S ADT in Der Schwebe - sz-media
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Nummer 18 | 2. Mai 2014 eine S ADT in der schwebe Zwischen Straßenfest und Straßenkampf: Rio de Janeiro vor der Fußball-WM – ein Stadtgespräch
INHALT 2. Mai 2014 True love has a colour and a name 28 »Man muss seine Abgründe kennen« Ein Gespräch mit dem Schauspieler Vincent Cassel über Schlägereien, Ballett und seine feminine Seite. 30 Hier ruht ein Schatz Autositze sind Münzschlucker, denn wer im Wagen sein Geld verliert, findet es meist nie wieder. Eine Chinesin hat daraus ein Geschäft gemacht. 36 Au Backe Kinder mögen schmieriges Essen, schmierige Finger – nur schmierige Sonnencreme mögen sie nicht, wie unsere Fotos zeigen. 10 Eine Stadt kämpft um ihre Seele Kurz vor der Fußball-WM haben wir elf Titelfoto: John Dalkin; Foto Inhalt: Ralph Gibson, Nolan Conway Persönlichkeiten der brasilianischen Metropole an einem Tisch versammelt, um über das Flair, die Sorgen und die Zukunft von Rio de Online Boutique www.cartier.de + 49 89 55984-221 Janeiro zu diskutieren – ein Stadtgespräch. 24 Sind wir nicht alle ein bisschen Mad Men? Amerikanische Fernsehserien sind klug und spannend. Aber warum muss mit ihnen immer gleich der Lauf der Welt erklärt werden?
F O L L O W Y O U R O W N S T A R 38 48 Im Musentempel Stil leben Die neue Sommermode ist große Kunst – Abriss und Wiederaufbau? In Oslo wurde und eine Villa, in der Jean Cocteau drei Jahre darüber gestritten, was mit gemalt hat, genau der richtige Ort, um den Gebäuden passieren soll, die durch Anders sie zu präsentieren. Breiviks Bombe verwüstet worden waren. Jetzt kam der Bürgermeister auf eine Idee. 46 SehenswürdICHkeit Wie fühlt es sich an, ständig fotografiert zu werden? Unser Autor ist auf einer Asienreise zum Motiv geworden. 6 Sagen Sie jetzt nichts 8 Gewissensfrage, Gefühlte Wahrheit, Gemischtes Doppel, Die drei großen Lügen 52 Kosmos 53 Hotel Europa 54 Das Kochquartett 56 Das Kreuz mit den Worten 57 Gewinnen, Impressum 58 Das Beste aus aller Welt W W W. G E M I S C H T E S D O P P E L-A P P. D E Unser Kartenspiel Das Gemischte Doppel für Kinder gibt es jetzt auch als App auf dem iPad: 18 Wortpaare mit kreuzweise E L PR I M E RO C H RONOM A S TE R 19 6 9 vertauschten Buchstaben, für Leseanfänger ab 6 Jahren und alle Der als bester Chronograph der Welt bezeichnete Zeitmesser steht in direkter Fans des Gemischten Doppels. Das Memospiel trainiert Fotos Inhalt: Arnaud Pyvka, Ilja Hendel, Anna Meyer Nachfolge des legendären, 1969 eingeführten El Primero und weist die die Merkfähigkeit, regt zum verspielten Umgang mit Sprache an, W W W . Z E N I T H - W A T C H E S . C O M unverwechselbaren Farben des ersten automatischen Hochfrequenzkalibers macht ganz einfach Spaß und kostet nur 99 Cent. mit Säulenrad auf. Eine virtuos umgesetzte mechanische Herausforderung, die mit 36.000 Schlägen pro Stunde das außergewöhnliche Know-how der Marke verkörpert. Auf Facebook und Twitter ist das SZ-Magazin seit Jahren vertreten, seit Kurzem finden WWW.INSTAGRAM.COM/SZMAGAZIN Sie uns auch bei dem Sozialen Netzwerk Instagram. Dort zeigen wir Lieblingsbilder aus dem Heft und unserem Redaktionsalltag.
SAGEN SIE JETZT NICHTS REINHOLD BECKMANN Er kommt mit Lederjacke und Gitarrenkoffer. Ein bisschen unge- wohnt ist das noch – nicht nur für ihn. Reinhold Beckmann, der ihm das nicht glauben, aber man kann ihn ein bisschen aus der Ferne beobachten, ob er es ohne die Talkshow hinkriegt. Seit zwei Seelenstreichler der ARD, macht jetzt ganz offiziell Musik. Und wo- Jahren gibt er schon kleinere Konzerte, nach seiner letzten Sendung möglich kommt das gerade recht. Denn Beckmann hört mit Beck- im Oktober will er auf große Tournee gehen. Bei allem sowieso viel- Geboren: 23. Februar 1956 in Twistringen Beruf: Moderator, Talkmaster, Musiker mann auf, freiwillig, nach 15 Jahren. Vielleicht hat ihm nichts so viel leicht heißt sein Album, eine Mischung aus Rock, Jazz, Country und Ausbildung: Lehre zum Radio-, Fernseh- und Videotechniker; Studium der Germanistik, Respekt eingebracht wie der Verzicht auf seine eigene Sendung. Der schlaue Hund Beckmann, hieß es danach, der endlich das Jauch- ein bisschen Bossa Nova. Eine unserer Fragen lautet: »Wer ist ehr- licher: der Musiker oder der Talkmaster Reinhold Beckmann?« Er Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften (abgebrochen) Status: Hör mal, wer da singt MaischbergerWillPlasbergBeckmann-Gezanke beendet. »Ich kann zögert. »Können wir die Frage nicht schieben?«, bittet er. Wir können. auch ohne Fernsehen glücklich sein«, hat er mal gesagt. Man muss Vielleicht muss er die Antwort ja erst noch herausfinden. Wie sieht es aus, wenn Sie Welcher Gesichtsausdruck bringt In welcher Haltung kann auf der Bühne eine Ballade singen? einen Talkmaster in Bedrängnis? man am besten zuhören? Fotos: Frank Bauer Frage an den Musiker: Mick Jagger oder Paul McCartney? In welcher Haltung kann man Was tun Sie, wenn Sie mal Glauben Sie, dass Thilo Peter Scholl-Latour am besten zuhören? kein Fernsehen mehr machen? Sarrazin zärtlich sein kann? 6 Süddeutsche Zeitung Magazin Weitere Fragen und Bilder finden Sie auf www.sz-magazin.de und in unserer App.
