10 JAHRE ZUSAMMENREDEN - CARITAS WIEN

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10 JAHRE ZUSAMMENREDEN - CARITAS WIEN
10 Jahre
 ZusammenReden

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10 JAHRE ZUSAMMENREDEN - CARITAS WIEN
10 Jahre ZusammenReden
Vorwort

                                                                                  1 Vorwort
                                                                                  Das Projekt ZusammenReden
    „Integration ist nicht etwas, das          aller Beteiligten, sich immer      stand in den letzten zehn Jahren
    wir irgendwann einmal haben                wieder verunsichern zu lassen,     wie kaum ein anderes Projekt der
    oder besitzen, sondern das                 sich weiter zu bewegen, vor        Caritas für unser Kernverständnis
    wir immer wieder gemeinsam                 allem: Menschen nicht nur          und unseren Grundauftrag: Ein gutes
    neu überlegen müssen. Es                   auf einen einzigen Aspekt          Zusammenleben für alle kann nur
    ist so wie Lernen: Neues mit               (Kopftuchträgerin, Flüchtling,     gelingen, wenn Menschen aufeinander
    Bekanntem zu verbinden                     Alkoholiker) zu reduzieren. Bei    zugehen. ZusammenReden hat
    und sich damit weiter zu                   den Integrationsgesprächen und     einen Raum für solche Begegnungen
    entwickeln. Integrationsprozesse           Workshops mit SchülerInnen         geschaffen, in dem Menschen
    verstehe ich als Bemühen                   findet genau das statt.“           miteinander ins Gespräch kommen
                                                                                  konnten, voneinander gelernt und
                                                                                  Vorurteile abgebaut haben.

                                                                                  ZusammenReden hat gezeigt: Im
                                                                                  Dialog auf Augenhöhe, im direkten
                                                                                  Gespräch zwischen Menschen,
                                                                                  können selbst tiefe Gräben
                                                                                  überwunden werden. Hier verlieren
                                                                                  Kategorien wie Herkunft oder
                                                                                  Aufenthaltsstatus ihre Bedeutung. Hier
                                                                                  sprechen wir nicht über Geflüchtete,
                                                                                  hier sprechen Menschen miteinander.

                                                                                  Es ist daher bedauerlich, dass sich
                                                                                  nach zehn erfolgreichen Jahren keine
                                                                                  Möglichkeit gefunden hat, das Projekt
                             Elisabeth Allgäuer-Hackl                             weiter zu fördern – Bedarf für mehr
                             Expertin für Mehrsprachigkeit und Sprachförderung,   Dialog und „ZusammenReden“ gäbe
                             Lehrerin, Eltern- und Erwachsenenbildnerin           es genug. Als kleines Trostpflaster
                                                                                  ist diese Broschüre entstanden. Sie
                                                                                  versammelt wichtige Erfahrungen aus
                                                                                  dem Projekt, ermöglicht den Zugang

Inhalt
                                                                                  zu weiterführenden Dokumenten und
                                                                                  macht einmal mehr deutlich, dass eine
                                                                                  Antwort auf die Frage nach gelungener
                                                                                  Integration vor allem im Dialog und
                                                                                  in der Stärkung von Netzwerken zu
1. Vorwort                         2                                              finden ist.
2. Zum Geleit                      3
3. Ein Fotorückblick               4                                              In diesem Sinne möchte ich mich
4. Plädoyer für Begegnung und                                                     noch einmal bei allen Projekt-
   eine respektvolle Streitkultur  8                                              mitarbeiterInnen und vor allem bei den
5. Lessons learnt: Reflexionen                                                    engagierten Gemeinden bedanken
   aus dem Projektalltag          12                                              und wünsche eine anregende Lektüre.
6. Formate, Orte & Netzwerk       18
7. Publikationen                  22
                                                                                  Klaus Schwertner
                                                                                  Generalsekretär
                                                                                  Caritas der Erzdiözese Wien

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10 JAHRE ZUSAMMENREDEN - CARITAS WIEN
10 Jahre ZusammenReden
                                                                                                                  Zum Geleit

2 Zum Geleit
Im Regierungsprogramm 2007 der                Das Projekt begann dann 2009
Bundesregierung wird erstmals in              mit den Wiener Neustädter
Österreich ausgeführt, dass und warum         Integrationsgesprächen; 2010
Integration wichtig ist. Es heißt dort        folgten dann in Baden und 2011 in
unter anderem: “Integration ist eine          anderen 8 NÖ Gemeinden solche
gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die          Integrationsgespräche. Im Jahr 2012
sowohl seitens der ZuwanderInnen als          wurde „ZusammenReden macht
auch seitens der Aufnahmegesellschaft         Schule“ in insgesamt 10 Klassen an 9
nach Anstrengungen und Bemühungen             Hauptschulen bzw. Neuen Mittelschulen
verlangt.“                                    durchgeführt. 2013 wurden wieder
                                              Integrationsgespräche in insgesamt 8
Integration umfasst Aspekte aus               Städten und Gemeinden veranstaltet.
verschiedenen politischen Bereichen           Ab 2014 ging man dann mit diesem
wie Wirtschaft, Bildung, Kultur, Religion,    Projekt an 10 Standorten in Landes-
Justiz, Gesundheit und Soziales – und         berufsschulen, Berufsbildende mittlere
beschäftigt sowohl staatliche wie auch        Schulen und Polytechnische Schulen.
nichtstaatliche Institutionen, Einheimische
und MigrantInnen. Ein Prozess, der            Diese Veranstaltungen boten                   Hanspeter Beier bei
natürlich auch Interessengegensätze           interessierten und engagierten Menschen       der Buchpräsentation
auszugleichen hat, braucht in besonderer      aus der gesamten Bevölkerung eine gute        von ZusammenReden,
Weise einen aktiven Dialog zwischen           Gelegenheit, sich über aktuelle Themen        Wr. Neustadt, 2010
allen Beteiligten.                            und Fragestellungen gut zu informieren
                                              und darüber auch mit ExpertInnen zu
Im Jahr 2007 wurde im Auftrag der             diskutieren.
Niederösterreichischen Landesregierung
das Integrationsleitbild für Nieder-          Aus meiner Sicht ist „ZusammenReden“
österreich erarbeitet – als offener           ein sehr gelungenes Projekt – und
Prozess mit Beteiligung von staatlichen       für mich ist auch das Motto „Nicht
Einrichtungen und VertreterInnen der          übereinander, sondern miteinander
Zivilgesellschaft. In der Folge wurde in      reden!“ weiterhin sinnvoll und richtig; es
Niederösterreich dann im Jahr 2008 eine       wäre wohl auch ein guter Weg in Politik,
politische Zuständigkeit für „Koordination    Medien und generell im Umgang mit
der Integrationsangelegenheiten“              anderen Menschen.
geschaffen.
                                              Hanspeter Beier
Daher erschien es mir im Jahr 2009 als        von 1997 bis 2013 zuständiger
damals innerhalb des Amtes der NÖ             Abteilungsleiter u. a. für Flüchtlingshilfe
Landesregierung für diese neue Aufgabe        und Integrationsangelegenheiten beim
zuständiger Abteilungsleiter nur richtig      Amt der NÖ Landesregierung; seit 2015
und sinnvoll, über dieses so wichtige         ist er ehrenamtlicher Flüchtlingshelfer und
Thema mit der Bevölkerung in Dialog zu        Deutschlehrer in Gaming/NÖ.
treten. Dafür bot sich der Vorschlag der
Caritas der Erzdiözese Wien, zu diesem
Zweck ein Projekt „ZusammenReden“
durchzuführen, sehr vielversprechend an.

