CORONA CAMPUS STUDIEREN IN DER PANDEMIE - ASTA DER MHH
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Corona Campus Studieren in der Pandemie Titelthema HoPo aktuell Off Label-Podcast Wir fühlen uns StuPa und AStA Von Vorbilder*in- vergessen stellen sich vor nen in der Medizin
Editorial L iebe Kommiliton*innen, Impressum Herausgeber seit mehr als einem Jahr leben wir nun schon in der Pandemie. Ein Ausnah- mezustand, der alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfasst und die- AStA der MHH Vorsitz: Carlos Oltmanns se zu enormen Veränderungen gezwungen hat – überall auf der Welt, binnen OE 9542 kürzester Zeit. Über vieles wird in diesen Tagen rauf und runter berichtet: Inzi- Carl-Neuberg-Straße 1 denzen, Gesundheitssystem, Arbeitsmarkt, Wirtschaftslage, Kinderbetreuung 30625 Hannover Robert und so weiter und so fort. Worüber jedoch kaum ein Wort verloren wird, ist die Hämmerlein Chefredaktion Humanmedizin Lage von uns Studierenden. Diejenigen, von denen die Bundeskanzlerin sagt, 4. Studienjahr sie seien unsere Zukunft, kriegen in der Gegenwart jedenfalls herzlich wenig Robert Hämmerlein Beachtung geschenkt - von dringend benötigten finanziellen Unterstützungen Redaktion ganz zu schweigen. Lisa Gruber, Hannah Heseding, In dieser „curare“-Ausgabe möchten wir das ändern und umfassend be- Hannah Siegler, Ruth Sikora, Tris- tan Baumann, Jan Tauwaldt, Milan leuchten, wie sich unser Studium in Corona-Zeiten verändert hat: Wie ergeht Speth, Lennart Simon, Valentin es den Studierenden im ersten Jahr, die neu an der Uni sind und hier nieman- Gerst den so richtig kennenlernen können? Wie steht es um die finanzielle Lage von Gastautor*innen Studierenden, die coronabedingt keinem Nebenjob mehr nachgehen können? Tanja Klause, Eva Brencher, Lara Wie gestaltet sich in diesen Zeiten das Homelearning - und wie kann man es Schmidt, Henriette Günther, Jessi- unter Umständen noch optimieren? Und was ist jetzt eigentlich mit Studieren- ca Langel, Juliette Schönberg, An- den, die sich gerade zu Beginn der Pandemie als Pflegehelfer*innen verdingt nika Kreitlow, Franziska Kümpers, haben, um überlasteten Pflegekräften zur Hand zu gehen? Kriegen diese jetzt Ivanka Wahnsiedler, Lena Kohl- meier, Lâle Bayir, Hannah Schnei- ihren Einsatz als Pflegepraktikum/Famulatur angerechnet - oder nicht? der, Lena Eilers, Dana Barchfeld, Dennoch lohnt sich auch der Blick über den Tellerrand hinaus: So wird der- Pia Lange, Anastasia Gaspert, Mar- zeit viel über Intensivmediziner*innen geschrieben, doch wie sieht ein solcher cel Borchert, Carlos Oltmanns selbst die Situation? Außerdem gehen wir der ganz grundsätzlichen Frage auf Druck den Grund, wie vereinbar Infektionsschutz und Freiheitsrechte sind. Wie sich Digitale Medien, MHH aktuell die Lage von Kulturstiftenden gestaltet und wie sich die Rolle von glo- Auflage baler Gesundheit durch die Pandemie verändert hat, ist zudem Thema dieser 500 Stück (Papier FSC-zertifiziert) Ausgabe. Layout & Grafik Und natürlich darf auch die Hochschulpolitik nicht fehlen: Die Neuwahl von Robert Hämmerlein, Jan Tauwaldt StuPa und AStA liegt wieder hinter uns- wer wurde gewählt und welche Auf- gaben gilt es zu lösen? Zudem erfahrt Ihr etwas über den neuen Studiengang Titelfoto „Biomedizinische Datenwissenschaft“ sowie das neue Promotionsprogramm Florian Waleczek, Jan Tauwaldt „DigiStrucMed“. Bankverbindung Auf das alles und vieles mehr dürft Ihr Euch in dieser Ausgabe freuen. Wir IBAN: wünschen Euch ganz viel Spaß bei der Lektüre! Bleibt gesund und wonnetrun- DE05 3006 0601 0006 3763 63 BIC: ken, DAAEDEDDXXX Im Namen der „curare“-Redaktion Kontakt Euer Robert presse.print@mhh-asta.de
Inhalt Titelthema Wir fühlen uns vergessen 6 Arbeiten am Limit 11 Kultur, Spiegel der Gesellschaft? 16 Am Anfang allein 18 „In einer Demokratie ist nichts alternativlos“ 21 Promovieren unter besonderen Umständen 24 Corona, globale Gesundheit und die Lehre 26 Der Weg zur Anrechnung von Corona-Famulaturen 28 Hochschule 31 Hochschule geht viral 33 Beratung von Studierenden für Studierende Die Student Counsellors 34 Post vom neugewählten StuPa-Präsidium 36 HAStA la vista, alter AStA! 38 Promovieren in der digitalen Medizin - DigiStrucMed 39 Neuer Studiengang an der MHH: Biomedizinische Datenwissenschaften 40 How to become a doctor? 41 Wofür bezahle ich da eigentlich alle 6 Monate 44 Rassismus im Betrieb - Rassismus in der Lehre Curare Ausgabe Nr. 125 06/2021
Nr. 125 Feuilleton IsiEmhh in Corona-Zeiten 46 Online-Seminar „Ernährung im Kontext individueller 48 und planetarer Gesundheit“ „Klimakrise = Gesundheitskrise – Zwei Krisen mit einer 50 Klatsche“ Rezension: Kurzlehrbuch Neurologie 51 Der Präsident und die Eieruhr 52 Warten auf gestern 55 56 Kolumne Frauen in der Medizin 58 Wir sind eben Frauen 59 Off Label 61 Ein ehrlicher Text 63 Freier Platz Bildquellen: Bild Seite 2: Phghvvcftyyufj, pixabay Bild Titelthema: Yaroslav Danylchenko, pexels Bild Hochschule: Tristan Baumann, Jan Tauwaldt Bild Feuilleton: 12019, pixabay Bild Kolumne: Polina Zimmermann, pexels Mehr auf curare.mhh-asta.de.