GEFÜHLTE WAHRHEIT DR. DR. RAINER ERLINGER Nr. 102 Die Bedeutung der Mondlandung GEWISSENSFRAGE aus heutiger Sicht »Bei meinem letzten Besuch eines Symphoniekonzerts ärgerten sich mehrere Zuhörer über ein bei leiseren Stellen deutlich hörbares Rattern und Rauschen: eine Art Beatmungsapparat einer älteren Dame. Nach kurzer Diskussion mit dem Personal wurde die Dame in der Pause aus dem Saal geführt. Ich war froh über die Ruhe, aber war das in Ordnung?« I L S E F . , D R E S D E N made in italy Wissenschaftliche Erkenntnis Tolle Bilder Smalltalk für Verschwörungstheoretiker Ermöglicht Sätze, die anfan- gen mit: »Da fliegen die Men- schen zum Mond, schaffen es aber nicht, dass …« Ihre Frage dreht sich um Inklusion, im Grun- Regieräume oder ins Foyer, an einen akus- GEMISCHTES DOPPEL de die Fortsetzung der Integration. Während tisch etwas abgeschirmten Rand oder durch von Patrick Fischer bei der Integration der Betroffene in ein Akzeptieren der Geräusche. bestehendes System eingefügt wird – oder Das sind alles keine Ideallösungen, die es viel- hart ausgedrückt: sich dem System anpassen leicht nie geben wird. Aber Inklusion bedeu- – soll, geht es bei der Inklusion darum, das tet in diesem Falle auch, den Anspruch der System so zu verändern, verbessern, dass es Besucher mit Beeinträchtigung, das Konzert für alle in ihrer Unterschiedlichkeit mög- besuchen zu können, zunächst überhaupt an- lichst gleichermaßen geeignet ist. zuerkennen. Dazu muss man ihn aber nicht Fotos: Corbis, mauritius images / Alamy; lllustration: Serge Bloch; alle Autoren-Illustrationen: Grafilu Demnach wäre es, da das Problem häufiger allein herausstellen, über den Anspruch aller vorkommt, Aufgabe der Gesellschaft, Kon- Besucher auf akustisch möglichst unbeein- zertsäle so zu bauen, dass sie auch Plätze trächtigten Konzertgenuss. Vielmehr stehen für Besucher vorhalten, die auf geräuschvol- die Ansprüche aller Konzertbesucher, gleich le Hilfsmittel angewiesen sind. Mit zwei ob beeinträchtigt oder nicht, grundsätzlich Überflüssiger Schaum Schwierigkeiten: Zum einen entstehen da- gleichberechtigt nebeneinander. Dann jeweils durch spezielle, getrennte Bereiche für diese eine praktikable Lösung zu suchen, ist nicht Menschen, sie werden also nur teilweise in- nur der Weg zur Inklusion, sondern das ge- kludiert und umgekehrt sogar baulich abge- meinsame Suchen unter Anerkennung und sondert. Zum anderen sind Umbauten meist Abwägung aller beteiligter Interessen ist teuer und brauchen Zeit. Es müssen daher, selbst schon Inklusion. wo das nicht möglich ist, andere Lösungen A.D. nAtAliA corbettA / fotogrAfiA mArio ciAmpi gefunden werden. Das geschieht tatsächlich, Haben Sie auch eine Gewissensfrage? wie ich auf Nachfrage bei verschiedenen Dann schreiben Sie an Konzertsälen erfahren habe, auch laufend DR. DR. RAINER ERLINGER von Fall zu Fall: etwa durch Ausweichen in gewissensfrage@sz-magazin.de Überschüssiger Flaum Weitere Gemischte Doppel finden Sie DIE DREI GROSSEN LÜGEN auf www.sz-magazin.de; um eigene des bayerischen Leberkäses Vorschläge einzureichen, schreiben Sie AGENTUR PATRICK WEBER Patrick Weber FLEXFORM SPA gROundpiEcE an gemischtesdoppel@sz-magazin.de 1) Bayerisch 2) Leber 3) Käse PLZ 0-5 (99, 98) Tel. 07044-922910 Erich Drewing Fax 07044-922922 MEDA (MB) ITALIA design by PLZ 6-9 (54, 55, 56) info@italdesign.de www.flexform.it ANTONIO CITTERIO 8 Süddeutsche Zeitung Magazin
E I N E S TA D T K Ä M P F T Links: Szene einer Baile-Funk-Party, eine Art brasilianische Hip-Hop-Veranstaltung in den UM IHRE SEELE Favelas. Die Partys arteten so oft in Gewalt und Massenschlägereien aus, dass sie inzwischen offiziell verboten sind. Rechts: Blick von einem der vielen morros (Hügel) auf den Zuckerhut (395 Meter) und die Bucht von Rio. INTERVIEW: ANDREAS BERNARD, PETER BURGHARDT UND TOBIAS HABERL Fußball-Weltmeisterschaft 2014. Olympia 2016. Brasilien dreht auf – und Rio dreht durch: Die Immobilienpreise haben sich vervierfacht, Favelas werden mit Waffengewalt erobert und Strände zu spaßfreien Zonen gemacht. Stürmische Zeiten für eine der aufregendsten Städte der Welt. Wir haben elf Persönlichkeiten versammelt, um mit ihnen über die Zukunft ihrer Heimat zu reden. Rio – ein Stadtgespräch 10 Süddeutsche Zeitung Magazin Süddeutsche Zeitung Magazin 11
I VO P I TA N G U Y F E I JÃO Pl a s t i s c h e r C h i r u r g E D UA R D O M AC K E h e m a l i ge r SANDRA Ist der bekannteste Fu n kt i o n ä r D ro ge n d e a l e r QUINTELA Schönheitschirurg der Welt War bis vor Kurzem Kommunika- Heißt mit richtigem und in Brasilien eine Ö ko n o m i n tionschef von Ernst & Young Namen Washington lebende Legende. Er hat Untersucht für in Brasilien, einem der Hauptsponsoren Dimas, wurde mit 13 Hollywoodstars, das Forschungsinstitut der WM 2014 und der Olympischen zum Drogendealer und Könige und Rockmusiker PACS, wie die Welt- Spiele 2016. Er glaubt, dass mit 30 verhaftet. An- behandelt, außerdem meisterschaft 2014 und beide Turniere trotz der Unruhen und schließend wechselte er mehr als 500 Kollegen die Olympischen Schwierigkeiten am Ende ein die Seiten und schloss ausgebildet. Er ist 87 Jahre Spiele 2016 das soziale Erfolg sein werden. sich der NGO Afro- alt und lebt zurück- Gefüge der Stadt Reggae an, für die er gezogen in Rio und auf beeinträchtigen. Sie sagt: heute weltweit Vorträge einer Privatinsel im Süden »Ich spüre, wie Rio über Drogen und der Stadt. mehr und mehr seine E L K E M A R AV I L H A Gewalt hält. Seele verliert.« T V- S t a r Wurde 1945 in Sankt Petersburg geboren und hat, wie sie selbst sagt, in Brasilien »ihr Paradies gefunden«. A L I C E AU T R A N G A RC I A War früher Model, Schauspielerin und Vorreiterin für R A FA E LA Jo u r n a l i s t i n sexuelle Freiheit. Bis heute setzt sie sich lautstark für die M I R A N DA RO C H A Rechte von Schwulen und Schwarzen ein. A kt i v i s t i n Arbeitet als Modechefin für das wöchentliche Magazin der Tageszeitung Kehrte 2013 nach einem Kunststudium in London O Globo. Garcia war früher selbst in ihre Heimatstadt Rio de Janeiro zurück und schloss erfolgreiches Model und hat unter ande- sich spontan den Protesten an. Sie organisiert rem in New York, Mailand, Lissabon K A R E N RO B E RTA Kulturveranstaltungen in Parks und auf Straßen, um und Paris gelebt. ANDRADE den öffentlichen Raum von den Behörden und der Po l i z i s t i n Polizei zurückzuerobern. PAU LO L I N S Schriftsteller Ist als Militärpolizistin seit drei Jahren bei ERNESTO NETO Sein Roman Cidade de der Friedenseinheit Kü n s t l e r Deus (Die Stadt Gottes), 2002 ver- UPP in der Favela CAIO RANGEL filmt, prägt bis heute den Blick Chatuba im Norden Gehört zu den renommiertesten Künstlern der Welt auf die Favelas von Rio de Fu ß b a l l p ro f i von Rio stationiert. Brasiliens und hat schon im Museum of Modern Janeiro. Nach seinem Welterfolg hat Stammt aus der Favela Complexo do Sie sagt: »Wir müssen Art in New York ausgestellt. Mit seinen Lins jahrelang geschwiegen. 