E L-A P P. D E

                                                                                                                                                                                                                                           Unser Kartenspiel Das Gemischte Doppel für Kinder gibt es jetzt
                                                                                                                                                                                                                                               auch als App auf dem iPad: 18 Wortpaare mit kreuzweise
                                                                             E L PR I M E RO C H RONOM A S TE R 19 6 9
                                                                                                                                                                                                                                           vertauschten Buchstaben, für Leseanfänger ab 6 Jahren und alle
                                                              Der als bester Chronograph der Welt bezeichnete Zeitmesser steht in direkter                                                                                                      Fans des Gemischten Doppels. Das Memospiel trainiert

                                                                                                                                                             Fotos Inhalt: Arnaud Pyvka, Ilja Hendel, Anna Meyer
                                                              Nachfolge des legendären, 1969 eingeführten El Primero und weist die                                                                                                         die Merkfähigkeit, regt zum verspielten Umgang mit Sprache an,
W W W . Z E N I T H - W A T C H E S . C O M

                                                              unverwechselbaren Farben des ersten automatischen Hochfrequenzkalibers                                                                                                               macht ganz einfach Spaß und kostet nur 99 Cent.
                                                              mit Säulenrad auf. Eine virtuos umgesetzte mechanische Herausforderung,
                                                              die mit 36.000 Schlägen pro Stunde das außergewöhnliche Know-how der
                                                                                             Marke verkörpert.
                                                                                                                                                                                                                                                                                              Auf Facebook und Twitter ist das SZ-Magazin
                                                                                                                                                                                                                                                                                                 seit Jahren vertreten, seit Kurzem finden
                                                                                                                                                                                                                   WWW.INSTAGRAM.COM/SZMAGAZIN
                                                                                                                                                                                                                                                                                                Sie uns auch bei dem Sozialen Netzwerk
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                                                                                                                                                                                                                                                                                                dem Heft und unserem Redaktionsalltag.
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SAGEN SIE JETZT NICHTS

                                REINHOLD BECKMANN                                                                 Er kommt mit Lederjacke und Gitarrenkoffer. Ein bisschen unge-
                                                                                                                  wohnt ist das noch – nicht nur für ihn. Reinhold Beckmann, der
                                                                                                                                                                                            ihm das nicht glauben, aber man kann ihn ein bisschen aus der
                                                                                                                                                                                            Ferne beobachten, ob er es ohne die Talkshow hinkriegt. Seit zwei
                                                                                                                  Seelenstreichler der ARD, macht jetzt ganz offiziell Musik. Und wo-       Jahren gibt er schon kleinere Konzerte, nach seiner letzten Sendung
                                                                                                                  möglich kommt das gerade recht. Denn Beckmann hört mit Beck-              im Oktober will er auf große Tournee gehen. Bei allem sowieso viel-
       Geboren: 23. Februar 1956 in Twistringen Beruf: Moderator, Talkmaster, Musiker                             mann auf, freiwillig, nach 15 Jahren. Vielleicht hat ihm nichts so viel   leicht heißt sein Album, eine Mischung aus Rock, Jazz, Country und
     Ausbildung: Lehre zum Radio-, Fernseh- und Videotechniker; Studium der Germanistik,                          Respekt eingebracht wie der Verzicht auf seine eigene Sendung. Der
                                                                                                                  schlaue Hund Beckmann, hieß es danach, der endlich das Jauch-
                                                                                                                                                                                            ein bisschen Bossa Nova. Eine unserer Fragen lautet: »Wer ist ehr-
                                                                                                                                                                                            licher: der Musiker oder der Talkmaster Reinhold Beckmann?« Er
     Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften (abgebrochen) Status: Hör mal, wer da singt                        MaischbergerWillPlasbergBeckmann-Gezanke beendet. »Ich kann               zögert. »Können wir die Frage nicht schieben?«, bittet er. Wir können.
                                                                                                                  auch ohne Fernsehen glücklich sein«, hat er mal gesagt. Man muss          Vielleicht muss er die Antwort ja erst noch herausfinden.

                                                                                                                           Wie sieht es aus, wenn Sie                   Welcher Gesichtsausdruck bringt                          In welcher Haltung kann
                                                                                                                      auf der Bühne eine Ballade singen?                einen Talkmaster in Bedrängnis?                          man am besten zuhören?

                                                                                             Fotos: Frank Bauer

                                Frage an den Musiker: Mick Jagger oder Paul McCartney?                                   In welcher Haltung kann man                       Was tun Sie, wenn Sie mal                             Glauben Sie, dass Thilo
                                                                                                                   Peter Scholl-Latour am besten zuhören?                kein Fernsehen mehr machen?                            Sarrazin zärtlich sein kann?

6 Süddeutsche Zeitung Magazin                                                                                                                                                               Weitere Fragen und Bilder finden Sie auf www.sz-magazin.de und in unserer App.
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GEFÜHLTE WAHRHEIT                                               DR. DR. RAINER ERLINGER
                 Nr. 102

    Die Bedeutung der Mondlandung
                                                             GEWISSENSFRAGE
           aus heutiger Sicht
                                         »Bei meinem letzten Besuch eines Symphoniekonzerts ärgerten
                                         sich mehrere Zuhörer über ein bei leiseren Stellen deutlich
                                         hörbares Rattern und Rauschen: eine Art Beatmungsapparat
                                         einer älteren Dame. Nach kurzer Diskussion mit dem Personal
                                         wurde die Dame in der Pause aus dem Saal geführt. Ich war
                                         froh über die Ruhe, aber war das in Ordnung?« I L S E F . , D R E S D E N                                                                                                                                                                                                                   made in italy

       Wissenschaftliche Erkenntnis

       Tolle Bilder

       Smalltalk für
       Verschwörungstheoretiker

       Ermöglicht Sätze, die anfan-
       gen mit: »Da fliegen die Men-
       schen zum Mond, schaffen
       es aber nicht, dass …«

                                         Ihre Frage dreht sich um Inklusion, im Grun-    Regieräume oder ins Foyer, an einen akus-
      GEMISCHTES DOPPEL                  de die Fortsetzung der Integration. Während     tisch etwas abgeschirmten Rand oder durch
           von Patrick Fischer           bei der Integration der Betroffene in ein       Akzeptieren der Geräusche.
                                         bestehendes System eingefügt wird – oder        Das sind alles keine Ideallösungen, die es viel-
                                         hart ausgedrückt: sich dem System anpassen      leicht nie geben wird. Aber Inklusion bedeu-
                                         – soll, geht es bei der Inklusion darum, das    tet in diesem Falle auch, den Anspruch der
                                         System so zu verändern, verbessern, dass es     Besucher mit Beeinträchtigung, das Konzert
                                         für alle in ihrer Unterschiedlichkeit mög-      besuchen zu können, zunächst überhaupt an-
                                         lichst gleichermaßen geeignet ist.              zuerkennen. Dazu muss man ihn aber nicht

                                                                                                                                            Fotos: Corbis, mauritius images / Alamy; lllustration: Serge Bloch; alle Autoren-Illustrationen: Grafilu
                                         Demnach wäre es, da das Problem häufiger        allein herausstellen, über den Anspruch aller
                                         vorkommt, Aufgabe der Gesellschaft, Kon-        Besucher auf akustisch möglichst unbeein-
                                         zertsäle so zu bauen, dass sie auch Plätze      trächtigten Konzertgenuss. Vielmehr stehen
                                         für Besucher vorhalten, die auf geräuschvol-    die Ansprüche aller Konzertbesucher, gleich
                                         le Hilfsmittel angewiesen sind. Mit zwei        ob beeinträchtigt oder nicht, grundsätzlich
         Überflüssiger Schaum            Schwierigkeiten: Zum einen entstehen da-        gleichberechtigt nebeneinander. Dann jeweils
                                         durch spezielle, getrennte Bereiche für diese   eine praktikable Lösung zu suchen, ist nicht
                                         Menschen, sie werden also nur teilweise in-     nur der Weg zur Inklusion, sondern das ge-
                                         kludiert und umgekehrt sogar baulich abge-      meinsame Suchen unter Anerkennung und
                                         sondert. Zum anderen sind Umbauten meist        Abwägung aller beteiligter Interessen ist
                                         teuer und brauchen Zeit. Es müssen daher,       selbst schon Inklusion.
                                         wo das nicht möglich ist, andere Lösungen

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     A.D. nAtAliA corbettA / fotogrAfiA mArio ciAmpi
                                         gefunden werden. Das geschieht tatsächlich,
                                                                                                 Haben Sie auch eine Gewissensfrage?
                                         wie ich auf Nachfrage bei verschiedenen                 Dann schreiben Sie an
                                         Konzertsälen erfahren habe, auch laufend                DR. DR. RAINER ERLINGER
                                         von Fall zu Fall: etwa durch Ausweichen in              gewissensfrage@sz-magazin.de

         Überschüssiger Flaum

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                                                                       DIE DREI GROSSEN LÜGEN
auf www.sz-magazin.de; um eigene                                         des bayerischen Leberkäses
Vorschläge einzureichen, schreiben Sie                                                                                                                                                                                                                 AGENTUR PATRICK WEBER   Patrick Weber        FLEXFORM     SPA   gROundpiEcE
an gemischtesdoppel@sz-magazin.de                                      1) Bayerisch 2) Leber 3) Käse                                                                                                                                                   PLZ 0-5 (99, 98)        Tel. 07044-922910
                                                                                                                                                                                                                                                       Erich Drewing           Fax 07044-922922     MEDA (MB) ITALIA   design by
                                                                                                                                                                                                                                                       PLZ 6-9 (54, 55, 56)    info@italdesign.de   www.flexform.it    ANTONIO CITTERIO
8 Süddeutsche Zeitung Magazin
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E I N E S TA D T K Ä M P F T                                                                              Links: Szene einer Baile-Funk-Party, eine Art brasilianische Hip-Hop-Veranstaltung in den

       UM IHRE SEELE
                                                                                                Favelas. Die Partys arteten so oft in Gewalt und Massenschlägereien aus, dass sie inzwischen offiziell verboten sind.
                                                                                                     Rechts: Blick von einem der vielen morros (Hügel) auf den Zuckerhut (395 Meter) und die Bucht von Rio.

