Zurück in die Zukunft: Erwartungen junger Menschen in Deutschland und Frankreich
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Engagement leben, Zukunft gestalten Tobias Bütow & Anne Tallineau „Schließlich beglückwünsche ich Sie, die Jugend den Schutz des Planeten fördern. Im gemeinsa- von heute zu sein .“ (Charles de Gaulle, September men Handeln wird Vertrauen in die Zukunft erar- 1962) beitet. Denn nur zusammen werden wir die Her- ausforderungen des 21. Jahrhunderts meistern. „Hoffnung ist harte Arbeit. Gegen Ohnmacht hilft kein Weglaufen, gegen Ohnmacht hilft nur losle- Zweitens zeigt (auch) diese repräsentative, gen.“ (Luisa Neubauer, September 2022) deutsch-französische Jugendumfrage, dass sozi- ale und ökonomische Faktoren einen enormen Einfluss auf die Lebenswirklichkeit und die Per- Zwischen der Jugendrede des französischen spektiven junger Menschen haben. Der mit dem Staatspräsidenten Charles de Gaulle und der Élysée-Vertrag vereinbarte deutsch-französische Zukunftsrede der deutschen Klimaaktivistin Luisa Jugendaustausch muss sich mehr denn je an Neubauer liegen fast auf den Tag genau 60 Jahre. junge Menschen richten, denen Europa-Kompe- 60 Jahre nach dem Élysée-Vertrag, mit dem aus tenz und Sprachförderung nicht in die Wiege Feinden Freunde wurden, eint junge Menschen in gelegt wurde. Denn ein interkultureller Austausch Deutschland und Frankreich die Sorge vor der Kli- ist eine einzigartige Chance für jeden jungen makrise. Die größte Bedrohung geht nicht mehr Menschen. Expert:innen der Jugendarbeit und vom Nachbarland aus. Die größte Herausforde- Jugendhilfe sind unverzichtbare Partner, weil sie rung der Gegenwart ist der Klimawandel. das Vertrauen junger Menschen genießen – von den „Quartiers Nord“ in Marseille bis zu den Plat- Die multiplen Krisen unserer Zeit prägen junge tenbauten in Dresden. Menschen in Deutschland und Frankreich. Corona-Pandemie, Krieg und Klimawandel wir- Drittens bestärkt die Studie die Erkenntnis, dass ken sich auf Lebensläufe und Bildungswege aus, Demokratie von Austausch und Teilhabe lebt. bremsen Europa-Erfahrungen oder verändern Interkulturelle Begegnungen und das Kennenler- Europa-Bilder und formen die Zukunftserwartun- nen von Nachbarländern sind in Zeiten von Digi- gen junger Menschen. Inmitten einer ergebnisof- talisierung und Desinformation unverzichtbar. Die fenen Transition nimmt das Deutsch-Französische deutsch-französische Zusammenarbeit bietet ein Jugendwerk (DFJW) den 60. Jahrestag des Ély- optimales Handlungsfeld, um junge Menschen für sée-Vertrags zum Anlass, um jungen Menschen Demokratie und Frieden in Europa zu begeistern in Deutschland und Frankreich zuzuhören. Die und Diversität und Partizipation zu stärken. vorliegende repräsentative Umfrage dient jedoch nicht nur dem Verstehen und Erklären, sondern Wir danken dem Wissenschaftlichen Beirat und auch dem Handeln. Als eine Internationale Orga- den Autor:innen dieser Studie für ihre Expertise nisation für Kinder und Jugendliche nutzen wir die und ihr Engagement. Wir danken dem DFJW- Erkenntnisse, um unsere Programm- und Förder- Team, insbesondere Dr. Claire Demesmay, Anya arbeit weiterzuentwickeln. Seit bald 60 Jahren gibt Reichmann und Tomasz Bertram, sowie Kantar das DFJW jungen Menschen eine Stimme und ori- Public für ihre gewissenhafte und zeitintensive entiert sich an ihren Hoffnungen und Sorgen, an Arbeit. Und wir danken mehr als 3.000 jungen ihren Bedürfnissen und Interessen. Menschen in Deutschland und Frankreich für ihre Teilnahme an dieser Umfrage. Wenn ihre Stim- Erstens werden wir in den kommenden Jahren men nicht nur gehört, sondern in konkretes Han- Umweltverantwortung und Klimaschutz in das deln übersetzt werden, ist nicht nur das Ziel dieser Zentrum von Jugendaustauschen stellen und Umfrage erreicht. Dann können wir mit Hoffnung Projektträger der Bildungs- und Jugendarbeit und Zuversicht junge Menschen in Deutschland mit Fortbildungen und pädagogischem Material und Frankreich beglückwünschen, „die Jugend unterstützen. Interkulturelle Begegnungsprojekte von heute zu sein“. können das Engagement junger Menschen für 3
Auf einen Blick Die gesellschaftlichen Krisen der letzten Jahre Die EU löst in Deutschland grundsätzlich mehr (u.a. Corona, Ukraine-Krieg, Inflation) hinter- Assoziationen aus als in Frankreich, sowohl posi- lassen tiefe Spuren bei den Jugendlichen in tive als auch negative. Insgesamt wird in beiden Deutschland und Frankreich. Dies zeigt sich unter Ländern die EU aber häufiger mit positiven anderem daran, dass mit rund einem Drittel nur Eigenschaften verbunden. Gut die Hälfte der noch eine Minderheit der Jugendlichen in beiden Jugendlichen in beiden Ländern hält die deutsch- Ländern die eigene finanzielle Situation als (sehr) französische Zusammenarbeit politikfeldübergrei- gut bezeichnet. fend für (sehr) wichtig, so dass nur ein geringer Anteil von rund einem Zehntel in beiden Ländern Eine breite Mehrheit von mehr als zwei Dritteln weniger Zusammenarbeit beider Länder auf der Jugendlichen in beiden Ländern ist pessi- europäischer Ebene wünscht. mistisch hinsichtlich der gesellschaftlichen Zukunft und der Ausblick auf die nächsten Jahre Die soziale Herkunft hat in beiden Ländern sehr bei bestimmten politischen Feldern fällt in der starken Einfluss auf die Sichtweisen von Jugend- Mehrheit negativ aus. lichen und erweist sich damit als der stärkste sozio- demographische Erklärungsfaktor. Es zieht sich Nur eine kleine Minderheit von rund einem Zehn- leider als roter Faden durch die Ergebnisse der tel der Jugendlichen sieht in beiden Ländern Jugendstudie, dass Jugendliche aus einfachen keine Notwendigkeit für nennenswerte Ände- Verhältnissen seltener positiv hinsichtlich der eige- rungen in der Politik. Zugleich sind aber auch nen Zukunft gestimmt und häufiger (gar) nicht nur rund ein Drittel (37%) der Jugendlichen in politisch interessiert sind. Auch die Zufriedenheit Deutschland und rund ein Viertel (27%) der mit Demokratie, die Beteiligung an Wahlen, politi- Jugendlichen in Frankreich (sehr) zuf rieden mit sches Engagement und das Vertrauen in politische der Demokratie. Gesellschaftliche Institutionen Institutionen fallen bei ihnen im Vergleich deutlich genießen bei Jugendlichen in beiden Ländern geringer aus. mit Ausnahme der Armee in Frankreich mehr- heitlich nicht (sehr) viel Vertrauen. Trotz all der weiteren Themen ist der Klimawandel am häufigsten unter den drei größten aktuellen Herausforderungen in beiden Ländern genannt. Auch sehen mehr Jugendliche in beiden Ländern, dass die Bekämpfung des Klimawandels Vorrang haben sollte vor weiterem Wirtschaftswachstum als andersherum. 4