                                                                                                                           3
10 JAHRE ZUSAMMENREDEN - CARITAS WIEN
10 Jahre ZusammenReden
Bestens im Bilde: ein Fotorückblick

Integrationsgespräche 2009 – 2018

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    4                                              5                            6

    7                                8                                                  9

 10                                                           11                                   12
Integrationsgespräche 2009 – 2011                             Integrationsgespräche 2013
(1) Baden 27.01.2010: Jugend und Integration                 (7)      Amstetten 22.11.2013: Lesung von Tarek und Ursula Eltayeb
(2) Baden 09.06.2010: Integration durch Bildung              (8)       Krems 06.03.2013: Lesung von Seher Çakır und Auftritte der
(3) Baden 18.03.2010: Nation/Nationalismus und Integration               bosnischen Jugend-Volkstanzgruppe sowie des Kremser
(4) Guntramsdorf 29.03.2011: Integration durch Bildung                   Musikschul-Ensembles
(5) Korneuburg 07.11.2011: Lesung von Erich Hackl            (9)        Krems 02.10.2013: Freizeit & Ehrenamt
     beim Abschlussfest                                       (10)   Wiener Neustadt 11.12.2013: ZusammenBilden –
(6) Ternitz 06.06.2011: Integration durch Bildung                    kommunizieren, kooperieren, vernetzen
                                                              (11)    Wiener Neustadt 11.12.2013: Runde Tische
                                                                       bei der Bildungskonferenz
                                                              (12)   St. Andrä-Wördern 20.06.2013: Vielfalt als Chance

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10 JAHRE ZUSAMMENREDEN - CARITAS WIEN
10 Jahre ZusammenReden
                                                                                                    Bestens im Bilde: ein Fotorückblick

 1                                      2                                                       3

 4                                           5                                       6

 7                                  8                                                       9

 10                                                          11                                          12
Integrationsgespräche 2015 – 2016                                   Integrationsgespräche 2017 – 2018
(1) Korneuburg 15.04.2015: Bildung – Schwerpunkt Eltern            (7) Neunkirchen 11.05.2016: Muslime im Dialog: sachlich,
(2) Korneuburg 29.04.2015: Bildung – Schwerpunkt Schule                 spannend, humorvoll
(3) Neunkirchen 01.10.2015: Chancen für Flüchtlinge – Chancen      (8) Ebreichsdorf 22.11.2017: Integration 2.0: Chancen und
     für Gemeinden                                                       Herausforderungen in der Jugendarbeit
(4) Neunkirchen 25.11.2015: Geflüchtete Menschen in Neunkirchen;   (9) St. Andrä-Wördern 09.11.2017: Glaube und religiöse Praxis
(5) St. Andrä-Wördern 12.11.2015: Unsere Nachbarn,                      von MuslimInnen in Österreich
     die Flüchtlinge                                                (10) St. Andrä-Wördern 28.06.2017: Werte machen Leute & wer
(6) Korneuburg 02.05.2016: Musik von Sakina & Friends beim               macht die Werte? Die Rolle der Wertedebatte für die Integration
     Themenabend Frauen-Männer-Religion                             (11) Wien 29.09.2017: Gekommen, um zu bleiben?
                                                                          Grundversorgung, Integration und freiwillige Rückkehr
                                                                    (12) Korneuburg 28.05.2018: Zusammenleben fördern:
                                                                          Migration und Männlichkeit                                      5
10 JAHRE ZUSAMMENREDEN - CARITAS WIEN
10 Jahre ZusammenReden
Bestens im Bilde: ein Fotorückblick

Schulworkshops 2012 – 2018

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    4                                     5                                         6

    7                               8                                                    9

 10                                                     11                               12
Schulworkshops 2012 – 2014                                        Schulworkshops 2014 – 2018
(1) Sporthauptschule Gloggnitz 2012: Menschenrechte –            (7) Polytechnische Schule (PTS) Ebreichsdorf 2014:
     Kinderrechte                                                      Mehrsprachigkeit
(2) NMS Guntramsdorf 2012: Abschlusspräsentation                 (8) PTS Korneuburg 2015: Zusammen über Sexismus
(3) Musikhauptschule Korneuburg 2012: Stationen einer Flucht     (9) AHS Geblergasse Wien 2016: Flucht und Asyl
(4) Europaschule Wiener Neustadt 2012: Vom ich zum Du zum Wir    (10) Landesberufsschule Stockerau 2017: Flucht und Asyl
(5) Landesberufsschule St. Pölten 2014: Stationen einer Flucht   (11) PTS Ebreichsdorf 2017: Zusammen über Sexismus
(6) Landesberufsschule Theresienfeld 2014: Vorurteile und        (12) LBS Mistelbach 2018: Flucht und Asyl
     Diskriminierung

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10 JAHRE ZUSAMMENREDEN - CARITAS WIEN
10 Jahre ZusammenReden
                                                                                                  Bestens im Bilde: ein Fotorückblick

Trainings & Fortbildungen 2014 – 2018

  1                                     2                                                     3

  4                                          5                                                6

  7                                                        8                              9

 10                                                       11                                        12
Trainings & Fortbildungen für Erwachsene 2014 – 2017               Trainings & Fortbildungen für Erwachsene 2017 – 2018
(1) Polytechnische Schule (PTS) Ebreichsdorf 2014: Büchertisch    (7) Bruck/Leitha 2017 sowie
     bei der LehrerInnenfortbildung                                (8) Tulln 2017: Zusammenarbeit mit IOM im Projekt „Integration in
(2) PTS Korneuburg 2015: Abschlusspräsentation der Workshops           den Gemeinden“
     und LehrerInnenfortbildung                                    (9) VHS Favoriten 2017: Zusammen über Vielfalt
(3) Katholische Frauenbewegung Wiener Neustadt 2015:              (10) Asylzentrum 2018: Präsentation für Eltern u. KollegInnen der
     Interkulturelle Kompetenz                                           „Spurensuche zu Flucht und Asyl“
(4) Fremde werden Freunde Wien 2016: Interkulturelle Kompetenz    (11) Caritas-Zentrum Mommsengasse 2018: „Train the Trainer“-
(5) PTS Ebreichsdorf 2016: Fortbildung zum Thema Flucht u. Asyl         Einschulung für den Workshop Flucht und Asyl
(6) PTS Ebreichsdorf 2017: Fortbildung zum Thema Vorurteile u.    (12) Young Caritas Wien 2018: Workshop zum Thema Integration in
     Antidiskriminierung                                                 Österreich

                                                                                                                                        7
10 JAHRE ZUSAMMENREDEN - CARITAS WIEN
10 Jahre ZusammenReden
Plädoyer für eine Begegnungskultur

Ein Plädoyer für Begegnung und
respektvolle Streitkultur
                                      Die Idee für eine Debattenreihe auf         wieso und wie Frauen- und LGBTIQ-
    „An dem Abend in Neunkirchen      Gemeindeebene mit dem Namen                 Rechte einfordert oder behindert.
    wurde mir zum ersten Mal          „ZusammenReden“ entstand 2008               Wohnen, Arbeit und Bildung waren
    so richtig bewusst, welche        in Wiener Neustadt und war das              weitere wichtige Themen, ebenso die
    Dimension der Frauenhandel        Produkt eines intensiven inhaltlichen       Psyche: Was macht es mit Menschen,
    auch in Österreich hat. Unser     Austausches zwischen der damaligen          ihre gewohnte Umgebung zu verlassen
    Film „Fatal Promises“ hat         Leiterin des Integrationsreferates von      bzw. verlassen zu müssen? Wie kann es
    sich ja auf Internationales       Wiener Neustadt, Maria Zwicklhuber,         ihnen gelingen, sich neu zu orientieren?
    konzentriert. Wenn ich an die     und den KollegInnen der Caritas der
    Beiträge aus dem Publikum,        Erzdiözese Wien in Wiener Neustadt          Hintergrund: Österreich als
    die Ausführungen von Oberst       (Missing Link, unter der Leitung von        Einwanderungsland
    Gerald Tatzgern damals            Thomas Schmidinger). Unterstützung
    denke und die heutige             für die Ausweitung des Projektes            Auch wenn sich Österreich bis heute
    Situation betrachte, finde ich    auf das Industrie- und Weinviertel          nicht als Einwanderungsstaat definiert
    es erschütternd, wie wenig        erhielten wir in Folge von Hanspeter        und Jahrzehnte benötigte, zumindest
    öffentliche Aufmerksamkeit der    Beier, der das Vorwort für diese            historisch vollzogene Migration als
    Menschenhandel in Österreich      Broschüre beigesteuert hat, und Murat       solche zur Kenntnis zu nehmen, so lässt
    heute hat. Deshalb sind           Düzel, dem damaligen Leiter des             sich weder die österreichische noch die
    öffentliche Debatten, gerade      Integrationsservice, der vor zwei Jahren    Menschheitsgeschichte ohne Migration
    auch in kleineren Gemeinden,      aufgelösten Niederösterreichischen          erzählen oder erklären.
    heute mehr denn je sinnvoll       Landesakademie. Später konnten wir,
    und notwendig.“                   dank zusätzlicher Förderungen durch         Die Migration von Arbeitskräften
                                      den Europäischen Integrationsfonds und      war eine zentrale Voraussetzung
    Anneliese Rohrer                  Kofinanzierung vom Außenministerium,        für die Industrialisierung des
    Journalistin und Autorin          ZusammenReden weiterentwickeln und          Niederösterreichischen Industrieviertels,
                                      in zahlreiche Gemeinden und Schulen         der Entwicklung der Vorarlberger
                                      Niederösterreichs tragen. Details zu        Textilindustrie oder des Wachstums
                                      den Formaten sowie den beteiligten          Wiens zur europäischen Metropole. In
                                      Personen, Vereinen, Schulen und             Wien und Niederösterreich sprachen
                                      Gemeinden beschreiben wir in dieser         während der Ersten Republik noch
                                      Rückschau.                                  große Teile der ArbeiterInnenschaft
    „Besonders an den                                                             Tschechisch.
    Veranstaltungen war für mich,     Im Jahr 2009 startete der erste Durchlauf
    dass zur Abwechselung             der Integrationsgespräche in Wiener         Der Wiederaufbau Österreichs nach 1945
    mal nicht Integration in der      Neustadt mit dem Ziel, Themen der           wurde mit Hilfe von hier gestrandeten
    Hauptstadt Wien im Fokus          Integration auf hohem Niveau, aber in       Flüchtlingen, wie etwa den sogenannten
    war, sondern wir immer            verständlicher Sprache für ein breites      Sudetendeutschen, und ab den
    ins Diskutieren gekommen          Publikum aufzubereiten. Wir wollten         1960er Jahren durch die sogenannten
    sind über das, was die            auch schwierige Themen diskutieren,         ‚GastarbeiterInnen’ bewerkstelligt. Das
    Menschen im Ort, in der           nichts Schönreden und auf Konfliktfelder    Wissenschaftsministerium schloss 1962
    Gemeinde beschäftigt hat.“        aufmerksam machen, um gemeinsam             ein Anwerbeabkommen mit Spanien,
                                      Lösungen für ein gutes Zusammenleben        1964 mit der Türkei und 1966 mit der
    Clara Akinyosoye                  zu finden. Ist Religion überhaupt ein       Sozialistischen Föderativen Republik
    Mitherausgeberin des              Thema der Integration? Wie begegnen         Jugoslawien. Während aus Spanien
    Magazins fresh und                wir Nationalismen, etwa jenen der           nur wenige MigrantInnen auf diesem
    Redakteurin bei religion.ORF.at   türkischen Grauen Wölfe oder der            Weg nach Österreich kamen, wurden
                                      „Identitären“, im Integrationsprozess?      in den 1960er und 1970er Jahren
                                                                                  zehntausende Arbeitskräfte aus der
                                      Auch die Gretchenfrage der                  Türkei und Jugoslawien angeworben.
                                      Geschlechterverhältnisse wollten wir        Die über die dafür eigens eingerichteten
                                      aufgreifen und transparent machen, wer      Anwerbestellen rekrutierten

