CORONA CAMPUS STUDIEREN IN DER PANDEMIE - ASTA DER MHH

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CORONA CAMPUS STUDIEREN IN DER PANDEMIE - ASTA DER MHH
Corona
         Campus
                 Studieren in der Pandemie

 Titelthema           HoPo aktuell      Off Label-Podcast
Wir fühlen uns       StuPa und AStA     Von Vorbilder*in-
  vergessen          stellen sich vor   nen in der Medizin
CORONA CAMPUS STUDIEREN IN DER PANDEMIE - ASTA DER MHH
CORONA CAMPUS STUDIEREN IN DER PANDEMIE - ASTA DER MHH
Editorial
L  iebe Kommiliton*innen,                                                           Impressum
                                                                                    Herausgeber
    seit mehr als einem Jahr leben wir nun schon in der Pandemie. Ein Ausnah-
mezustand, der alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfasst und die-         AStA der MHH
                                                                                    Vorsitz: Carlos Oltmanns
se zu enormen Veränderungen gezwungen hat – überall auf der Welt, binnen            OE 9542
kürzester Zeit. Über vieles wird in diesen Tagen rauf und runter berichtet: Inzi-   Carl-Neuberg-Straße 1
denzen, Gesundheitssystem, Arbeitsmarkt, Wirtschaftslage, Kinderbetreuung           30625 Hannover                        Robert
und so weiter und so fort. Worüber jedoch kaum ein Wort verloren wird, ist die                                            Hämmerlein
                                                                                    Chefredaktion                         Humanmedizin
Lage von uns Studierenden. Diejenigen, von denen die Bundeskanzlerin sagt,                                                4. Studienjahr
sie seien unsere Zukunft, kriegen in der Gegenwart jedenfalls herzlich wenig        Robert Hämmerlein
Beachtung geschenkt - von dringend benötigten finanziellen Unterstützungen          Redaktion
ganz zu schweigen.                                                                  Lisa Gruber, Hannah Heseding,
    In dieser „curare“-Ausgabe möchten wir das ändern und umfassend be-             Hannah Siegler, Ruth Sikora, Tris-
                                                                                    tan Baumann, Jan Tauwaldt, Milan
leuchten, wie sich unser Studium in Corona-Zeiten verändert hat: Wie ergeht
                                                                                    Speth, Lennart Simon, Valentin
es den Studierenden im ersten Jahr, die neu an der Uni sind und hier nieman-        Gerst
den so richtig kennenlernen können? Wie steht es um die finanzielle Lage von
                                                                                    Gastautor*innen
Studierenden, die coronabedingt keinem Nebenjob mehr nachgehen können?
                                                                                    Tanja Klause, Eva Brencher, Lara
Wie gestaltet sich in diesen Zeiten das Homelearning - und wie kann man es          Schmidt, Henriette Günther, Jessi-
unter Umständen noch optimieren? Und was ist jetzt eigentlich mit Studieren-        ca Langel, Juliette Schönberg, An-
den, die sich gerade zu Beginn der Pandemie als Pflegehelfer*innen verdingt         nika Kreitlow, Franziska Kümpers,
haben, um überlasteten Pflegekräften zur Hand zu gehen? Kriegen diese jetzt         Ivanka Wahnsiedler, Lena Kohl-
                                                                                    meier, Lâle Bayir, Hannah Schnei-
ihren Einsatz als Pflegepraktikum/Famulatur angerechnet - oder nicht?               der, Lena Eilers, Dana Barchfeld,
    Dennoch lohnt sich auch der Blick über den Tellerrand hinaus: So wird der-      Pia Lange, Anastasia Gaspert, Mar-
zeit viel über Intensivmediziner*innen geschrieben, doch wie sieht ein solcher      cel Borchert, Carlos Oltmanns
selbst die Situation? Außerdem gehen wir der ganz grundsätzlichen Frage auf         Druck
den Grund, wie vereinbar Infektionsschutz und Freiheitsrechte sind. Wie sich        Digitale Medien, MHH
aktuell die Lage von Kulturstiftenden gestaltet und wie sich die Rolle von glo-     Auflage
baler Gesundheit durch die Pandemie verändert hat, ist zudem Thema dieser
                                                                                    500 Stück (Papier FSC-zertifiziert)
Ausgabe.
                                                                                    Layout & Grafik
   Und natürlich darf auch die Hochschulpolitik nicht fehlen: Die Neuwahl von
                                                                                    Robert Hämmerlein, Jan Tauwaldt
StuPa und AStA liegt wieder hinter uns- wer wurde gewählt und welche Auf-
gaben gilt es zu lösen? Zudem erfahrt Ihr etwas über den neuen Studiengang          Titelfoto
„Biomedizinische Datenwissenschaft“ sowie das neue Promotionsprogramm               Florian Waleczek, Jan Tauwaldt
„DigiStrucMed“.                                                                     Bankverbindung
   Auf das alles und vieles mehr dürft Ihr Euch in dieser Ausgabe freuen. Wir       IBAN:
wünschen Euch ganz viel Spaß bei der Lektüre! Bleibt gesund und wonnetrun-          DE05 3006 0601 0006 3763 63
                                                                                    BIC:
ken,                                                                                DAAEDEDDXXX
Im Namen der „curare“-Redaktion
                                                                                    Kontakt
Euer Robert                                                                         presse.print@mhh-asta.de
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Inhalt
 Titelthema
Wir fühlen uns vergessen					                             6
Arbeiten am Limit						                                   11
Kultur, Spiegel der Gesellschaft? 				                   16
Am Anfang allein                                         18
„In einer Demokratie ist nichts alternativlos“		         21
Promovieren unter besonderen Umständen		                 24
Corona, globale Gesundheit und die Lehre		               26
Der Weg zur Anrechnung von Corona-Famulaturen            28