Methodik Tabelle 1 Jugendstudie am Vorabend von „60-Jahre-Élysée-Vertrag“ Projekttitel Jugendstudie am Vorabend von „60-Jahre-Élysée-Vertrag“ Stichprobe In Deutschland und in Frankreich lebende Jugendliche Grundgesamtheit im Alter von 16 bis 25 Jahren Auswahlverfahren Quotenstichprobe in einem selbst-rekrutierten Online-Access-Panel Bundesrepublik Deutschland Befragungsgebiet Frankreich Online-Selbstausfüllfragebogen wurde Jugendlichen aus beiden Ländern bereit gestellt. Es fand eine Aussteuerung der Nettostichprobe für vier Quotenränder statt. Die Quotenränder waren: Geschlecht (zwei Merk- Methode male), Alter (2 Gruppen), Region (4 Regionen in Deutschland, 5 Regionen in Frankreich) und Gemeindegrößenklasse (7 Merkmale in Deutschland, 3 Merkmale in Frankreich) Der Online-Selbstausfüllfragebogen wurde im Rahmen eines kognitiven Instrument Pretests (Feldzeit: 27. September bis 3. Oktober) erprobt und vor dem Feld- start überarbeitet Interviewdauer Der Mittelwert lag in beiden Ländern bei 18, der Median bei 16 Minuten Nettointerviews • geplant n = 2 x 1.500 n = 1.729 Interviews insgesamt Deutschland n = 202 Interviews wg. Qualitätsmängeln aus der Auswertung genommen n = 1.527 auswertbare Interviews n = 1.780 Interviews insgesamt Frankreich n = 229 Interviews wg. Qualitätsmängeln aus der Auswertung genommen n = 1.551 auswertbare Interviews Der Datensatz wurde getrennt für Deutschland und Frankreich anhand der Sollstrukturen der amtlichen Statistik gewichtet. Für Deutschland wurden dabei Alter, Geschlecht, Schulabschluss Ost/West, Bundesland, Nielsengebiet, die politische Gemeindegrößenklasse (GKpol) Gewichtung und die Gemeindegrößenklasse BIK 10 berücksichtigt. Für Frankreich wurden dabei Alter, Geschlecht, Bildung (ISCED), die Regionen (NUTS II) und Gemeindegrößenklasse berücksichtigt. Die Effektivität der Gewichtung lag bei 56,26% (D) und 52,79% (FR). Feldzeit 13.10. – 31.10.2022 5
Realisierung der Studie Fragebogen Frage für Frage durchgegangen und die vertiefenden qualitativen Elemente des Leit- Mit Vergabe des Auftrags am 1. September 2022 fadens gezielt umgesetzt. durch das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW) an Kantar Public wurde bis Ende Okto- Im Rahmen der Durchführung dieser Gespräche ber eine deutsch-französische Jugendstudie auf zeigte sich an der einen oder anderen Stelle, dass Basis einer quantitativen Umfrage in einem selbst einzelne Fragen nicht verständlich waren oder rekrutierten Online-Access-Panel realisiert. Der hier nicht einheitlich genug verstanden wurden, so dass vorliegende Kurzbericht dokumentiert die wesent- sie den Qualitätskriterien guter Fragen in standar- lichen Schritte in der Umsetzung der Studie. disierten Umfragen nicht genügten. Die Vorbereitung Auf Basis der in beiden Ländern durchgeführten Hauptaugenmerk in der Vorbereitung der Studie Gespräche fand daher am 6. Oktober ein wurde auf die Entwicklung eines inhaltlich gemeinsamer Termin mit dem DJFW statt, in dem umfangreichen Fragebogens gelegt. Das DFJW gemeinsam die Konsequenzen aus diesem kogni- hatte dazu einen wissenschaftlichen Beirat für die tiven Pretest gezogen wurden, so dass am Ende Studie ins Leben gerufen, der in mehreren Work- eine gemeinsam verabschiedete endgültige Frage- shops eine Vorlage erarbeitet hatte. Diese Vorlage bogenversion vorlag. Diese Fragebogenversion wurde Kantar Public mit Auftragsvergabe über- wurde in beiden Sprachversionen umgesetzt und lassen. Nach einer ersten Sichtung durch Kantar in die finale Programmierung für die Hauptstudie Public wurde diese Vorlage gemeinsam mit dem gegeben. DFJW am 9. und 19. September überarbeitet, so dass eine gemeinsam abgestimmte Version für Die Haupterhebung den kognitiven Pretest vorlag. Die Feldarbeit Der Fragebogen nimmt folgende inhaltliche Nach Freigabe der endgültigen Programmierung Schwerpunkte in den Blick: am 12. Oktober konnte die Haupterhebung am 13. Oktober starten. Dieser Start erfolgt bei Kantar > Zukunft Public mit dem Einsatz einer ersten kleinen Brutto- stichprobe (Soft-Launch), um die Funktionalität des > Politik und Engagement Fragebogens im Echt-Betrieb einem letzten Test zu > Demokratie und Institutionen unterziehen. Dieser Test wurde mit letzten kleinen Anpassungen in der Steuerung der Nettoquoten > Frieden bestanden, so dass ab dem 17. Oktober das weitere > Verhältnis zu Europa und der Stichprobenbrutto zum Einsatz kommen konnte. deutsch-französischen Zusammenarbeit Zur Aussteuerung der Nettostichprobe erwies sich in den weiteren Tagen der Feldarbeit als erforder- Abgerundet wird dieser inhaltliche Fragebogen lich, weiteres Stichprobenbrutto gezielt ins Feld zu durch Fragen zur Soziodemographie. geben. So gelang es, die Feldarbeit am 31. Oktober 2022 beim Stand von 3.509 Interviews insgesamt zu Der kognitive Pretest beenden. Auf Deutschland entfielen n=1.729 Inter- Im Rahmen eines kognitiven Pretests wurde der views und auf Frankreich n=1.780 Interviews. gemeinsam abgestimmte Entwurf des Frage- bogens getestet. Für die Durchführung der Datenbereinigung, Gewichtung und Tabellierung Gespräche lag eine Version des Fragebogens als Die vorliegenden Daten wurden nach Abschluss Leitfaden vor, die um entsprechende vertiefende der Feldarbeit einer Qualitätsprüfung unterzogen. qualitative Elemente erweitert war. Speeder und Straightliner genügen an der Stelle nicht unseren Qualitätsstandard. Speeder liegen Insgesamt wurden im Zeitraum vom 27. Septem- dann vor, sobald die Interviewdauer unterhalb ber bis 3. Oktober 2022 in Deutschland und Frank- von 35% der Medians der Interviewdauer liegen. reich je sechs leitfadengestützte kognitive Pretest- Als „Straightliner“ sind Interviews definiert, in interviews mit Jugendlichen im Alter von 16 bis 24 denen bei Itembatterien auffällige Antwortmuster Jahren durchgeführt. vorhanden sind. Neben dem Ankreuzen des immer gleichen Wertes umfasst dies auch eine geringe Diese Gespräche nahmen einen zeitlichen Rahmen Varianz in diesen Itembatterien und hohe Anteile von 45 bis zu 90 Minuten in Anspruch und wurden von „weiß nicht“. online per MS-Teams geführt. Dabei wurde der Bildschirm der Gesprächsleitung geteilt, auf dem Bei dieser Form der Datenprüfung mussten letz- der Online-Fragebogen sichtbar war. Gemeinsam ten Endes in Deutschland n=202 und in Frank- mit den Jugendlichen wurde dabei der Online- reich n=229 Interviews aufgrund von Qualitäts- 6