Titelthema Wir fühlen uns vergessen S eit nunmehr über ein Jahr bestimmt die Pandemie unseren Alltag: Dass auch das Studium dadurch turbulent wer- mussten Studierende an der MHH unlängst machen – und die Situation hält weiter an. den würde, war schnell abzusehen und Die große Angst vor der (Finanz-)spritze ist an sich wenig überraschend. Doch wie Zumindest die meisten unserer klini- schlimm wiegen Sorgen um die Einhaltung schen Studierenden sind bereits mit einer der Regelstudienzeit, um das erfolgreiche ersten Dosis geimpft. Als Mediziner*in weiß Beenden einer Doktorarbeit oder um das man, dass viele Menschen eine Grunda- stressige Zeitmanagement durch Ver- version gegenüber Spritzen hegen. Solche schieben von Prüfungen, wenn die eigene Phobiker*innen scheinen vorzugsweise in Existenz oder gar das Leben naher Ange- der Bundesregierung zu sitzen, vor allem, höriger bedroht ist? Auch diese Erfahrung wenn es um Finanzspritzen für uns Stu- 6 Curare Ausgabe Nr. 125 06/2021
Titelthema dierende geht: Der Blick auf die aktuelle Messen in Hannover besucht. Nicht ohne BaföG-Lage reicht da bereits. Und so sind Grund trägt die niedersächsische Landes- auch die Strukturpakete der Bundesregie- hauptstadt den Beinamen „Messestadt“, rung in Zeiten der Corona-Pandemie in An- findet sich hier doch das größte Messege- sätzen gut gemeint; jedoch brauchen diese lände der Welt. Mit der Messe haben auch durch Bürokratie und mangelnde Erfahrung viele Studierende gut bezahlte Jobs gefun- meist zu lange, bis sie in existenzielle Not den, andere haben sich in der Gastronomie geratene Studierende wirklich erreichen. etwas dazu verdient. Doch Corona Der freie Zusammenschluss von stu- kam und raubte den Studierenden dent*innenschaften (fzs) e.V.* geht hier nicht nur die Trinkgelder. Dabei haben sogar noch weiter: „Dem fzs liegen inzwi- wir an einer medizinischen Fakultät schen hunderte Fallbeispiele willkürlicher noch das „Glück“, dass wir im Gesund- Ablehnungen von Studierenden vor, die heitswesen in Pandemiezeiten mehr sich auf die Überbrückungshilfe des denn je gebraucht werden, uns etwas Marcel Borchert BMBFs beworben haben. Dabei ist der häu- dazu verdienen und gleichzeitig noch Humanmedizin figste Ablehnungsgrund, dass der Nach- viel Gutes bewirken können: 1 000 3. Studienjahr weis der pandemiebedingten Notlage feh- studentische Bewerbungen gab es inner- le. Studierende müssen durch die Vorlage halb kürzester Zeit allein an der MHH, um einer Kündigung oder abgelehnter Bewer- die Pflege auf den einzelnen Stationen zu bungen aus den letzten zwei Monaten be- entlasten, zudem werden Impfzentren und weisen, dass sie aufgrund der Pandemie in Teststationen von uns besetzt. Es scheint, eine Notlage geraten sind. Dieses realitäts- als wären wir weniger auf Gastronomie ferne Kriterium wirkt sich aktuell negativ oder Messen angewiesen, anders als viele auf die Bewilligungsquote aus.“ andere Studierende nicht-medizinischer Bildungsministerin Anja Karliczek Universitäten. Doch das hier hinzuverdien- konnte sich in der Bundesregierung mit te Geld ist nur ein Tropfen auf dem heißen ihrer Idee durchsetzen, Studierenden Stein, denn trotzdem haben sich Studie- kurzfristig Überbrückungskredite anzu- rende auch bei uns stark verschuldet. bieten; der KfW-Kredit wurde für eine Viele Eltern, die für ca. 86% aller Stu- gewisse Zeit zinslos angeboten. Proble- dierenden wichtige Geldgeber*innen sind, matisch bleibt jedoch, dass sich Studie- waren und sind durch die Pandemie finan- rende weiter verschulden müssen - und ziell bedroht. Ob durch Kurzarbeit, starke das ganz ohne eigenes Verschulden! Umsatzverluste, Kündigungen oder nicht Schätzungen zufolge sind ca. 70% der Stu- verlängerte, befristete Arbeitsverhältnis- dierenden von ihren Nebenverdiensten se: Die 541€, mit denen die Studierenden abhängig – unabhängig davon, ob sie Bafög in Deutschland von ihren Eltern durch- beziehen oder nicht. Vor Corona haben schnittlich vor der Corona-Pandemie un- rund zwei Millionen Menschen jährlich die terstützt wurden, fallen zumindest teil- mehr als 60 nationalen und internationalen weise weg. Eine Öffnung des BAföG, das *Der freie Zusammenschluss von student*innenschaften (fzs) e.V. ist der überparteiliche Dachverband von Studierendenschaften in der BRD. Mit rund 90 Mitgliedern vertritt der fzs etwa 860.000 Studierende. Der fzs ist Mitglied im europäischen Studierendendachverband ESU- European Students’ Union. Mehr auf curare.mhh-asta.de. 7
Titelthema bisweilen lediglich von 18% der Studieren- zen dürfen nicht die letzten sein, die viele den bezogen wird, ist von Seiten der Regie- unserer Studierenden geschenkt bekom- rung abgelehnt worden. men haben. Mit der Corona-Soforthilfe hat der AStA Keine Zeit für soziale Befindlichkeiten in Zusammenarbeit mit dem Studieren- Neben dem Finanziellen gibt es aber denparlament deshalb ein klares Zeichen auch andere Sorgen und Nöte: Mich ereil- der Solidarität gesetzt. Als erste Hochschu- ten viele Anfragen von Studierenden, die le in Niedersachsen wurde ein Finanzpaket beispielsweise pflegebedürftige oder im- über 5x 200€ verabschiedet, das durch die munkompromittierte Eltern(-teile) zuhau- Mittel der Studierendenschaft finanziert se pflegten. Es konnten glücklicherweise werden und in Not geratenen Studierenden fast genauso viele individuelle Lösungen helfen sollte. Uns war dabei wichtig, keine gefunden werden. Der Dank gilt hier vor Parallelstruktur zu staatlichen Fördergel- allem den Dozierenden und Lehrverant- dern zu schaffen, sondern schnell und un- wortlichen, die trotz des starren Korsetts kompliziert Gelder zu akquirieren, mit de- unserer aktuellen Approbationsordnung nen z.B. die Miete einmalig bezahlt werden oftmals sensibel auf das Thema eingegan- konnte, bis die Gelder von anderer Stelle gen sind und flexible Lösung finden konn- angekommen sind. Zwei Studierende wur- ten. Viele Universitäten, vor allem auch die den bislang auf diesem Wege unterstützt, LUH, haben ihre Klausuren ausfallen lassen für die neue Legislaturperiode sind bereits – nicht so bei uns: zwar mit Maske und zum die nächsten fünf Einmalauszahlungen Teil neuen Terminen und Alternativ-Versio- beantragt, über die auf der jüngsten Stu- nen, da nicht alle zeitgleich im Zwei-Kohor- Pa-Sitzung erfolgreich abgestimmt wurde. ten-System coronakonform in die Hörsäle In anderen Fällen griff der Notfallsozial- gepasst hätten, aber eine Verlängerung fonds der MHH, der von dem Alumni-Ver- des Studiums konnte so in den meisten ein gedeckt ist. Hier können Studierende in Fällen abgewendet werden. In der Pande- finanzieller Schieflage mit bis zu 1 000€ ge- mie konnten wir auch endlich das Projekt fördert werden, zusätzliche Gelder können „Student Counsellors“ final umsetzen: Seit zudem aus der Studienförderung Entwick- Mitte letzten Jahres gibt es vier Studieren- lungshilfe ebenfalls mit bis zu 1 000€ aus de, die uns niederschwellig bei Anliegen der bilateralen Entwicklungszusammenar- jeglicher Art offen und anonym zur Seite beit genommen werden. stehen (s. Vorstellung S. 33). Erfreulicherweise konnten wir mit den Arbeit und Nebenjob sind nicht nur Geldern aus den Studienqualitätsmitteln Orte, um sich seinen Lebensunterhalt zu dieses Jahr auch erstmals die volle Anzahl verdienen; sie bedeuten auch immer so- an 30 Ersti-Paketen für unser Erstsemester ziale Kontakte und die Möglichkeit, neue finanzieren. Und auch die Mensa-Freitische Freundschaften abseits des Unialltags zu konnten aufgrund eines Abbuchungsfeh- schließen. lers aus den vergangenen Jahren einmalig für das Jahr 2020 verdoppelt werden. Doch auch mit Freundschaften auf dem Campus sieht es vor allem für unsere Stu- Es zeigt sich deutlich: Die zwei Impfsprit- dienbeginner*innen mau aus; ein weiterer 8 Curare Ausgabe Nr. 125 06/2021