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10 JAHRE ZUSAMMENREDEN - CARITAS WIEN
10 Jahre ZusammenReden
                                                                                         Plädoyer für eine Begegnungskultur

‚GastarbeiterInnen’ sollten ursprünglich    Unser Verständnis
in der Vorstellung aller Beteiligten nur    von „Integration“                              „Die Integrationsgespräche
‚Gäste’ sein und nach einigen Jahren der                                                   haben für viele Kleinstädte und
Lohnarbeit in Österreich wieder in ihre     In diesem Sinne bedeutet Integration           Gemeinden in Niederösterreich
Herkunftsländer zurückkehren. Einige        für uns, gemäß der ursprünglichen              eine völlig neue Möglichkeit der
Menschen taten dies auch, viele jedoch      Wortbedeutung, das Schaffen                    rationalen Auseinandersetzung
blieben. ‚Integration‘ war in diesem        eines gemeinsamen Ganzen, einer                mit konkreten Problemen vor
Zusammenhang nicht nur kein Thema,          solidarischen Gesellschaft für alle, die       Ort ermöglicht und damit
sondern auch kein erstrebenswertes          hier leben.                                    das große Integrationsthema
Ziel. Soziale Konflikte wurden nicht als                                                   auf jene Problemfelder
solche diskutiert und bearbeitet, sondern   Der Integrationsbegriff stellt einen           heruntergebrochen, die die
zunehmend kulturell oder religiös           zentralen soziologischen Begriff dar,          Menschen vor Ort wirklich
interpretiert.                              dessen korrekte Verwendung und                 betreffen. Damit wurden
                                            Umsetzung in der Praxis wir für wichtig        diese auch lösbar gemacht.
Neuere Entwicklungen:                       erachten. Der Begriff wurde jedoch in          Neue und alte BürgerInnen
Integration als politisches Feld?           den letzten Jahren zunehmend inflationär       wurden so zu AkteurInnen im
                                            und durchaus auch falsch verwendet.            demokratischen Prozess. Dass
Mit der Entwicklung von                                                                    diese erfolgreiche Arbeit nach
Integrationsleitbildern und -strategien     Bereits die ersten SoziologInnen               zehn Jahren nicht mehr weiter
auf kommunaler, Länder- sowie               des 19. Jahrhunderts beschrieben               finanziert wird, zeigt aber auch,
Bundesebene schienen sich öffentliche       gesellschaftlichen Wandel auch als             dass sich trotz aller lokaler
Institutionen seit dem Ende der             einen Wandel des Modus der sozialen            Erfolge in der großen Politik
1990er Jahre langsam dem Thema              Integration. Integration wurde dabei aber      vorerst nicht die konstruktiven,
anzunehmen. Doch das grundsätzliche         nie als einseitige Assimilation, sondern       sondern die destruktiven Kräfte
Ringen mit dem Thema dauert bis             als wechselseitiger Prozess begriffen.         durchgesetzt haben.“
heute an. Deutlich wurde dies gerade        Damit stellt sich aber nicht nur die Frage
auch vor dem Hintergrund der                nach der ‚Integrationsbereitschaft’ von        Thomas Schmidinger
großen Flüchtlingsbewegung 2015.            MigrantInnen und Geflüchteten, sondern         Politikwissenschafter, Nahost-
ZusammenReden ermöglichte in diesem         auch nach der ‚Integrationsbereitschaft’       experte, Mitgründer von
umkämpften Themenfeld in einigen            einer Gesellschaft insgesamt – und             ZusammenReden
Kommunen Niederösterreichs eine             insbesondere nach jener der öffentlichen
inhaltlich sachliche Auseinandersetzung     Institutionen, ohne die jedes individuelle
mit dem Thema Flucht, Asyl und              Bestreben nach Integration erschwert
Integration und bildete eine Plattform      wird.
von ExpertInnen, freiwilligen und
hauptamtlichen PraktikerInnen und           Unser Ansatz zielte von Beginn an auf
Gemeindeverantwortlichen. Wir               ein Miteinander ab, das aber keineswegs
förderten eine rationale Debatte            eine Multikulti-Idylle darstellt, sondern
über die Rahmenbedingungen von              auch Reibungsflächen mit sich bringt.
Hilfeleistungen, von Unterbringung,         Immer haben wir alle hier lebenden
von Integration. Es ging uns um             Menschen als Teile einer gemeinsam zu
Rahmenbedingungen, die politisch            gestaltenden Gesellschaft mit gleichen
gesteuert werden könnten. Manche            Chancen und Rechten begriffen.
Gemeinden hießen uns sofort voller          Damit das Zusammenleben gelingt,
Vertrauen willkommen, manche waren          sind Gespräch, Auseinandersetzung
zu Beginn skeptisch, andere wiederum        und manchmal auch Streit notwendig –
zeigten gar kein Interesse. Unsere          jedenfalls aber wirkliche Begegnungen,
Erfahrung hat gezeigt: Oft liegt das        bei denen man sich gegenseitig ernst
Engagement einer Gemeinde an                nimmt.
Einzelpersonen – auf politischer und
auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene.

                                                                                                                               9
10 JAHRE ZUSAMMENREDEN - CARITAS WIEN
10 Jahre ZusammenReden
Plädoyer für eine Begegnungskultur