Nach der Gewichtung wurde ein umfangreicher mängeln aus dem Datensatz genommen werden. Tabellenband mit mehreren Tabellenköpfen erstellt, Damit umfasste der Datensatz am Ende noch um einen schnellen und zugleich umfassenden n=1.527 auswertbare Interviews aus Deutschland Überblick über die Ergebnisse zu gewährleisten. und n=1.551 auswertbare Interviews aus Frank- reich. Die durchschnittliche Interviewdauer lag in Vorstellung ausgewählter Ergebnisse beiden Ländern bei 18 Minuten, der Median bei 16 Minuten. Im Rahmen einer bilingualen Zoom-Veranstaltung des DFJW wurden von Kantar Public am 16. Novem- Dieser endgültige Datensatz wurde für die ber 2022 ausgewählte Ergebnisse der Studie den Gewichtung genutzt. Im Rahmen der Gewichtung Fachkolleginnen und -kollegen des DFJW und geht es darum, mehreren Vorgaben aus der dem wissenschaftlichen Beirat vorgestellt. Im amtlichen Statistik mit einem Gewichtungsfaktor Anschluss konnte der wissenschaftliche Beirat Rechnung zu tragen. In einem mehrstufigen seine Detailauswertungen in Vorbereitung der Gewichtungsprozess werden die Strukturen der Veröffentlichungen rund um 60. Jahrestages des Nettodaten an diese Vorgaben angepasst. Dabei Élysée-Vertrags aufnehmen. kommen diese Vorgaben in unterschiedlichen Rändern zum Einsatz. Für Deutschland wurden dabei Alter, Geschlecht, Schulabschluss Ost/ West, Bundesland, Nielsengebiet, die politische Gemeindegrößenklasse (GKpol) und die Gemeinde- größenklasse BIK 10 berücksichtigt. In Frankreich umfasste das Alter, Geschlecht, Bildung (ISCED), die Regionen (NUTS II) und Gemeindegrößenklasse. Die Effektivität der Gewichtung lag bei 56,26% (D) und 52,79% (FR). Beide Gewichtungen wurden im Datensatz in einem Gewichtungsfaktor abgelegt, so dass mit Nutzung dieses Gewichtungsfaktors ein für beide Länder gewichteter Datensatz vorliegt. Exkurs Abbildung der Grundgesamtheit und Repräsentativität Quotenstichproben auf Basis von selbst rekru- tierten Online-Access-Panels genügen nicht den Kriterien von Zufallsstichproben. Merkmal von Nielsen Zufallsstichproben ist, dass für alle Elemente der Nielsengebiete ist eine Aufteilung aller Bundes- Grundgesamtheit (hier: Jugendliche im Alter von länder nach bestimmten Kriterien. Dabei werden 16 bis 25 Jahren in Deutschland und Frankreich) eine die Länder zusammengefasst, bei denen die berechenbare Auswahlwahrscheinlichkeit vorliegt, Marktgegebenheiten wie Kaufkraft und Konsum- die größer 0 ist. Online-Access-Panels, die von der verhalten ähnlich sind. Anmeldung durch die Zielpersonen abhängen, ist das per definitionem nicht der Fall. BIK Die BIK-Regionen und Verflechtungsgebiete Um möglichst dennoch gut die Grundgesamt- sind eine bundesweite räumliche Gliederungs- heit abbilden zu können, werden Quotenstich- systematik, die die Stadt-Umland-Beziehungen proben realisiert, die aufgrund der Stichproben- auf Gemeindeebene für Ballungsräume, Stadt- steuerung bestmöglich die Grundgesamtheit regionen, Mittel- und Unterzentren darstellt. anhand von Quotenvorgaben auf Basis amtlicher Statistik abbilden. Diese Vorgehensweise ist unter ISCED forschungsökonomischen Gesichtspunkten immer International Standard Classification of Education dann angemessen, wenn der bei weitem größere (ISCED) Aufwand für streng zufallsbasierte Stichproben aus Internationale Standardklassifikation für das zeitlichen und / oder finanziellen Gründen nicht Bildungswesen, erstellt von der UNESCO realisierbar ist. 7
Inhaltsverzeichnis Engagement leben, Zukunft gestalten 3 Tobias Bütow & Anne Tallineau Methodik 4 Einleitung Jugendliche in Deutschland und Frankreich: Wie blicken sie in die Zukunft? Patricia Loncle & Sabine Walper 9 Klima Macht oder Ohnmacht: Junge Menschen in der Klimakrise Josephine Ehm 12 Politische Partizipation Zu wenig Einfluss, zu wenig Beteiligung Miriam Hartlapp 14 Schule Unterschiedliche Einstellungen zur Schule in Deutschland und Frankreich Olivier Galland 22 Deutsch-f ranzösische Beziehungen Ein Stabilitätsanker in einer Zeit der Ungewissheit Claire Demesmay 31 Autor:innen 36 Impressum 38 8
Einleitung Jugendliche in Deutschland und Frankreich: Wie blicken sie in die Zukunft? Patricia Loncle & Sabine Walper In der Jugendstudie des Deutsch-Französischen Anlass zur größten Unzufriedenheit (35 Prozent Jugendwerks (DJFW) wurden Jugendliche in in Deutschland, 29 Prozent in Frankreich). 2 Dieses Deutschland und Frankreich zu einer Reihe von Ergebnis ist nicht ganz überraschend und bestä- Themen befragt, darunter auch zu ihren Zukunfts- tigt andere Studien, die die Systemmüdigkeit der perspektiven. Dabei zeichnen sich zwei Trends ab, Jugendlichen belegen. Jugendliche in Deutsch- die einen genaueren Blick lohnen: Die befragten land und Frankreich lagen in ihren Einstellungen Jugendlichen sind eher pessimistisch, was die aber nicht immer so dicht beieinander. Ein Ergeb- Zukunft der Gesellschaft angeht, der sie angehö- nis einer Werte-Befragung von 1999 war, dass es ren, aber eher optimistisch im Hinblick auf ihre gerade zwischen Deutschland und Frankreich eigene Zukunft. große Unterschiede im Grad der Politisierung gab (Die Gruppe der am stärksten engagierten Jugendlichen war in Deutschland 20 Prozentpunk- Um die Einstellungen – und die Veränderungen te großer als in Frankreich 3). Wenn die entspre- der Einstellungen – der vom DFJW befragten chenden Ergebnisse in der jetzigen Befragung Jugendlichen in Deutschland und Frankreich zu dagegen mehr oder weniger gleich ausfallen, lässt verstehen, haben wir uns entschlossen, ähnlich das für die Jugendlichen in Frankreich auf eine im gelagerte, wenn auch schon etwas ältere inter- Großen und Ganzen unveränderte, für die Jugend- nationale Studien heranzuziehen, um Verände- lichen in Deutschland dagegen auf eine erheblich rungen über die Zeit zu vergleichen. Eine solche verschlechterte Situation schließen. Möglichkeit bietet die 2008 veröffentlichte Studie „Les jeunesses face à leur avenir; une enquête internationale”. 1 Sie offenbarte deutliche Unter- Mehr Vertrauen in die europäische Solidarität schiede in den Zukunftserwartungen der Jugend- Trotz dieser durchwachsenen Ergebnisse bringen lichen in Deutschland und Frankreich, vor allem in die befragten Jugendlichen der europäischen den Punkten Zugehörigkeitsgefühl und Vertrauen Solidarität insgesamt Vertrauen entgegen. Wenn zu anderen. In der jetzt vorliegenden Studie stim- es um die deutsch-französische Zusammenar- men ihre Einstellungen dagegen im Wesentlichen beit geht, äußern 45 Prozent der Jugendlichen in überein. beiden Ländern, dass sie die Entwicklung in den nächsten fünf Jahren optimistisch sehen. Die Soli- darität zwischen den Ländern in Europa gibt 42 Zu wenig Beteiligung am öffentlichen Leben Prozent in Deutschland und 38 Prozent in Frank- Auf die Frage nach ihren Erwartungen an die Insti- tutionen ihres Landes äußern sich die Jugend- lichen beiderseits des Rheins pessimistisch, vor 2. Kantar Public, Jugendstudie am Vorabend von „60-Jahre-Ély- allem wenn es um die Möglichkeiten ging, selbst sée-Vertrag“– Ausgewählte Ergebnisse: Blick der Jugend auf die am öffentlichen Leben teilzunehmen. Zukunft. Die Jugendstudie wurde vom DFJW in Auftrag gegeben. Frage 1 lautet: „Starten wir mit einigen Fragen rund um Ihre aktu- elle Lebenssituation. Bitte geben Sie an, wie zufrieden Sie mit den jeweiligen Inhalten gegenwärtig sind.“ Auf einer Skala von 1 (sehr Die Teilnahme am öffentlichen Leben ist für unzufrieden) bis 5 (sehr zufrieden) sollten die Befragten ihre Zu- Jugendliche in Frankreich wie in Deutschland friedenheit in Bezug auf folgende Punkte beschreiben: Mit Ihren Möglichkeiten, ihr Leben selbst zu gestalten/ Mit ihrer Wohnsitu- ation/ Mit ihren Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung/ Mit ihrem Freundeskreis/ Mit ihren beruflichen Perspektiven/ Mit ihrer Situ- 1. Fondation pour l’innovation politique, 2008. Auf Deutsch: ation in Sachen Schule, Ausbildung, Studium oder Beruf/ Mit Ihrer „Junge Menschen angesichts ihrer Zukunft: eine internationale Familie/ Mit ihren eigenen politischen Beteiligungsmöglichkei- Studie“. Die Umfrage wurde 2006 in 17 Ländern (Europa, Asien, ten. Vereinigte Staaten) durchgeführt; befragt wurden Personen im 3. Bréchon, P. (2005) Generation and Politics in Western Europe » Alter von 16 bis 29 Jahren; für das Buch wurden 17 000 Fragebögen in Galland, O. und Roudet, B (Eds.) Les jeunes Européens et leurs ausgewertet. valeurs, Europe occidentale, Europe centrale et orientale (93-116). La Découverte. 9