                             INTERVIEW: ANDREAS BERNARD, PETER BURGHARDT UND TOBIAS HABERL

Fußball-Weltmeisterschaft 2014. Olympia 2016. Brasilien dreht auf – und Rio dreht durch: Die
Immobilienpreise haben sich vervierfacht, Favelas werden mit Waffengewalt erobert und
Strände zu spaßfreien Zonen gemacht. Stürmische Zeiten für eine der aufregendsten Städte
der Welt. Wir haben elf Persönlichkeiten versammelt, um mit ihnen über die Zukunft ihrer
Heimat zu reden.                                                      Rio – ein Stadtgespräch
10 Süddeutsche Zeitung Magazin                                                                                                                                                                               Süddeutsche Zeitung Magazin 11
S ADT in Der Schwebe - sz-media
I VO P I TA N G U Y                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     F E I JÃO
      Pl a s t i s c h e r C h i r u r g                                                                                                                                                                                                                                     E D UA R D O M AC K                                                                                                                             E h e m a l i ge r
                                                                                            SANDRA
         Ist der bekannteste                                                                                                                                                                                                                                                     Fu n kt i o n ä r                                                                                                                         D ro ge n d e a l e r
                                                                                           QUINTELA
    Schönheitschirurg der Welt                                                                                                                                                                                                                                           War bis vor Kurzem Kommunika-                                                                                                                 Heißt mit richtigem
        und in Brasilien eine                                                              Ö ko n o m i n
                                                                                                                                                                                                                                                                           tionschef von Ernst & Young                                                                                                                Namen Washington
      lebende Legende. Er hat                                                              Untersucht für                                                                                                                                                            in Brasilien, einem der Hauptsponsoren                                                                                                           Dimas, wurde mit 13
           Hollywoodstars,                                                            das Forschungsinstitut                                                                                                                                                           der WM 2014 und der Olympischen                                                                                                               zum Drogendealer und
     Könige und Rockmusiker                                                            PACS, wie die Welt-                                                                                                                                                                 Spiele 2016. Er glaubt, dass                                                                                                               mit 30 verhaftet. An-
        behandelt, außerdem                                                           meisterschaft 2014 und                                                                                                                                                           beide Turniere trotz der Unruhen und                                                                                                         schließend wechselte er
       mehr als 500 Kollegen                                                             die Olympischen                                                                                                                                                                   Schwierigkeiten am Ende ein                                                                                                               die Seiten und schloss
    ausgebildet. Er ist 87 Jahre                                                      Spiele 2016 das soziale                                                                                                                                                                   Erfolg sein werden.                                                                                                                   sich der NGO Afro-
         alt und lebt zurück-                                                            Gefüge der Stadt                                                                                                                                                                                                                                                                                                             Reggae an, für die er
       gezogen in Rio und auf                                                        beeinträchtigen. Sie sagt:                                                                                                                                                                                                                                                                                                     heute weltweit Vorträge
     einer Privatinsel im Süden                                                         »Ich spüre, wie Rio                                                                                                                                                                                                                                                                                                             über Drogen und
              der Stadt.                                                               mehr und mehr seine                                                                                                                                                                                                                           E L K E M A R AV I L H A                                                             Gewalt hält.
                                                                                           Seele verliert.«                                                                                                                                                                                                                                 T V- S t a r

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   Wurde 1945 in Sankt Petersburg geboren und hat, wie
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     sie selbst sagt, in Brasilien »ihr Paradies gefunden«.
                                                                                                                                      A L I C E AU T R A N G A RC I A                                                                                                                                                War früher Model, Schauspielerin und Vorreiterin für
                             R A FA E LA
                                                                                                                                              Jo u r n a l i s t i n                                                                                                                                               sexuelle Freiheit. Bis heute setzt sie sich lautstark für die
                    M I R A N DA RO C H A                                                                                                                                                                                                                                                                                 Rechte von Schwulen und Schwarzen ein.
                             A kt i v i s t i n                                                                                       Arbeitet als Modechefin für das
                                                                                                                                 wöchentliche Magazin der Tageszeitung
   Kehrte 2013 nach einem Kunststudium in London                                                                                     O Globo. Garcia war früher selbst
 in ihre Heimatstadt Rio de Janeiro zurück und schloss                                                                           erfolgreiches Model und hat unter ande-
      sich spontan den Protesten an. Sie organisiert                                                                                rem in New York, Mailand, Lissabon                                                                                                                                                                                           K A R E N RO B E RTA
  Kulturveranstaltungen in Parks und auf Straßen, um                                                                                         und Paris gelebt.                                                                                                                                                                                                       ANDRADE
   den öffentlichen Raum von den Behörden und der
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      Po l i z i s t i n
                 Polizei zurückzuerobern.                                                                                                                                                                                                                                               PAU LO L I N S
                                                                                                                                                                                                                                                                                        Schriftsteller                                                          Ist als Militärpolizistin
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  seit drei Jahren bei
                                                                                         ERNESTO NETO                                                                                                                                                                              Sein Roman Cidade de                                                          der Friedenseinheit
                                                                                              Kü n s t l e r                                                                                                                                                                 Deus (Die Stadt Gottes), 2002 ver-                                                   UPP in der Favela                       CAIO RANGEL
                                                                                                                                                                                                                                                                               filmt, prägt bis heute den Blick                                                  Chatuba im Norden
                                                                             Gehört zu den renommiertesten Künstlern                                                                                                                                                         der Welt auf die Favelas von Rio de                                                                                             Fu ß b a l l p ro f i
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  von Rio stationiert.
                                                                           Brasiliens und hat schon im Museum of Modern                                                                                                                                                     Janeiro. Nach seinem Welterfolg hat                                                                                 Stammt aus der Favela Complexo do
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                Sie sagt: »Wir müssen
                                                                                Art in New York ausgestellt. Mit seinen                                                                                                                                                      Lins jahrelang geschwiegen. 2012                                                                               Alemão, die 2010 von der Militärpolizei erobert
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  Geduld haben, die
                                                                             Freunden trifft er sich fast jeden Abend am                                                                                                                                                    erschien sein zweiter Roman Seit der                                                                              wurde. Er spielt heute in der Jugendmann-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                Gewalt lässt sich nicht
                                                                             Strand, um die Tradition der Bossa-Nova-                                                                                                                                                                 Samba Samba ist.                                                                                           schaft von Flamengo Rio de Janeiro
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  in ein, zwei Jahren
                                                                            Cliquen aus den Fünfzigerjahren fortzuführen.                                                                                                                                                                                                                                                                   und in einem Jugend-Nationalteam Brasiliens.
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      beseitigen.«

                                           Unten am Meer, an den Stränden von        Favelas zu vertreiben und Friedensein-    14.45 Uhr: Ivo Pitanguy betritt den                                                                                                        Ist es hier in Rio denn so anders?       Der globalisierte Lebens- und Ernäh-              spiel Brasilien gegen Uruguay im
                                           Copacabana oder Ipanema, scheint der      heiten zu stationieren. »Rio soll wie     Innenhof der Villa, im Anzug, mit                                                                                                          Pitanguy: Allerdings, aber Brasilien     rungsstil ist in Brasilien angekom-               Stadion gesehen?
                                           Atlantik direkt in die sanft geschwun-    München werden«, hatte die Stadt-         Krawatte und Einstecktuch. Hinter                                                                                                          ist auch groß, die Menschen reisen       men. Und weil Rio eine Stadt ist, die             Pitanguy: Ja, ich war damals Anfang
                                           genen Hügel überzugehen. Halbnackte       regierung lange vor der Fußball-WM        ihm geht ein Leibwächter, ebenfalls im                                                                                                     viel weniger ins Ausland als ihr Eu-     einen fortwährend dazu auffordert,                zwanzig und für ein paar Tage in
                                           Menschen joggen die Promenade ent-        als Losung ausgegeben und eine Viel-      dunklen Anzug. Die Gespräche an                                                                                                            ropäer.                                  sich zu zeigen, vor allem natürlich               Rio, weil ich gerade eine Ausbil-