Titelthema negativer Aspekt, der mit den Online-Se- ten, wozu auch das Gleichstellungsbüro mestern einhergeht. (s. Artikel „Am Anfang mit der Organisation von zehn Lernsams- allein“). tagen seinen Teil beigetragen hat. Einen Balanceakt bildet das Studieren Infokasten: Sozialerhebung durch das Stu- mit Kind(ern) schon in einer Nicht-Pande- dentenwerk über die Studierenden in der mie-Zeit – wie muss es einem da erst recht BRD (vor Corona, Quelle: sozialerhebung.de) jetzt ergehen, wenn auf einmal der An- • Durchschnittsalter 24,7 Jahre spruch auf Kinderbetreuung wegfällt und • 92% studieren in Vollzeit • 86% bekommen finanzielle Unterstüt- man sich trotzdem adäquat auf Prüfungen zung durch Eltern, durchschnittlich vorbereiten will? In Zeiten von Online-Leh- mit 541 Euro re und Homeschooling war das aus Sicht • Durchschnittlich finanzielles Kapital pro Monat: 918 Euro der Behörden auf jeden Fall etwas, das ver- • Ausgabekosten im Durchschnitt: einbar ist. Wohnkosten (323 Euro), Ernährung (168 Euro), Fortbewegung (94 Euro) Zum Glück konnten wir gemeinsam mit • 61% sind erwerbstätig mit einem durchschnittlichen Verdienst von 384 dem Dekanat hier Aufklärungsarbeit leis- Euro ten. Zwar bieten Online-Videos, gerade • 18% erhalten BAföG mit durchschnitt- wenn sie asynchron angeboten werden, lich 435 Euro im Monat • 79% der Geförderten geben an, ohne mehr Flexibilität für Eltern, das Ganze ist BAföG nicht studieren zu können aber zu kurz gesehen, stellt man sich vor, • 73% der Studierenden nutzen regel- mäßig die Mensa wenn die oder der Partner*in berufstätig • 6% haben eigene Kinder (131.000 El- oder anderweitig beschäftigt ist. Mit einem tern) schreienden Baby im Arm, das Aufmerk- samkeit braucht, lässt es sich nur schwierig Kuriose und zugleich sehr tragische Si- konzentriert lernen. Unsere Gesellschaft tuationen galt es aber auch zu lösen: Zum organisiert in aller Regel selbst, wer wie viel Beispiel dann, wenn Studierende plötzlich der unbezahlten Care-Arbeit übernimmt nicht mehr nach Deutschland einreisen – also jener Arbeit, die zumeist Frauen für durften. Saßen diese in einem Nicht-EU- Familie und Gesellschaft übernehmen, die Land bei ihren Familien plötzlich fest, galt aber nicht entgeltlich vergütet wird; häu- es in Deutschland dafür zu sorgen, den Ne- fig sind diese Modelle paarzentriert – zum benjob aufgrund von Nichteinhalten der Nachteil für die Frau, die mit dieser meist Dienste nicht zu verlieren und das Studium ungesehenen Arbeit die Sozialstruktur trotzdem erfolgreich weiter voranzutrei- weiter fördert. Insgesamt steigt aufgrund ben. der SARS-CoV2-Pandemie die unbezahlte Vieles hiervon wird nicht gesehen. Coro- Pflege- und Betreuungsarbeit stark an. Be- na stellt uns vor neue Herausforderungen sonders unter den Schul- und Kitaschlie- und lässt an manchen Tagen den Alltag un- ßungen leiden auch ca. 2,5 Millionen Allein- bezwingbar aussehen. Ihr werdet gesehen erziehende in Deutschland, wovon etwa und gehört – auch an der MHH. Bei Proble- 85% Frauen sind. Umso erfreulicher, dass men jeglicher Art findet Ihr hier vertrauens- wir in Zusammenarbeit mit der Stadt Han- volle Ansprechpartner*innen: nover für viele unserer Studierenden mit Kind(ern) Notfallplätze organisieren konn- Mehr auf curare.mhh-asta.de. 9
Titelthema AStA Referat für Soziales und Gleich- Text und Bild: Marcel Borchert, AStA-Refe- stellung: rent für Soziales und Gleichstellung soziales@mhh-asta.de Student Counsellors: stud.beratung@mh-hannover.de Quellen die-Neu-Hannoveraner-und-alle,/Warum-Hannover- • https://www.kfw.de/inlandsfoerderung/Privatpersonen/ eine-Messestadt-ist; 20.04.2021; Studieren-Qualifizieren/KfW-Studienkredit/KfW- Corona-Hilfe-f%C3%BCr-Studierende/; 21.04.2021; 20:13 • https://taz.de/Medizinstudierende-stimmen-Minister- Uhr. um/!5757294/; 20.04.2021; 20:47.) • https://www.spiegel.de/start/corona-studierende- • https://www.studentenwerke.de/de/content/ leiden-unter-shutdowns-nebenjobs-dringend- sozialerhebung-des-deutschen-studentenwerks, gesucht-a-ad7bb843-3e24-4725-a550-5a75c415c0d8; 20.04.2021; 18:51 Uhr.) 21.04.2021; 21:06 Uhr.) • https://de.statista.com/statistik/daten/studie/318160/ • https://www.hannover.de/Kultur-Freizeit/Freizeit-Sport/ umfrage/alleinerziehende-in-deutschland-nach- Echt-hann%C3%B6versch/Zehn-Dinge/Zehn-Dinge,- geschlecht/ ; 22.04.2021; 20:27 Uhr.) 10 Curare Ausgabe Nr. 125 06/2021
Titelthema Arbeiten am Limit Im Gespräch mit Intensivmediziner Dr. Matthias Stoll S elten standen Infektiolog*innen so sehr im Blickpunkt wie in der Coronakrise. Dr. Matthias Stoll, leitender Oberarzt der In- nicht so viele langgreifende Behandlungs- optionen gab. Ich fand die Vorstellung, dass das Immunsystem sich gegen den eigenen fektiologie an der MHH, gewährt Einblicke Wirt richten kann, wahnsinnig faszinierend. in seinen persönlichen Werdegang und sei- Und so habe ich im Grunde dann schon in ne neue Rolle in der Pandemie. meinem Studium Kontakt zu meinem heu- tigen Fachgebiet aufgebaut. In Hannover Herr Professor Stoll, mal ganz unter uns, was ha- bin ich dann früh in die damalige Abteilung ben Sie so im Arm? AstraZeneca, Biontech oder für „Klinische Immunologie und Transfusi- direkt Microsoft? onsmedizin“ gekommen, wo ich bis heute Also bei mir persönlich war es Biontech, geblieben bin. aber an der MHH hat man natürlich auch Wenn Sie es mit früher vergleichen: Wie hat sich sehr viel Erfahrung mit Microsoft. (lacht) die Wahrnehmung der Infektiologie seither ver- Zu Beginn eine kurze Vorstellung Ihrerseits: War- ändert? um haben Sie eigentlich Medizin studiert? Die Infektiologie hat stark an Bedeutung Ursprünglich wusste ich nicht wirklich, was gewonnen, vor allem durch die Diskussi- ich studieren sollte, obwohl ich Medizin on über nosokomiale Infektionen. Dabei schon immer ganz interessant fand. Ich ist das ja eigentlich kein infektiologisches fand vor allem spannend, dass man damit Thema, sondern eine Frage der Kranken- ein klares Berufsfeld hatte, etwas für Men- haushygiene. Ein anderes sehr aktuelles schen tun konnte. Daher habe ich in den Beispiel ist SARS-CoV2: Durch unser zu- 70er-Jahren eine Einführungsveranstal- nehmendes Eindringen in Biotope steigt tung hier in Hörsaal F besucht, der damals das Infektionsrisiko zwischen Mensch, Tier rappelvoll war. Dort wurde meine Neugier und Pflanze immer weiter an. Aufgrund ih- weiter geweckt, sodass ich mich letzt- rer zunehmenden Bedeutsamkeit wurde endlich fürs Medizinstudium entschieden die Infektiologie dann zunächst als Weiter- habe. bildungsfach für Internist*innen und Pädi- ater*innen etabliert, wobei ich als Oberarzt Und wie sind Sie konkret zur Infektiologie ge- für dieses Fach zuständig war. Dabei hatte kommen? ich keinen eigenen Lehrstuhl. Dennoch war Als ich dann studiert habe, habe ich ziem- die MHH und ich als deren Weiterbildungs- lich schnell gemerkt, dass die Innere meine ermächtigter viele Jahre lang die ersten in Fachrichtung sein würde. In einem Kran- ganz Niedersachsen, die dann auch Infek- kenhauspraktikum in Bremen bin ich da- tiolog*innen klinisch weitergebildet haben. mals erstmals mit Autoimmunerkrankun- Wie hat sich Ihr Berufsalltag während der Coron- gen und Infektionskrankheiten in Kontakt apandemie verändert? Sie sind ja jetzt ein viel gekommen. Viele Patient*innen sind daran gefragter Mann für Interviews mit der Zeitung… verstorben, weil es zur damaligen Zeit noch Mehr auf curare.mhh-asta.de. 11