reich Anlass zu einem optimistischen Blick in die Dringlichkeit der Lage und ihr geringes Vertrauen Zukunft. 4 in die Bereitschaft der europäischen Institutionen, angemessen zu reagieren. Das ist insofern interessant, als die letzte Werte- Mehr Vertrauen in die eigene Zukunft Umfrage 2017 ergeben hatte, dass das Gefühl, von Während zwei Drittel der hier befragten jungen den europäischen Institutionen wahrgenommen Menschen die gesellschaftliche Zukunft des eige- zu werden, gerade bei der jüngeren Generation nen Landes insgesamt eher düster sehen (69 schwach ausgeprägt war. 5 Eine mögliche Erklä- Prozent in Deutschland; 67 Prozent in Frankreich), rung ist, dass Menschen in Zeiten des Krieges fällt die Einschätzung der persönlichen Zukunft (Krieg ist die zweitwichtigste Herausforderung, vor optimistischer aus. 9 Rund die Hälfte der Jugend- allem für die Jugendlichen in Deutschland) größe- lichen und jungen Erwachsenen sieht die eige- re Hoffnungen in die Fähigkeit der europäischen ne Zukunft eher zuversichtlich, in Frankreich mit Solidarität setzen, dieser Bedrohung wirksam 51 Prozent ein noch etwas größerer Anteil als in entgegenzutreten. Für diese Hypothese sprechen Deutschland mit 43 Prozent. Allerdings schätzt in die unterschiedlichen Bewertungen des Krieges Frankreich auch jede:r Vierte die eigene Zukunft als eine der großen Herausforderungen unserer düster ein (25 Prozent), während dies in Deutsch- Zeit: Für 56 Prozent der Jugendlichen in Deutsch- land nur für 13 Prozent gilt. Dort fallen die Einschät- land, aber nur 32 Prozent der Jugendlichen in zungen häufiger „gemischt“ – mal so, mal so – aus Frankreich gehört Krieg zu den größten Heraus- (44 Prozent; Frankreich: 24 Prozent). forderungen. 6 Es überrascht nicht, dass junge Menschen Der Klimawandel als besonders dringliches ihre persönlichen Perspektiven optimistischer Problem einschätzen als die der Gesellschaft insgesamt. Fragt man Jugendliche nach der größten Heraus- Dies ist ein häufiger Befund von Befragungen forderung unserer Zeit, nennen sie in beiden quer durch alle Altersgruppen und alle Länder Ländern den Klimawandel (66 Prozent in Deutsch- Europas, den auch die eupinions-Studie aus dem land, 62 Prozent in Frankreich). Dieses Thema Jahr 2019 für Erwachsene bestätigt. 10 Das persön- macht ihnen noch größere Sorgen als Krieg (56 liche Umfeld ist überschaubarer, und der eige- Prozent bzw. 32 Prozent) oder steigende Preise ne Erfolg liegt mehr in der eigenen Hand als die (47 Prozent bzw. 48 Prozent). Man kann gar nicht gesellschaftliche Entwicklung, die komplexer und genug betonen, wie wichtig die Klimafrage für in ihrer Steuerung undurchsichtiger ist. Dieses diese Generation ist. 7 Hier zeichnet sich eine deut- „Optimismus-Pessimismus-Paradox“ war nach liche Veränderung gegenüber früheren Jahren ab: den eupinion-Befunden in Deutschland noch stär- Als es in der Werte-Umfrage von 1999 um militan- ker ausgeprägt als in Frankreich, wo der Optimis- te, organisierte Umweltschützer ging, titelte Jean- mus insgesamt gedämpfter war (nur 39 Prozent Paul Bozonnet über die Ergebnisse: „Die Umwelt- persönlicher Optimismus). Umso mehr überrascht, schutzbewegung in Europa: Jugend wendet sich dass der persönliche Optimismus unter jungen ab“. 8 Demgegenüber ist in der DFJW-Befragung Menschen der hier berichteten Studie in Frank- die Betroffenheit der Jugendlichen angesichts reich deutlicher ausgeprägt ist als in Deutschland. der Dringlichkeit des Klimaproblems offensicht- In der Shell-Jugendstudie 2019 11 waren immerhin lich, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass noch 58 Prozent der Jugendlichen und jungen sie beides zugleich betonen: ihr Bewusstsein der Erwachsenen in Deutschland hinsichtlich ihrer persönlichen Zukunft eher zuversichtlich. Die 4. Frage 7 der DFJW-Umfrage lautet: „Wie optimistisch / pessi- mistisch für die nächsten rund fünf Jahre sind Sie in Bezug auf COVID-19-Pandemie mit wiederholten Kontakt- die Entwicklung von“ in Bezug auf die folgenden Themen: Klima- beschränkungen und problematischen Bedin- schutz/ Zusammenhalt in unserer Gesellschaft/ Frieden in der Uk- gungen für die Bildung dürfte diesen Optimismus raine/ Solidarität zwischen den Ländern in Europa/ Arbeitsmarkt- situation/ Deutsch-französische Zusammenarbeit/ Entwicklung gedämpft haben. der Preise für die Energieversorgung/ Entwicklung der Preise für Lebensmittel. Die Befragten sollten ihre Einschätzung auf der Ska- la 1 (sehr pessimistisch) bis 5 (sehr optimistisch) einordnen. 5. Halman, L., Reeskens, T., Sieben, I., & van Zundert, M. (2022). Atlas of European Values: Change and Continuity in Turbulent Times. https://doi.org/10.26116/6P8V-TT12 9. Frage 2 der DFJW-Umfrage lautet: „Wie stellen Sie sich Sie Ihre 6. Frage 6 der DFJW-Umfrage lautet: Welches sind Ihrer Meinung eigene Zukunft vor? Man kann ja die Zukunft, wie das eigene Le- nach die drei größten Herausforderungen unserer Zeit? Bitte ben so weitergehen wird, eher düster oder eher zuversichtlich se- fangen Sie mit der größten Herausforderung an.“ Zur Auswahl hen? Wie ist das bei Ihnen? Eher düster, eher zuversichtlich oder standen: Klimawandel/ Krieg/ atomare Bedrohung/ Terrorismus gemischt, mal so – mal so?“ (innere Sicherheit)/ Einwanderung/ Krankheiten/ zu hohe Preise/ Es folgt Frage 3 mit folgendem Wortlaut: „Und wie ist es mit der Spaltung der Gesellschaft/ Fremdenfeindlichkeit und Rassismus/ Zukunft unserer Gesellschaft? Sehen Sie die eher düster oder eher Armut/ Arbeitslosigkeit/ Nichts davon/ Weiß nicht. zuversichtlich?“ 7. Siehe hierzu den Beitrag von Josephine Ehm auf Seite 12. 10. De Vries, C.E. & Hoffmann, I. (2022). The optimism gap. Perso- 8. Bozonnet, J.-P. (2005). Ecologism in Europe: Young people de- nal complacency versus societal pessimism in European public sert. In O. Galland & B. Roudet (Eds.), Les jeunes Européens et leurs opinion. Eupinion. Bertelsmann. valeurs, Europe occidentale, Europe centrale et orientale (147-176). 11. Shell Deutschland Holding (2019) Jugend 2019. Eine Generation 10 La Découverte. meldet sich zu Wort, 18, Shell Jugendstudie, Beltz.