2012 Alemão, die 2010 von der Militärpolizei erobert Geduld haben, die Freunden trifft er sich fast jeden Abend am erschien sein zweiter Roman Seit der wurde. Er spielt heute in der Jugendmann- Gewalt lässt sich nicht Strand, um die Tradition der Bossa-Nova- Samba Samba ist. schaft von Flamengo Rio de Janeiro in ein, zwei Jahren Cliquen aus den Fünfzigerjahren fortzuführen. und in einem Jugend-Nationalteam Brasiliens. beseitigen.« Unten am Meer, an den Stränden von Favelas zu vertreiben und Friedensein- 14.45 Uhr: Ivo Pitanguy betritt den Ist es hier in Rio denn so anders? Der globalisierte Lebens- und Ernäh- spiel Brasilien gegen Uruguay im Copacabana oder Ipanema, scheint der heiten zu stationieren. »Rio soll wie Innenhof der Villa, im Anzug, mit Pitanguy: Allerdings, aber Brasilien rungsstil ist in Brasilien angekom- Stadion gesehen? Atlantik direkt in die sanft geschwun- München werden«, hatte die Stadt- Krawatte und Einstecktuch. Hinter ist auch groß, die Menschen reisen men. Und weil Rio eine Stadt ist, die Pitanguy: Ja, ich war damals Anfang genen Hügel überzugehen. Halbnackte regierung lange vor der Fußball-WM ihm geht ein Leibwächter, ebenfalls im viel weniger ins Ausland als ihr Eu- einen fortwährend dazu auffordert, zwanzig und für ein paar Tage in Menschen joggen die Promenade ent- als Losung ausgegeben und eine Viel- dunklen Anzug. Die Gespräche an ropäer. sich zu zeigen, vor allem natürlich Rio, weil ich gerade eine Ausbil- Foto Seite 10: Vincent Rosenblatt / Agentur Focus; Seite 11: Yadid Levy / Picture Press lang, fliegende Händler bieten Garne- zahl von Verboten und Verordnungen manchen Tischen verstummen, andere Es ist jetzt sechzig Jahre her, dass am Strand, haben Sie sicher bemerkt, dung zum Schönheitschirurgen in len und gekühlte Getränke an. Doch erlassen. Die Proteste und Demonstra- Gäste tuscheln. In Brasilien ist der Sie die ersten Schönheitsoperati- wie viele Menschen hier überge- den USA gemacht habe. Das Spiel das schöne Leben ist nur ein paar tionen während des Confederations Schönheitschirurg eine Legende. onen durchgeführt haben. Wie hat wichtig oder sogar richtig dick sind. endete 2:1 für Uruguay. Blocks von den mehr als tausend Ar- Cup 2013 haben gezeigt, dass dies auch sich das brasilianische Schönheits- In sechs Wochen beginnt in Brasi- Eine Schmach, die bis heute kein mensiedlungen entfernt, denen man privilegierte Teile der Bevölkerung als SZ-Magazin: Guten Tag, Herr Pitan- ideal seitdem verändert? lien die Fußball-Weltmeisterschaft. Brasilianer vergessen hat. den Namen einer Kletterpflanze ge- Kampfansage verstanden haben. Dazu guy, schön, dass Sie gekommen Pitanguy: Früher wollten die Frauen Sind Sie Fußballfan? Pitanguy: Oh ja, diese Niederlage geben hat: Favelas. Man muss sich als kommt, dass viele Menschen nicht mehr sind, sogar in Anzug und Krawatte kleinere Brüste, heute wollen sie Pitanguy: Natürlich. Als ich mit 16 war unendlich traurig, weil wir bes- Tourist nur ein bisschen verlaufen, bereit sind, korrupte Beamte, explodie- – bei der Hitze. große. Im Grunde gibt es kein bra- aus der Nähe von Belo Horizonte, ser gespielt haben und den Sieg ver- schon liegen am helllichten Tag ver- rende Preise und das Verkehrschaos zu Ivo Pitanguy: Ach, die Krawatte tra- silianisches Schönheitsideal. Bald etwas weiter im Landesinneren, dient gehabt hätten. Aber dann wahrloste Menschen auf dem Gehsteig, akzeptieren. Viele Cariocas – so heißen ge ich nur, weil ich nachher in die werden alle Menschen auf der Welt nach Rio gekommen bin, habe ich macht Ghiggia, dieser Stürmer aus von denen man nicht weiß, ob sie noch die Einwohner Rio de Janeiros – haben Academia Nacional de Medicina gleich aussehen. die legendären Spieler alle noch er- Uruguay, zehn Minuten vor Schluss leben. In Rio de Janeiro werden jedes Angst um die Seele ihrer Stadt. Höchste muss, da bin ich inzwischen das Und um welche Operation wurden lebt, Mané Garrincha, auch den jun- das 2:1. Sie glauben nicht, wie still Jahr mehr als 4000 Menschen ermor- Zeit also für ein Stadtgespräch. älteste Mitglied. Wissen Sie, für Sie am häufigsten gebeten? gen Pelé, leider war ich nur ein ein- 200 000 Menschen sein können. det. Kurz vor Beginn der Fußball-Welt- Eingeladen haben wir unsere Gäste mich ist Rio die schönste Stadt der Pitanguy: Alles, was die Spuren des ziges Mal im legendären Maracaña- Wir sind seit drei Tagen in der Stadt meisterschaft (und zwei Jahre vor den in das Café im Parque Lage, in eine Welt, aber München ist auch nicht Alters vertuscht, vor allem Gesichts- Stadion. und können überhaupt keine Vor- Olympischen Spielen) hat die Stadt alte Villa im Kolonialstil am Rand des schlecht. Ich kenne die Stadt ganz straffungen. In den letzten Jahren hat Wissen Sie noch, wann? freude auf die Weltmeisterschaft zu kämpfen: In Erwartung der beiden Botanischen Gartens. Vor einigen Mo- gut, die Isar, den Englischen Garten, sich das ein wenig verschoben. In- Pitanguy: Am 16. Juli 1950. Das war spüren. Woran könnte das liegen? Großereignisse versucht die Militär- naten wurde hier der offizielle Spiel- wirklich schön, und fast jeder zwischen wünschen sich viele Fett- ein historischer Moment. Pitanguy: Das hat mit den Protesten polizei, die Drogenkartelle aus einigen ball für die Fußball-WM vorgestellt. spricht Englisch. absaugungen und Bauchstraffungen. Sie haben das legendäre WM-End- zu tun, die letztes Jahr während des 12 Süddeutsche Zeitung Magazin Süddeutsche Zeitung Magazin 13
Confederations Cup in Brasilien Schade, jetzt haben Sie Ivo Pitan- 70 000 und fast alle davon sind lien, in Deutschland, in den USA. dass wir unsere Probleme wie mün- Mack: Das liegt nur daran, dass die stattgefunden haben. Eine merkwür- guy verpasst. Wir haben ihn nach blond und blauäugig. Und jetzt sind eben wir dran, Brasi- dige Bürger anpacken. Brasilien war Cariocas keinen Bürgersinn haben. dige Sache, denn eigentlich gibt es in den Protesten im letzten Jahr ge- Warum? lien, mit allen Problemen, die ein lang ein Kind, jetzt muss es zeigen, Die Menschen hier sind es nicht ge- Brasilien gar keine Tradition dafür. fragt. Er meinte, er verstehe die Sa- Quintela: Weil sich die Schwarzen Schwellenland mit sich bringt. dass es erwachsen geworden ist. Das wohnt, sich zu Wort zu melden, Ent- Ich verstehe es nicht ganz. Wir haben che nicht ganz. Was halten Sie von den Eintritt nicht mehr leisten kön- Ernesto Neto: Kann ja sein, aber in Problem dabei ist nur, dass wir keine scheidungen in Frage zu stellen, For- so hart für dieses Turnier gekämpft, den Demonstrationen? nen. Rio wird Zeuge einer extremen diesem Stadion gibt es nicht mal Zeit für die Pubertät haben. derungen zu formulieren. Das ist das und dann so was. Tut mir leid, aber Sandra Quintela: Also ich weiß Elitebildung im Fußball. Wie heißt mehr Stehplätze. Wir Brasilianer Ihr ehemaliger Arbeitgeber hat Erbe der Militärdiktatur. Ihr habt ich muss langsam los, die Sitzung in schon, warum die Menschen wü- noch mal dieser spanische Super- brauchen aber Stehplätze. im Jahr 2010 eine Studie