Titelthema Das ist in der Tat bisweilen recht anstren- handelt. gend, da ich mich darauf gut vorberei- Das klingt wirklich hart. Was empfehlen Sie im ten muss und nie genau weiß, was genau Umgang mit solchen Menschen? die Presse am Ende aus meinem Auftritt macht. Dennoch finde ich es wichtig, zu Eine ganz einfache Devise: „Don´t feed the den aufkommenden Fragen Stellung zu be- Troll“. Sie können diese Menschen nicht ziehen, damit Sachverhalte auch so erklärt überzeugen. Sie treffen immer mal auf werden, dass Laien sie verstehen können. Leute, die irrational beeinflusst werden. Denn es nützt insbesondere Patient*innen Teilweise sogar im näheren Familien- und aus bildungsferneren Schichten herzlich Freundeskreis. Das sind oft solche, die den wenig, wenn Expert*innen sich missver- Gedanken der Aufklärung, Reflexion und ständlich äußern oder mit virologischen kritischen Diskussion in der Wissenschaft Fachausdrücken um sich schmeißen. einfach zerstören und durch eigennützig geleitete Motive mit ihren Regeln ersetzen Sind Sie denn auch mit Kritik von Coronaleug- wollen. Es ist wie bei einer psychischen Er- nern in Kontakt gekommen? Und wie haben Sie krankung, wo einer in einem Wahnsystem darauf reagiert? lebt. Ja, das bin ich, und das trifft mich auch Begünstigt werden derlei Entwicklungen schwer. Herr Drosten ist da ja regelrecht durch „Studienergebnisse“, die Ausgangs- gestalkt und bedroht worden. Und mir ist punkt obstruser Verschwörungstheorien es auch so gegangen: Ich erhalte auch eher darstellen: So z.B. die These, die Wellenlän- diffuse Mails und Anfragen, die ich gar nicht ge von 5G-Wellen wäre genauso groß wie so mag. Manchmal kann das auch bis ins ein Coronavirus, was beweise, dass es sich Stalking ausarten, teilweise sogar aus Kol- um ein und dasselbe handele. Nur heißt das legenkreisen. Dann erreichen mich manch- 5G-Netz auch Millimeternetz: Hätte das mal vollkommen konfuse Ideen in einem Coronavirus also Millimetergröße, wäre es aggressiven, sogar drohenden Ton, die mich leichter, es mittels einer Fliegenklatsche zu zur Richtigstellung von Inhalten auffordern, bekämpfen. Man muss solche Äußerungen die ihnen nicht in den Kram passen. Ich weiß klar demaskieren und sie als das darstellen, nicht, was diese Leute umtreibt. Bisher er- was sie sind: Totaler Quatsch! Der Weg der lebte ich Fälle von Diskriminierung über- Überzeugung ist da nicht der richtige. Denn wiegend aus Patientengeschichten, die im umgekehrt wird rücksichtslos gegen die Zusammenhang mit Infektionskrankheiten Werte der Aufklärung vorgegangen, ohne an mich herangetragen wurden. Doch auch Übernahme von Verantwortung. Präventi- als Arzt war ich selbst davon betroffen, ein- onsmaßnahmen werden verhöhnt, Opfer schließlich meiner Familie. Das ist daran bagatellisiert, das politische System desta- gegipfelt, dass Eltern aus der Kita eine Ini- bilisiert. Aber falls doch was passiert, wird tiative starteten, um meine Kinder von dort Anspruch auf vollumfängliche Krankenver- zu verweisen. Mit der fadenscheinigen „Be- sorgung erhoben. Das ist einfach keine Ba- gründung“, ihnen wäre unwohl dabei, wenn sis, um auf Augenhöhe zu reden. ihre Sprösslinge mit Kindern zu tun hätten, deren Vater Menschen mit ansteckenden Sehen Sie die Wissenschaft und insbesondere Erkrankungen auf der Infektionsstation be- die evidenzbasierte Medizin angesichts eines 12 Curare Ausgabe Nr. 125 06/2021
Titelthema solchen Verhaltens als gefährdet an? alles lesen, geschweige denn reviewen? Da Die ist ja immer in Gefahr. Das ist ein zar- muss man auch aufpassen, dass man das tes Pflänzchen, das man regelmäßig gie- System nicht überreizt. ßen und pflegen muss. Wissenschaft lebt Welchen Einfluss hat die Pandemie auf Ihren Sta- davon, dass wir um den richtigen Weg in tionsalltag? einer zivilisierten Form streiten. Wenn es Einen erheblichen. Nehmen wir den gest- aber primär um Impactfaktor und presti- rigen Tag als Beispiel: Ich hatte den ganzen geträchtige Publikationen geht, stehen wir Tag über mit vielen schwerkranken Pati- uns aber aus reiner Eitelkeit manchmal sel- ent*innen zu tun, die weiterverlegt werden ber im Weg. Wenn Forschungsergebnisse mussten, war allein mit dem ganzen orga- weniger an der Qualität denn an der Höhe nisatorischen Kram mehr als ausreichend der Forschungsgelder gemessen werden, ausgelastet. Ich war für zehn Patient*innen die an ihnen hängen. Wenn Sie so etwas zuständig, doch am Abend waren nur noch kritisieren, dann gilt das leicht als Nestbe- drei Betten belegt. Solch eine niedrige Be- schmutzung. Erfreulicherweise geschieht legungsquote hätte ich mir vor der Pande- uns das hier an der MHH erstaunlich selten. mie nie getraut, schließlich mussten ja alle Aber diese Kultur muss man sich bewahren Betten belegt werden, denn belegte Betten auch dort, wo Wissenschaft nicht so unab- bringen Geld. Jetzt gerade verändert sich hängig ist wie hier. diese Logik ein Stück weit dahingehend, Aber machen wir uns doch nichts vor: Forschung dass freie Intensivbetten auch als gutes ohne Geld funktioniert nun mal nicht - auch nicht Zeichen wahrgenommen werden, was sie an der MHH. ja eigentlich auch sind. Das stimmt, aber hier sind Sie noch zu einer Wir würden gern noch auf die Lehre zu sprechen gewissen Neutralität verpflichtet. Wenn kommen: Wir Studierende an der MHH konn- Sie beispielsweise bei Biontech arbei- ten ja trotz Pandemie im Gegensatz zu anderen ten und feststellen, dass das Konzept von Hochschulen im Wesentlichen ohne Zeitverlust Moderna prinzipiell besser ist, kriegen Sie weiterstudieren. Wie sehen Sie in diesem Zusam- höchstwahrscheinlich ein Problem, wenn menhang den Zwiespalt zwischen Infektionsrisi- Sie das publizieren möchten. Dann sollten ko und regulärem Studienverlauf? sie vorher kündigen. (lacht) Und hier kön- Mein persönliches Credo ist, dass man bei nen Sie das machen, sogar ohne großen Infektionskrankheiten vor allem nicht vor Gesichtsverlust. Denn niemand kann uns Angst erstarren sollte. Doch das genau verbieten klüger zu werden. Fehlannah- passiert, wenn Sie ein absolutes Nullrisiko men und widerlegbare Thesen begünsti- in der Pandemie anstreben. Natürlich ver- gen den wissenschaftlichen Fortschritt; spürt Jede*r irgendwo ein gewisses Gefühl vielmehr ermöglichen sie ihn gerade erst. der Beklemmung und Unsicherheit, wenn Das wird jedoch erschwert durch den zu- es um dieses Thema geht, auch ich. Das nehmenden Publikationsdruck, der eine macht auch einen Teil des Reizes aus, den wahnwitzige Inflation an wissenschaftli- der Beruf ausübt. Sie haben als Arzt, auch chen Publikationen zur Folge hat, gerade in der Ausbildung, immer mit potentiell in- jetzt in Corona-Zeiten. Wer soll das noch fektiösem Material zu tun, weil prinzipiell Mehr auf curare.mhh-asta.de. 13