Familie und Freunde geben Kraft in unsicheren Deutschland und 30 Prozent in Frankreich diesen Zeiten Bereich als schlecht oder sehr schlecht einstufen. 18 Fragt man nach der Zufriedenheit mit der persön- Ebenfalls nur jede:r Dritte hält es für sehr wahr- lichen Lebenssituation, dann sind sich die jungen scheinlich oder eher wahrscheinlich, dass es ihm/ Menschen in beiden Ländern einig: Jeweils ihr einmal materiell besser gehen wird als den 65 Prozent sind zufrieden oder sehr zufrieden mit Eltern, während jede:r Vierte dies für überhaupt der Familie, die damit Spitzenreiter ist und noch nicht oder wenig wahrscheinlich hält. Hier sind vor dem Freundeskreis liegt (57 Prozent zufrieden sich die jungen Menschen in Deutschland und oder sehr zufrieden in Deutschland, 59 Prozent in Frankreich einig. 19 Frankreich). 12 Auch die Shell-Jugendstudie 2019 weist für die große Mehrheit in Deutschland ein Große Unterschiede je nach sozialer Herkunft 20 gutes und im Zeitverlauf noch besser werdendes In beiden Ländern hat die soziale Herkunft deutli- Verhältnis zu den Eltern aus. 13 Obwohl die Zeit der chen Einfluss auf die Wahrnehmung der Zukunfts- COVID-19-Pandemie auch an den Familienbezie- perspektiven. In Deutschland und Frankreich sieht hungen keineswegs spurlos vorbei gegangen ist, nur jeder dritte Jugendliche und junge Erwachse- scheinen sie die Belastungen besser überstan- ne aus der Unterschicht die eigene Zukunft eher den zu haben als die gerade für junge Menschen zuversichtlich, während sich in der französischen zentralen Freundschaftsbeziehungen, die von den Oberschicht zwei Drittel (68 Prozent) und in der Kontaktbeschränkungen oft noch stärker betrof- deutschen Oberschicht immerhin 50 Prozent opti- fen waren. Während vor der Pandemie 92 Prozent mistisch über ihre Zukunft äußern 21. Je niedriger der 15- bis 25-Jährigen, die 2019 im AID:A-Survey der sozioökonomische Status der Herkunftsfami- des Deutschen Jugendinstituts befragt wurden, lie ist, desto unzufriedener sind die Befragten in mit ihrem Freundeskreis zufrieden waren, galt dies beiden Ländern mit ihren beruflichen Perspekti- 2021 nur noch für 73 Prozent der Befragten. 14 In der ven. In Frankreich gilt das auch für die Einschät- COPSY-Studie berichteten 39 Prozent der Kinder zung der jungen Menschen, wie es mit ihren und Jugendlichen, dass ihre Freundschaftsbezie- Gestaltungsmöglichkeiten bestellt ist. Dieser hungen durch die Pandemie belastet wurden. 15 Trend ist in Deutschland weniger ausgeprägt, aber nur deshalb, weil hier auch die Angehörigen der Weniger Vertrauen in die persönliche Oberschicht mit ihren Gestaltungsmöglichkeiten Autonomie... unzufrieden sind. Die Möglichkeiten, ihr Leben selbst zu gestalten, schätzen die jungen Befragten mit 56 Prozent in Auch wenn die Perspektiven junger Menschen in Deutschland und 55 Prozent in Frankreich mehr- beiden Ländern variieren und sich beispielsweise heitlich positiv ein 16. Aber auch hier hat die Corona- je nach sozialer Schicht in vielen Bereichen unter- Pandemie ihre Spuren hinterlassen: Waren 2019 scheiden, zeigt sich trotz dieser Unterschiede ein noch 82 Prozent der jungen Menschen in Deutsch- breiter Konsens beim Vergleich der beiden Länder. land mit ihrer Möglichkeit, ihr Leben selbst zu Zugleich ist diese Einheit in der Vielfalt ein positi- gestalten, zufrieden, galt das 2021 unter Pande- ves Zeichen für die weitere Zusammenarbeit der miebedingungen nur noch für 64 Prozent der beiden Länder. Befragten. 17 Der Freizeitbereich, der für die indi- viduelle Autonomie zentral ist, schnitt ähnlich ab und hat ebenfalls unter der Pandemie gelitten. ... oder die finanzielle Zukunft. 18. Frage 8 der DFJW-Umfrage lautet: „Wie würden Sie insgesamt Ihre eigene finanzielle Situation bezeichnen?“. Zur Auswahl stan- Diese Einschätzung hat ihre Entsprechung in den den: sehr schlecht/ schlecht/ teils, teils/ gut/ sehr gut/ Weiß nicht. finanziellen Sorgen der Befragten. Nur rund ein 19. Frage 9 der DFJW-Umfrage lautet: „Für wie wahrscheinlich hal- Drittel der Jugendlichen und jungen Erwachse- ten Sie es, dass es Ihnen finanziell und materiell einmal besser- gehen wird als Ihren Eltern?“. Die Befragten konnten eine Antwort nen wertet die eigene finanzielle Situation als gut auf einer Skala von 1 (überhaupt nicht wahrscheinlich) bis 5 (sehr oder sehr gut (Deutschland: 37 Prozent; Frank- wahrscheinlich) geben. 20. Abbildung der sozialen Herkunftsschicht der Jugendlichen: reich: 31 Prozent), während immerhin 24 Prozent in Die soziale Herkunftsschicht der Jugendlichen wurde mit Hilfe eines Index gebildet. Der Schicht-Index basiert auf zwei Dimen- sionen: Bildungsposition der Herkunftsfamilie sowie verfügbare 12. Für den Wortlaut von Frage 1 der Umfrage, siehe Fußnote 2. materielle Ressourcen. 13. Wolfert, S. und Quenzel, G. (2019). Vielfalt jugendlicher Lebens- Die Bildungsposition der Herkunftsfamilie wird anhand der In- welten : Familie, Partnerschaft, Religion und Freundschaft (133- dikatoren „höchster allgemeinbildender Schulabschluss des Va- 161). In: Shell Deutschland Holding (Eds.) (2019) Jugend 2019. Eine ters / der Mutter“ und „Häufigkeit des Vorlesens in der Kindheit“ Generation meldet sich zu Wort, 18, Shell Jugendstudie, Beltz. bestimmt. Die materiellen Ressourcen werden anhand der Sel- 14. Berngruber, A., Gaupp, N. und Pothmann, J. (2022). Jungsein in bsteinschätzung der Jugendlichen, wie zufrieden sie mit ihrer fi- der Pandemie (6-13), Impulse (2/22). nanziellen Situation sind, sowie anhand der Wohnform der Eltern 15. Ravens-Sieberer, U., Kaman, A., Erhart, M., Devine, J., Schlack, R. “Eigentum“ oder „Miete“ abgebildet. und Otto, C. (2022). Impact of the COVID-19 pandemic on quality of Die Punktwerte der Variablen werden zu einem Summenindex life and mental health in children and adolescents in Germany (879- addiert. Der Summenindex kann Ausprägungen von 3 bis 14 Pu- 889), European Child & Adolescent Psychiatry, Reihe 31, n° 6. nkten erreichen. Zur Bildung des Index der sozialen Schicht wird 16. Für den Wortlaut von Frage 1 der Umfrage, siehe Fußnote 2. der Summenindex in 5 Gruppen eingeteilt. 17. Ravens-Sieberer et al. (2021), op. cit. [16] 21. Für den Wortlaut von Frage 2 der Umfrage, siehe Fußnote 9. 11