veröffent- euch in München gegen die Winter- der Akademie beginnt gleich. tend sind. Weil die Gewinne durch star? Xavi? Iniesta? Egal, auf jeden Warum? licht, laut der durch die WM 142 Mil- spiele 2018 ausgesprochen. So was Können Sie nicht noch ein bisschen die WM in diesem Jahr so hoch wie Fall stand er letztes Jahr im Finale Neto: Damit wir Samba tanzen kön- liarden Real in die brasilianische wäre in Rio undenkbar. Dr. Ivo Pitanguy, 87, bleiben? Es kommen noch interes- nie zuvor sein werden, aber die Bra- des Confederations Cup und erzähl- nen. Ihr könnt euren Rock ’n’ Roll Wirtschaft fließen und 3,6 Millionen Quintela: Und warum? Weil es ge- hat zwar einen Leib- sante Gäste, zum Beispiel Paulo silianer nichts davon haben, im Ge- te anschließend, was für große Er- vielleicht im Sitzen tanzen, aber wir neue Arbeitsplätze geschaffen fährlich ist. Ich kenne etliche Leute, wächter mitgebracht, ist sich aber nicht Lins. genteil, alles wird teurer und vor wartungen er an diesen mythischen brauchen unsere Hüften, wir müs- werden sollen. die gegen die Geldverschwendung zu schade, Wasser Pitanguy: Paulo Lins? Der hat doch allem in Rio werden im Namen die- Ort gehabt habe. Leider habe er sen uns bewegen. Mack: Diese Studie wurde von Bera- protestiert haben. Sie wurden be- aus dem Pappbecher Die Stadt Gottes geschrieben. ser WM jeden Tag neue Verbote er- nichts gespürt, keinen Mythos, kei- Quintela: Vorher konnte man für tern gemacht, nicht von mir. schimpft, verfolgt und angeklagt. In zu trinken. Ja. Haben Sie den Roman gelesen? lassen, die den Menschen das Leben ne Gänsehaut, nichts. zehn Real ins Stadion gehen, das Elke Maravilha: Aber es ist doch ein Rio herrscht eine militante Stim- Pitanguy: Nein, nur den Film gese- schwer machen. Warum glauben Sie, sind drei Euro. Das Stadion war ein Skandal, dass wegen der Bauarbei- mung. Die Stadt hat allein dreißig Fotos: Toby Binder; Julio Bittencourt; Francesco Zizola/NOOR / laif hen, anstrengend, aber großartig. finden die nächsten Weltmeister- Fünf Minuten später kommt, nein, er- Tempel, ein heiliger Ort des Fuß- ten Tausende von Familien ihre Millionen Real für Gummigeschosse schaften in Russland und Katar statt? scheint Elke Maravilha, außerdem der balls. Und jetzt wird diese WM Häuser verlassen mussten. Für die und Munition ausgegeben, das muss Eduardo Mack, 48, Er nimmt einen letzten Schluck Wasser, Weil es viel komplizierter ist, so ein Künstler Ernesto Neto. Sie hat ihr 34 Milliarden Real kosten, das sind Olympischen Spiele sollen ja noch man sich mal vorstellen. und Sandra Quintela, verneigt sich, hakt sich bei seinem Body- Turnier in einem demokratischen blondes Haar zu einem riesigen Afro ungefähr zehn Milliarden Euro, und mal 30 000 umgesiedelt werden. 50, diskutieren: Ist das guard ein und geht. Draußen wartet ein Land durchzuführen. aufgetürmt, er trägt abgeschnittene die Hälfte davon kommt aus den Quintela: Investoren fallen in die 17 Uhr: Rafaela Miranda Rocha Maracaña-Stadion durch den Umbau schwarzer Jeep mit getönten Scheiben. Dafür wurde das Maracaña-Stadion Jeans und Flipflops. Kassen des Staates, der Bundesländer Stadt ein und kaufen alles auf. kommt an den Tisch, noch etwas außer moderner oder seelen- Zehn Minuten später kommen die auf den neuesten Stand gebracht. und der Kommunen. Dieses Geld Das haben wir auch gelesen. Allein Atem – sie ist mit dem Rad gefahren loser geworden? nächsten Gäste: die Ökonomin Sandra Quintela: Auf den neuesten Stand Eduardo Mack: Aber das Maracaña- bräuchten wir aber für unsere Schu- in den letzen fünf Jahren haben sich – eine zierliche Person, die erst minu- Quintela und Eduardo Mack. Eine per- nennen Sie das? Die Wahrheit ist, das Stadion musste umgebaut werden. len, Straßen und Krankenhäuser. die Mieten verdoppelt und die Im- tenlang zuhört und schweigt. Dann fekte Kombination, weil sie: eher links, Stadion hat jegliche Aura verloren. Es gab kaum Ausgänge und viel zu Mack: In den letzten Jahren haben mobilienpreise vervierfacht. wird sie das erste Bier des Abends be- kritisch, intellektuell, und er: bis vor Es ist überhaupt kein Stadion mehr, wenig Toiletten. Es entsprach ein- alle geschwärmt: Brasilien, der erwa- Quintela: Ich wohne seit 19 Jahren stellen und richtig loslegen. Kurz da- Kurzem tätig für Ernst & Young, einen sondern eine Arena für das Fernse- fach nicht den Sicherheitsvorschrif- chende Riese, der nächste Global in dieser Stadt und spüre, wie sie im- rauf kommt eine SMS von Alice Au- der Großsponsoren der WM. Beide hen, nicht mehr für die Menschen. ten. In den letzten fünfzig Jahren Player, und heute? Haben wir immer mer mehr ihre Seele verliert, weil die tran Garcia, Modechefin bei der Zei- bestellen Wasser, das in Pappbechern Früher hatten im Maracaña 200 000 fand die Fußball-WM nur in hoch noch die gleichen Probleme. Jetzt normalen Menschen immer weiter tung »O Globo«: »Sorry, stecke im serviert wird. Menschen Platz, heute sind es noch entwickelten Ländern statt, in Ita- können wir der ganzen Welt zeigen, in die Vororte gedrängt werden. Stau, komme später.« >> DER STRAND Der schicke Strandabschnitt von Ipanema täuscht über die wahren Verhältnisse hinweg: Die Hälfte aller Brasilianer ist inzwischen übergewichtig. in Rio de Janeiro ist mehr als ein Badeort. Er ist ein Identifika- tionssymbol und vor allem seelisches Zuhause der Cariocas. Hier treffen sie sich, zum Reden, Feiern, Grillen und Fußballspielen. Der Strand ist in verschiedene Abschnitte unter- teilt, von denen jeder knapp einen Kilometer lang ist und unter- schiedliche soziologische Gruppen beheimatet. Als Grenzmarkie- rungen dienen sogenannte Postos (nummerierte Strandkioske). Legendär sind die Strände von Ipanema, Copacabana und Leblon, an denen Tausende von Kleinhändlern Getränke, gegrillten Käse und bunt bedruck- te Badetücher aus dünnem Oben: Zwei Sorten von Menschen, denen man Stoff verkaufen, denn eines würde am Strand von Copacabana oft begegnet: rüstige Renter ein Carioca nie machen: und Müllsammler. Rechts: Ein paar Kilometer weiter ein Handtuch mit zum liegt ein künstlicher See namens »Piscinão de Ramos«, Strand nehmen. an den vor allem Menschen aus den Slums und Favelas zum Baden kommen. 14 Süddeutsche Zeitung Magazin Süddeutsche Zeitung Magazin 15