                                     Um Begegnungen in diesem Sinn zu              „ZusammenReden“, in dem wir
 „Um etwas zu bewegen,               fördern, braucht es Netzwerke, Kontakte       einige der Debatten transkribiert
 sind das Gespräch, die              und Kooperation. Daher war uns die            haben (Ü Publikationen), gut
 Auseinandersetzung                  Einbindung zahlreicher Initiativen,           nachlesen. Weiters gibt es unter
 mit unterschiedlichen               Vereine und Einzelpersonen aus der            https://archiv.zusammenreden.net/
 Standpunkten und der                Region, die aus völlig unterschiedlichen      mehrere Radiosendungen der ersten
 lebendige unzensurierte             Perspektiven mit integrationsrelevanten       Veranstaltungen nachzuhören, die 2009
 Gedankenaustausch                   Themen zu tun haben, stets wichtig. So        von Radio Stimme aufgenommen wurden.
 unerlässlich. Gerade                konnte die Veranstaltungsreihe dazu           Wie sich das Projekt im Laufe der Jahre
 kleinräumige gesellschaftliche      beitragen, konkrete Felder, in denen die      bis heute entwickelte, hat Hanspeter
 “Biotope” wie Gemeinden             Integration einer Gesellschaft stattfindet,   Beier bereits schön beschrieben
 oder Schulen sind ideale            zu bearbeiten.                                (Ü Zum Geleit).
 Orte der Begegnung und
 der gemeinsamen Reflexion.          Als nächstes wollten wir
 Dazu braucht es jedoch einen        auch Jugendliche bzw. die
 entsprechenden Rahmen.              Schulgemeinschaften in die Debatten
 Dieser wurde in vorbildlicher       einbinden. So begannen wir ab
 Weise durch das Format der          2012 mit verschiedenen Schulen in
 ZusammenReden-Gespräche             NÖ zusammenzuarbeiten und die
 geschaffen. Ich habe die            Diskussionsreihe in Form von Workshops
 Teilnahme an einigen dieser         für Schulklassen, Fortbildungen für
 Gespräche nicht nur als             LehrerInnen und öffentlichen Abschluss-
 persönlich bereichernd,             präsentationen an die Schulen zu
 sondern auch aufgrund der           bringen. Dabei ging es uns von Anfang         Besondere Freude bereitete uns der
 entspannten Atmosphäre als          an darum, in einen Austausch zu treten,       zweite Platz des „Meilenstein-Dr. Erwin
 ausgesprochen angenehm              keine vermeintlichen „Wahrheiten“ zu          Pröll Zukunftspreises“ 2012 sowie
 empfunden.“                         predigen, sondern die TeilnehmerInnen         der zweite Platz beim EDU-Award
                                     zur Reflexion anzuregen – aber durchaus       gemeinsam mit der Medienmittelschule
 Elfie Fleck                         mit konkreten Zielen, wie etwa die            Neunkirchen für das Projekt „Zusammen-
 von 1992 bis 2017                   Anerkennung von gesellschaftlicher (oder      Reden macht Schule 2012“, der uns von
 im Unterrichts- bzw.                auch sprachlicher) Vielfalt als Ressource     der damaligen Bildungsministerin
 Bildungsministerium tätig,          für Schulen und Gemeinden.                    Dr. Claudia Schmied überreicht wurde.
 Schwerpunkte: Mehrsprachig-
 keit, Muttersprachlicher Unter-     Erfolge und                                   Diese formellen Anerkennungen
 richt und Interkulturelles Lernen   Rückschritte                                  freuten uns ebenso wie die zahlreichen
                                                                                   Rückmeldungen, Lob und hilfreiche
                                     Die gesamte Reihe kann als großer             Kritik von TeilnehmerInnen sowie
                                     Erfolg gewertet werden. Im Durchschnitt       KooperationspartnerInnen im Laufe
                                     besuchten jede Veranstaltung jeweils          der Jahre, die immer wieder Lern- und
                                     zwischen 60 und 120 Personen.                 Entwicklungsprozesse für uns und das
                                     In kleineren Gemeinden waren es               Projekt anregten.
                                     zwischen 20 und 50 TeilnehmerInnen.
                                     An den Schulen bewegten sich die              Diese Entwicklungsprozesse sind für
                                     Gruppengrößen im Schnitt zwischen 15          uns nicht zu Ende. Ab dem Jahr 2019
                                     und 25 SchülerInnen pro Workshop und          wird es ZusammenReden in dieser
                                     bei den Fortbildungen für Erwachsene          Form allerdings nicht mehr geben: es
                                     zwischen fünf und 30 Personen.                fand sich keine Stelle mehr, die unser
                                                                                   Angebot weiter mitfinanzieren wollte.
                                     Dass dabei auch Probleme                      Das heißt aber nicht, dass Integration
                                     angesprochen und nicht totgeschwiegen         kein Thema mehr in unserer Gesellschaft
                                     wurden, lässt sich in unserem Buch            ist, ganz im Gegenteil. Mehr denn je

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10 Jahre ZusammenReden
                                                                                          Plädoyer für eine Begegnungskultur

brauchen wir Räume und Orte der              Murat Düzel, Hanspeter Beier und Josef
Auseinandersetzung, der Debatte, der         Staar (Gewerblicher Berufsschulrat für         „Die Welt, in der wir
Aufklärung, der Streitkultur im besten       NÖ), die uns gefordert und gefördert           leben, ist laut, kompliziert,
Sinne. Denn eine Gesellschaft muss           haben,                                         unübersichtlich. So ziehen
sich immer von Neuem integrieren, und                                                       sich viele zurück oder neigen
diese Integrationsprozesse finden nicht      Maria Zwicklhuber und Thomas                   dazu, zu komplexen Fragen
nur zwischen Geflüchteten, MigrantInnen      Schmidinger, die ZusammenReden                 die einfachsten Antworten zu
und ‚Einheimischen‘ statt, sondern auch      2008 erfunden und gestartet haben,             geben. Solche Formate wie
zwischen verschiedenen Generationen,         allen (ehemaligen) KollegInnen, die            die Integrationsgespräche
Geschlechtern, sozialen Klassen oder,        ZusammenReden in der Vergangenheit             machen es umgekehrt:
allgemeiner gesagt, zwischen den             mitgetragen und mitentwickelt haben:           Sie bringen Menschen
unterschiedlichen Personengruppen, die       Karima Aziz, Ines Kälin, Martina Polleres,     mit durchaus vielfältigen
gemeinsam eine Gesellschaft bilden.          Nadja Lehner und Margerita Piatti.             Hintergründen und Zugängen
                                                                                            zusammen und bieten ihnen
Nach zehn Jahren ZusammenReden               Und last but not least, danke liebes           den Raum, sich in Ruhe,
sind wir der Ansicht: Gerade in bewegten     ZusammenReden-Team, die ihr die                differenziert und wertschätzend
Zeiten wie diesen sollte es darum gehen,     letzten Jahre dieses großartige Projekt        miteinander auszutauschen.
Kräfte zu bündeln, Netzwerke zu stärken      so intelligent, einfühlsam und voller          Erst so wird es möglich, auch
und auf Dialog zu setzen. Das Ziel           Engagement umgesetzt habt: Hristina            die Gemeinsamkeiten zu
lautet, das Gemeinsame zu stärken und        Dakic, Afnan Al-Jaderi und Pelin Özmen!        erkennen und ab da ein – im
Integration, gesellschaftliche Solidarität                                                  Idealfall längeres – Stück des
sowie respektvolle Begegnung zu              Gemeinsam werden wir den Geist                 Weges gemeinsam zu gehen.
fördern.                                     von ZusammenReden, das, was                    In Erinnerung geblieben sind
                                             wir alle zusammen in zehn Jahren               mir die Begegnungen mit den
Teşekkürler, hvala, shukran,                 aufgebaut haben, weitertragen, für eine        vielen, sehr unterschiedlichen
děkuju, merci, spas!                         solidarische Gesellschaft, die sich dank       Menschen, die sich trotz
                                             einer respektvollen Streitkultur ständig       Meinungsverschiedenheiten
Ein großer Dank unseren Vorgesetzten         weiterentwickeln kann.                         auf andere einließen,
und KollegInnen unterschiedlichster                                                         zuhörten, einander verstehen
Stellen bei der Caritas der Erzdiözese                                                      versuchten. So waren die
Wien, die uns von Beginn an in unserer       Alicia Allgäuer,                               Integrationsgespräche für
Arbeit unterstützt und begleitet haben!      Mary Kreutzer                                  mich ein Ort, an dem ich an
                                             ZusammenReden                                  Erfahrungen und Gedanken
Danke an alle, die ZusammenReden mit                                                        von Menschen teilhaben durfte,
Leben gefüllt haben – die SchülerInnen                                                      denen ich womöglich sonst nie
und LehrerInnen der unterschiedlichen                                                       begegnet wäre.“
Schulen, die ReferentInnen, die
ModeratorInnen, die KünstlerInnen,                                                          Can Gülcü
die Vize- und BürgermeisterInnen,                                                           Kulturschaffender und Lektor,
die MitarbeiterInnen der Gemeinden,                                                         Kurator des Wien Museums
Schulen und Vereine. Namentlich wollen
wir außerdem noch folgende Personen
nennen:

Irene Messinger, die viele Jahre lang die
Homepage ersonnen und befüllt hat,

Leni Artaker, viele Jahre lang unsere
Grafikdesignerin,

                                                                                                                            11
10 Jahre ZusammenReden
Lessons learnt

Lessons learnt: Reflexionen
aus dem Projektalltag
                                  In diesen zehn Jahren haben wir viel          Zusammenarbeit mit MultiplikatorInnen
 „Mit der Zielsetzung, ein        über die Organisation von Events aller Art    und ExpertInnen als wesentlich erwiesen,
 gemeinsames Miteinander vor      sowie Workshops und Fortbildungen mit         um eine möglichst breite Öffentlichkeit zu
 Ort zu ermöglichen, bildete      unterschiedlichen Zielgruppen gelernt,        erreichen.
 das Projekt ZusammenReden        Vieles ausprobiert, Bewährtes verstärkt
 einen Begegnungsraum. Es         und weniger Bewährtes verändert. Daher        Niederschwelligkeit,
 ist vom Gedanken getragen,       wollen wir Menschen, die Ähnliches            Aufbau und Formate
 ein breites Meinungsspektrum     vorhaben oder bereits tun, an diesen
 einzubinden, in dem              Reflexionen teilhaben lassen und hoffen,      Das Projekt ZusammenReden verfolgte
 gesprochen, zugehört             dass der eine oder andere Aspekt auch         durch Integrationsgespräche das Ziel,
 und argumentiert wird und        für Sie als LeserInnen hilfreich sein kann.   die Themen rund um Integration einem
 wo Menschen trotz aller                                                        breiten Publikum näher zu bringen und
 Differenz einen halben Schritt
                                  HOW TO …                                      niederschwellige Orte für Begegnung
 aufeinander zugehen. Das hört                                                  und Austausch zu bieten. Um die
 sich einfach und harmonisch
                                  INTEGRATIONSGESPRÄCHE
                                                                                Veranstaltungen niederschwelliger
 an. In der Praxis ist es aber                                                  und offener zu gestalten, haben sich
 sehr mühsam und bedarf           Kooperation und                               diverse partizipative Formate wie
 viel kreativer Umtriebigkeit,    Bewerbung                                     Round-Table-Diskussionen, Open Space
 Esprit und sinnhafter                                                          oder World-Café im Gegensatz zu den
 Überzeugungskraft. An allem      Eine gründliche Recherche über                klassischen Podiumsdiskussionen der
 Dreien hat es dem Team           die Partnergemeinde ist ein                   ersten ZusammenReden-Jahre sehr gut
 wahrlich nicht gefehlt, davon    wichtiger Grundstein für jeden                bewährt.
 konnte ich mich mehrmals         Planungsprozess, um nicht beim ersten
 selbst überzeugen. Umso          Besprechungstermin verlegen vor dem           Wir haben auch bei komplexen
 bedauerlicher ist es, dass       Gemeinderat zu sitzen und zu versuchen        wissenschaftlichen Themen stets auf die
 so ein erfolgreiches Projekt     herauszufinden, ob wir uns hier noch          Praxisbezogenheit geachtet. Vor allem
 aufgrund des gegenwärtigen       im Wein- oder schon im Waldviertel            beim Thema Integration finden wir es
 politischen Zeitgeistes keine    befinden.                                     wichtig, die lokalen Schwerpunkte (indem
 hinreichende Finanzierung                                                      z.B. immer auch lokale ReferentInnen
 mehr findet.“                    Um möglichst viele BesucherInnen für          eingeladen werden) sowie eine
                                  die Veranstaltungsreihe zu begeistern,        lösungsorientierte Denkweise (Was
 Kenan Güngör                     war es stets zentral, alle relevanten         können wir in der Gemeinde konkret
 Experte für Integrations- und    Stakeholder in Planung und Bewerbung          umsetzen?) einfließen zu lassen.
 Diversitätsfragen, Leiter des    einzubeziehen. Der persönliche                Zudem konnten wir die erreichte
 sozialwissenschaftlichen         Kontakt mit VertreterInnen lokaler            Zielgruppe dadurch erweitern, dass
 Beratungs- und                   Institutionen, Schulen, Vereinen oder         wir beispielsweise jede Veranstaltung
 Forschungsbüros think.           Freiwilligeninitiativen spielte dabei eine    an einem anderen Ort organisierten,
 difference in Wien               wesentliche Rolle. Die Bewerbung              um so ein möglichst unterschiedliches
                                  über soziale Medien – vor allem über          Publikum anzusprechen. Zusätzlich
                                  lokale schon bestehende Facebook-             haben wir neben den klassischen
                                  Seiten und/oder Gruppen – hat sich als        Veranstaltungsräumen wie Rathaus- oder
                                  wichtig erwiesen, um BewohnerInnen in         Pfarrsälen auch leicht zugängliche,
                                  den Gemeinden unmittelbar erreichen           öffentliche Orte wie Schulen,
                                  zu können. Je mehr Basisarbeit eine           Vereinshäuser, Jugendzentren oder sogar
                                  Gemeinde bereits macht, desto                 Gasthäuser gewählt.
                                  mehr Menschen können über diese
                                  bestehenden Kanäle erreicht werden.           Die Verwendung einer niederschwelligen
                                                                                Sprache bei der Formulierung der
                                  Des Weiteren haben sich die umfassende        Veranstaltungstitel und begleitenden
                                  Presse- und Öffentlichkeitsarbeit vor und     Texte ist grundsätzlich immer auf positive
                                  nach den Veranstaltungen sowie die            Resonanz gestoßen. So entschieden

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10 Jahre ZusammenReden
                                                                                                        Lessons learnt

                                                                                       „Mit ZusammenReden wurde
                                                                                       2009 ein lebendiger Dialog
                                                                                       zwischen interessierten
                                                                                       Wiener NeustädterInnen,
                                                                                       Fachleuten, sozialen und
                                                                                       politischen AkteurInnen
                                                                                       in Gang gesetzt, der es
                                                                                       ermöglichte, sich intensiv
                                                                                       mit Fragen der Integration
                                                                                       auseinanderzusetzen. Die
                                                                                       Diskussionsabende sorgten für
                                                                                       intensive, auch kontroversielle
                                                                                       Diskussionen und führten bei
                                                                                       brennenden Themen zum
                                                                                       Anstoß für weiterführende
                                                                                       Projekte. So gab der
                                                                                       Diskussionsabend zum
                                                                                       Thema „Religion – eine
                                                                                       Frage der Integration?!“
wir uns oft für praxisbezogene Titel wie   uns immer bemüht, Vielfalt und              Anstoß zur Gründung eines
„Geflüchtete Menschen in Neunkirchen“      Teilhabe auf mehreren Ebenen zu             „Interreligiösen Forums“ in
oder „Unsere Nachbarn, die Flüchtlinge“    berücksichtigen. Vor allem war uns dies     Wiener Neustadt. Bis heute
anstelle von wissenschaftlich-             in der Zusammensetzung der Podien           ermöglicht dieses Forum
theoretischen Titeln, obwohl diese         bzw. der Auswahl der ReferentInnen          Austausch, Vernetzung und
Zugänge stets auch vertreten waren.        wichtig – und zwar bezogen auf              gemeinsame Veranstaltungen
                                           Geschlecht, Alter, Migrationshintergrund,   von Interessierten aus
Unser Ziel war es, durchaus auch           Arbeitserfahrungen bzw. -bereiche           verschiedenen religiösen
komplexe Themen und wissenschaftliche      sowie alle anderen relevanten               Gruppierungen. Unsere gute
Ansätze niederschwellig zugänglich zu      Diversitätsmerkmale – die verschiedene      Zusammenarbeit mündete in
machen. Der Ansatz und Einsatz der         Perspektiven und Zugänge zum Thema          den darauffolgenden Jahren
leichten Sprache sollte im Vorfeld mit     abdecken würden. Des Weiteren ist           zu mehreren weiterführenden
allen ReferentInnen besprochen und         es hier wichtig zu erwähnen, dass           „ZusammenReden
nach Möglichkeit eingesetzt werden.        Diversität auch in der Gestaltung der       Veranstaltungen“,
Sonst darf man sich nicht wundern,         Rahmenbedingungen berücksichtigt            Fachtagungen (zum Thema
wenn mal bei einem philosophischen         werden soll. Das bezieht sich zum           Bildung und Gesundheit)
Impulsvortrag dem Publikum trotz           Bespiel auf die Sicherstellung eines        und sehr gelungenen
aller Anstrengungen „der Mund offen        barrierefreien Zuganges, eines guten        gemeinsamen Projekten,
bleibt“. Andererseits haben wir auch die   Sound-Systems für schwerhörige              beispielsweise interkulturelle
Erfahrung gemacht, dass das Publikum       Menschen oder eines vielfältigen            Frauengesundheitstreffen und
nicht unterschätzt werden soll, sondern    Buffet-Angebots für diverse                 Frauenausflüge.“
durchaus gefordert werden kann, vor        Zielgruppen. Anders kann es leicht
allem wenn sich BesucherInnen an den       zu Überraschungen kommen (und               Maria Zwicklhuber
Round-Tables trauen jene (Verständnis-)    das ist jedenfalls eine lesson learnt),     ehemalige Leiterin des Referats
Fragen zu stellen, die sie im großen       wenn der Schmalz-Aufstrich nicht            Vielfalt und Zusammenleben
Plenum oft nicht gestellt haben.           beschriftet ist oder eine Referentin        Wr. Neustadt, Mitbegründerin
                                           nach der Veranstaltung sich „schnell“       der Integrationsgespräche
Diversität und Partizipation               ein vegetarisches Brötchen vom Billa
                                           besorgen muss.
In der Planung und Durchführung
der Veranstaltungen haben wir