Klima Macht oder Ohnmacht: Junge Menschen in der Klimakrise Josephine Ehm Dieser Tage liest man in der deutschen Presse immer temperatur 2019 um 1,1 Grad Celsius über dem wieder über Aktionen der „Letzten Generation“. Das vorindustriellen Wert. 2 Die Auswirkungen dieses Bündnis von Aktivist:innen aus der Umweltschutz- Temperaturanstiegs sind bereits heute zu spüren: bewegung erregt nahezu täglich Aufmerksam- Extreme Wetterereignisse wie Hitzewellen, Dürren, keit für ihre Aktionen des zivilen Ungehorsams wie Brände, Stürme oder Überschwemmungen sind die Klebe-Blockaden im Straßenverkehr oder das kein Einzelfall mehr. Diese Folgen bereiten jungen Beschmieren bedeutender Kunstwerke in Museen. Menschen Angst, und die Frage, die sich ihnen Sicherlich kann man die Aktivist:innen für ihre Akti- aufdrängt, lautet: „Wird es uns gelingen das Fort- onen kritisieren und deren Sinn hinterfragen. Man schreiten des Klimawandels und die damit verbun- kann der „Letzten Generation“ auch vorwerfen, dass dene Verschärfung der Klimakrise zu verhindern?“ ihre Maßnahmen zu weit gehen und es inakzepta- bel ist, dass sie stundenlang Straßen und somit die Angst und Ohnmacht Zufahrt für Krankenwagen blockieren oder es riskie- So gerne wir optimistisch auf die Zukunft blicken ren, ein Van-Gogh-Gemälde zu beschädigen. Doch würden, so wissen wir alle, dass angesichts der was uns dieses Bündnis in Erinnerung ruft, uns wie weltweit mangelhaften Bemühungen eine posi- durch ein Brennglas zeigt: Die Klimakrise ist eine tive Antwort immer unwahrscheinlicher ist. Diese reale Bedrohung und sie ist dringend, uns läuft die Aussicht erzeugt nicht nur ein Gefühl von Angst, Zeit davon, in der wir noch handeln können! sondern auch eines von Ohnmacht: Wir sehen zu, wie die Krise unaufhaltsam ihre Spuren auf der Die Angst vor der Klimakrise ist allgegenwärtig. ganzen Welt hinterlässt, und wir merken, dass wir, Dieses Gefühl verspüren vor allem junge Menschen. wenn wir als Einzelne handeln, das Klima nicht Sie sind sich der Konsequenzen des Klimawandels retten können. Dieses Gefühl lähmt uns. Denn der und der daraus resultierenden Herausforderungen Wunsch nach einer lebenswerten Welt für alle, besonders bewusst. Wenn wir einen Blick auf die nach einem Aufhalten des Klimawandels, ist groß Jugendstudie des Deutsch-Französischen Jugend- und eint uns mit jungen Menschen überall. In den werks (DFJW) werfen, so bestätigt sie diese Feststel- letzten Jahren bin ich vielen Jugendlichen aus lung. Auf die Frage: „Welches sind Ihrer Meinung Deutschland und Frankreich begegnet, und auch nach die drei größten Herausforderungen unserer wenn wir oft unterschiedliche Ansichten vertraten, Zeit?“, antwortete eine Mehrheit der Jugendlichen gab es ein Thema, bei dem sich alle, ausnahmslos in Deutschland und Frankreich, dass für sie der alle, einig waren: der Klimaschutz. Klimawandel oben steht. 1 Wenn wir das Wort „Klimakrise“ hören, denken Ich wähle in diesem Essay bewusst den Begriff der wir nicht nur an die direkten Auswirkungen auf „Krise“, denn er beschreibt am besten die Lage, die Natur, sondern an alles, was damit verbun- in der wir uns befinden und wie junge Menschen den ist. Wir junge Menschen denken an unsere sie fühlen. Nach Angaben der Weltorganisation Zukunft: „Wie wird eine Welt aussehen, der es nicht für Meteorologie lag die globale Durchschnitts- gelingt, den Klimawandel einzudämmen? Werden Menschen flüchten müssen, weil ihr Lebensraum 1. Kantar Public, Jugendstudie am Vorabend von „60-Jahre-Ély- unbewohnbar ist? Wie viele Tierarten werden noch sée-Vertrag“– Ausgewählte Ergebnisse: Blick der Jugend auf die Zukunft. Die Jugendstudie wurde vom DFJW in Auftrag gegeben. aussterben? Werden wir trotz des klimaschutz- Frage 6 lautet: Welches sind Ihrer Meinung nach die drei größten bedingten Strukturwandels in der Industrie noch Herausforderungen unserer Zeit? Bitte fangen Sie mit der größten Herausforderung an.“ Zur Auswahl standen: Klimawandel/ Krieg/ atomare Bedrohung/ Terrorismus (innere Sicherheit)/ Einwande- 2. World Meteorological Organization (2020). WMO Statement on rung/ Krankheiten/ Zu hohe Preise/ Spaltung der Gesellschaft/ the State of the Global Climate in 2019. Chair, Publications Board, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus/ Armut/ Arbeitslosigkeit/ World Meteorological Organization, https://library.wmo.int/doc_ 12 Nichts davon/ Weiß nicht. num.php?explnum_id=10211.
sichere Arbeit haben? Werden wir ausreichend Das Gefühl von Ohnmacht entsteht, weil Jugendli- finanziell unterstützt werden, um unsere Wohnun- che sich nicht gehört fühlen. Ein erster Schritt wäre gen und Häuser klimaneutral umzubauen? Wer es, jungen Menschen einen Raum für ihre Ängste wird die Kosten für die Klimakrise tragen?“ zu geben. Welche sind ihre größten Sorgen, und wie können wir sie am besten lösen? Als nächstes An der Bandbreite der Fragen, wird deutlich, was ist es unerlässlich, junge Menschen regelmäßig zu die Klimakrise wirklich bedeutet: gravierende den Fragen zu konsultieren, wie und welche poli- Veränderungen in allen Lebensbereichen. Es ist tischen Maßnahmen umgesetzt werden müssen, also nicht verwunderlich, dass auf die Frage: „Wie um das Fortschreiten des Klimawandels zu verhin- optimistisch / pessimistisch für die nächsten rund dern. Dies heißt nicht, dass jede ihrer Forderungen fünf Jahre sind Sie in Bezug auf die Entwicklung angenommen werden sollte, vielmehr steht hier von Klimaschutz?“ nur 20 Prozent der jungen die Teilhabe an Entscheidungen, an dem Aushand- Menschen beider Länder antworten, sie seien opti- lungsprozess unserer Zukunft, im Vordergrund. mistisch oder sehr optimistisch. 3 Nicht zuletzt ist Diese Teilhabe darf auch nicht nur symbolisch ein Blick auf die Bedeutung der sozialen Herkunft gestaltet sein, sondern ihr muss die entsprechende in diesem Kontext wichtig. Der Klimawandel wird Umsetzungskraft verliehen werden. Warum wird so vor allem bei jungen Menschen aus besseren wenig auf die Meinung junger Menschen geachtet, Herkunftsverhältnissen als Herausforderung wahr- obwohl es um ihre Zukunft geht? Obwohl es vor genommen. 4 allem sie sind, die mit den Folgen der Klimakrise werden leben müssen? Wer kann sich Klimaschutz leisten? Mit der Klimakrise geht auch die Frage nach sozia- Sollte es gelingen jungen Menschen diesen Raum ler Gerechtigkeit einher. Das Aufhalten dieser Krise und diese Teilhabe zu ermöglichen, ihnen die Chan- bedeutet, dass wir anders leben müssen: anders ce zu geben, ihre Zukunft gestalten, dann sehe ich einkaufen, weniger Plastik, mehr regional; uns darin den Weg aus Aussichtlosigkeit und lähmen- anders fortbewegen, weniger umweltverschmut- der Ohnmacht. Es könnte die letzte Möglichkeit zende Autos, mehr Elektro-Autos; anders arbeiten, sein, die Ohnmächtigen der Klimakrise zu den weniger Berufe in klimaschädlichen Industrien, Mächtigen werden zu lassen. mehr Berufe in klimafreundlichen. Das Aufhal- ten der Klimakrise wird an diesem Punkt zu einer Frage der sozialen Teilhabe, nämlich der Frage danach, ob man sich Klimaschutz leisten kann, wenn man aus benachteiligten sozialen Verhältnis- sen kommt. Viele Jugendliche können die Klimakri- se nicht als wichtigste Herausforderung ansehen, weil sie selbst zunächst an den Herausforderungen arbeiten müssen, die mit sozialer Ungerechtigkeit einhergehen. Die zentrale Frage, die sich im Rahmen der Studie bezüglich der Klimakrise stellt, ist: „Kann jungen Menschen die Angst vor dieser Krise genommen werden?