                                                                                                                                                                           Foto Seite 10: Vincent Rosenblatt / Agentur Focus; Seite 11: Yadid Levy / Picture Press
                                           lang, fliegende Händler bieten Garne-     zahl von Verboten und Verordnungen        manchen Tischen verstummen, andere                                                                                                         Es ist jetzt sechzig Jahre her, dass     am Strand, haben Sie sicher bemerkt,              dung zum Schönheitschirurgen in
                                           len und gekühlte Getränke an. Doch        erlassen. Die Proteste und Demonstra-     Gäste tuscheln. In Brasilien ist der                                                                                                       Sie die ersten Schönheitsoperati-        wie viele Menschen hier überge-                   den USA gemacht habe. Das Spiel
                                           das schöne Leben ist nur ein paar         tionen während des Confederations         Schönheitschirurg eine Legende.                                                                                                            onen durchgeführt haben. Wie hat         wichtig oder sogar richtig dick sind.             endete 2:1 für Uruguay.
                                           Blocks von den mehr als tausend Ar-       Cup 2013 haben gezeigt, dass dies auch                                                                                                                                               sich das brasilianische Schönheits-      In sechs Wochen beginnt in Brasi-                 Eine Schmach, die bis heute kein
                                           mensiedlungen entfernt, denen man         privilegierte Teile der Bevölkerung als   SZ-Magazin: Guten Tag, Herr Pitan-                                                                                                         ideal seitdem verändert?                 lien die Fußball-Weltmeisterschaft.               Brasilianer vergessen hat.
                                           den Namen einer Kletterpflanze ge-        Kampfansage verstanden haben. Dazu        guy, schön, dass Sie gekommen                                                                                                              Pitanguy: Früher wollten die Frauen      Sind Sie Fußballfan?                              Pitanguy: Oh ja, diese Niederlage
                                           geben hat: Favelas. Man muss sich als     kommt, dass viele Menschen nicht mehr     sind, sogar in Anzug und Krawatte                                                                                                          kleinere Brüste, heute wollen sie        Pitanguy: Natürlich. Als ich mit 16               war unendlich traurig, weil wir bes-
                                           Tourist nur ein bisschen verlaufen,       bereit sind, korrupte Beamte, explodie-   – bei der Hitze.                                                                                                                           große. Im Grunde gibt es kein bra-       aus der Nähe von Belo Horizonte,                  ser gespielt haben und den Sieg ver-
                                           schon liegen am helllichten Tag ver-      rende Preise und das Verkehrschaos zu     Ivo Pitanguy: Ach, die Krawatte tra-                                                                                                       silianisches Schönheitsideal. Bald       etwas weiter im Landesinneren,                    dient gehabt hätten. Aber dann
                                           wahrloste Menschen auf dem Gehsteig,      akzeptieren. Viele Cariocas – so heißen   ge ich nur, weil ich nachher in die                                                                                                        werden alle Menschen auf der Welt        nach Rio gekommen bin, habe ich                   macht Ghiggia, dieser Stürmer aus
                                           von denen man nicht weiß, ob sie noch     die Einwohner Rio de Janeiros – haben     Academia Nacional de Medicina                                                                                                              gleich aussehen.                         die legendären Spieler alle noch er-              Uruguay, zehn Minuten vor Schluss
                                           leben. In Rio de Janeiro werden jedes     Angst um die Seele ihrer Stadt. Höchste   muss, da bin ich inzwischen das                                                                                                            Und um welche Operation wurden           lebt, Mané Garrincha, auch den jun-               das 2:1. Sie glauben nicht, wie still
                                           Jahr mehr als 4000 Menschen ermor-        Zeit also für ein Stadtgespräch.          älteste Mitglied. Wissen Sie, für                                                                                                          Sie am häufigsten gebeten?               gen Pelé, leider war ich nur ein ein-             200 000 Menschen sein können.
                                           det. Kurz vor Beginn der Fußball-Welt-       Eingeladen haben wir unsere Gäste      mich ist Rio die schönste Stadt der                                                                                                        Pitanguy: Alles, was die Spuren des      ziges Mal im legendären Maracaña-                 Wir sind seit drei Tagen in der Stadt
                                           meisterschaft (und zwei Jahre vor den     in das Café im Parque Lage, in eine       Welt, aber München ist auch nicht                                                                                                          Alters vertuscht, vor allem Gesichts-    Stadion.                                          und können überhaupt keine Vor-
                                           Olympischen Spielen) hat die Stadt        alte Villa im Kolonialstil am Rand des    schlecht. Ich kenne die Stadt ganz                                                                                                         straffungen. In den letzten Jahren hat   Wissen Sie noch, wann?                            freude auf die Weltmeisterschaft
                                           zu kämpfen: In Erwartung der beiden       Botanischen Gartens. Vor einigen Mo-      gut, die Isar, den Englischen Garten,                                                                                                      sich das ein wenig verschoben. In-       Pitanguy: Am 16. Juli 1950. Das war               spüren. Woran könnte das liegen?
                                           Großereignisse versucht die Militär-      naten wurde hier der offizielle Spiel-    wirklich schön, und fast jeder                                                                                                             zwischen wünschen sich viele Fett-       ein historischer Moment.                          Pitanguy: Das hat mit den Protesten
                                           polizei, die Drogenkartelle aus einigen   ball für die Fußball-WM vorgestellt.      spricht Englisch.                                                                                                                          absaugungen und Bauchstraffungen.        Sie haben das legendäre WM-End-                   zu tun, die letztes Jahr während des

12 Süddeutsche Zeitung Magazin                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           Süddeutsche Zeitung Magazin 13
S ADT in Der Schwebe - sz-media
Confederations Cup in Brasilien             Schade, jetzt haben Sie Ivo Pitan-       70 000 und fast alle davon sind                                                                              lien, in Deutschland, in den USA.       dass wir unsere Probleme wie mün-         Mack: Das liegt nur daran, dass die
                              stattgefunden haben. Eine merkwür-          guy verpasst. Wir haben ihn nach         blond und blauäugig.                                                                                         Und jetzt sind eben wir dran, Brasi-    dige Bürger anpacken. Brasilien war       Cariocas keinen Bürgersinn haben.
                              dige Sache, denn eigentlich gibt es in      den Protesten im letzten Jahr ge-        Warum?                                                                                                       lien, mit allen Problemen, die ein      lang ein Kind, jetzt muss es zeigen,      Die Menschen hier sind es nicht ge-
                              Brasilien gar keine Tradition dafür.        fragt. Er meinte, er verstehe die Sa-    Quintela: Weil sich die Schwarzen                                                                            Schwellenland mit sich bringt.          dass es erwachsen geworden ist. Das       wohnt, sich zu Wort zu melden, Ent-
                              Ich verstehe es nicht ganz. Wir haben       che nicht ganz. Was halten Sie von       den Eintritt nicht mehr leisten kön-                                                                         Ernesto Neto: Kann ja sein, aber in     Problem dabei ist nur, dass wir keine     scheidungen in Frage zu stellen, For-
                              so hart für dieses Turnier gekämpft,        den Demonstrationen?                     nen. Rio wird Zeuge einer extremen                                                                           diesem Stadion gibt es nicht mal        Zeit für die Pubertät haben.              derungen zu formulieren. Das ist das
                              und dann so was. Tut mir leid, aber         Sandra Quintela: Also ich weiß           Elitebildung im Fußball. Wie heißt                                                                           mehr Stehplätze. Wir Brasilianer        Ihr ehemaliger Arbeitgeber hat            Erbe der Militärdiktatur. Ihr habt
                              ich muss langsam los, die Sitzung in        schon, warum die Menschen wü-            noch mal dieser spanische Super-                                                                             brauchen aber Stehplätze.               im Jahr 2010 eine Studie veröffent-       euch in München gegen die Winter-
                              der Akademie beginnt gleich.                tend sind. Weil die Gewinne durch        star? Xavi? Iniesta? Egal, auf jeden                                                                         Warum?                                  licht, laut der durch die WM 142 Mil-     spiele 2018 ausgesprochen. So was
                              Können Sie nicht noch ein bisschen          die WM in diesem Jahr so hoch wie        Fall stand er letztes Jahr im Finale                                                                         Neto: Damit wir Samba tanzen kön-       liarden Real in die brasilianische        wäre in Rio undenkbar.
Dr. Ivo Pitanguy, 87,         bleiben? Es kommen noch interes-            nie zuvor sein werden, aber die Bra-     des Confederations Cup und erzähl-                                                                           nen. Ihr könnt euren Rock ’n’ Roll      Wirtschaft fließen und 3,6 Millionen      Quintela: Und warum? Weil es ge-
hat zwar einen Leib-
                              sante Gäste, zum Beispiel Paulo             silianer nichts davon haben, im Ge-      te anschließend, was für große Er-                                                                           vielleicht im Sitzen tanzen, aber wir   neue Arbeitsplätze geschaffen             fährlich ist. Ich kenne etliche Leute,
wächter mitgebracht,
ist sich aber nicht           Lins.                                       genteil, alles wird teurer und vor       wartungen er an diesen mythischen                                                                            brauchen unsere Hüften, wir müs-        werden sollen.                            die gegen die Geldverschwendung
zu schade, Wasser             Pitanguy: Paulo Lins? Der hat doch          allem in Rio werden im Namen die-        Ort gehabt habe. Leider habe er                                                                              sen uns bewegen.                        Mack: Diese Studie wurde von Bera-        protestiert haben. Sie wurden be-
aus dem Pappbecher            Die Stadt Gottes geschrieben.               ser WM jeden Tag neue Verbote er-        nichts gespürt, keinen Mythos, kei-                                                                          Quintela: Vorher konnte man für         tern gemacht, nicht von mir.              schimpft, verfolgt und angeklagt. In
zu trinken.
                              Ja. Haben Sie den Roman gelesen?            lassen, die den Menschen das Leben       ne Gänsehaut, nichts.                                                                                        zehn Real ins Stadion gehen, das        Elke Maravilha: Aber es ist doch ein      Rio herrscht eine militante Stim-
                              Pitanguy: Nein, nur den Film gese-          schwer machen. Warum glauben Sie,                                                                                                                     sind drei Euro. Das Stadion war ein     Skandal, dass wegen der Bauarbei-         mung. Die Stadt hat allein dreißig