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10 Jahre ZusammenReden
Lessons learnt

 „Zuletzt in Neunkirchen habe
 ich wieder bemerkt, dass ein
 Referat oft nur eine Art ist, sich
 dem Publikum vorzustellen.
 Wirksam werden die
 Informationen erst im Dialog
 und nur indem es gelingt,
 dass die Dialogpartnerinnen
 und Dialogpartner sich
 wechselseitig dort abholen,
 wo sie stehen. Das ist in einer
 Veranstaltung möglich, mehr
 Aufwand bereitet es im Alltag,
 wenn die Vorurteile größer sind
 und noch Sprachprobleme
 dazu kommen.“

 August Gächter
 Migrationsforscher,
 Zentrum für Soziale Innovation       Da in manchen Gemeinden die               die kulturelle Abschlussveranstaltung
                                      Lebenswelten verschiedener                mit Musik, Theater, mehrsprachigen
                                      Communities vorwiegend getrennt           Lesungen usw., die wir in den ersten
                                      sind, spiegelte sich dies auch in den     Jahren regelmäßig organisierten, den
                                      Veranstaltungen wieder. In Tulln zum      neuen Round-Table-Formaten zum
 „Für mich war                        Beispiel konnten wenige MigrantInnen,     Opfer fielen. Unter dem Motto „Nicht
 ZusammenReden ein                    in Ebreichsdorf kaum alteingesessene      über, sondern mit den Menschen
 wirklich FREIER Raum                 ÖsterreicherInnen mobilisiert werden.     sprechen“ haben wir uns bemüht,
 … … zum Nachdenken                   Um die Menschen mit und ohne              „Betroffene“ sowohl in die Planung
 (in der Vorbereitung), …             Migrationshintergrund gleichermaßen       als auch in die Durchführung der
 zum spielerischen und                als TeilnehmerInnen zu gewinnen, war      Veranstaltung einzubeziehen, sei es als
 streitlustigen Diskutieren (bei      es uns wichtig, Ansprechpersonen aus      MitveranstalterInnen, GastgeberInnen
 den Gesprächen), … und               den lokalen MigrantInnencommunities       oder ReferentInnen.
 schließlich zum Wagen der            zu finden, die das Projekt unterstützen
 Umsetzung des Gedachten in           wollen. Außerdem kann die mehrsprachi-    Immer wieder haben wir auch versucht,
 Handlung und Tat (im eigenen         ge Gestaltung der Flyer und anderer       gerade jene Personen anzusprechen,
 Leben). ZusammenReden war            Bewerbungsunterlagen das Projekt für      die gegenüber den Themenbereichen
 einer jener Anlässe in meinem        diverse Minderheitengruppen attraktiver   Integration, Migration und Flucht
 Leben, bei denen ich gemerkt         machen – etwas, das wir leider aus        kritisch eingestellt sind, damit sie ihre
 habe, dass mir Wissenschaft          Ressourcengründen selten geschafft        Sorgen und Befürchtungen äußern
 allein zu wenig ist – dass ich       haben. Was wiederum eine schlechte        und ihre Anliegen in moderiertem
 eigentlich Aktivistin bin und        und typische Ausrede bei diesen Themen    Rahmen zur Diskussion stellen
 unbedingt mit Menschen               ist. Noch eine lesson learnt.             können. Leider war die Bereitschaft
 kontrovers und lebendig                                                        der Auseinandersetzung zu selten
 aufeinandertreffen muss, um          Um jene Gruppe von Menschen               gegeben – trotz unserer Bemühungen
 glücklich zu sein.“                  anzusprechen, die eher selten solche      um interessante, humorvolle oder
                                      Formate besuchen würden, haben            provokante Veranstaltungstitel wie z.B.
 Katharina Brizic                     wir manchmal auch ein Kulturangebot       „Integration 2.0“, „Sprechen Sie Kultur?“,
 Sprachwissenschaftlerin mit          (Tanz- oder Musikvorführung) aus          „Wie WERTvoll ist Integration?“ oder:
 Schwerpunkt Diversität,              örtlichen Communities in das Programm     „Muslime im Dialog: Sachlich, Spannend,
 Flucht und Migration                 einbezogen. Dies auch deshalb, weil       Humorvoll – Was tun Sie, wenn Sie mit

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10 Jahre ZusammenReden
                                                                                                              Lessons learnt

dem Islam im Aufzug stecken bleiben?“.       der teilnehmenden SchülerInnen
Dies heißt jedoch nicht, dass es nicht       eingeholt, um Rückmeldungen zu den             „Im Jahr 2010 wurde in
trotzdem oft zu hitzigen Diskussionen        eingesetzten Methoden zu erhalten              Korneuburg erstmals ein
kam und sehr unterschiedliche                und die Wahrnehmung der Zielgruppe             politisches Ressort geschaffen,
Meinungen versammelt waren. Allerdings       bei zukünftigen Workshops besser               das auch Integration
würden wir in Zukunft – und das ist          berücksichtigen zu können.                     inkludierte. Absolut nicht
wieder eine lesson learnt – auch verstärkt                                                  absehbar war zu dieser
versuchen, uns direkt an die Stammtische     „Ich würde ZusammenReden                       Zeit, welche Brisanz das
zu setzen, anstatt zu versuchen, dass der    weiterempfehlen: weil es viel bewirken         Thema einige Jahre später
Stammtisch zu uns kommt.                     kann zwischen Mensch und Mensch.“              erlangen würde. Da kam
                                             Zitate wie dieses tun dem                      mir die Anfrage der Caritas
                                                                                            gerade recht. Ich sagte sofort
HOW TO …                                     TrainerInnenherz wohl, deshalb wollen
                                             wir noch einige Beispiele aus den              zu, auch im Bewusstsein,
WORKSHOPS UND TRAININGS                                                                     mit politischem Gegenwind
                                             Feedbackbögen auflisten. Die Bögen
                                             sehen so aus, dass die SchülerInnen            rechnen zu müssen. Und
Impact und                                   ihre Hand auf ein weißes Blatt malen,          so war es auch. Doch im
Nachhaltigkeit                               jeder Finger steht für eine andere Frage:      Laufe der Jahre wurden die
                                             was hat mir gefallen/nicht gefallen, was       Abende ‚ZusammenReden‘
In der Regel konnten wir an                  möchte ich weitererzählen, habe ich            fixer Bestandteil der
Landesberufsschulen jeweils einen            gelernt, ist zu kurz gekommen.                 Integrationsbemühungen in
Workshop pro Klasse anbieten, weil                                                          unserer Stadt. Die Anzahl
die Teilnahme an einer dreiteiligen          Zum Thema Flucht und Asyl erhielten wir        der BesucherInnen stieg mit
Workshopreihe zu viel Zeit des regulären     u.a. folgende Rückmeldungen: „Dass             jeder Veranstaltung. Damit
Unterrichts in Anspruch nehmen würde.        man jemanden [einen der Vortragenden           wurde dieser so wichtige und
Wenn mehrere Workshops mit derselben         mit Fluchterfahrung] selbst fragen             bis dahin oft auch bewusst
Klasse durchgeführt werden – wie wir es      konnte, hat mir gut gefallen.“ „Ich            ignorierte Bereich endlich
an Polytechnischen Schulen gemacht           habe viele positive Sachen gelernt und         Thema in unserer Stadt.“
haben – können die Inhalte natürlich         andere Meinungen [gehört].“ Es hat mir
besser reflektiert und tiefer besprochen     gefallen, „dass Flüchtlinge dabei waren“.      Helene Fuchs-Moser
werden. Beispielsweise kam es vor, dass      Ich würde weitererzählen, „dass man            Vizebürgermeisterin der
in einem Workshop mit den Jugendlichen       Flüchtlinge nicht gleich verurteilen sollte“   Stadt und Direktorin der
über die „#metoo“-Debatte diskutiert         und „dass es für Flüchtlinge nicht so          PTS Korneuburg
wurde und einige männliche Jugendliche       einfach ist, wie manche glauben“. Das
behaupteten, dass Belästigung von            habe ich gelernt: „Wie man Asylwerber
Frauen „eh heutzutage kein Problem           wird“ und „Alles aus der Sicht eines
mehr ist“ und „das ganze von den             Flüchtlings“.                                  „Integration kann nur in
Medien übertrieben dargestellt wird.“                                                       ehrlichen Begegnungen
Danach fragten dieselben Jugendlichen        Zum Thema Vorurteile schrieben die             funktionieren. ZusammenReden
nach den social media-Kontaktdaten           SchülerInnen: „Ich möchte weiter-              hat einen offenen, freundlichen
der Trainerin. In diesem Fall hätten         erzählen, dass man nicht sofort urteilen       Rahmen für Austausch
wir uns eine weitere Vertiefung der          soll und (wenn möglich) mit demjenigen         geboten: Für Argumente
Reflexionsarbeit gewünscht.                  redet.“ Ich habe gelernt: „Die Toleranz        und Expertise, aber auch
                                             gegenüber anderen Religionen“, „über           für Emotionen. Die Abende
Die Nachhaltigkeit wird zusätzlich           Rassismus und Judentum“, „dass jeder           mündeten in gemeinsames
gefördert, wenn die TeilnehmerInnen          Vorurteile hat“ und „wie ich mich gegen        Essen und Kennenlernen, und
Informationsmaterial in Form von             Diskriminierung schütze“. Zum Thema            danach war man nicht nur
Handouts und Broschüren zum                  Gender und Geschlechterrollen kam u.a.         klüger, sondern einander auch
Nachblättern der wichtigsten                 gut an „über Sexismus und Strategien           näher.“
Inhalte und Kontaktstellen erhalten.         gegen Sexismus zu reden.“
Außerdem haben wir jedes Mal                                                                Corinna Milborn
anonyme schriftliche Feedbacks                                                              Journalistin & Autorin