Titelthema jeder Mensch andere infizieren kann. Infek- Vorlesung ersetzen: Die persönliche Inter- tionskrankheiten gehören zu unserem Le- aktion fehlt einfach, die ich für sehr wichtig bensrisiko und gerade bei Sars-CoV2 war erachte. Das kennen Sie von Besuchen in ja von Anfang an klar, dass junge Menschen Fußballstadien, bei denen es um weit mehr ein vergleichsweise geringes Risiko haben. geht als nur um das reine Spiel, das man Sinnvoll ist es, mit diesen Ängsten rational sich auch im Fernsehen anschauen könn- umzugehen und sie zu überwinden, wes- te. Ich hoffe, wir finden nach Corona zu ei- halb ich es sehr begrüßt habe, dass das De- ner guten Mischung zurück. Dass, was sich kanat um einen möglichst ungehinderten bewährt und Dinge vereinfacht hat, auch Studienverlauf bemüht war. nach der Krise beibehalten wird. In diesem Zusammenhang spielt natürlich auch Um zum Anfang zurückzukehren: Wenn Sie noch- das Thema „Digitalisierung“ eine große Rolle: mal studieren würden, was würden Sie anders Wie sehen Sie das Ganze - als Arzt und als Hoch- machen? schullehrer? Im jetzigen Abschnitt meines Lebens habe Als Arzt sehe ich persönlich viele Aspekte ich mich das auch schon gefragt. Grund- der Digitalisierung nicht ohne Sorge. Das sätzlich bin ich in der Vergangenheit ganz Missbrauchspotential ist aus meiner Sicht gut damit gefahren, vieles offen auf mich enorm, was zu Vertrauensverlusten der zukommen zu lassen und mich dann bei Bevölkerung in unseren Berufsstand füh- Bedarf immer weiter in etwas hineinzufuch- ren kann. Außerdem lebt die Medizin von sen. Grundsätzlich empfehle ich Jedem*r, ihrer Interaktion mit den Patienten, vom auf sich selber hören und zu schauen, was Aufeinanderzugehen. Durch eine zuneh- passt und was eben nicht. Manche wissen mende digitale Überwachung befürchte das schon am Anfang ihres Studiums, an- ich daher, dass wir uns schrittweise im- dere finden später ihren Weg. Das ist der mer mehr von den Patienten entfremden. Vorteil an einem Beruf, der Raum für ganz Mittlerweile haben wir die Monitorüberwa- viele verschiedene Möglichkeiten lässt. chung für Pulsoxymetrie und EKG irgend- Wo sehen Sie uns als Medizinstudierende wäh- wo mitten im Stationsraum, wodurch der rend der Pandemie in der Verantwortung? Stich- Patientenkontakt weiter abnimmt. Bei aller wort: Nichteinhaltung der Maskenpflicht auf Fortschrittlichkeit, die wir der Digitalisie- dem Campusgelände. rung verdanken, sollten wir daher meiner Ansicht nach immer auch darauf achten, Ich kann verstehen, dass man oft den Re- unsere Kommunikation nicht allein daran flex hat, das Stück Stoff vor der Nase los- auszurichten. werden zu wollen, das geht mir auch so. Aber wir haben hier eine Verpflichtung, und Und als Hochschullehrer? das in verschiedener Hinsicht: Denn wir Als Dozierender sehe ich auch eine gewis- sind unmittelbar von einer vulnerablen Po- se Ambivalenz. Es gibt bestimmte Module pulation umgeben, unseren Patienten. und Inhalte, die man digital sicherlich gut Das sehen wir auch an den verschiedenen kommunizieren kann - vielleicht sogar noch Ausbrüchen in der Klinik, die die MHH in besser als analog. Auf der anderen Seite der Pandemie zu bewältigen hatte. Wenn kann ein Foliensatz niemals eine richtige man diese genauer untersucht, stellt man 14 Curare Ausgabe Nr. 125 06/2021
Titelthema fest, dass man immer irgendetwas hätte bisschen hart zu sich selbst sein. besser machen können. Zum Beispiel beim Wagen wir zum Abschluss nochmal den Blick in Frühstück, wo man anfangs lange noch ge- die Glaskugel: Diesen Oktober wird wieder die meinsam ohne Maske zusammensaß und Ersti-Woche stattfinden, werden da Partys und aß, wobei es nachweislich zu Infektionen geselliges Beisammensein endlich wieder mög- gekommen ist. Außerdem sind (werdende) lich sein? Ärzt*innen auch noch in einer anderen Rol- le gefordert. Naja, dann vielleicht schon wieder nicht mehr, schließlich hat die Bundestagswahl In welcher? zu dem Zeitpunkt bereits stattgefunden. Als Vorbilder. Und diese Rolle sollten wir (lacht) Abgesehen davon glaube ich aber nicht unterschätzen. Nehmen Sie unseren schon, dass es bis dahin wohl interessante Bundesgesundheitsminister als Beispiel: Konzepte der Lockerung geben wird. Mal Mit seiner Party hat er gegen das versto- gucken, wie es ausgeht ßen, was er vorleben sollte, und sich dabei Interview: Lennart Simon, Milan Speth infiziert. Er hat eine Vorbildfunktion zu er- füllen und wir Ärzt*innen genauso, da wir vom Fach sind und die Bevölkerung uns vertraut. Da muss man manchmal auch ein Mehr auf curare.mhh-asta.de. 15
Titelthema Kultur, Spiegel der Gesellschaft? Eine Bestandsaufnahme K aum eine Branche muss sich in diesen Zeiten so sehr existenziellen Fragen stellen wie die Kultur. Systemrelevant - ja aus meist Idealist*innen, die auch in Zei- ten von Einschränkungen und Entbehrun- gen dazu bereit sind, neue und innovative oder nein? Eine Branche, die von ihrem Wege zu gehen. Publikum lebt, muss nun ohne die direkte So bietet beispielsweise das Staatsthe- Nähe zu diesem überleben. Wie also hat ater Hannover ein vielfältiges Programm sich die Lage der Kultur seit Ausbruch der aus Podcasts, Tanzworkouts, Zoom-Ver- Pandemie gewandelt? anstaltungen, Streams und digitalen Pre- Die Zeit, sich nicht zu engagieren, ist ver- mieren an. Im April wurde - für Studierende mutlich vorbei, wie uns die Pandemie klar kostenfrei - die Online-Premiere der Oper vor Augen führt. Und mit ihr stehen auch „The Turn oft the Screw“ sowie „STIMMEN: Kunst und Kultur vor neuen Herausforde- Liebeslieder“ ausgestrahlt. Und auch der rungen und Fragen: Die Kultur als Spiegel Mai hatte einiges zu bieten: Neben der der Gesellschaft - Ist dieses Selbstver- Premiere der Oper „Greek“ wurde zudem ständnis in Corona-Zeiten noch zeitge- im Rahmen einer vielversprechenden Ko- mäß? Doch Kulturstiftende sind von Natur operation mit der Villa Seligman, dem Haus 16 Curare Ausgabe Nr. 125 06/2021