                                                                                                                                                          Fotos: Toby Binder; Julio Bittencourt; Francesco Zizola/NOOR / laif
                              hen, anstrengend, aber großartig.           finden die nächsten Weltmeister-         Fünf Minuten später kommt, nein, er-                                                                         Tempel, ein heiliger Ort des Fuß-       ten Tausende von Familien ihre            Millionen Real für Gummigeschosse
                                                                          schaften in Russland und Katar statt?    scheint Elke Maravilha, außerdem der                                                                         balls. Und jetzt wird diese WM          Häuser verlassen mussten. Für die         und Munition ausgegeben, das muss                       Eduardo Mack, 48,
                              Er nimmt einen letzten Schluck Wasser,      Weil es viel komplizierter ist, so ein   Künstler Ernesto Neto. Sie hat ihr                                                                           34 Milliarden Real kosten, das sind     Olympischen Spiele sollen ja noch         man sich mal vorstellen.                             und Sandra Quintela,
                              verneigt sich, hakt sich bei seinem Body-   Turnier in einem demokratischen          blondes Haar zu einem riesigen Afro                                                                          ungefähr zehn Milliarden Euro, und      mal 30 000 umgesiedelt werden.                                                                50, diskutieren: Ist das
                              guard ein und geht. Draußen wartet ein      Land durchzuführen.                      aufgetürmt, er trägt abgeschnittene                                                                          die Hälfte davon kommt aus den          Quintela: Investoren fallen in die        17 Uhr: Rafaela Miranda Rocha                           Maracaña-Stadion
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           durch den Umbau
                              schwarzer Jeep mit getönten Scheiben.       Dafür wurde das Maracaña-Stadion         Jeans und Flipflops.                                                                                         Kassen des Staates, der Bundesländer    Stadt ein und kaufen alles auf.           kommt an den Tisch, noch etwas außer                moderner oder seelen-
                              Zehn Minuten später kommen die              auf den neuesten Stand gebracht.                                                                                                                      und der Kommunen. Dieses Geld           Das haben wir auch gelesen. Allein        Atem – sie ist mit dem Rad gefahren                       loser geworden?
                              nächsten Gäste: die Ökonomin Sandra         Quintela: Auf den neuesten Stand         Eduardo Mack: Aber das Maracaña-                                                                             bräuchten wir aber für unsere Schu-     in den letzen fünf Jahren haben sich      – eine zierliche Person, die erst minu-
                              Quintela und Eduardo Mack. Eine per-        nennen Sie das? Die Wahrheit ist, das    Stadion musste umgebaut werden.                                                                              len, Straßen und Krankenhäuser.         die Mieten verdoppelt und die Im-         tenlang zuhört und schweigt. Dann
                              fekte Kombination, weil sie: eher links,    Stadion hat jegliche Aura verloren.      Es gab kaum Ausgänge und viel zu                                                                             Mack: In den letzten Jahren haben       mobilienpreise vervierfacht.              wird sie das erste Bier des Abends be-
                              kritisch, intellektuell, und er: bis vor    Es ist überhaupt kein Stadion mehr,      wenig Toiletten. Es entsprach ein-                                                                           alle geschwärmt: Brasilien, der erwa-   Quintela: Ich wohne seit 19 Jahren        stellen und richtig loslegen. Kurz da-
                              Kurzem tätig für Ernst & Young, einen       sondern eine Arena für das Fernse-       fach nicht den Sicherheitsvorschrif-                                                                         chende Riese, der nächste Global        in dieser Stadt und spüre, wie sie im-    rauf kommt eine SMS von Alice Au-
                              der Großsponsoren der WM. Beide             hen, nicht mehr für die Menschen.        ten. In den letzten fünfzig Jahren                                                                           Player, und heute? Haben wir immer      mer mehr ihre Seele verliert, weil die    tran Garcia, Modechefin bei der Zei-
                              bestellen Wasser, das in Pappbechern        Früher hatten im Maracaña 200 000        fand die Fußball-WM nur in hoch                                                                              noch die gleichen Probleme. Jetzt       normalen Menschen immer weiter            tung »O Globo«: »Sorry, stecke im
                              serviert wird.                              Menschen Platz, heute sind es noch       entwickelten Ländern statt, in Ita-                                                                          können wir der ganzen Welt zeigen,      in die Vororte gedrängt werden.           Stau, komme später.«                 >>

                   DER STRAND                                                                                                                                                                                                                                                                             Der schicke Strandabschnitt von Ipanema täuscht über die wahren
                                                                                                                                                                                                                                                                                                     Verhältnisse hinweg: Die Hälfte aller Brasilianer ist inzwischen übergewichtig.
             in Rio de Janeiro ist mehr als
          ein Badeort. Er ist ein Identifika-
              tionssymbol und vor allem
           seelisches Zuhause der Cariocas.
               Hier treffen sie sich, zum
              Reden, Feiern, Grillen und
          Fußballspielen. Der Strand ist in
            verschiedene Abschnitte unter-
         teilt, von denen jeder knapp einen
             Kilometer lang ist und unter-
         schiedliche soziologische Gruppen
            beheimatet. Als Grenzmarkie-
          rungen dienen sogenannte Postos
             (nummerierte Strandkioske).
               Legendär sind die Strände
           von Ipanema, Copacabana und
              Leblon, an denen Tausende
             von Kleinhändlern Getränke,
         gegrillten Käse und bunt bedruck-
              te Badetücher aus dünnem                               Oben: Zwei Sorten von Menschen, denen man
         Stoff verkaufen, denn eines würde                     am Strand von Copacabana oft begegnet: rüstige Renter
                ein Carioca nie machen:                           und Müllsammler. Rechts: Ein paar Kilometer weiter
                 ein Handtuch mit zum                           liegt ein künstlicher See namens »Piscinão de Ramos«,
                     Strand nehmen.                                 an den vor allem Menschen aus den Slums und
                                                                              Favelas zum Baden kommen.