Quintela: Habt ihr eigentlich mitbe- durch Touristen abgeschreckt wer- bin letztes Jahr nach Rio zurückge- Kokoswasser, dürfen die Nüsse aber Garcia: Manchmal kommt man sich Stunde im Stau stehen. Und wenn er kommen, dass vor ein paar Tagen den. Nur weil diese Männer aus den kommen. Ich kann euch sagen, ich nicht mehr mit der Machete aufma- in dieser Stadt vor, als wäre man im da ist, wird er anders angesehen, an- eine Frau angeschossen und von Favelas kommen, ein bisschen rie- erkenne meine Stadt nicht wieder. chen. Zu gefährlich, sagen die Be- Krieg. Also ich kriege Angst, wenn ders behandelt, anders wahrgenom- Polizisten ins Krankenhaus gefahren chen und nicht ganz so schick aus- Was hat sich in Rio verändert? hörden, also müssen die Verkäufer die Stoßtrupps anrücken, ich meine, men. Wenn am Strand auf einmal wurde? Auf dem Weg fiel sie aber sehen. Rocha: Ich weiß aus meiner Zeit in mit einer Bohrmaschine ein Loch in deren Logo sind zwei gekreuzte Re- viele Schwarze sind, spürt man rich- aus dem Kofferraum, wurde vom London, was Gentrifizierung bedeu- die Nuss bohren, damit man einen volver und ein Totenkopf, das sagt tig, wie manche Menschen panisch Auto mitgeschleift und starb. Sie 17.30 Uhr: Ein schlanke, große Frau tet, aber hier läuft alles viel brutaler Strohhalm reinstecken kann. Es ist doch alles. werden. war 38 Jahre alt und hatte vier Kin- kommt in den Innenhof: Alice Autran ab. Die Leute werden ja mit Bulldo- lächerlich. Glauben Sie mir, die Neto: Dabei braucht sie kein Neto: In Rio gibt es ein Sprichwort: der. Und jetzt berichten seit Tagen Garcia, früher Model, jetzt Modechefin zern aus ihren Häusern vertrieben. würden am liebsten verpackte Ko- Mensch. Früher haben sich die Ki- »Ein weißer Mann, der den Strand sämtliche Zeitungen darüber. Auf des Magazins der Tageszeitung »O Glo- Ich komme aus einer bürgerlichen kosnüsse von Heineken verkaufen. oskbesitzer um ihren Strandab- entlangläuft, ist ein Exzentriker. Ein Der Künstler Ernesto einmal sprechen alle nur noch von bo«. Auch sie trägt Flipflops: »Sorry«, Familie, ich kann mich nicht bekla- Gestern wurden wir am Strand von schnitt gekümmert. Sie haben den schwarzer ist ein Dieb.« Trotzdem ist Pitanguy ist nicht Neto, 49, verbringt nur der Star in der so viel Zeit wie »der Mitgeschleiften«. Wenn jeman- sagt sie, »ich stand ungelogen neunzig gen, aber ich erkenne die Logik und zwei Verkäufern auf Englisch ange- Müll aufgesammelt und Streitereien der Strand immer noch liberaler als Runde, sondern auch möglich am Strand. dem aus der Mittelschicht so etwas Minuten im Stau.« lehne sie ab. Ich gehe zum Beispiel sprochen. Wie haben sie erkannt, geschlichtet. andere Orte. Es gibt Restaurants, da der Eleganteste. Man sieht es ihm an. passiert, wird darüber berichtet, in keinen Club mehr, wo ich Eintritt dass wir keine Cariocas sind? Garcia: Ganz so einfach ist es auch lassen sie Schwarze nicht mal rein. dann bekommt das Opfer einen Na- Neto: Hey, Alice, du bist auch hier. bezahlen muss, sondern feiere am Garcia: Sicher habt ihr eine Zeitung nicht, Ernesto. Erst heute morgen Rocha: Kann alles sein, ich will ja men. In Rio passieren aber jeden Tag Schön, dich zu sehen. Strand. Ich fahre auch nicht mehr oder ein Buch gelesen. habe ich wieder mitbekommen, wie nur sagen, dass die Südzone mit ih- Dutzende Unfälle und Morde, für Wie, Sie beide kennen sich? mit dem Bus, sondern mit dem Rad. Nein. eine Frau ausgeraubt wurde. ren schicken Vierteln eine Blase ist, die sich kein Mensch interessiert. Alice Garcia: Ja, ich war mal mit Ich bin durch die hohen Preise und Neto: Lagt ihr auf Handtüchern? Neto: Na und? So ist das Leben, ab und dass ich immer mehr das Be- Rafaela Miranda Rocha: Und wisst einem Freund von Ernesto zusam- die Stimmung in der Stadt stark po- Auch nicht. und zu wird man eben bestohlen. dürfnis habe, mit Leuten aus dem litisiert worden und spüre, dass es Garcia: Gut, denn normalerweise Rocha: Ich bin inzwischen sicher, Norden in Kontakt zu kommen. Die Tausenden von jungen Menschen erkennen wir euch Gringos an Zei- dass die Regierung kleinere Ver- haben Probleme, von denen haben »Viele Brasilianer rennen ihrem stumpfen Ideal von genauso geht. Herr Neto, wie hat sich das Strand- tungen oder Handtüchern, das ma- chen wir Brasilianer nämlich nicht. brechen wie Diebstahl absichtlich durchgehen lässt, damit die Men- wir hier noch nie was gehört. Luxus und Schönheit hinterher. Sie glauben gar nicht, leben im Zuge der WM-Vorberei- Rocha: Es ist die Körpersprache. Ihr schen sich unsicher fühlen und nach Der Strand ist in ver- wie innig sich viele wünschen, europäisch zu sein« tungen verändert? Neto: Vor zwei Jahren hat mich eine bewegt euch anders. Garcia: Rucksäcke sind auch ein Er- der Polizei rufen. Die Reichen und die Touristen sollen sich bedroht schiedene Bereiche unterteilt, als Mar- deutsche Journalistin genau das kennungszeichen. Oder wenn Frau- fühlen, nur so lässt sich diese Polizei- kierungen dienen Gleiche gefragt. Damals habe ich en abseits des Strandes im Bikini präsenz legitimieren. sogenannte Postos. ihr, was ich gehört habe? Dass genau men. Wir haben uns am Strand ken- mich beschwert, weil gerade Dut- durch die Stadt laufen, das machen Wie kommen Sie auf diese Theorie? Wo gehen Sie am diese Polizisten schon 64 Menschen nengelernt. zende absurder Verbote unser nur Touristen, auch brasilianische, Rocha: In Rio gibt es einen riesigen liebsten hin? getötet haben, und zwar offiziell le- Sind Sie noch zusammen? Strandleben kaputtzumachen droh- aber keine Menschen aus Rio. Park namens Parque do Flamengo. Neto: Über diese gitimiert, also im Dienst. Ich meine, Garcia: Nein, nicht mehr. ten. Die Stadtverwaltung hatte die Warum lesen die Menschen nicht Früher bin ich da oft joggen gegan- Frage könnte man wie kann man noch Polizist sein, Neto: Sehen Sie, das ist brasilia- Operação Choque de Ordem ausge- am Strand? gen, aber inzwischen traut sich fast einen zweistündi- Elke Maravilha, 69, wenn man 64 Menschen auf dem nische Strandkultur. Sie führt die rufen, die »Operation Ordnungs- Rocha: Also ich lese schon. keiner mehr hin, weil dort Hunderte gen Dokumentar- ist eine Art Nina Hagen von Rio de Gewissen hat? Die Polizei in Brasi- Menschen zusammen und wieder schock«, vor allem für den Strand. Garcia: Aber da bist du echt eine von Gangs und kriminellen Jugend- film drehen. Die Janeiro: schrill, provo- lien ist kriminell und die Medien auseinander. Alles fließt, alles ist in Mit welchen Konsequenzen? Ausnahme. lichen abhängen, die Passanten vom Soziologie des kant, liebenswert. sind rechtslastig, das ist ein Riesen- Bewegung. So mag ich es. Neto: Sie haben verboten, dass Kin- Rocha: Stimmt schon, die Brasilia- Rad stoßen, ausrauben und bedro- Strandes ist eine problem. Frau Garcia, Sie arbeiten bei O Glo- der Drachen steigen lassen. Sie haben ner lesen generell kaum. Sie reden hen. Trotzdem ist weit und breit kein Wissenschaft für Neto: Also ich lese schon lange bo. Was sagen Sie dazu, dass Ernes- verboten, dass wir laut Musik hören. lieber miteinander. Polizist zu sehen. Verstehen Sie? sich, weil der Strand nicht mehr, was O Globo schreibt. to Neto Ihren Arbeitgeber ablehnt? Sie haben verboten, dass Kleinhänd- Garcia: Deswegen sind hier ja alle Nicht ganz. in viele Abschnitte Rocha: Aber die Menschen lassen Garcia: Hey, ich bin die Mode- ler ihren queijo coalho verkaufen, den so süchtig nach Telenovelas. Weil Rocha: Na, die überlassen manche untergliedert ist, die sich davon beeindrucken und ren- chefin, ich bin nicht für die Schlag- Käse am Stiel, der in Handöfchen die Handlung einfach und klischee- Gegenden sich selbst. Die kümmern ihrerseits wieder un- nen weiter ihrem stumpfen Ideal zeilen verantwortlich. gegrillt