                              Hochschule
                             31                                    Hochschule geht viral
                             33              Beratung von Studierenden für Studierende
                                                               Die Student Counsellors
                             34                Post vom neugewählten StuPa-Präsidium
                             36                                HAStA la vista, alter AStA!
                             38      Promovieren in der digitalen Medizin - DigiStrucMed
                             39                          Neuer Studiengang an der MHH:
                                                   Biomedizinische Datenwissenschaften
                             40                                How to become a doctor?
                             41             Wofür bezahle ich da eigentlich alle 6 Monate
                             44           Rassismus im Betrieb - Rassismus in der Lehre

                                                                   Curare Ausgabe Nr. 125 06/2021
CORONA CAMPUS STUDIEREN IN DER PANDEMIE - ASTA DER MHH
Nr. 125
 Feuilleton
IsiEmhh in Corona-Zeiten					                            46
Online-Seminar „Ernährung im Kontext individueller       48
und planetarer Gesundheit“
„Klimakrise = Gesundheitskrise – Zwei Krisen mit einer   50
Klatsche“
Rezension: Kurzlehrbuch Neurologie                       51
Der Präsident und die Eieruhr                            52
Warten auf gestern                                       55

                                            56
                                                 Kolumne      Frauen in der Medizin
                                            58                Wir sind eben Frauen
                                            59                            Off Label
                                            61                    Ein ehrlicher Text
                                            63                          Freier Platz

Bildquellen:
Bild Seite 2: Phghvvcftyyufj, pixabay
Bild Titelthema: Yaroslav Danylchenko, pexels
Bild Hochschule: Tristan Baumann, Jan Tauwaldt
Bild Feuilleton: 12019, pixabay
Bild Kolumne: Polina Zimmermann, pexels

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CORONA CAMPUS STUDIEREN IN DER PANDEMIE - ASTA DER MHH
Titelthema

                       Wir fühlen uns vergessen

    S   eit nunmehr über ein Jahr bestimmt
        die Pandemie unseren Alltag: Dass
    auch das Studium dadurch turbulent wer-
                                                mussten Studierende an der MHH unlängst
                                                machen – und die Situation hält weiter an.

    den würde, war schnell abzusehen und        Die große Angst vor der (Finanz-)spritze
    ist an sich wenig überraschend. Doch wie       Zumindest die meisten unserer klini-
    schlimm wiegen Sorgen um die Einhaltung     schen Studierenden sind bereits mit einer
    der Regelstudienzeit, um das erfolgreiche   ersten Dosis geimpft. Als Mediziner*in weiß
    Beenden einer Doktorarbeit oder um das      man, dass viele Menschen eine Grunda-
    stressige Zeitmanagement durch Ver-         version gegenüber Spritzen hegen. Solche
    schieben von Prüfungen, wenn die eigene     Phobiker*innen scheinen vorzugsweise in
    Existenz oder gar das Leben naher Ange-     der Bundesregierung zu sitzen, vor allem,
    höriger bedroht ist? Auch diese Erfahrung   wenn es um Finanzspritzen für uns Stu-
6                                                                   Curare Ausgabe Nr. 125 06/2021
CORONA CAMPUS STUDIEREN IN DER PANDEMIE - ASTA DER MHH
Titelthema