14 Süddeutsche Zeitung Magazin                                                                                                                                                                                                                                                                                                                             Süddeutsche Zeitung Magazin 15
S ADT in Der Schwebe - sz-media
Quintela: Habt ihr eigentlich mitbe-     durch Touristen abgeschreckt wer-         bin letztes Jahr nach Rio zurückge-        Kokoswasser, dürfen die Nüsse aber     Garcia: Manchmal kommt man sich            Stunde im Stau stehen. Und wenn er
                            kommen, dass vor ein paar Tagen          den. Nur weil diese Männer aus den        kommen. Ich kann euch sagen, ich           nicht mehr mit der Machete aufma-      in dieser Stadt vor, als wäre man im       da ist, wird er anders angesehen, an-
                            eine Frau angeschossen und von           Favelas kommen, ein bisschen rie-         erkenne meine Stadt nicht wieder.          chen. Zu gefährlich, sagen die Be-     Krieg. Also ich kriege Angst, wenn         ders behandelt, anders wahrgenom-
                            Polizisten ins Krankenhaus gefahren      chen und nicht ganz so schick aus-        Was hat sich in Rio verändert?             hörden, also müssen die Verkäufer      die Stoßtrupps anrücken, ich meine,        men. Wenn am Strand auf einmal
                            wurde? Auf dem Weg fiel sie aber         sehen.                                    Rocha: Ich weiß aus meiner Zeit in         mit einer Bohrmaschine ein Loch in     deren Logo sind zwei gekreuzte Re-         viele Schwarze sind, spürt man rich-
                            aus dem Kofferraum, wurde vom                                                      London, was Gentrifizierung bedeu-         die Nuss bohren, damit man einen       volver und ein Totenkopf, das sagt         tig, wie manche Menschen panisch
                            Auto mitgeschleift und starb. Sie        17.30 Uhr: Ein schlanke, große Frau       tet, aber hier läuft alles viel brutaler   Strohhalm reinstecken kann. Es ist     doch alles.                                werden.
                            war 38 Jahre alt und hatte vier Kin-     kommt in den Innenhof: Alice Autran       ab. Die Leute werden ja mit Bulldo-        lächerlich. Glauben Sie mir, die       Neto: Dabei braucht sie kein               Neto: In Rio gibt es ein Sprichwort:
                            der. Und jetzt berichten seit Tagen      Garcia, früher Model, jetzt Modechefin    zern aus ihren Häusern vertrieben.         würden am liebsten verpackte Ko-       Mensch. Früher haben sich die Ki-          »Ein weißer Mann, der den Strand
                            sämtliche Zeitungen darüber. Auf         des Magazins der Tageszeitung »O Glo-     Ich komme aus einer bürgerlichen           kosnüsse von Heineken verkaufen.       oskbesitzer um ihren Strandab-             entlangläuft, ist ein Exzentriker. Ein
Der Künstler Ernesto        einmal sprechen alle nur noch von        bo«. Auch sie trägt Flipflops: »Sorry«,   Familie, ich kann mich nicht bekla-        Gestern wurden wir am Strand von       schnitt gekümmert. Sie haben den           schwarzer ist ein Dieb.« Trotzdem ist           Pitanguy ist nicht
Neto, 49, verbringt                                                                                                                                                                                                                                                                        nur der Star in der
so viel Zeit wie
                            »der Mitgeschleiften«. Wenn jeman-       sagt sie, »ich stand ungelogen neunzig    gen, aber ich erkenne die Logik und        zwei Verkäufern auf Englisch ange-     Müll aufgesammelt und Streitereien         der Strand immer noch liberaler als          Runde, sondern auch
möglich am Strand.          dem aus der Mittelschicht so etwas       Minuten im Stau.«                         lehne sie ab. Ich gehe zum Beispiel        sprochen. Wie haben sie erkannt,       geschlichtet.                              andere Orte. Es gibt Restaurants, da             der Eleganteste.
Man sieht es ihm an.        passiert, wird darüber berichtet,                                                  in keinen Club mehr, wo ich Eintritt       dass wir keine Cariocas sind?          Garcia: Ganz so einfach ist es auch        lassen sie Schwarze nicht mal rein.
                            dann bekommt das Opfer einen Na-         Neto: Hey, Alice, du bist auch hier.      bezahlen muss, sondern feiere am           Garcia: Sicher habt ihr eine Zeitung   nicht, Ernesto. Erst heute morgen          Rocha: Kann alles sein, ich will ja
                            men. In Rio passieren aber jeden Tag     Schön, dich zu sehen.                     Strand. Ich fahre auch nicht mehr          oder ein Buch gelesen.                 habe ich wieder mitbekommen, wie           nur sagen, dass die Südzone mit ih-
                            Dutzende Unfälle und Morde, für          Wie, Sie beide kennen sich?               mit dem Bus, sondern mit dem Rad.          Nein.                                  eine Frau ausgeraubt wurde.                ren schicken Vierteln eine Blase ist,
                            die sich kein Mensch interessiert.       Alice Garcia: Ja, ich war mal mit         Ich bin durch die hohen Preise und         Neto: Lagt ihr auf Handtüchern?        Neto: Na und? So ist das Leben, ab         und dass ich immer mehr das Be-
                            Rafaela Miranda Rocha: Und wisst         einem Freund von Ernesto zusam-           die Stimmung in der Stadt stark po-        Auch nicht.                            und zu wird man eben bestohlen.            dürfnis habe, mit Leuten aus dem
                                                                                                               litisiert worden und spüre, dass es        Garcia: Gut, denn normalerweise        Rocha: Ich bin inzwischen sicher,          Norden in Kontakt zu kommen. Die
                                                                                                               Tausenden von jungen Menschen              erkennen wir euch Gringos an Zei-      dass die Regierung kleinere Ver-           haben Probleme, von denen haben
           »Viele Brasilianer rennen ihrem stumpfen Ideal von                                                  genauso geht.
                                                                                                               Herr Neto, wie hat sich das Strand-
                                                                                                                                                          tungen oder Handtüchern, das ma-
                                                                                                                                                          chen wir Brasilianer nämlich nicht.
                                                                                                                                                                                                 brechen wie Diebstahl absichtlich
                                                                                                                                                                                                 durchgehen lässt, damit die Men-
                                                                                                                                                                                                                                            wir hier noch nie
                                                                                                                                                                                                                                            was gehört.
           Luxus und Schönheit hinterher. Sie glauben gar nicht,                                               leben im Zuge der WM-Vorberei-             Rocha: Es ist die Körpersprache. Ihr   schen sich unsicher fühlen und nach        Der Strand ist in ver-
           wie innig sich viele wünschen, europäisch zu sein«                                                  tungen verändert?
                                                                                                               Neto: Vor zwei Jahren hat mich eine
                                                                                                                                                          bewegt euch anders.
                                                                                                                                                          Garcia: Rucksäcke sind auch ein Er-
                                                                                                                                                                                                 der Polizei rufen. Die Reichen und
                                                                                                                                                                                                 die Touristen sollen sich bedroht
                                                                                                                                                                                                                                            schiedene Bereiche
                                                                                                                                                                                                                                            unterteilt, als Mar-
                                                                                                               deutsche Journalistin genau das            kennungszeichen. Oder wenn Frau-       fühlen, nur so lässt sich diese Polizei-   kierungen dienen
                                                                                                               Gleiche gefragt. Damals habe ich           en abseits des Strandes im Bikini      präsenz legitimieren.                      sogenannte Postos.
                            ihr, was ich gehört habe? Dass genau     men. Wir haben uns am Strand ken-         mich beschwert, weil gerade Dut-           durch die Stadt laufen, das machen     Wie kommen Sie auf diese Theorie?          Wo gehen Sie am
                            diese Polizisten schon 64 Menschen       nengelernt.                               zende absurder Verbote unser               nur Touristen, auch brasilianische,    Rocha: In Rio gibt es einen riesigen       liebsten hin?
                            getötet haben, und zwar offiziell le-    Sind Sie noch zusammen?                   Strandleben kaputtzumachen droh-           aber keine Menschen aus Rio.           Park namens Parque do Flamengo.            Neto: Über diese
                            gitimiert, also im Dienst. Ich meine,    Garcia: Nein, nicht mehr.                 ten. Die Stadtverwaltung hatte die         Warum lesen die Menschen nicht         Früher bin ich da oft joggen gegan-        Frage könnte man
                            wie kann man noch Polizist sein,         Neto: Sehen Sie, das ist brasilia-        Operação Choque de Ordem ausge-            am Strand?                             gen, aber inzwischen traut sich fast       einen zweistündi-
Elke Maravilha, 69,
                            wenn man 64 Menschen auf dem             nische Strandkultur. Sie führt die        rufen, die »Operation Ordnungs-            Rocha: Also ich lese schon.            keiner mehr hin, weil dort Hunderte        gen Dokumentar-
ist eine Art Nina
Hagen von Rio de            Gewissen hat? Die Polizei in Brasi-      Menschen zusammen und wieder              schock«, vor allem für den Strand.         Garcia: Aber da bist du echt eine      von Gangs und kriminellen Jugend-          film drehen. Die
Janeiro: schrill, provo-    lien ist kriminell und die Medien        auseinander. Alles fließt, alles ist in   Mit welchen Konsequenzen?                  Ausnahme.                              lichen abhängen, die Passanten vom         Soziologie        des
kant, liebenswert.          sind rechtslastig, das ist ein Riesen-   Bewegung. So mag ich es.                  Neto: Sie haben verboten, dass Kin-        Rocha: Stimmt schon, die Brasilia-     Rad stoßen, ausrauben und bedro-           Strandes ist eine
                            problem.                                 Frau Garcia, Sie arbeiten bei O Glo-      der Drachen steigen lassen. Sie haben      ner lesen generell kaum. Sie reden     hen. Trotzdem ist weit und breit kein      Wissenschaft       für
                            Neto: Also ich lese schon lange          bo. Was sagen Sie dazu, dass Ernes-       verboten, dass wir laut Musik hören.       lieber miteinander.                    Polizist zu sehen. Verstehen Sie?          sich, weil der Strand
                            nicht mehr, was O Globo schreibt.        to Neto Ihren Arbeitgeber ablehnt?        Sie haben verboten, dass Kleinhänd-        Garcia: Deswegen sind hier ja alle     Nicht ganz.                                in viele Abschnitte
                            Rocha: Aber die Menschen lassen          Garcia: Hey, ich bin die Mode-            ler ihren queijo coalho verkaufen, den     so süchtig nach Telenovelas. Weil      Rocha: Na, die überlassen manche           untergliedert ist, die
                            sich davon beeindrucken und ren-         chefin, ich bin nicht für die Schlag-     Käse am Stiel, der in Handöfchen           die Handlung einfach und klischee-     Gegenden sich selbst. Die kümmern          ihrerseits wieder un-
                            nen weiter ihrem stumpfen Ideal          zeilen verantwortlich.                    gegrillt wird, nur weil sich mal ein       haft ist. Bücher sind den meisten      sich nur um die schicken Stadtteile.       terteilt sind.
                            von Luxus und Schönheit hinterher.       Rocha: Aber du musst doch zuge-           Typ den Magen verdorben hat. Sie           Menschen zu komplex.                   Zum Glück hat heute fast jeder ein         Garcia: Die Atmosphäre ändert sich                   Oben: Rafaela
                            Sie glauben gar nicht, wie innig sich    ben, dass die Zeitungen die Proteste      haben verboten, dass wir bunte Son-        Rocha: Und wer ist wieder mal          Smartphone mit Kamera. Für einen           alle fünfzig Meter. Auf einmal sehen           Miranda Rocha, 30,
                                                                                                                                                                                                                                                                                           erklärt Alice Garcia,
                            viele Brasilianer wünschen, europä-      letztes Jahr komplett verzerrt und        nenschirme aufstellen, erlaubt waren       schuld? Dein Arbeitgeber Globo.        Polizisten kann eine Kamera gefähr-        die Menschen anders aus, bewegen                dass sie deren Ar-
                            isch zu sein, es ist absurd.             vereinfacht dargestellt haben.            nur noch rote, blaue und gelbe. In-        Dieser Konzern ist machiavellis-       licher sein als eine Waffe. Sie glau-      sich anders, tragen andere Klamot-             beitgeber Globo für
                            Neto: Stimmt. In den Schulen brin-       Inwiefern?                                zwischen haben wir den Strand zu-          tisch organisiert, ein Oktopus mit     ben gar nicht, was am Strand so den        ten.                                                 gefährlich hält.
                            gen sie es sogar unseren Kindern         Rocha: Die Demonstranten hatten           rückerobert. Die können vielleicht         hundert Armen, der die Menschen        ganzen Tag passiert, wie willkürlich       Neto: Es gibt den Strand für die Lin-
                                                                                                                                                                                                                                                                                               Unten: Ernesto
                            bei. Dabei liegen unsere Wurzeln in      eine Agenda, eine Liste mit klar de-      das Maracaña-Stadion, aber nicht un-       auf allen Kanälen verdummt und         es da zugeht. Alle behaupten immer,        ken, für die Schwulen, für die Schö-               Neto und Alice
                            Afrika. Ich weiß nicht, warum das        finierten Forderungen, zum Beispiel,      sere Seele kaputtmachen.                   dem man nicht entkommen kann.          der Strand in Rio sei ein demokra-         nen, für die Familien, für die Rent-             Autran Garcia er-
                            keiner wahrhaben will. Ihr kennt         dass die Buspreise reduziert werden       Welche Rolle spielt der Bürgermeis-        Mit achtzig Millionen Zuschauern       tischer Ort, aber das ist ein Mythos.      ner, für die Kiffer …                               läutern, wer in
                            doch diese Typen, die am Strand rie-     müssen. Aber die Journalisten ha-         ter der Stadt?                             betreibt er das drittgrößte Fernseh-   Wo sind die Strände denn? In Ipane-        Garcia: … für die Paulistas.                      Rio an welchen
                                                                                                                                                                                                                                                                                                  Strand geht.
                            sige Sandburgen bauen.                   ben diese Forderungen überhaupt           Neto: Der steckt mit Coca-Cola und         netzwerk weltweit. Aber jetzt mal      ma, in Leblon, in Copacabana, im-          Die Menschen aus São Paulo?
                            Haben wir gesehen. Sieht toll aus.       nicht thematisiert. Sie haben auch        Heineken unter einer Decke. Vor            was anderes: Ich bin heute morgen      mer nur da, wo die Reichen wohnen.         Garcia: Ja, die wohnen fast alle in
                            Neto: Finde ich auch. Und wissen         nicht recherchiert, ob sie zu Recht       zwei Jahren hat er offiziell verboten,     von Leblon aus Richtung Ipanema        Neto: Jetzt übertreibst du, in Rio         den schicken Hotels in Ipanema.
                            Sie, was? Genau das wollen die           aufgestellt wurden. Alle haben nur        am Strand Kokoswasser zu trinken,          am Strand entlanggeradelt. Ihr         kann jeder zum Strand gehen. Es gibt       Wer aus São Paulo kommt und ein
Alice Autran Garcia,
                            Stadtbehörden verbieten.                 über den Vandalismus berichtet,           weil das ja das Geschäft der großen        könnt euch nicht vorstellen, wie       in Brasilien keine Privatstrände.          paar Tage in der Stadt ist, legt Wert
38, war auf der
Parsons School of           Warum?                                   weil das Auflage bringt. Ich habe         Getränkekonzerne kaputtmacht. In-          viele Polizisten da am Strand          Rocha: Schon, aber wer aus dem             darauf, sich am Strand einen Long-
Design in New York.         Neto: Weil sie Angst haben, dass da-     drei Jahre in London studiert und         zwischen trinken wir wieder unser          waren.                                 Norden kommt, muss erst mal eine           drink servieren lassen zu können. Sie