wird, nur weil sich mal ein haft ist. Bücher sind den meisten sich nur um die schicken Stadtteile. terteilt sind. von Luxus und Schönheit hinterher. Rocha: Aber du musst doch zuge- Typ den Magen verdorben hat. Sie Menschen zu komplex. Zum Glück hat heute fast jeder ein Garcia: Die Atmosphäre ändert sich Oben: Rafaela Sie glauben gar nicht, wie innig sich ben, dass die Zeitungen die Proteste haben verboten, dass wir bunte Son- Rocha: Und wer ist wieder mal Smartphone mit Kamera. Für einen alle fünfzig Meter. Auf einmal sehen Miranda Rocha, 30, erklärt Alice Garcia, viele Brasilianer wünschen, europä- letztes Jahr komplett verzerrt und nenschirme aufstellen, erlaubt waren schuld? Dein Arbeitgeber Globo. Polizisten kann eine Kamera gefähr- die Menschen anders aus, bewegen dass sie deren Ar- isch zu sein, es ist absurd. vereinfacht dargestellt haben. nur noch rote, blaue und gelbe. In- Dieser Konzern ist machiavellis- licher sein als eine Waffe. Sie glau- sich anders, tragen andere Klamot- beitgeber Globo für Neto: Stimmt. In den Schulen brin- Inwiefern? zwischen haben wir den Strand zu- tisch organisiert, ein Oktopus mit ben gar nicht, was am Strand so den ten. gefährlich hält. gen sie es sogar unseren Kindern Rocha: Die Demonstranten hatten rückerobert. Die können vielleicht hundert Armen, der die Menschen ganzen Tag passiert, wie willkürlich Neto: Es gibt den Strand für die Lin- Unten: Ernesto bei. Dabei liegen unsere Wurzeln in eine Agenda, eine Liste mit klar de- das Maracaña-Stadion, aber nicht un- auf allen Kanälen verdummt und es da zugeht. Alle behaupten immer, ken, für die Schwulen, für die Schö- Neto und Alice Afrika. Ich weiß nicht, warum das finierten Forderungen, zum Beispiel, sere Seele kaputtmachen. dem man nicht entkommen kann. der Strand in Rio sei ein demokra- nen, für die Familien, für die Rent- Autran Garcia er- keiner wahrhaben will. Ihr kennt dass die Buspreise reduziert werden Welche Rolle spielt der Bürgermeis- Mit achtzig Millionen Zuschauern tischer Ort, aber das ist ein Mythos. ner, für die Kiffer … läutern, wer in doch diese Typen, die am Strand rie- müssen. Aber die Journalisten ha- ter der Stadt? betreibt er das drittgrößte Fernseh- Wo sind die Strände denn? In Ipane- Garcia: … für die Paulistas. Rio an welchen Strand geht. sige Sandburgen bauen. ben diese Forderungen überhaupt Neto: Der steckt mit Coca-Cola und netzwerk weltweit. Aber jetzt mal ma, in Leblon, in Copacabana, im- Die Menschen aus São Paulo? Haben wir gesehen. Sieht toll aus. nicht thematisiert. Sie haben auch Heineken unter einer Decke. Vor was anderes: Ich bin heute morgen mer nur da, wo die Reichen wohnen. Garcia: Ja, die wohnen fast alle in Neto: Finde ich auch. Und wissen nicht recherchiert, ob sie zu Recht zwei Jahren hat er offiziell verboten, von Leblon aus Richtung Ipanema Neto: Jetzt übertreibst du, in Rio den schicken Hotels in Ipanema. Sie, was? Genau das wollen die aufgestellt wurden. Alle haben nur am Strand Kokoswasser zu trinken, am Strand entlanggeradelt. Ihr kann jeder zum Strand gehen. Es gibt Wer aus São Paulo kommt und ein Alice Autran Garcia, Stadtbehörden verbieten. über den Vandalismus berichtet, weil das ja das Geschäft der großen könnt euch nicht vorstellen, wie in Brasilien keine Privatstrände. paar Tage in der Stadt ist, legt Wert 38, war auf der Parsons School of Warum? weil das Auflage bringt. Ich habe Getränkekonzerne kaputtmacht. In- viele Polizisten da am Strand Rocha: Schon, aber wer aus dem darauf, sich am Strand einen Long- Design in New York. Neto: Weil sie Angst haben, dass da- drei Jahre in London studiert und zwischen trinken wir wieder unser waren. Norden kommt, muss erst mal eine drink servieren lassen zu können. Sie 16 Süddeutsche Zeitung Magazin Süddeutsche Zeitung Magazin 17
glauben gar nicht, wie anders die siert, ihr braucht mehr Leben und die Straße gegangen, um gegen die Menschen dort sind. weniger Kontrolle. Wohnungsnot, niedrige Löhne, Kor- In einem Stadtporträt haben wir ge- Quintela: Kapitalismus ist Kontrolle. ruption und die Preiserhöhung im lesen: »Rio ist Kreativität, São Paulo Das hat Karl Marx schon vor 200 Nahverkehr zu protestieren. Verste- DIE PROTESTE Eleganz, Rio ist Karneval, São Paulo Jahren gesagt. hen Sie diese Menschen? Kunstmesse, Rio ist Eitelkeit, São Neto: Und jetzt seid mir bitte nicht Paulo Lins: Ja, aber dazu muss man Im Juni 2013 fanden in Rio Paulo Effizienz.« böse, aber ich muss los, meine Kin- die Geschichte Brasiliens kennen; de Janeiro, aber auch in anderen Städten Brasiliens, die Garcia: Das kommt ungefähr hin. In der warten zu Hause. wir haben hier einiges hinter uns: heftigsten Bürgerproteste seit São Paulo wird man als Erstes ge- 400 Jahre Kolonialisierung, 300 Jahre dem Ende der Militärdiktatur fragt, was für einen Job man hat. Neto nimmt einen letzten Schluck Bier, Sklaverei und von 1964 bis 1985 eine im Jahr 1985 statt. Aus- Paulo Lins, 55, und In Brasilia, welches Sternzeichen steht auf, umarmt alle, die noch hier grausame Militärdiktatur, die von gelöst wurden die Unruhen Feijão, 38, wurden man ist. Und in Rio, an welchen sind, und schlurft in den Abend. Es ist den USA und Europa unterstützt beide in einer Favela durch eine Erhöhung der Bus- tarife, die Hunderttausende Strandabschnitt man geht. dunkel geworden, auch milder. wurde. Als Brasilien Mitte der Acht- geboren. Sie sind zum Anlass nahmen, gegen Kor- Quintela: War ja klar, dass wir früher ziger demokratisch wurde, dachten sich einig: »Die Polizisten in Rio ruption, Preiswucher und oder später über den Strand reden. Haben Sie Angst, nachts durch Rio alle, dass es jetzt bergauf geht, mit soziale Missstände zu demons- gehen willkürlich und Jetzt denken wieder alle, Rio besteht de Janeiro zu laufen? der Infrastruktur, der Qualität der zu brutal vor.« trieren. Am Abend des 20. Juni gingen in ganz Brasilien nur aus guter Laune. Dabei gibt es Garcia: Ich schon. Schulen, dem Gesundheitssystem, insgesamt eine Million Men- hier Tausende von Menschen, die Rocha: Wenn du einmal ausgeraubt aber bis heute ist nichts passiert. Und schen auf die Straße. den Strand noch nie zu Gesicht be- worden bist, verändert es dich, egal jetzt müssen die Menschen zuschau- kommen haben. wie cool du bist. en, wie Milliarden in diese WM inves- Keine Sorge, Frau Quintela, wir er- Wurden Sie schon ausgeraubt? tiert werden, ohne dass irgendje- warten noch den Schriftsteller Pau- Rocha: Einer hat es mal versucht. Er mand nach ihren Bedürfnissen fragt. lo Lins und den ehemaligen Dro- wollte mein Handy und meine Ta- Sind Sie deswegen nach São Paulo Oben: Protestmarsch im Juni 2013 rund um genhändler Feijão, da werden si- sche. Ich habe ihm einfach Geld gezogen? den Guanabara-Palast, dem Sitz des Gouverneurs des cher auch andere Themen zur hingeworfen, damit hat er sich zu- Lins: Nein, für meinen achtjährigen Bundesstaates Rio de Janeiro. Links: Die Polizei Sprache kommen. Wie ist das über- frieden gegeben. Sohn. Der lebt dort mit seiner Mut- ging mit