“ Nein, das denke ich nicht. Doch was jungen Menschen genommen werden kann, ist das bedrückende Gefühl der Ohnmacht. 3. Frage 7 der DFJW-Studie lautet: „Wie optimistisch / pessimis- tisch für die nächsten rund fünf Jahre sind Sie in Bezug auf die Entwicklung von Klimaschutz?“ Die Befragten sollten auf der Skala von 1 (sehr pessimistisch“ bis 5 (sehr optimistisch) angeben, wie sie die Zukunft für folgende Politikfelder einschätzen: Klima- schutz/ Zusammenhalt in unserer Gesellschaft/ Frieden in der Uk- raine/ Solidarität zwischen den Ländern in Europa/ Arbeitsmarkt- situation/ Deutsch-französische Zusammenarbeit/ Entwicklung der Preise für die Energieversorgung/ Entwicklung der Preise für Lebensmittel. 4. Für den Wortlaut von Frage 6, siehe Fußnote 1 13
Politische Partizipation Zu wenig Einfluss, zu wenig Beteiligung Miriam Hartlapp innerhalb der Gruppe der Jugendlichen, aber auch zwischen Jugendlichen und älteren Bürgern. Das Versprechen der Demokratie ist ein Gleich- heitsversprechen. Es besagt, dass alle Bürger:innen Partizipation: Der Einfluss von Alter und sozialer grundsätzlich die gleiche Teilhabe an politischer Schicht Willensbildung und die gleichen Chancen zur Mit Blick auf die Wahlbeteiligung geben in der Beeinflussung politischer Entscheidungen haben Studie rund drei Viertel der wahlberechtigten soll. Wenn dieses Versprechen systematisch gebro- Jugendlichen an, in der Vergangenheit bei jeder chen wird und die politische Ungleichheit weiter Wahl oder zumindest ab und zu ihre Stimme abge- zunimmt, gefährdet dies die Demokratie. 1 Dieser geben zu haben (Deutschland 77 Prozent, Frank- Beitrag beschäftigt sich vor diesem Hintergrund reich 65 Prozent). Diese Werte sind möglicherweise mit der politischen Partizipation und Repräsen- von der Erwünschtheit der Antworten beeinflusst, tation Jugendlicher in Deutschland und Frank- liegen aber nah an der tatsächlichen Wahlbeteili- reich. Er nutzt Erkenntnisse aus der Jugendstudie, gung Jugendlicher bei der Bundestagswahl 2021 die 2022 im Auftrag des Deutsch-Französischen (70,5 Prozent bei den 18- bis 20-Jährigen bzw. 71,8 Jugendwerk (DFJW) unter 1527 deutschen und 1551 Prozent bei den 21- bis 29-Jährigen) 2 und der Präsi- französischen Jugendlichen im Alter von 16 bis 25 dentschaftswahl 2022 (67,2 Prozent in der ersten Jahren durchgeführt wurde. Besondere Aufmerk- Runde bzw. 67,5 Prozent in der zweiten Runde) 3. samkeit erhält das Thema politischer Ungleichheit 2.Bundeswahlleiter (https://www.bundeswahlleiter.de/bundes- 1. Schäfer, Armin. 2015. Der Verlust politischer Gleichheit. Warum tagswahlen/2021/ergebnisse.html) die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet. Frankfurt 3. Institut national de la statistique et des études économiques a.M.: Campus. (https://www.insee.fr/fr/statistiques) Grafik 1: Angegebene Wahlbeteiligung Jugendlicher nach sozio-ökonomischem Hintergrund 4 (in Prozent der wahlberechtigten Jugendlichen im jeweiligen Land) Antworten auf die Frage 19 der Umfrage im Auftrag des DFJW: „Wenn Wahlen stattfinden, geben viele Leute ihre Stimme ab, andere kommen nicht dazu ihre Stimme abzugeben oder nehmen aus anderen Gründen nicht an der Wahl teil. Haben Sie in der Vergangenheit gewählt?“ 5 4. siehe Fußnote 20, Seite 11 5. Kantar Public, Jugendstudie am Vorabend von „60-Jahre-Élysée-Vertrag“– Ausgewählte Ergebnisse: Blick der Jugend auf die Zukunft. Die 60 % „ja, immer“ ■ Deutschland 50 „ja, ab und zu“ ■ Frankreich 40 „nein“ 30 ■ ■ Obere Schicht 20 ■ ■ Obere Mittelschicht ■ ■ Mittelschicht 10 ■ ■ Untere Mittelschicht ■ ■ Unterschicht 0 14
Drei Befunde sind mit Blick auf das Versprechen pation wie Mitgliedschaften in sozialen oder politi- politischer Gleichheit hervorzuheben: Erstens schen Vereinigungen und Parteien gilt das nicht. So wählen Jugendliche seltener als ältere Wähler:in- erklären acht Prozent der Jugendlichen aus Frank- nen. Das ist nicht neu, aber trotzdem ein Problem reich, Mitglied in einer Partei zu sein, in Deutsch- für das Erfordernis gleicher Partizipation unter- land sind es nur fünf Prozent. Die Zahlen liegen schiedlicher Altersgruppen. Zudem könnte es ein deutlich über der Mitgliederzahl in der beitritts- Indikator dafür sein, dass wir in Zukunft mit einer berechtigten Bevölkerung. 8 Sie sind allerdings mit weiter abnehmenden Wahlbeteiligung rechnen Vorsicht zu genießen, denn was eine Mitgliedschaft müssen – wer als Jugendliche:r nicht wählt, wird mit ausmacht, variiert. Mit nur wenigen Klicks im Inter- einer höheren Wahrscheinlichkeit auch bei Wahlen net wird jede:r auf Wunsch Mitglied in den beiden im späteren Leben nicht aktiv. Zweitens gibt jede:r 2016 gegründeten Parteien Renaissance (vorher La fünfte Jugendliche aus Frankreich, der wahlberech- République en marche) und La France Insoumi- tigt ist, an, nie zu wählen. Das ist nicht nur ein deut- se, die gerade unter Jugendlichen viele Unterstüt- lich höherer Prozentsatz als in Deutschland, wo nur zer haben. Mitgliedsbeiträge wurden bisher nicht jede:r zehnte aus dieser Altersgruppe angibt, sich systematisch eingezogen. nie an Wahlen zu beteiligen, sondern auch in abso- lute Zahlen ein erschreckend hoher Wert. Drittens besteht ein Zusammenhang zwischen Wahlbetei- ligung und sozio-ökonomischem Status. Unter den Nichtwähler:innen befinden sich in beiden Ländern ein größerer Anteil junger Menschen aus der Unter- schicht und der unteren Mittelschicht. 6 Diese sozia- le Verzerrung der Wahlbeteiligung ist in Frankreich noch stärker ausgeprägt als in Deutschland. Aller- dings zeigt sich hier gleichzeitig auch eine größe- re sozio-ökonomische Heterogenität in der Grup- pe der Jugendlichen, die angibt immer wählen zu gehen, mit ähnlich großen Anteilen aus fast allen sozialen Schichten. Unterschiede im politischen Engagement Andere Formen der Partizipation können die Wahl- beteiligung ergänzen. Für das Funktionieren von Demokratie sind diese nicht nur wichtig, weil sie alternative Möglichkeiten bieten, den politischen Willen einzubringen, sondern auch, weil in vielen dieser Partizipationsformen Demokratie ‚gelebt‘ werden kann. Sie sind damit Lernzellen für Demo- kratie und tragen zum Funktionieren von Gesell- schaften bei. 7 Drei Viertel der befragten Jugendlichen geben an, sich politisch außerhalb von Wahlen zu engagieren (Deutschland 75 Prozent, Frankreich 72 Prozent). Besonders viel Zuspruch erhalten nicht-organi- sierte Formen des Engagements wie Demonst- rationen oder Überzeugungsarbeit bei Angehö- rigen, weniger Zuspruch hingegen formalisierte Formen der Partizipation wie die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft. Interessant ist dabei, dass in fast allen Formen die befragten Jugendlichen aus Deutschland um einige Prozentpunkte häufiger engagiert sind als dieselbe Altersgruppe in Frank- reich. Nur für die organisierten Formen der Partizi- Jugendstudie wurde vom DFJW in Auftrag gegeben. 