16 Süddeutsche Zeitung Magazin                                                                                                                                                                                                                                                 Süddeutsche Zeitung Magazin 17
S ADT in Der Schwebe - sz-media
glauben gar nicht, wie anders die        siert, ihr braucht mehr Leben und           die Straße gegangen, um gegen die
                                                                                                                                                                                                                                                             Menschen dort sind.                      weniger Kontrolle.                          Wohnungsnot, niedrige Löhne, Kor-
                                                                                                                                                                                                                                                             In einem Stadtporträt haben wir ge-      Quintela: Kapitalismus ist Kontrolle.       ruption und die Preiserhöhung im
                                                                                                                                                                                                                                                             lesen: »Rio ist Kreativität, São Paulo   Das hat Karl Marx schon vor 200             Nahverkehr zu protestieren. Verste-
                DIE PROTESTE                                                                                                                                                                                                                                 Eleganz, Rio ist Karneval, São Paulo     Jahren gesagt.                              hen Sie diese Menschen?
                                                                                                                                                                                                                                                             Kunstmesse, Rio ist Eitelkeit, São       Neto: Und jetzt seid mir bitte nicht        Paulo Lins: Ja, aber dazu muss man
             Im Juni 2013 fanden in Rio                                                                                                                                                                                                                      Paulo Effizienz.«                        böse, aber ich muss los, meine Kin-         die Geschichte Brasiliens kennen;
         de Janeiro, aber auch in anderen
                 Städten Brasiliens, die
                                                                                                                                                                                                                                                             Garcia: Das kommt ungefähr hin. In       der warten zu Hause.                        wir haben hier einiges hinter uns:
            heftigsten Bürgerproteste seit                                                                                                                                                                                                                   São Paulo wird man als Erstes ge-                                                    400 Jahre Kolonialisierung, 300 Jahre
           dem Ende der Militärdiktatur                                                                                                                                                                                                                      fragt, was für einen Job man hat.        Neto nimmt einen letzten Schluck Bier,      Sklaverei und von 1964 bis 1985 eine
                im Jahr 1985 statt. Aus-                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         Paulo Lins, 55, und
                                                                                                                                                                                                                                                             In Brasilia, welches Sternzeichen        steht auf, umarmt alle, die noch hier       grausame Militärdiktatur, die von
              gelöst wurden die Unruhen                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           Feijão, 38, wurden
                                                                                                                                                                                                                                                             man ist. Und in Rio, an welchen          sind, und schlurft in den Abend. Es ist     den USA und Europa unterstützt                beide in einer Favela
           durch eine Erhöhung der Bus-
             tarife, die Hunderttausende                                                                                                                                                                                                                     Strandabschnitt man geht.                dunkel geworden, auch milder.               wurde. Als Brasilien Mitte der Acht-             geboren. Sie sind
         zum Anlass nahmen, gegen Kor-                                                                                                                                                                                                                       Quintela: War ja klar, dass wir früher                                               ziger demokratisch wurde, dachten                   sich einig: »Die
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     Polizisten in Rio
               ruption, Preiswucher und                                                                                                                                                                                                                      oder später über den Strand reden.       Haben Sie Angst, nachts durch Rio           alle, dass es jetzt bergauf geht, mit
          soziale Missstände zu demons-                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         gehen willkürlich und
                                                                                                                                                                                                                                                             Jetzt denken wieder alle, Rio besteht    de Janeiro zu laufen?                       der Infrastruktur, der Qualität der                  zu brutal vor.«
          trieren. Am Abend des 20. Juni
               gingen in ganz Brasilien
                                                                                                                                                                                                                                                             nur aus guter Laune. Dabei gibt es       Garcia: Ich schon.                          Schulen, dem Gesundheitssystem,
            insgesamt eine Million Men-                                                                                                                                                                                                                      hier Tausende von Menschen, die          Rocha: Wenn du einmal ausgeraubt            aber bis heute ist nichts passiert. Und
                  schen auf die Straße.                                                                                                                                                                                                                      den Strand noch nie zu Gesicht be-       worden bist, verändert es dich, egal        jetzt müssen die Menschen zuschau-
                                                                                                                                                                                                                                                             kommen haben.                            wie cool du bist.                           en, wie Milliarden in diese WM inves-
                                                                                                                                                                                                                                                             Keine Sorge, Frau Quintela, wir er-      Wurden Sie schon ausgeraubt?                tiert werden, ohne dass irgendje-
                                                                                                                                                                                                                                                             warten noch den Schriftsteller Pau-      Rocha: Einer hat es mal versucht. Er        mand nach ihren Bedürfnissen fragt.
                                                                                                                                                                                                                                                             lo Lins und den ehemaligen Dro-          wollte mein Handy und meine Ta-             Sind Sie deswegen nach São Paulo
                                                                                                    Oben: Protestmarsch im Juni 2013 rund um                                                                                                                 genhändler Feijão, da werden si-         sche. Ich habe ihm einfach Geld             gezogen?
                                                                                               den Guanabara-Palast, dem Sitz des Gouverneurs des                                                                                                            cher auch andere Themen zur              hingeworfen, damit hat er sich zu-          Lins: Nein, für meinen achtjährigen
                                                                                                  Bundesstaates Rio de Janeiro. Links: Die Polizei                                                                                                           Sprache kommen. Wie ist das über-        frieden gegeben.                            Sohn. Der lebt dort mit seiner Mut-
                                                                                              ging mit Tränengas, Gummigeschossen und gepanzerten
                                                                                                                                                                                                                                                             haupt, haben Sie mit Menschen aus        Garcia: Hatte er eine Pistole?              ter. Ich vermisse Rio, ganz klar, aber
                                                                                                  Fahrzeugen gegen die friedlich demonstrierende
                                                                                                     Menge vor. Allein in der Stadt Rio wurden                                                                                                               Favelas zu tun?
                                                                                                               44 Menschen verletzt.                                                                                                                         Neto: Natürlich, ich wohne sogar
                                                                                                                                                                                                                                                             direkt gegenüber von einer. Und
                                                                                                                                                                                                                                                             wissen Sie, was das Problem ist? Die
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    »Wenn du in Rio überfallen wirst, hilft dir keiner.
                                                                                                                                                                                                                                                             Favelas werden immer mehr zu ei-                     Weil niemand wegen jemandem erschossen werden
                                                                                                                                                                                                                                                             ner Location, einer folkloristischen
                                                                                                                                                                                                                                                             Szenerie, mit der sich die Menschen
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     möchte, den er noch nie im Leben gesehen hat«
                                                                                                                                                                                                                                                             schmücken, ohne dass die Bewohner
                                                                                                                                                                                                                                                             was davon haben. Es gibt zum Bei-
                                                                                                                                                                                                                                                             spiel einen französischen Typen, der     Rocha: Ich glaube ja, aber er hat sie       São Paulo ist auch eine faszinieren-
                                                                                                                                                                                                                                                             hat mitten in einer Favela ein Hotel     nicht gezogen.                              de Stadt, mit unglaublich vielen
        Solange sie spielen, schießen sie nicht: Die Favela Morro da Mineira gehört zu den                                                                                                                                                                   eröffnet, wo er eine Party nach der      Garcia: Man fühlt es, stimmt’s? Man         Einwanderern, Japanern, Peruanern,
         rund vierzig Armensiedlungen in Rio, in denen eine Polizeieinheit stationiert ist.                                                                                                                                                                  anderen schmeißt. Und die Leute          fühlt, wie weit der andere geht.            Italienern, das macht die Stadt kul-
                                                                                                                                                                                                                                                             kommen in Scharen, weil sie es cool      Kommt es vor, dass Passanten ein-           turell und kulinarisch aufregend. In
                                                                                                                                                                                                                                                             finden, in einer so brutalen und ge-     springen, um zu helfen?                     São Paulo leben noch mal acht Mil-
                                                                                                                                                                                                                                                             walttätigen Gegend abzufeiern.           Garcia: Ausgeschlossen.                     lionen Menschen mehr, dagegen