Tränengas, Gummigeschossen und gepanzerten haupt, haben Sie mit Menschen aus Garcia: Hatte er eine Pistole? ter. Ich vermisse Rio, ganz klar, aber Fahrzeugen gegen die friedlich demonstrierende Menge vor. Allein in der Stadt Rio wurden Favelas zu tun? 44 Menschen verletzt. Neto: Natürlich, ich wohne sogar direkt gegenüber von einer. Und wissen Sie, was das Problem ist? Die »Wenn du in Rio überfallen wirst, hilft dir keiner. Favelas werden immer mehr zu ei- Weil niemand wegen jemandem erschossen werden ner Location, einer folkloristischen Szenerie, mit der sich die Menschen möchte, den er noch nie im Leben gesehen hat« schmücken, ohne dass die Bewohner was davon haben. Es gibt zum Bei- spiel einen französischen Typen, der Rocha: Ich glaube ja, aber er hat sie São Paulo ist auch eine faszinieren- hat mitten in einer Favela ein Hotel nicht gezogen. de Stadt, mit unglaublich vielen Solange sie spielen, schießen sie nicht: Die Favela Morro da Mineira gehört zu den eröffnet, wo er eine Party nach der Garcia: Man fühlt es, stimmt’s? Man Einwanderern, Japanern, Peruanern, rund vierzig Armensiedlungen in Rio, in denen eine Polizeieinheit stationiert ist. anderen schmeißt. Und die Leute fühlt, wie weit der andere geht. Italienern, das macht die Stadt kul- kommen in Scharen, weil sie es cool Kommt es vor, dass Passanten ein- turell und kulinarisch aufregend. In finden, in einer so brutalen und ge- springen, um zu helfen? São Paulo leben noch mal acht Mil- walttätigen Gegend abzufeiern. Garcia: Ausgeschlossen. lionen Menschen mehr, dagegen Fotos: dpa picture alliance / Felipe Dana (2); Francesco Zizola / Noor / laif; Frederik Buix Das legendäre Maracaña-Stadion während der Rocha: Und im Gegenzug werden Warum? wirkt Rio fast beschaulich. Umbauarbeiten im Jahr 2012. Früher fasste die Arena die Baile-Funk-Partys verboten. Garcia: Weil keiner wegen jeman- 200 000 Menschen, jetzt nur noch gut 70 000. Baile Funk? Was ist das? dem erschossen werden möchte, den 19 Uhr: Feijão (dt. Bohne), ehemaliger Rocha: Das ist Hip-Hop aus Brasi- er noch nie im Leben gesehen hat. Drogenhändler, betritt den Innenhof. Feijão hat mal nach- gezählt: Im Laufe lien mit Texten, die sich um Drogen, Er trägt ein T-Shirt von Tommy Hil- seines Lebens hat er Sex und Gewalt drehen. Klar mögen 18.30 Uhr: Es kommt Paulo Lins, eine figer und eine Sonnenbrille. Er wohnt 300 Freunde und die das in den Favelas. Das ist ihre Stunde später als vereinbart – der Ver- weit im Norden der Stadt. Als Elke Bekannte durch Schie- DIE FUSSBALL-WM Kultur, ihr Leben. kehr, was sonst? Er ist extra aus São Maravilha ihn sieht, ruft sie aus: »Oh, ßereien verloren. Laut einer Umfrage freuen sich 63 Neto: Ich weiß noch, wie ich am Paulo gekommen, wo er inzwischen Bohnen vernasche ich für mein Leben Prozent der Brasilianer auf die Fußball- 24. Dezember gegen zwei Uhr vor lebt, und verlässt alle paar Minuten gern.« Darauf Feijão: »Sind ja auch Weltmeisterschaft. Das ist nicht viel für ein Volk, das sich als fußballver- die Tür gegangen bin. Sie können den Tisch, um zu rauchen, Tabak um- nahrhaft …« rückt bezeichnet. Grund für die sich nicht vorstellen, was in der Fa- hüllt von getrockneten Maisblättern. Skepsis sind die gut zehn Milliarden Euro, vela los war. Die Menschen haben »Nicht industriell hergestellt«, sagt er, Feijão, Paulo Lins, dürfen wir vor- die das Turnier kostet – Geld, das getanzt und gesungen, die haben »wirkt fast wie Dope.« stellen? viele lieber für Schulen, Krankenhäuser Weihnachten gefeiert, wie ihr es in Feijão: Danke, danke, nicht nötig, und Straßen ausgeben würden. Das WM- Finale findet am 13. Juli im Maracaña- Deutschland gar nicht mehr kennt. Herr Lins, am 20. Juni 2013 sind in ich kenne diesen Mann, jeder in Stadion in Rio de Janeiro statt. Glaubt mir, euer Land ist zu organi- Brasilien eine Million Menschen auf Brasilien kennt ihn. >> 18 Süddeutsche Zeitung Magazin Süddeutsche Zeitung Magazin 19
In Rio leben 1,2 Millionen Menschen den, aber die war nie da, weil sie Roten Phalanx das Comando Ver- in Favelas. Auch Sie beide sind in arbeiten musste. Ich bin zwar zur melho, das Rote Kommando, die Die Bodentruppen erhalten Unterstützung aus der Luft. Bei der Eroberung von Favelas kommt es regel- einer groß geworden. Wie hat sich Schule gegangen, trotzdem hatte größte Drogenorganisation in ganz mäßig zu Schießereien und immer sterben Menschen. die Situation in Rios Armenvierteln mein Tag überhaupt keine Struktur. Brasilien, mit 5000 schwer bewaff- seit Ihrer Jugend verändert? Ich weiß noch, wie sehr ich mir da- neten Kriminellen. Lins: Früher liefen die Drogendealer mals ein Fahrrad gewünscht habe, In den vergangenen Monaten wurde mit Maschinengewehren durch die aber daran war nicht mal zu denken. die Militärpolizei UPP auf mehr als Gassen, heute nicht mehr, zumindest Und dann habe ich mitbekommen, 12 000 Mitglieder aufgestockt. nicht in den befriedeten Favelas. was sich die Drogendealer alles leis- Lins: Die Regierung glaubt, dass sie Aber von den 1000 Favelas, die es ten können, Autos, coole Klamotten, die Lage so unter Kontrolle bringen Die Polizistin Karen in Rio de Janeiro gibt, stehen doch und was für ein Ansehen sie bei den kann, aber das macht sie nur aus Roberta Andrade, 33, hört Feijão aufmerk- nur vierzig unter Polizeischutz. Leuten genießen. Ist doch klar, dass Imagegründen, weil die WM bald sam zu. Sie glaubt: Feijão: Stimmt, in vielen Favelas vor man da auch einer werden möchte. anfängt. Man müsste viel weiter vor- Die Befriedung der allem im Norden der Stadt leisten Ich meine, die hatten Maschinen- ne ansetzen, bei den Kindern und Favelas wird langfristig die Drogenkartelle heftigen Wider- gewehre, wie ich sie vorher nur in Jugendlichen. Es wird doch niemand erfolgreich sein. stand. Erst neulich wurden wieder Rambo gesehen hatte. mit 25 plötzlich zum Verbrecher. sieben Polizisten erschossen. Seit 1993 sind in Rio 25 000 Per- Wir haben uns gestern die befrie- Lins: Diese Befriedung funktioniert sonen verschwunden, jedes Jahr dete Favela Santa Marta ange- ja auch nicht richtig. werden mehr als 4000 Menschen schaut, in der Michael Jackson 1996 Inwiefern? ermordet, die Aufklärungsrate liegt sein Video zu They Don’t Care Lins: Weil das bewaffnete Übernah- bei einem Prozent. Ein Reporter von About Us gedreht hat. Ist so ein Ort Ein Sonntagmorgen im Jahr men sind. Es hat doch nichts mit TV Globo, der mit versteckter Ka- noch repräsentativ? 