                                                                                                                          15
10 Jahre ZusammenReden
Lessons learnt

                                  Partizipation und                           Finden eigener Antworten anzuregen;
„Wesentliche Erkenntnis:          Inklusion                                   insbesondere wenn einem selbst auf
Viele Menschen wollen sich                                                    immer wiederkehrende Fragen wie
engagieren, es braucht dazu       Die Jugendlichen sind motivierter bei       „Aber wie kann das normal sein, wenn
einen Ort, wo ruhig diskutiert    den Workshops mitzumachen, wenn sie         Gott Adam und Eva geschaffen hat?“
werden kann und sich alle         schon im Vorfeld an der Themenauswahl       keine neuen Antworten mehr einfallen.
ernstgenommen fühlen.             der Workshops beteiligt sind und            Diesbezüglich ist es auch wichtig, den
Auch wenn Gemeinden               während des ganzen Workshops ein            jungen Menschen die Möglichkeit zu
nicht materiell reich sind, ist   partizipativer Zugang verfolgt wird.        geben, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen,
dieses Engagement ein ganz        Das offene Diskussionsklima auf             sie also im Rahmen der Methoden selbst
wichtiger sozialer Reichtum       Augenhöhe wird von den SchülerInnen         Erkenntnisse gewinnen zu lassen und die
und eine Ressource, die           sehr geschätzt, weshalb wir darauf          Selbstreflexion anzuregen.
viel bewegen kann. Damit          achteten, dass die Workshops ohne
das klappt, braucht es            Lehrpersonen durchgeführt wurden.           Der partizipative Zugang der Workshops
Anknüpfungspersonen in            Diesbezüglich meldeten die SchülerInnen     betrifft auch die Inklusion von
der Gemeindepolitik und           unter anderem zurück: Gut gefallen          Jugendlichen, die nicht sprachaffin sind
-verwaltung und aktives           hat mir, „dass die Vortragenden mit         oder Deutsch nicht als Muttersprache
Netzwerken. Ich weiß nicht        uns gemeinsam gearbeitet haben“             haben. Übungen und didaktische
mehr, wer das gesagt hat, ob      „der offene und ehrliche Umgang“,           Zugänge sollten daher für spezifische
es bei der Veranstaltung selbst   „Diskussionen waren besonders wertvoll,     Zielgruppen adaptiert werden. Zahlreiche
war oder in einer Pause: ‚Die     denn wir haben all unsere Meinungen         Übungen unseres Repertoires sind
Wege entstehen beim Gehen.        preisgeben dürfen“.                         insofern „sprachlastig“, als sie eine
Wenn Du schnell gehen willst,                                                 relativ hohe sprachliche Ausdrucksfreude
dann gehe allein. Wenn Du         In manchen Schulen waren wir                und -kompetenz voraussetzen. Gerade
aber weiter kommen willst,        trotzdem mit großen Herausforderungen       diese differenzierten sprachlichen
müssen andere mitgehen.‘“         konfrontiert: Mangel an Respekt,            Ausdrucksmöglichkeiten sind jedoch
                                  rassistische Aussagen oder einfach          nicht bei allen Jugendlichen immer in
Bernhard Perchinig                unruhige junge Menschen mit einem           dem Maße gegeben, dass die geplanten
Migrationsforscher und            Überschuss an Energie. Anstatt unseren      Übungen optimal umsetzbar sind. Dies
Publizist                         eigenen hochkommenden Gefühlen zu           zeigt sich etwa daran, dass Rollenspiele
                                  erliegen, haben wir versucht (und mit       zu Diskriminierungsthemen schnell
                                  der Zeit immer besser gelernt) mit der      „körperlich“ werden (z.B. in Form von
                                  Emotionalität im Klassenraum zu arbeiten.   angedeuteten Raufereien im Rollenspiel).
                                  Schließlich wird die öffentliche Debatte
                                  in den Medien derzeit sehr emotional        Nun ist es einerseits wichtig, gerade
                                  geführt, was auch bei den SchülerInnen      auch solche Jugendliche sprachlich
                                  Emotionen unterschiedlichster Art           zu fordern und zu fördern (z.B. in Form
                                  hervorruft. Hier ist es für die Workshop-   von Argumentationsübungen), die
                                  Leitung wichtig, sensibel zu reagieren      hierin weniger Erfahrungen haben.
                                  und alle SchülerInnen ernst zu nehmen,      Gleichzeitig ist es wichtig, eine Vielzahl
                                  aber gleichzeitig keine verhetzenden        von alternativen Methoden im Repertoire
                                  Kommentare stehen zu lassen.                zu haben (etwa themenbezogene
                                                                              Videoclips, die bei Jugendlichen immer
                                  Daher sollte man bei provokanten            sehr gut ankommen, oder eher körper-
                                  (z.B. rassistischen) Aussagen die           und aktivitätsorientierte Übungen). Beim
                                  Jugendlichen nicht gleich maßregeln,        Workshop selbst gilt es, sehr flexibel auf
                                  sondern auf die Aussagen eingehen           die Anforderungen der speziellen Gruppe
                                  und versuchen, Hintergründe zu              zu reagieren und die Methoden so zu
                                  verstehen. Hier hat sich die Methode        variieren, dass sie zu den Bedürfnissen
                                  des Nachfragens gut bewährt, um die         und Präferenzen der TeilnehmerInnen
                                  Jugendlichen zum Nachdenken und             passen.

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10 Jahre ZusammenReden
                                                                                                             Lessons learnt