                                                                                                                                                              Fotos: dpa picture alliance / Felipe Dana (2); Francesco Zizola / Noor / laif; Frederik Buix
                                                                                                          Das legendäre Maracaña-Stadion während der                                                                                                         Rocha: Und im Gegenzug werden            Warum?                                      wirkt Rio fast beschaulich.
                                                                                                        Umbauarbeiten im Jahr 2012. Früher fasste die Arena                                                                                                  die Baile-Funk-Partys verboten.          Garcia: Weil keiner wegen jeman-
                                                                                                          200 000 Menschen, jetzt nur noch gut 70 000.
                                                                                                                                                                                                                                                             Baile Funk? Was ist das?                 dem erschossen werden möchte, den           19 Uhr: Feijão (dt. Bohne), ehemaliger
                                                                                                                                                                                                                                                             Rocha: Das ist Hip-Hop aus Brasi-        er noch nie im Leben gesehen hat.           Drogenhändler, betritt den Innenhof.       Feijão hat mal nach-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                             gezählt: Im Laufe
                                                                                                                                                                                                                                                             lien mit Texten, die sich um Drogen,                                                 Er trägt ein T-Shirt von Tommy Hil-        seines Lebens hat er
                                                                                                                                                                                                                                                             Sex und Gewalt drehen. Klar mögen        18.30 Uhr: Es kommt Paulo Lins, eine        figer und eine Sonnenbrille. Er wohnt      300 Freunde und
                                                                                                                                                                                                                                                             die das in den Favelas. Das ist ihre     Stunde später als vereinbart – der Ver-     weit im Norden der Stadt. Als Elke         Bekannte durch Schie-
                                                                                                                       DIE FUSSBALL-WM
                                                                                                                                                                                                                                                             Kultur, ihr Leben.                       kehr, was sonst? Er ist extra aus São       Maravilha ihn sieht, ruft sie aus: »Oh,    ßereien verloren.
                                                                                                                  Laut einer Umfrage freuen sich 63                                                                                                          Neto: Ich weiß noch, wie ich am          Paulo gekommen, wo er inzwischen            Bohnen vernasche ich für mein Leben
                                                                                                              Prozent der Brasilianer auf die Fußball-                                                                                                       24. Dezember gegen zwei Uhr vor          lebt, und verlässt alle paar Minuten        gern.« Darauf Feijão: »Sind ja auch
                                                                                                                   Weltmeisterschaft. Das ist nicht
                                                                                                              viel für ein Volk, das sich als fußballver-
                                                                                                                                                                                                                                                             die Tür gegangen bin. Sie können         den Tisch, um zu rauchen, Tabak um-         nahrhaft …«
                                                                                                                   rückt bezeichnet. Grund für die                                                                                                           sich nicht vorstellen, was in der Fa-    hüllt von getrockneten Maisblättern.
                                                                                                             Skepsis sind die gut zehn Milliarden Euro,                                                                                                      vela los war. Die Menschen haben         »Nicht industriell hergestellt«, sagt er,   Feijão, Paulo Lins, dürfen wir vor-
                                                                                                                  die das Turnier kostet – Geld, das                                                                                                         getanzt und gesungen, die haben          »wirkt fast wie Dope.«                      stellen?
                                                                                                               viele lieber für Schulen, Krankenhäuser
                                                                                                                                                                                                                                                             Weihnachten gefeiert, wie ihr es in                                                  Feijão: Danke, danke, nicht nötig,
                                                                                                              und Straßen ausgeben würden. Das WM-
                                                                                                               Finale findet am 13. Juli im Maracaña-                                                                                                        Deutschland gar nicht mehr kennt.        Herr Lins, am 20. Juni 2013 sind in         ich kenne diesen Mann, jeder in
                                                                                                                    Stadion in Rio de Janeiro statt.                                                                                                         Glaubt mir, euer Land ist zu organi-     Brasilien eine Million Menschen auf         Brasilien kennt ihn.         >>