2011: Eine schwer bewaffnete Eliteeinheit Frieden zu tun, wenn in einem Vier- mera in einer Favela filmen wollte, Lins: Bestimmt nicht. der Polizei stürmt Rios größte Favela DIE FAVELAS tel bewaffnete Militärpolizisten sta- wurde gefoltert, zerstückelt und Feijão: Santa Marta? Das ist ein Zoo! Rocinha, in der zwischen 60 000 tioniert sein müssen, um die Lage verbrannt. Hat Sie diese Gewalt Eine Vorzeige-Favela für Touristen, (offiziell) und 250 000 (inoffiziell) Men- Von den sechs Millionen Einwohnern Rios leben 1,2 Millionen in einer Favela – schen leben. so heißen die rund 1000 improvisierten Armensiedlungen, die meist von Drogenkartellen einigermaßen im Griff zu haben. nicht abgeschreckt? die eine Safari durch den Alltag der oder rechten Milizen kontrolliert werden. Seit 2008 versucht die Regierung, die Das ist doch eher ein Kriegs- oder Feijão: Nein, denn für mich waren armen Leute machen wollen. Favelas gewaltsam zurückzuerobern; bis heute gelten vierzig als »befriedet«, das bedeutet, Belagerungszustand. Und am Ende das ja Wohltäter. Die haben Feste sie sind dauerhaft von bewaffneten Polizeieinheiten besetzt. geht es doch nur darum, die Ge- organisiert und Essen verteilt. Die Karen Roberta Andrade, 33, kommt. genden für Investoren interessant Bösen, das waren die Polizisten, die Sie ist Mitglied der UPP, also der Mili- zu machen. wahllos auf uns geschossen haben. tärpolizei, die in den Favelas stationiert Feijão: Aber irgendwie muss der Lins: Bevor eine Favela befriedet ist. Sie hat sich schick gemacht: viel vollkommen neue Welt, weil ich friedung nichts bringt, weil die Dro- Und dann? Staat doch versuchen, die Drogen- werden kann, muss sie ja erst mal Goldschmuck, lackierte Fingernägel. eher behütet groß geworden bin. genbanden und die Probleme doch Feijão: Wird geschossen, und wer banden zu entmachten. Leider zeigt erobert werden. Man nennt das re- Und jetzt sitze ich da in einer Art nur ins nächste Viertel wandern. muss drunter leiden? Die normalen sich mehr und mehr, dass die Poli- conquista. Dazu kommen tausend Frau Andrade, wir sprechen gerade Container ohne Klimaanlage und Andrade: Da ist schon was dran, aber Leute, die nichts mit Drogen zu tun zisten selbst korrupt sind. Glauben Militärpolizisten mit Panzerfahr- darüber, ob die Befriedung der Fa- mit Toiletten, die praktisch nicht be- wir müssen Geduld haben und lang- haben, aber zwischen die Fronten Sie mir, ich weiß, wie das läuft, ich zeugen und Hubschraubern und velas funktioniert. nutzbar sind. Im Grunde haben wir fristig denken. Außerdem muss die geraten. Denn man darf ja nicht ver- bin selbst mit 13 Jahren zum Dro- schießen erst mal, ohne Fragen zu Karen Roberta Andrade: Also ich Polizisten genau die gleichen Pro- Polizeiausbildung verbessert werden. gessen, dass es auch Hunderttausen- genhändler geworden. stellen. Die sehen brutal aus, mit finde schon. Im Moment arbeite ich bleme wie die 7000 Bewohner. Im Moment ist es so, dass man als de von Menschen gibt, die versu- Wie kam es dazu? Kampfanzügen und Maschinenge- in einer Einheit, die für die psycho- Lins: Haben Sie Angst, wenn Sie in Polizist in Rio keinerlei psycholo- chen, sich mit Fleiß und Ehrlichkeit Feijão: Ganz einfach, meine Nach- wehren. Ich habe mindestens drei- logische Betreuung der Bewohner Ihrem Container sitzen? gische Schulung bekommt. Die jun- aus der Armut rauszuarbeiten. Die barn waren Drogenhändler und ßig Freunde verloren, die bei so ei- zuständig ist. Denn wir sind ja nicht Andrade: Am Anfang hatte ich un- gen Polizisten kommen nach einer stehen auf, haben nichts zu essen, meine Freunde waren auch Drogen- ner reconquista unschuldig umge- nur in den Favelas, um abzuschre- glaubliche Angst, damals musste ich kurzen Ausbildung sofort zu einer fahren morgens zwei Stunden in Niemand legte so händler, wir sagen traficantes dazu. bracht worden sind. cken, wir kümmern uns auch um noch nachts arbeiten, von sechs Uhr UPP-Einheit und sehen sich mit den einem überfüllten Bus zur Arbeit, viele Rauchpausen ein wie Elke Maravilha Diese Favela war mein Universum, Feijão: Ich 300. die Bewohner, gehen mit Kindern abends bis sechs Uhr morgens. Das krassesten Problemen konfrontiert. kommen spät abends nach Hause, Die Militärpolizistin und Paulo Lins. Die ich kannte nichts anderes, also habe Lins: Trotzdem gibt es einen Unter- zum Einkaufen, verteilen Spielsa- war kurz nach der Eroberung der Feijão: Hast du nie mitgekriegt, wie kriegen unterwegs, wenn sie Pech Karen Roberta Andrade beiden sind überzeugt: ich Kokain, Crack und Marihuana schied zwischen der Situation heute chen und Essensspenden. Favela, es gab jeden Tag Gerüchte willkürlich die Polizisten in den Fa- haben, auch noch von der Polizei ist in der Favela Cha- Die Stadt braucht tuba stationiert. »Bei Fotos: picture alliance / Associated Press / Felipe Dana (2) verkauft. Und irgendwann gibt es und damals: Vor dreißig Jahren war Wie lange machen Sie das schon? von Überfällen und Anschlägen. In- velas vorgehen? auf den Deckel und haben am Ende weniger Kontrolle, uns«, sagt sie, »hat es dafür mehr Musik, eben nur noch zwei Sorten von die Kriminalität bei Weitem nicht Andrade: Seit drei Jahren, eigentlich zwischen arbeite ich tagsüber und Andrade: Ich glaube dir das, weil ich des Tages immer noch nicht genug noch keinen Toten Spaß und Liebe. Menschen: gute Kriminelle und so organisiert wie heute. Die Gangs wollte ich gar nicht Polizistin wer- will gar nicht mehr weg. selbst Freunde in Favelas verloren Geld, um ein einigermaßen anstän- gegeben.« böse Kriminelle. Ende der Achtzi- agierten eher lokal. Die organisier- den. Lins: Trotzdem werden Sie von habe, aber selbst erlebt habe ich sol- diges Leben zu führen. gerjahre wurden die Drogenbosse ten Banden haben sich erst Ende Lins: Sondern? Menschen, die einen Angehörigen che Einsätze nicht. Lins: Vor fünf Jahren war ich wieder in Rio idealisiert. Die Menschen ha- der Achtzigerjahre in den Gefäng- Andrade: Ich hatte Pädagogik stu- durch einen Polizisten verloren ha- Feijão: Ich kann dir erzählen, wie so mal in der Cidade de Deus, der Stadt ben Lieder über sie gesungen, weil nissen gebildet, zusammengesetzt diert, aber mein Vater hat mich nach ben, niemals als Friedensstifter an- was abläuft. Da kommen 200 schwer Gottes, wo ich aufgewachsen bin. Ich sie sich von ihnen beschützt gefühlt aus ehemaligen Gefangenen der dem Studium dazu gedrängt, zur erkannt werden. bewaffnete Polizisten, sperren alle habe ein paar alte Freunde besucht, haben. Für uns waren die eine Art Militärdiktatur. Die professionellen Polizei zu gehen. Jetzt bin ich in der Wie viel verdienen Sie? Ausgänge ab, stürmen ohne Vorwar- wir haben gegrillt und Bier getrun- Robin Hood. Drogenkommandos von heute ha- Favela Chatuba im Complexo da Andrade: 2500 Real im Monat, das nung und Durchsuchungsbefehl in ken. Natürlich waren auch ein paar Wie sah Ihr Alltag damals aus? ben alle als politische Gruppie- Penha stationiert, die ganz im Nor- sind ungefähr 850 Euro, nicht viel die Häuser rein und eröffnen das Drogenhändler da, ich meine, ich Feijão: Ich bin bei meiner Großmut- rungen gegen schlechte Haftbedin- den von Rio auf dem Weg zum Flug- für das Risiko, ich weiß. Feuer. Ist doch klar, dass sich die bin dort groß geworden. Plötzlich ter und meiner Mutter groß gewor- gungen begonnen. So wurde aus der hafen liegt. Für mich ist das eine Lins: Also ich finde, dass so eine Be- Leute wehren. kamen Hunderte von Polizisten an- 20 Süddeutsche Zeitung Magazin Süddeutsche Zeitung Magazin 21
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