Titelthema für jüdische Musik Hannover, eine Podi- züberwindungen oder beschwerlichen lan- umsdiskussion veranstaltet, an der unter gen Anfahrten; vielmehr ermöglichen sie anderem Max Czollek teilnahm. Außer- erst internationale Kooperationen wie z.B. dem fand am 20. Mai eine Veranstaltung den Podcast „VOICE STORIES“, welcher zu jüdischen Klangbildern des 20. Jahr- Künstler*innen aus der ganzen Welt zu- hunderts mit Musik von Korngold, Bern- sammenbringt. Auf diese Weise kann sich stein, Weil, Milhaud und weiteren statt. die Kulturbranche auch in Bereichen ent- Darüber hinaus wird derzeit aktiv am Spiel- falten, die ihr vorher verschlossen ge- zeitheft 2021/22 gearbeitet. Dort erwarten blieben sind, und sich so -wenn auch uns spannende Produktionen wie „Swee- aus der Not heraus- fortlaufend wei- ney Todd“, dann hoffentlich wieder vor terentwickeln. Publikum. Ferner werden auch viele digi- Wie würde die Welt wohl morgen tale Formate längerfristig fortgesetzt und aussehen, wenn Corona plötzlich durch geplante Open Air-Veranstaltungen vorbei wäre? Wenn beispielsweise Henriette ergänzt. Forscher*innen herausfinden wür- Humanmedizin Günther Abgesehen davon entstehen interes- den, dass Hafermilch (und nicht Klo- 3. Studienjahr sante Kooperationen zum Beispiel mit papier!) jede Coronainfektion heilen kann? dem deutschen Taubblindenwerk, wobei Mit Sicherheit wäre dann Hafermilch in mithilfe eines inklusiven Kunstprojektes allen Supermärkten restlos ausverkauft, auf das Thema „Taubblindheit“ aufmerk- die Leute würden sich auf der ganzen Welt sam gemacht werden soll. An drei Aktions- um eine Packung Hafermilch prügeln und tagen im Juni wurden hierfür die Säulen auf den Straßen würden sich zahllose De- des Opernhauses Hannover mit Wolle um- monstrierende versammeln und brüllen: garnt, um Nichtbetroffenen einen Zugang „Gleiche Milch für Alle!“ zur Lebensrealität taubblinder Menschen Und sonst? Vermutlich wären die Kon- zu schaffen. Dieses taktile Kunstwerk soll zerte überfüllt, die Theaterprogramme zudem dabei helfen, die Kunst und Kul- restlos ausverkauft und Galerien beliebter turszene Hannovers auch für Menschen denn je. Und zwar nicht nur aus Sehnsucht. mit Taublindheit zugänglicher zu gestalten. Sondern auch aus Idealismus. Einem Idea- Diversität und Internationalität prägen den lismus, der Kulturstiftenden auch in Zeiten gesamten Spielplan von Schauspielhaus der Krise offensichtlich nicht abhandenge- und Oper maßgeblich. Dabei sind sowohl kommen ist. Es geht nicht um Geld, nich- zeitgemäße als auch klassische Inszenie- tum Macht, nicht um Erfolg. Es geht allein rungen zu sehen, sowie Genregrenzen um die Entfaltung seiner*ihrer selbst, die überschreitende musikalische Exkurse Verwirklichung von Idealen, für die sie zu und Formate für junge Zuschauer*innen. kämpfen bereit sind. Komme, was da wolle. Die Kulturformate sind also auch in Co- rona-Zeiten keineswegs verschwunden; Text: Henriette Günther, AStA-Referentin sie mussten sich allerdings verändern und für Kultur der Situation anpassen. Das muss nicht Bild: Nifoto, Commons, CC BY SA 3.0 unbedingt ein Nachteil sein: So haben digi- tale Formate keinerlei Probleme mit Gren- Mehr auf curare.mhh-asta.de. 17
Titelthema „Die ersten Male Präppen waren fürch- Erstis in der Pandemie terlich: Ich kannte niemanden, wuss- te nicht wirklich, was ich machen soll, dazu noch die ohnehin schon bedrü- ckende Stimmung in der Gegenwart ei- nes Verstorbenen. Eine gespenstische „Ich habe keine Ahnung, wie viel ich Atmosphäre!“ lernen muss und wie viel die Anderen lernen. Ich habe ja keinen Vergleich. Aus Angst, zu wenig zu machen und schlechter als die Anderen zu sein, lerne „Die einzigen Bekanntschaften, die ich ich einfach gefühlt ohne Pause.“ bisher gemacht habe, machte ich in mei- ner Präpgruppe - im ständigen Beisein einer Leiche. Der Rest des Studienjah- „Keine*r möchte so ihr*sein Studium res ist für mich wie eine Art Black Box.“ beginnen, es führt zu einer großen Ein- samkeit und Verunsicherung und vielen offenen Fragen bei mir.“ „Ich bin fürs Studium aus Bayern hier- hergezogen und kannte erstmal nie- manden. Nach über einem Semester kann ich sagen: Es ist fast noch genau- „Mein Zustand in einem Wort: Über- so.“ forderung. Ob es den Anderen ähnlich geht? Keine Ahnung, denn in der Ano- nymität bleibt ja jede*r mit ihren* sei- nen Sorgen für sich allein.“ „Das richtige Unileben, auf das ich mich lange gefreut habe, habe ich bisher nie kennengelernt. Lernen, zocken, schla- fen - das bestimmt im Wesentlichen meinen Tagesablauf.“ 18 Curare Ausgabe Nr. 125 06/2021
Titelthema Insbesondere Studierende aus dem ers- ten Studienjahr leiden unter den Be- schränkungen der Pandemie. Der Start in und Problemen darstellt. Das wirkt sich mitunter auch auf deren mentale Gesundheit aus. Dr. Peter Schulte, einen neuen Lebensabschnitt wird so zur Leiter der psychosozialen Beratungsstel- besonders großen Herausforderung. le für Studierende der MHH, berichtet von Woran erinnern sich die meisten Stu- einer überdurchschnittlich hohen Inan- dierenden höherer Jahrgänge, wenn sie spruchnahme seiner Beratung. „Mehr als an ihre ersten Wochen und Monate an der 2/3 aller Kontaktanfragen kommen Uni zurückdenken? Die ersten feuchtfröhli- aktuell von Studierenden aus dem chen Begegnungen während des Kneipen- ersten Studienjahr, verteilt über alle abends? Die vielen teilweise durchgeknall- Geschlechter und Altersklassen.“, so ten Aktionen der GEA auf dem Campus, bei Schulte. „Die Erstsemester lernen ge- denen man komische Dinge tun und dabei rade nur die eher oft als unangenehm einander richtig kennenlernen konnte? empfundenen lernintensiven Seiten Robert Oder doch die vielen ermutigenden und ihres Studiums kennen, nicht aber die Humanmedizin Hämmerlein beruhigenden Gespräche mit der Tutoren- angenehmen, die sich vor allem durch 4. Studienjahr gruppe, die einem beim Glas Bier sagt, man soziale Kontakte und vielseitige Freizeit- solle sich nicht so verrückt machen? gestaltung auszeichnen.“ Dies trage zu ei- Wer 2020 sein Studium an der MHH be- ner Verschärfung der sonst auch üblichen gonnen hat, konnte all das nicht erleben. Überforderung bei Erstsemestern bei und Statt der besonderen Atmosphäre in Hör- könne oft zu mehr Stress und empfunde- sälen voller übermotivierter und erwar- ner Perspektivlosigkeit führen, ergänzt der tungsvoller Erstis gab es Videovorlesungen Allgemeinmediziner und Psychotherapeut. zuhause im Pyjama; statt Präppen in selbst gewählten größeren Gruppen über viele Wer in Zeiten von Corona vermehrt Ein- samkeit,Überforderung,Erschöpfung und Stunden nur zusammengewürfelte Drei- Ängste verspürt und nach Unterstützung ergruppen für den Schnelldurchlauf. Und sucht, kann die Psychosoziale Beratung der MHH in Anspruch nehmen. ausgehen und feiern, um auch mal Leute außerhalb der Uni-Blase kennenzulernen? Dort haben Studierende aller Jahrgänge und Fachrichtungen die Möglichkeit, mit Fehlanzeige. Die gleiche Riesenmenge an einer neutralen Person über sich, ihre Si- Lernstoff, die gleiche anfängliche Unsicher- tuation und ihre Probleme zu sprechen. heit und Überforderung wie vor Corona, Die Vertraulichkeit der Gespräche ist ge- währleistet, da Herr Dr. Schulte an die doch ohne wirklichen Austausch mit Kom- Schweigepflicht gebunden ist. militon*innen und höheren Semestern. Das Angebot ist kostenfrei. Bei Bedarf Und ohne den wichtigen sozialen Ausgleich. könnt Ihr zwecks Terminvereinbarung ein- „Ein richtiges Kennenlernen der neuen fach eine Mail schreiben an: schulte.pe- ter@mh-hannover.de. Umgebung und der Leute hier ist für die Erstis derzeit nicht möglich. Soziale Kon- takte kommen - wenn überhaupt - nur in- Auch das Studiendekanat weiß um die nerhalb des Unialltags zustande“, weiß AS- Probleme und Sorgen der Uni-Neulinge. tA-Ersti-Referent Jonas, der für viele Erstis Um sie etwas zu unterstützen, wurde im eine der wenigen Anlaufstellen bei Fragen Wintersemester mit der „Lernwerkstatt“ Mehr auf curare.mhh-asta.de. 19