18 Süddeutsche Zeitung Magazin                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        Süddeutsche Zeitung Magazin 19
In Rio leben 1,2 Millionen Menschen     den, aber die war nie da, weil sie      Roten Phalanx das Comando Ver-
                            in Favelas. Auch Sie beide sind in      arbeiten musste. Ich bin zwar zur       melho, das Rote Kommando, die                                                                                                                                                                                                  Die Bodentruppen erhalten Unterstützung aus
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      der Luft. Bei der Eroberung von Favelas kommt es regel-
                            einer groß geworden. Wie hat sich       Schule gegangen, trotzdem hatte         größte Drogenorganisation in ganz                                                                                                                                                                                          mäßig zu Schießereien und immer sterben Menschen.
                            die Situation in Rios Armenvierteln     mein Tag überhaupt keine Struktur.      Brasilien, mit 5000 schwer bewaff-
                            seit Ihrer Jugend verändert?            Ich weiß noch, wie sehr ich mir da-     neten Kriminellen.
                            Lins: Früher liefen die Drogendealer    mals ein Fahrrad gewünscht habe,        In den vergangenen Monaten wurde
                            mit Maschinengewehren durch die         aber daran war nicht mal zu denken.     die Militärpolizei UPP auf mehr als
                            Gassen, heute nicht mehr, zumindest     Und dann habe ich mitbekommen,          12 000 Mitglieder aufgestockt.
                            nicht in den befriedeten Favelas.       was sich die Drogendealer alles leis-   Lins: Die Regierung glaubt, dass sie
                            Aber von den 1000 Favelas, die es       ten können, Autos, coole Klamotten,     die Lage so unter Kontrolle bringen
Die Polizistin Karen        in Rio de Janeiro gibt, stehen doch     und was für ein Ansehen sie bei den     kann, aber das macht sie nur aus
Roberta Andrade, 33,
hört Feijão aufmerk-
                            nur vierzig unter Polizeischutz.        Leuten genießen. Ist doch klar, dass    Imagegründen, weil die WM bald
sam zu. Sie glaubt:         Feijão: Stimmt, in vielen Favelas vor   man da auch einer werden möchte.        anfängt. Man müsste viel weiter vor-
Die Befriedung der          allem im Norden der Stadt leisten       Ich meine, die hatten Maschinen-        ne ansetzen, bei den Kindern und
Favelas wird langfristig    die Drogenkartelle heftigen Wider-      gewehre, wie ich sie vorher nur in      Jugendlichen. Es wird doch niemand
erfolgreich sein.
                            stand. Erst neulich wurden wieder       Rambo gesehen hatte.                    mit 25 plötzlich zum Verbrecher.
                            sieben Polizisten erschossen.           Seit 1993 sind in Rio 25 000 Per-       Wir haben uns gestern die befrie-
                            Lins: Diese Befriedung funktioniert     sonen verschwunden, jedes Jahr          dete Favela Santa Marta ange-
                            ja auch nicht richtig.                  werden mehr als 4000 Menschen           schaut, in der Michael Jackson 1996
                            Inwiefern?                              ermordet, die Aufklärungsrate liegt     sein Video zu They Don’t Care
                            Lins: Weil das bewaffnete Übernah-      bei einem Prozent. Ein Reporter von     About Us gedreht hat. Ist so ein Ort
                                                                                                                                                                                                                                  Ein Sonntagmorgen im Jahr
                            men sind. Es hat doch nichts mit        TV Globo, der mit versteckter Ka-       noch repräsentativ?                                                                                           2011: Eine schwer bewaffnete Eliteeinheit
                            Frieden zu tun, wenn in einem Vier-     mera in einer Favela filmen wollte,     Lins: Bestimmt nicht.                                                                                           der Polizei stürmt Rios größte Favela                                                        DIE FAVELAS
                            tel bewaffnete Militärpolizisten sta-   wurde gefoltert, zerstückelt und        Feijão: Santa Marta? Das ist ein Zoo!                                                                             Rocinha, in der zwischen 60 000
                            tioniert sein müssen, um die Lage       verbrannt. Hat Sie diese Gewalt         Eine Vorzeige-Favela für Touristen,                                                                            (offiziell) und 250 000 (inoffiziell) Men-                   Von den sechs Millionen Einwohnern Rios leben 1,2 Millionen in einer Favela –
                                                                                                                                                                                                                                          schen leben.                              so heißen die rund 1000 improvisierten Armensiedlungen, die meist von Drogenkartellen
                            einigermaßen im Griff zu haben.         nicht abgeschreckt?                     die eine Safari durch den Alltag der                                                                                                                                         oder rechten Milizen kontrolliert werden. Seit 2008 versucht die Regierung, die
                            Das ist doch eher ein Kriegs- oder      Feijão: Nein, denn für mich waren       armen Leute machen wollen.                                                                                                                                              Favelas gewaltsam zurückzuerobern; bis heute gelten vierzig als »befriedet«, das bedeutet,
                            Belagerungszustand. Und am Ende         das ja Wohltäter. Die haben Feste                                                                                                                                                                                              sie sind dauerhaft von bewaffneten Polizeieinheiten besetzt.
                            geht es doch nur darum, die Ge-         organisiert und Essen verteilt. Die     Karen Roberta Andrade, 33, kommt.
                            genden für Investoren interessant       Bösen, das waren die Polizisten, die    Sie ist Mitglied der UPP, also der Mili-
                            zu machen.                              wahllos auf uns geschossen haben.       tärpolizei, die in den Favelas stationiert
                            Feijão: Aber irgendwie muss der         Lins: Bevor eine Favela befriedet       ist. Sie hat sich schick gemacht: viel                                                                      vollkommen neue Welt, weil ich                  friedung nichts bringt, weil die Dro-      Und dann?
                            Staat doch versuchen, die Drogen-       werden kann, muss sie ja erst mal       Goldschmuck, lackierte Fingernägel.                                                                         eher behütet groß geworden bin.                 genbanden und die Probleme doch            Feijão: Wird geschossen, und wer
                            banden zu entmachten. Leider zeigt      erobert werden. Man nennt das re-                                                                                                                   Und jetzt sitze ich da in einer Art             nur ins nächste Viertel wandern.           muss drunter leiden? Die normalen
                            sich mehr und mehr, dass die Poli-      conquista. Dazu kommen tausend          Frau Andrade, wir sprechen gerade                                                                           Container ohne Klimaanlage und                  Andrade: Da ist schon was dran, aber       Leute, die nichts mit Drogen zu tun
                            zisten selbst korrupt sind. Glauben     Militärpolizisten mit Panzerfahr-       darüber, ob die Befriedung der Fa-                                                                          mit Toiletten, die praktisch nicht be-          wir müssen Geduld haben und lang-          haben, aber zwischen die Fronten
                            Sie mir, ich weiß, wie das läuft, ich   zeugen und Hubschraubern und            velas funktioniert.                                                                                         nutzbar sind. Im Grunde haben wir               fristig denken. Außerdem muss die          geraten. Denn man darf ja nicht ver-
                            bin selbst mit 13 Jahren zum Dro-       schießen erst mal, ohne Fragen zu       Karen Roberta Andrade: Also ich                                                                             Polizisten genau die gleichen Pro-              Polizeiausbildung verbessert werden.       gessen, dass es auch Hunderttausen-
                            genhändler geworden.                    stellen. Die sehen brutal aus, mit      finde schon. Im Moment arbeite ich                                                                          bleme wie die 7000 Bewohner.                    Im Moment ist es so, dass man als          de von Menschen gibt, die versu-
                            Wie kam es dazu?                        Kampfanzügen und Maschinenge-           in einer Einheit, die für die psycho-                                                                       Lins: Haben Sie Angst, wenn Sie in              Polizist in Rio keinerlei psycholo-        chen, sich mit Fleiß und Ehrlichkeit
                            Feijão: Ganz einfach, meine Nach-       wehren. Ich habe mindestens drei-       logische Betreuung der Bewohner                                                                             Ihrem Container sitzen?                         gische Schulung bekommt. Die jun-          aus der Armut rauszuarbeiten. Die
                            barn waren Drogenhändler und            ßig Freunde verloren, die bei so ei-    zuständig ist. Denn wir sind ja nicht                                                                       Andrade: Am Anfang hatte ich un-                gen Polizisten kommen nach einer           stehen auf, haben nichts zu essen,
                            meine Freunde waren auch Drogen-        ner reconquista unschuldig umge-        nur in den Favelas, um abzuschre-                                                                           glaubliche Angst, damals musste ich             kurzen Ausbildung sofort zu einer          fahren morgens zwei Stunden in
Niemand legte so
                            händler, wir sagen traficantes dazu.    bracht worden sind.                     cken, wir kümmern uns auch um                                                                               noch nachts arbeiten, von sechs Uhr             UPP-Einheit und sehen sich mit den         einem überfüllten Bus zur Arbeit,
viele Rauchpausen
ein wie Elke Maravilha      Diese Favela war mein Universum,        Feijão: Ich 300.                        die Bewohner, gehen mit Kindern                                                                             abends bis sechs Uhr morgens. Das               krassesten Problemen konfrontiert.         kommen spät abends nach Hause,                         Die Militärpolizistin
und Paulo Lins. Die         ich kannte nichts anderes, also habe    Lins: Trotzdem gibt es einen Unter-     zum Einkaufen, verteilen Spielsa-                                                                           war kurz nach der Eroberung der                 Feijão: Hast du nie mitgekriegt, wie       kriegen unterwegs, wenn sie Pech                 Karen Roberta Andrade
beiden sind überzeugt:      ich Kokain, Crack und Marihuana         schied zwischen der Situation heute     chen und Essensspenden.                                                                                     Favela, es gab jeden Tag Gerüchte               willkürlich die Polizisten in den Fa-      haben, auch noch von der Polizei                   ist in der Favela Cha-
Die Stadt braucht                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      tuba stationiert. »Bei

                                                                                                                                                         Fotos: picture alliance / Associated Press / Felipe Dana (2)
                            verkauft. Und irgendwann gibt es        und damals: Vor dreißig Jahren war      Wie lange machen Sie das schon?                                                                             von Überfällen und Anschlägen. In-              velas vorgehen?                            auf den Deckel und haben am Ende
weniger Kontrolle,                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   uns«, sagt sie, »hat es
dafür mehr Musik,           eben nur noch zwei Sorten von           die Kriminalität bei Weitem nicht       Andrade: Seit drei Jahren, eigentlich                                                                       zwischen arbeite ich tagsüber und               Andrade: Ich glaube dir das, weil ich      des Tages immer noch nicht genug                       noch keinen Toten
Spaß und Liebe.             Menschen: gute Kriminelle und           so organisiert wie heute. Die Gangs     wollte ich gar nicht Polizistin wer-                                                                        will gar nicht mehr weg.                        selbst Freunde in Favelas verloren         Geld, um ein einigermaßen anstän-                               gegeben.«
                            böse Kriminelle. Ende der Achtzi-       agierten eher lokal. Die organisier-    den.                                                                                                        Lins: Trotzdem werden Sie von                   habe, aber selbst erlebt habe ich sol-     diges Leben zu führen.
                            gerjahre wurden die Drogenbosse         ten Banden haben sich erst Ende         Lins: Sondern?                                                                                              Menschen, die einen Angehörigen                 che Einsätze nicht.                        Lins: Vor fünf Jahren war ich wieder
                            in Rio idealisiert. Die Menschen ha-    der Achtzigerjahre in den Gefäng-       Andrade: Ich hatte Pädagogik stu-                                                                           durch einen Polizisten verloren ha-             Feijão: Ich kann dir erzählen, wie so      mal in der Cidade de Deus, der Stadt
                            ben Lieder über sie gesungen, weil      nissen gebildet, zusammengesetzt        diert, aber mein Vater hat mich nach                                                                        ben, niemals als Friedensstifter an-            was abläuft. Da kommen 200 schwer          Gottes, wo ich aufgewachsen bin. Ich
                            sie sich von ihnen beschützt gefühlt    aus ehemaligen Gefangenen der           dem Studium dazu gedrängt, zur                                                                              erkannt werden.                                 bewaffnete Polizisten, sperren alle        habe ein paar alte Freunde besucht,
                            haben. Für uns waren die eine Art       Militärdiktatur. Die professionellen    Polizei zu gehen. Jetzt bin ich in der                                                                      Wie viel verdienen Sie?                         Ausgänge ab, stürmen ohne Vorwar-          wir haben gegrillt und Bier getrun-
                            Robin Hood.                             Drogenkommandos von heute ha-           Favela Chatuba im Complexo da                                                                               Andrade: 2500 Real im Monat, das                nung und Durchsuchungsbefehl in            ken. Natürlich waren auch ein paar
                            Wie sah Ihr Alltag damals aus?          ben alle als politische Gruppie-        Penha stationiert, die ganz im Nor-                                                                         sind ungefähr 850 Euro, nicht viel              die Häuser rein und eröffnen das           Drogenhändler da, ich meine, ich
                            Feijão: Ich bin bei meiner Großmut-     rungen gegen schlechte Haftbedin-       den von Rio auf dem Weg zum Flug-                                                                           für das Risiko, ich weiß.                       Feuer. Ist doch klar, dass sich die        bin dort groß geworden. Plötzlich
                            ter und meiner Mutter groß gewor-       gungen begonnen. So wurde aus der       hafen liegt. Für mich ist das eine                                                                          Lins: Also ich finde, dass so eine Be-          Leute wehren.                              kamen Hunderte von Polizisten an-

20 Süddeutsche Zeitung Magazin                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            Süddeutsche Zeitung Magazin 21
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