6. Für die Operationalisierung des Begriffs sozialer Schichten be- zieht sich die Befragung auf die Shell Jugendstudie, https://www. 8. Zum Vergleich: Der Wert für die acht Bundestagsparteien 2021 shell.de/ueber-uns/initiativen/shell-jugendstudie.html. liegt bei 1,7 Prozent. Siehe Niedermayer, Oskar. 2022. Rekrutie- 7. Putnam, Robert D., Robert Leonardi und Raffaella Nanetti. 1993. rungsfähigkeit der Parteien. https://www.bpb.de/themen/partei- Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy. Prince- en/parteien-in-deutschland/zahlen-und-fakten/138674/rekrutie- ton: Princeton University Press. rungsfaehigkeit-der-parteien/. 15
Grafik 2: Politisches Engagement deutscher und französischer Jugendlicher (in Prozent der Befragten im jeweiligen Land) Antworten auf die Frage 22 der DFJW-Umfrage: „Es gibt verschiedene Möglichkeiten etwas zu verbes- sern oder zu verhindern, dass sich etwas verschlechtert. Haben Sie in den letzten 12 Monaten etwas von den folgenden Dingen getan?“ (Mehrfachnennung). Ich habe/bin 0 5 10 15 20 25 30 % in den letzten 12 Monaten... … eine Petitition unterzeichnet … versucht meine Angehörigen zu überzeugen … bestimmte Produkte aus politischen, ethi- schen oder ökologischen Gründen freiwillig gekauft oder boykottiert … mein Engagement in sozialen Netzwerken sichtbar gemacht (Posts, Likes, Retweeets usw.) … eine Spende für ein Projekt oder eine Organisation geleistet … an einer Demonstration teilgenommen … mein Engagement im öffentlichen Raum sichtbar gemacht (Aufkleber, Fahnen, usw.) … an einer öffentlichen Beratung in meiner Nachbarschaft oder Gemeinde teilgenommen … Mitglied in einer Gewerkschaft … Mitglied einer politischen Partei Deutschland Frankreich … Mitglied einer sozialen oder politischen Vereinigung … weiß nicht … nichts davon Insgesamt sind Formen des Engagements selte- Gründe? Fast die Hälfte dieser Jugendlichen betont ner, die mit einem größeren Ressourcenaufwand Zeitmangel (Deutschland 42 Prozent, Frankreich 46 verbunden sind. Die Teilnahme an regelmäßigen Prozent), ca. ein Viertel verweist auf fehlende Infor- Treffen einer sozialen oder politischen Vereinigung mationen (Deutschland 29 Prozent, Frankreich 24 erfordert mehr Zeit als die Unterschrift unter eine Prozent). Bei Jugendlichen in Deutschland sind da- Petition oder das ‚Liken‘ in sozialen Netzwerken. rüber hinaus die geringe Selbstwirksamkeitserwar- Und Engagement ist tendenziell besonders dort tung, also das Gefühl, keinen Einfluss nehmen zu ausgeprägt, wo es individuell (spenden, bestimm- können (18 Prozent, Frankreich 12 Prozent), und der te Produkte oder Unternehmen boykottieren) und fehlende Spaß (24 Prozent, Frankreich 11 Prozent), nicht in der Gruppe (Mitgliedschaft in einer Ge- häufig genannte Gründe, sich nicht zu engagieren. 9 werkschaft) erfolgt. 9. Frage 24 der DFJW-Umfrage lautet: „Warum bringen Sie sich an dieser Stelle nicht ein?“ Zur Wahl standen folgende Antworten, Jede:r vierte Jugendliche in Deutschland und 22 Pro- wobei Mehrfachnennungen möglich waren: Keine Zeit/ Zu wenig zent der Jugendlichen in Frankreich geben an, sich Informationen/ Weil ich keinen persönlichen Einfluss nehmen kann/ Weil es in meinem Freundeskreis auch niemand macht/ 16 gar nicht zu engagieren. Was wissen wir über die Weil es keinen Spaß macht/ Nichts davon/ Weiß nicht.
Grafik 3: Zufriedenheit Jugendlicher mit ihren politischen Beteiligungsmöglichkeiten (in Prozent der Befragten im jeweiligen Land) Antworten auf die Frage 1 der DFJW-Umfrage: „Wie zufrieden sind Sie mit Ihren Möglichkeiten, Ihr Leben selbst zu gestalten/ Ihrer Wohnsituation/ Ihren Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung/ Ihrem Freundes- kreis/ Ihren beruflichen Perspektiven/ Ihrer Situation in Sachen Schule, Ausbildung, Studium oder Beruf/ Ihrer Familie/ Ihren eigenen politischen Beteiligungsmöglichkeiten?“ ■ Deutschland ■ Obere Schicht 30 % ■ Frankreich ■ Obere Mittelschicht ■ Mittelschicht ■ Untere Mittelschicht 25 ■ Unterschicht 20 15 10 5 0 sehr unzufrieden teils/teils zufrieden sehr zufrieden unzufrieden Eine tiefe soziale Kluft Jugendliche mit niedrigerem sozio-ökonomischen Neben Befunden zur Partizipation Jugendlicher Status mit einem höheren Anteil unter den Unzu- bietet die Studie auch Informationen über die Be- friedenen oder sehr Unzufriedenen vertreten – dies wertung der politischen Beteiligungsmöglichkei- wiederum ist in Frankreich deutlicher ausgeprägt. ten. Nur 36 Prozent der Jugendlichen in Deutsch- land sind (sehr) zufrieden. In Frankreich sind es Insgesamt ergibt sich mit Blick auf politische Par- sogar nur 32 Prozent. tizipation in Deutschland und Frankreich ein ähn- liches Bild. Ein großer Teil der Jugendlichen zeigt Die Zufriedenheit mit den politischen Beteili- eine ausgeprägte Bereitschaft zur Partizipation bei gungsmöglichkeiten ist nicht nur absolut gering, Wahlen und ist auch in vielfältigen anderen Formen sie ist auch relativ zur Zufriedenheit mit anderen politisch engagiert. Gleichzeitig sind viele Jugend- Lebensbereichen, nach denen in der DFJW-Studie liche unzufrieden mit ihren Beteiligungsmöglich- gefragt wurde, mit Abstand am niedrigsten. Das keiten. Das Gleichheitsversprechen der Demokratie betrifft sowohl private (Familie, Freundeskreis, Frei- wird in dreierlei Hinsicht nicht eingelöst: bei der zeitgestaltung) als auch wirtschaftliche Lebensbe- Wahlbeteiligung, die bei Jugendlichen niedriger reiche (Beruf/ Schule/ Studium, Wohnsituation, be- ist als bei älteren Bevölkerungsgruppen; durch rufliche Perspektive). Zudem wiederholen sich zwei die große Kluft zwischen den sozio-ökonomischen Muster, die wir bereits mit Blick auf die angege- Schichten in Bezug auf die politische Partizipation; bene Wahlbeteiligung identifiziert haben: Erstens und durch die in Frankreich stärker ausgeprägte geben 30 Prozent der Befragten Jugendlichen in Spaltung der Jugendlichen in eine stärker politisch Frankreich an, unzufrieden oder sehr unzufrieden aktive, zufriedene Gruppe und eine politikferne zu sein – das ist eine sichtbar größere Unzufrieden- Gruppe mit größerer Politikapathie und Potential heit als in Deutschland (23 Prozent). Zweitens sind für antidemokratische Ressentiments. 17
Sie können auch lesen