Titelthema erstmalig ein Workshop für einen guten technisch im Vergleich zu den vorherigen Studieneinstieg angeboten. Die sehr gute Jahrgängen trotz Pandemiebedingungen Resonanz hat dazu geführt, dass dieser keineswegs schlechter, betont Mühlfeld; auch im Sommersemester wiederholt die Prüfungsergebnisse seien im Durch- wird, um möglichst viele Studierende des schnitt vergleichbar mit denen aus den ersten Studienjahres zu erreichen. Zudem Vorjahren. Dennoch vermisse er natürlich wird die Sprechstunde der psychosozialen die Vorlesungen und den Kontakt zu den Beratung in Kooperation mit dem Institut Studierenden, der sich aktuell hauptsäch- für Allgemeinmedizin ausgebaut, um mög- lich auf die Zeit im Präpsaal beschränkt. lichst allen Studierenden, die Beratungs- Sein Ratschlag an alle Studierenden in Co- bedarf haben, ein Gespräch anbieten zu rona-Zeiten: „Versuchen Sie, zuhause ei- können. nen geregelten Tagesablauf zu etablieren Doch nicht nur die Studierenden sind und verbringen Sie nicht jede freie Minute gezwungen, sich an die neuen Umstände mit Lernen. Nehmen Sie sich auch bewusst anzupassen. Auch die Lehre musste sich Zeit für Dinge, die Ihnen guttun!“ erheblich verändern. Wo es sonst oft vor Und wie sehen die Erstis selbst ihre lauter Vorlesungen und Pflichtveranstal- Lage? „Es ist für uns alle sicher nicht ein- tungen in Präsenz nur so wimmelt, hat sich fach und viele von uns haben wirklich hart jetzt das meiste Geschehen in den virtuel- mit der gesamten Situation zu kämpfen; len Raum verlagert. So gibt es beispielswei- gerade diejenigen, die beispielsweise von se im ersten Studienjahr Humanmedizin weiter weg hier herkommen und keinen Vorlesungen - außer in Physiologie - nur richtigen Anschluss finden.“, sagt Orkide noch in asynchroner Form, mikroskopiert Taghawi, Jahrgangssprecherin des ersten wird mithilfe des Onlineatlas zuhause am Studienjahres Humanmedizin. „Doch wir PC, Seminare laufen über Videokonfe- wissen auch, dass die anderen Jahrgänge renzen. Physiologie- und Chemiepraktika und die Dozierenden genauso mit der Si- laufen in Präsenz vor Ort in abgespeckter tuation hadern und unglücklich sind. Umso Form, wobei es nicht selten auch zu Über- mehr wissen wir aber die Bemühungen der schneidungen zwischen den einzelnen Dozierenden sowie der GEA und des AStAs Veranstaltungen kommt. Der Präparier- um uns sehr zu schätzen und sind ihnen al- kurs erstreckt sich jetzt über zwei statt vier len sehr dankbar.“ Stunden, die Gruppengröße hat sich von sechs auf drei halbiert, Tutor*innen gibt es Text: Robert Hämmerlein zwei pro Saal. Doch die kürzere Arbeitszeit Foto: Moritz Werthschulte und die kleineren Gruppen haben nicht nur Nachteile. „Es ist zu beobachten, dass oft konzentrierter und fokussierter präpariert wird, wodurch die Qualität im Vergleich zur Zeit vor Corona zugenommen hat.“, berichtet Prof. Dr. Mühlfeld, Modulver- antwortlicher für das Fach Anatomie. Ge- nerell sei der aktuelle Jahrgang leistungs- 20 Curare Ausgabe Nr. 125 06/2021
Titelthema „In einer Demokratie ist nichts alternativlos“ D er Zeithistoriker und Publizist Dr. René Schlott ordnet die Corona-Pandemie historisch ein und geht auf Chancen und Hilberg und schreibt als freier Autor u.a. für Spiegel Online, FAZ und Süddeutsche Zei- tung. Risiken der Krise ein. Herr Dr. Schlott, seit über einem Jahr leben wir René Schlott (*1977) ist Historiker und nun schon in der Pandemie. Die Bundeskanzlerin Publizist in Berlin. Nach einer kaufmän- sprach zu Beginn von der größten Krise seit dem nischen Berufsausbildung studierte er Zweiten Weltkrieg. Würden Sie ihr da als Histori- Geschichte, Politik und Kommunikations- ker zustimmen? wissenschaften in Berlin und Genf, bevor Ehrlich gesagt, halte ich von diesem Ver- er 2011 an der Universität Gießen mit einer gleich nichts, denn die Ausgangsbedin- kultur- und medienhistorischen Arbeit pro- gungen waren damals ganz andere als moviert wurde. Er arbeitet zur Zeit an einer heute: Am Ende des Zweiten Weltkrie- Biographie des Holocaustforschers Raul Mehr auf curare.mhh-asta.de. 21
Titelthema ges lag halb Deutschland in Schutt und Zum einen verstehe ich vollkommen, dass Asche, Millionen Menschen waren getötet der Staat vor dem Hintergrund einer un- worden. Deutschland musste nach dem bekannten hochinfektiösen Erkrankung Ende des Nationalsozialismus unter der das Gesundheitssystem vor Überlastung Aufsicht der Alliierten komplett neu auf- schützen und dafür, begründet und zeit- gebaut werden, nicht nur infrastrukturell, lich befristet, bestimmte Grundrechte ein- sondern auch politisch und wirtschaftlich. schränken muss. Zum anderen möchte ich Und überhaupt: Was soll dieser Ver- aber auch davor warnen, eine Art „Tunnel- gleich bezwecken? Ich sehe es auch blick“ zu bekommen. kritisch, wenn Politiker in Fernsehan- Was meinen Sie genau damit? sprachen vom „Krieg gegen das Virus“ sprechen. In unserer Alltagssprache Damit meine ich, sich auf eine Sache, in ist zunehmend ein unguter Trend zur diesem Falle die Sars-CoV2- Pandemie- Militarisierung zu beobachten, wes- bekämpfung, besonders zu fokussieren Robert Hämmerlein halb ich im wahrsten Sinne des Wor- und dieser alles andere prioritär unterzu- Humanmedizin tes zur rhetorischen „Abrüstung“ rate. ordnen. Wir müssen, bei aller berechtigter 4. Studienjahr Sorge vor dem Virus, darauf achten, die ge- Das Virus hat unseren Lebensalltag verändert, sellschaftliche Gesamtheit im Blick zu be- und das weltweit. Wir tragen Masken, halten Ab- halten und Nutzen und Risiken bestimmter stand, reduzieren Kontakte. Gab es schon mal Maßnahmen der Pandemiebekämpfung vergleichbare Zustände in der Geschichte? abzuwägen. Wenn wir den Großteil des öf- In der globalisierten Welt in diesem Aus- fentlichen Lebens herunterfahren, mag maß sicher noch nicht, doch tatsächlich das unter Umständen zwar dem Infekti- gab es viele der Maßnahmen, die wir heute onsschutz dienen, doch kann dies zugleich gegen das Virus ergreifen, auch schon im auch den gesellschaftlichen Zusammen- Mittelalter zu Zeiten der Pest. Masken aus halt gefährden, da Schulen, Theater, Re- Tüchern, Kontaktbeschränkungen, Isolati- staurants und Konzerte eben auch so- on und Quarantäne wurden auch damals ziale Orte sind, die für den Menschen als schon angewandt, wenn auch natürlich gemeinschaftsbildendes Wesen von im- nicht in identischer Art und Weise. Das fin- menser Bedeutung sind. Gleiches gilt auch de ich ziemlich erstaunlich, wenn man be- für insolvente Unternehmen im Einzelhan- denkt, wie lang das her ist und wie sich un- del oder größere psychische Probleme bei sere Welt seither verändert hat. Kindern und Jugendlichen, die durch die Als Historiker haben Sie sich sehr stark mit der pandemiebedingten Schulausfälle und Entstehung und den Hintergründen unseres Kontaktbeschränkungen nun gehäuft auf- Grundgesetzes beschäftigt, das in diesem Jahr treten. schon seinen 72. Geburtstag feiert. In der Pande- Sie sehen also, man darf Freiheit und Si- mie wurden einige seiner Grundrechte zugunsten cherheit nicht als Gegensätze betrachten des Infektionsschutzes eingeschränkt. Wie be- und diese gegeneinander ausspielen. Es werten Sie diesen schwierigen Spagat zwischen gibt nicht nur schwarz oder weiß. Daher Freiheit und Sicherheit? muss man bei allen Entscheidungen den Das ist in der Tat keine einfache Frage. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wah- 22 Curare Ausgabe Nr. 125 06/2021