Diversität und                               Wichtig ist es zu Beginn, die Erwartungen
Flexibilität                                 der TeilnehmerInnen zu sammeln und            „Integration passiert ‚vor
                                             das sogenannte nicht-Ziel offenzulegen,       Ort‘. Eine gemeinsame
Diversität und Flexibilität in der           um falschen Erwartungen vorzubeugen.          Basis fürs Austauschen und
Gestaltung der Angebote wurden               Zudem war es immer von Vorteil, am            Ausreden ist das wichtigste
bei ZusammenReden immer groß                 Anfang des Trainings zu klären, wer die       Fundament einer Gemeinde.
geschrieben. Bei Kooperationen               TeilnehmerInnen sind (Hintergründe,           Habe den Einsatz der
mit Berufsschulen waren wir mit              Berufserfahrungen, freiwillige Tätig-         PolitikerInnen als auch die
der Herausforderung konfrontiert,            keiten, Ausbildung, Erfahrungen im            Beteiligung der Bevölkerung
dass die SchülerInnen nur wenige             „interkulturellen“ Kontext usw.), um so die   als äußerst authentisch erlebt.
Unterrichtswochen an Schulen haben,          vorhandene Diversität nutzen zu können.       ZusammenReden ist aus
was die Terminfindung für Workshops          Bewährt hat sich außerdem, TrainerInnen       meiner Sicht eines der besten
erschwerte. Dies führte zu relativ           im Tandem einzusetzen, also wenn              Projekte ever.“
kurzfristigen Terminen und erforderte        möglich eine Person mit und eine ohne
größtmögliche zeitliche Flexibilität.        Migrationshintergrund.                        Tülay Tuncel
Auch inhaltliche Flexibilität ist wichtig.                                                 Leiterin des Mingo Migrant
So variierten wir z.B. teilweise die         Dass die Workshops an den Schulen trotz       Enterprises Projekt der
Schulworkshops inhaltlich, um mehrere        der genannten Herausforderungen gut           Wirtschaftsagentur Wien
Themen abdecken zu können; etwa das          angekommen sind, bemerkten wir nicht
Thema Vorurteile mit einem Schwerpunkt       nur an den langjährigen Kooperationen,
auf Flucht oder Antisexismus.                sondern auch an den Rückmeldungen
                                             des Schulpersonals. Laut einem
Von Anfang an haben wir mit externen         Feedback einer Berufsschule wurde
TrainerInnen zusammengearbeitet,             an ZusammenReden insbesondere                 „Ich hab noch selten eine
um bestmöglich auf die behandelten           der „objektive Zugang“, die auf die           Runde erlebt, in der so ehrlich
Themen eingehen zu können. Für die           TeilnehmerInnen „gut eingehenden              gesprochen wurde. Über
Workshops zum Thema „Flucht und              ReferentInnen“ sowie die „neuen Inputs        Empfindungen, Erfahrungen,
Asyl“ bildeten wir Workshop-LeiterInnen      zu den in den Medien häufig ‚negativ‘         Ängste und nette Anekdoten.
mit Fluchterfahrung aus, die mit uns im      besetzten Themen“ geschätzt.                  Ich hab mir oft gedacht: wenn
Tandem die Workshops abhielten, was                                                        solche Runden regelmäßig
bei den Jugendlichen sehr gut ankam.         Für genauere Einblicke in unsere              an jedem Ort in Österreich
Und beim Thema Geschlechterrollen/           Workshopmethoden und auch in                  stattfinden würden, hätte es mit
Antisexismus haben wir stets darauf          unsere „lessons learnt“ im Umgang mit         der absichtlichen Verbreitung
geachtet, dass ein männlicher und eine       herausfordernden Klassen/Gruppen              von Hass, Hetze und Lügen
weibliche Workshop-LeiterIn eingesetzt       siehe die Links im folgenden Kapitel.         nie so weit kommen können.
werden.                                                                                    Schade, dass das niemand
                                                                                           wollte!“
Die Inhalte der LehrerInnenfortbildungen     Afnan Al-Jaderi,
haben wir gemeinsam mit Direktion und        Hristina Dakic &                              Sibylle Hamann
Lehrpersonen gestaltet, um auf deren         Pelin Özmen                                   freie Journalistin und Autorin
Wünsche und Bedürfnisse eingehen             ZusammenReden
zu können. Zudem haben es die
LehrerInnen immer geschätzt, wenn wir
Workshopmethoden in die Fortbildung
einbauten, die die LehrerInnen mit in
ihren Unterricht aufnehmen können.
Auch bei den Trainings zum Thema
interkulturelle Kompetenz mit
Erwachsenengruppen ist es wichtig,
das Thema und die Methodik gut auf die
Bedürfnisse der Gruppe abzustimmen.

                                                                                                                             17
10 Jahre ZusammenReden
Orte, Formate & Netzwerke

Orte, Formate & Netzwerke
                                                                                                                                   Wien
Ein Projekt wie ZusammenReden       An den                                                                                         • Berufsschule Amalienstraße
lebt von der Zusammenarbeit         Schulworkshops                                                                                 • Berufsschule für
und dem Austausch mit anderen                                                                                                         Verwaltungsberufe
Menschen, Projekten, Vereinen       teilgenommene                                                                                  • Neue Mittelschule Adolf-
                                                                                                                                      Loos-Gasse
und AkteurInnen. Ein Großteil       Schulen                                                                                        • Neue Mittelschule
von dem, was ZusammenReden                                                                                                            Carlbergergasse
in zehn Jahren erreicht hat, wäre                                                                                                  • Volkshochschule Favoriten,
                                                                                                                                      Arthaberplatz
ohne ein solches Netzwerk nicht                                                               • Landesberufsschule Laa/Thaya      • Berufsschule für Frisur,
möglich gewesen. In diesem                                                                                                            Maske und Perücke
Teil möchten wir euch daher
dieses Netzwerk vorstellen. Das                                                                                           • Landesberufsschule Mistelbach
Engagement der nach wie vor
aktiven AkteurInnen geht dabei                                                                                    • Landesberufsschule Stockerau
über die Zusammenarbeit mit                                                                               • Musik- und Kreativhauptschule
dem Projekt ZusammenReden                                                                                 • Sporthauptschule Korneuburg
hinaus.
                                                                                                • Hauptschule Tulln

SCHULEN                                                             • Landesberufsschule St. Pölten

Schulworkshops
Im Rahmen von interaktiven
Workshops haben wir an                                                                                 • Landesberufsschule Baden
Bildungseinrichtungen in                                                                               • Polytechnische Schule Baden
Niederösterreich und Wien mit                         •N
                                                        eue Mittelschule Gaming       • Landesberufsschule Waldegg      • Neue Mittelschule Guntramsdorf
SchülerInnen zu den Themen
                                                                                                               • Neue Mittelschule Ebreichsdorf
Asyl, Integration, Diversität und
Diskriminierung gearbeitet.                                                                                             • Landesberufsschule Theresienfeld
Es ging darum, Wissen zu                                                  • Landesberufsschule Neunkirchen              • Caritas-Schule
vermitteln sowie die kritische                                            • Medienmittelschule Neunkirchen              • Europaschule
Reflexion zum Themenkomplex                                               • Musikhauptschule Neunkirchen                • Höhere Lehranstalt f.
                                                                                                                            wirtschafti. Berufe
„Vielfalt und Zusammenleben“                                                       • Sporthauptschule/                  • Landesberufsschule
zu fördern. Darüber hinaus                                                            Modellschule Gloggnitz                Wr. Neustadt
bildeten wir in einem „Train the
Trainer“-Programm Personen mit
Fluchterfahrung als Co-Work-
shopleiterInnen aus und setzten
sie in den Schulworkshops zum
Thema „Flucht und Asyl“ ein.
                                    Ich habe gelernt, „was                 Ich möchte weitererzählen, „wie                Die Fortbildungen für
Workshop-Themen &                   androgyn und die anderen               Vorurteile funktionieren.“                     LehrerInnen behandelten – je
Feedback der SchülerInnen           Begriffe bedeuten.“                                                                   nach aktuellem Bedarf der
Zusammen über Asyl & Flucht                                                Zusammen über                                  Schule – Themen wie Flucht und
                                    Ich habe gelernt, „dass es nicht
                                                                           Mehrsprachigkeit                               Asyl, interkulturelle Kompetenz,
                                    auf das Geschlecht ankommt.“
Mir hat gefallen, „dass es nicht                                                                                          interkulturelle Kommunikation,
nur ein Vortrag war, sondern                                               Mir hat gut gefallen, „wie viele               Vorurteile im Zusammenleben
                                    Zusammen über Vielfalt
in der Gruppe gesprochen/                                                  unterschiedliche Sprachen es                   oder Antirassismus.
diskutiert wurde.“                                                         gibt.“
                                    Ich habe gelernt, „dass jeder
                                                                                                                          An den LehrerInnenfort-
Mir hat gut gefallen, „dass ihr     anders ist.“
                                                                                                                          bildungen haben folgende
so offen auf unsere Fragen          Ich möchte weitererzählen,             Fortbildungen für LehrerInnen                  Schulen teilgenommen
eingegangen seid.“                  „Integration ist nicht Inklusion.“     Parallel zu den Workshops
Ich habe gelernt, „wie das [Asyl]                                          für SchülerInnen wurden                        •B  G BRG Contiweg Wien
                                    Gut gefallen haben mir „die
verfahren funktioniert.“                                                   Fortbildungen für LehrerInnen                  • Caritas Schule Wiener
                                    verschiedenen Themen und
                                                                           angeboten, um die                                 Neustadt
                                    dass uns viel Raum zum selber
Zusammen über                                                              Nachhaltigkeit des Projekts                    • Montessori-Schule „Galemo“
                                    reden geboten wurde.“
Geschlechterrollen                                                         zu gewährleisten. Das                             Klosterneuburg
                                                                           Angebot richtete sich an alle                  • Polytechnische Schule
                                    Zusammen über Vorurteile
Mir hat gut gefallen, „dass man                                            LehrerInnen, insbesondere                         Ebreichsdorf
verschiedene Beispiele zum                                                 an jene mit der Möglichkeit, in                • Polytechnische Schule
                                    Ich möchte weitererzählen, „was
Thema ‚Sex und Gender‘ gehört                                              den eigenen Fächern an den                        Korneuburg
                                    ich über Diskriminierung gelernt
hat.“                                                                      Themen weiterzuarbeiten.
                                    habe.“

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