Titelthema ren, indem der Staat die gesundheitliche Das heißt, dass neben Virolog*innen und Bedrohungslage ernst nimmt, aber zu- Epidemiolog*innen, die sich in Bezug auf gleich auch darauf achtet, dass das System Lockdowns auch untereinander nicht im- nicht anderweitig kollabiert. Denn schließ- mer einig sind, eben auch z.B. Jurist*innen, lich muss man ja auch an die Zeit nach Co- Psycholog*innen und Kinderärzt*innen an- rona denken. gehört werden, um auch der Tragweite der Nun gut, aber angesichts steigender Inzidenzen, Auswirkungen gerecht zu werden. unberechenbarer Virusmutationen und stetig Außerdem müssen die Entscheidungsträ- abnehmender Kapazitäten auf Intensivstationen ger*innen dazu bereit sein, ihre eigenen brauchte es doch offensichtlich einen harten Entscheidungen im Nachhinein selbstkri- Lockdown, um der Lage der Herr zu werden. Der tisch zu reflektieren und aus Fehlern zu ler- Lockdown war in dieser Hinsicht sozusagen „al- nen. ternativlos“, wie es unsere Bundeskanzlerin gern Glauben Sie, dass Corona unsere Gesellschaft auszudrücken pflegt... nachhaltig verändern wird? Und wenn ja, wie? Und genau diese Formulierung sehe ich zu- Die Geschichte lehrt uns, dass es oftmals tiefst kritisch. In einer Demokratie ist nichts besonders die kleinen, im ersten Augen- alternativlos, denn sie lebt wie keine zweite blick banal wirkenden Entscheidungen Regierungsform vom Ideenaustausch. Die sind, die eine Gesellschaft über lange Zeit Pandemie ist ein gesamtgesellschaftliches verändern können. Ich persönlich glaube, Problem mit großer Komplexität, das nur in dass Themen wie Gesundheit und Hygi- differenzierter und multiperspektivischer ene, die in dieser Zeit eine zentrale Rolle Form angegangen werden kann. Ärzt*innen spielen, nach Corona deutlich bedeutsa- und Pfleger*innen sind von der Pandemie mer sein werden als davor. Das werden wir ebenso betroffen wie Einzelhändler*innen, sicherlich bei den künftigen Influenzawel- Künstler*innen und Studierende. Daher len im Herbst und Winter auch beobachten kann man nicht einfach eine Handlungsop- können. Vielleicht werden auch einige Leu- tion als einzig wahre Lösung in den Raum te in Zukunft erwarten, dass der Staat dann stellen, denn dann bräuchte es ja auch kei- ähnlich eingreift wie bei Corona. ne Demokratie, die darüber noch diskutie- ren und abstimmen müsste. Was können wir als Gesellschaft Ihrer Meinung nach an Positivem wie Negativem aus der Coron- Sie meinen also, es gebe trotz allem eine Alterna- akrise mitnehmen? tive zum Lockdown? Ich persönlich hoffe, dass uns in dieser Es gibt immer Alternativen. Ich will es mir Zeit nochmal deutlich geworden ist, wie nicht anmaßen, die gesamte Regierungs- wichtig und mitnichten selbstverständ- politik schlechtzureden und neunmal- lich unsere Grundrechte sind. Unsere kluge Ratschläge zu geben, das liegt mir Vorfahren haben über Jahrhunderte hin- fern. Entscheidend ist lediglich, dass sich weg, teilweise unter Aufopferung ihres die verantwortlichen Politiker vor solch Lebens, für die Freiheitsrechte gekämpft einschneidenden Entscheidungen mög- und wir sollten daher sehr achtsam mit ih- lichst vielseitig beraten lassen sollten, weil nen umgehen. Dazu gehört auch, jedwe- es die Wissenschaften nur im Plural gibt. de Grundrechtsbeschränkung kritisch zu Mehr auf curare.mhh-asta.de. 23
Titelthema hinterfragen und auf ihre Verhältnismä- dieses Bewusstsein zu erlangen. ßigkeit und zeitliche Befristung zu prüfen. Noch eine abschließende Frage an Sie, die wahr- Außerdem braucht es einen offenen und scheinlich wichtigste überhaupt, die Sie mit Ihrer konstruktiven Dialog zwischen verschie- Expertise als Historiker sicherlich beantworten denen Standpunkten, ohne den einen oder können: Wann ist die Coronakrise endlich vor- anderen für seine Meinung zu diffamieren bei? oder pauschal irgendeinem Lager zuzuord- nen. Berechtigte Kritik muss auch immer Ich hatte eigentlich gehofft, dass Sie als solche anerkannt und geschätzt wer- mir als angehender Arzt diese Fra- den, denn davon lebt die demokratische ge beantworten könnten. (lacht) Meinungsbildung. Freiheit ist nicht nur ir- Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht, aber ich gendein beliebiger Wert; es ist der zentra- hoffe im Sinne von uns allen, lieber heute le Wert, auf dem unsere Gesellschaft auf- als morgen… baut. Ich wünschte nur, es hätte die Krise Interview: Robert Hämmerlein mit all ihren Opfern nicht gebraucht, um Foto: Angela Ankner Promovieren unter besonderen Umständen KlinStrucMed 2020/21 A ls am 12.03.20 die Auswahlgespräche für das KlinStrucMed-Programm noch von Angesicht zu Angesicht stattfinden des Projekt finden. Im Juli ging es dann los für uns. Es zeigte sich, dass sich Corona sehr unterschiedlich konnten, bahnte sich die Corona-Pande- auf unsere Projekte auswirkte: Während ei- mie bereits an. Kurz darauf veranlasste die nige Projekte durch die Pandemie nahezu Bundesregierung Maßnahmen zur Kon- komplett unberührt blieben, hatten ande- taktbeschränkung und bei uns frisch aus- re mit ihren Problemchen zu kämpfen. So gewählten KlinStrucMed-Kollegiat*innen lernte Lale Bayir, Doktorandin in der Immu- machten sich erste Sorgen breit: Wie sollte nologie, ihre Betreuer aufgrund der strikten es mit dem Programm weitergehen? Doch Hygienemaßnahmen erst nach vielen Wo- diese Sorgen blieben unbegründet. chen persönlich kennen. Auswirkungen auf Die Projektvorstellung wurde kurzer- ihr Projekt hat dies jedoch glücklicherweise hand als Online-Meeting abgehalten. Die nicht. Lea Stubbe betreut als Doktorandin Projektleiter*innen konnten sich online einen Hebammen-Austausch mit einem einwählen und ihre Präsentationen vom Krankenhaus in Uganda. Für den Herbst eigenen Schreibtisch aus halten. Danach geplante Flüge dorthin musste sie leider wurden wir Kollegiat*innen vor die Qual der auf das kommende Jahr verschieben. Der Wahl gestellt. Es standen 22 Projekte zur Austausch findet nun zunächst in Form Auswahl und auch der ungewisse Verlauf von Online-Seminaren statt. Dieses erwies der Pandemie und deren Auswirkungen auf sich sogar als Vorteil, da das Projekt nun die Projekte mussten abgewogen werden. auf weitere interessierte Krankenhäuser in Letztendlich konnten aber alle ein passen- Uganda ausgeweitet werden kann. Hannah 24 Curare Ausgabe Nr. 125 06/2021
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