dierende geht: Der Blick auf die aktuelle                       Messen in Hannover besucht. Nicht ohne
BaföG-Lage reicht da bereits. Und so sind                       Grund trägt die niedersächsische Landes-
auch die Strukturpakete der Bundesregie-                        hauptstadt den Beinamen „Messestadt“,
rung in Zeiten der Corona-Pandemie in An-                       findet sich hier doch das größte Messege-
sätzen gut gemeint; jedoch brauchen diese                       lände der Welt. Mit der Messe haben auch
durch Bürokratie und mangelnde Erfahrung                        viele Studierende gut bezahlte Jobs gefun-
meist zu lange, bis sie in existenzielle Not                    den, andere haben sich in der Gastronomie
geratene Studierende wirklich erreichen.                        etwas dazu verdient. Doch Corona
Der freie Zusammenschluss von stu-                              kam und raubte den Studierenden
dent*innenschaften (fzs) e.V.* geht hier                        nicht nur die Trinkgelder. Dabei haben
sogar noch weiter: „Dem fzs liegen inzwi-                       wir an einer medizinischen Fakultät
schen hunderte Fallbeispiele willkürlicher                      noch das „Glück“, dass wir im Gesund-
Ablehnungen von Studierenden vor, die                           heitswesen in Pandemiezeiten mehr
sich auf die Überbrückungshilfe des                             denn je gebraucht werden, uns etwas
                                                                                                        Marcel Borchert
BMBFs beworben haben. Dabei ist der häu-                        dazu verdienen und gleichzeitig noch Humanmedizin
figste Ablehnungsgrund, dass der Nach-                          viel Gutes bewirken können: 1 000        3. Studienjahr

weis der pandemiebedingten Notlage feh-                         studentische Bewerbungen gab es inner-
le. Studierende müssen durch die Vorlage                        halb kürzester Zeit allein an der MHH, um
einer Kündigung oder abgelehnter Bewer-                         die Pflege auf den einzelnen Stationen zu
bungen aus den letzten zwei Monaten be-                         entlasten, zudem werden Impfzentren und
weisen, dass sie aufgrund der Pandemie in                       Teststationen von uns besetzt. Es scheint,
eine Notlage geraten sind. Dieses realitäts-                    als wären wir weniger auf Gastronomie
ferne Kriterium wirkt sich aktuell negativ                      oder Messen angewiesen, anders als viele
auf die Bewilligungsquote aus.“                                 andere Studierende nicht-medizinischer
   Bildungsministerin    Anja    Karliczek                      Universitäten. Doch das hier hinzuverdien-
konnte sich in der Bundesregierung mit                          te Geld ist nur ein Tropfen auf dem heißen
ihrer Idee durchsetzen, Studierenden                            Stein, denn trotzdem haben sich Studie-
kurzfristig Überbrückungskredite anzu-                          rende auch bei uns stark verschuldet.
bieten; der KfW-Kredit wurde für eine                              Viele Eltern, die für ca. 86% aller Stu-
gewisse Zeit zinslos angeboten. Proble-                         dierenden wichtige Geldgeber*innen sind,
matisch bleibt jedoch, dass sich Studie-                        waren und sind durch die Pandemie finan-
rende weiter verschulden müssen - und                           ziell bedroht. Ob durch Kurzarbeit, starke
das ganz ohne eigenes Verschulden!                              Umsatzverluste, Kündigungen oder nicht
Schätzungen zufolge sind ca. 70% der Stu-                       verlängerte, befristete Arbeitsverhältnis-
dierenden von ihren Nebenverdiensten                            se: Die 541€, mit denen die Studierenden
abhängig – unabhängig davon, ob sie Bafög                       in Deutschland von ihren Eltern durch-
beziehen oder nicht. Vor Corona haben                           schnittlich vor der Corona-Pandemie un-
rund zwei Millionen Menschen jährlich die                       terstützt wurden, fallen zumindest teil-
mehr als 60 nationalen und internationalen                      weise weg. Eine Öffnung des BAföG, das

*Der freie Zusammenschluss von student*innenschaften (fzs) e.V. ist der überparteiliche Dachverband von Studierendenschaften
in der BRD. Mit rund 90 Mitgliedern vertritt der fzs etwa 860.000 Studierende. Der fzs ist Mitglied im europäischen
Studierendendachverband ESU- European Students’ Union.
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CORONA CAMPUS STUDIEREN IN DER PANDEMIE - ASTA DER MHH
Titelthema

    bisweilen lediglich von 18% der Studieren-      zen dürfen nicht die letzten sein, die viele
    den bezogen wird, ist von Seiten der Regie-     unserer Studierenden geschenkt bekom-
    rung abgelehnt worden.                          men haben.
        Mit der Corona-Soforthilfe hat der AStA     Keine Zeit für soziale Befindlichkeiten
    in Zusammenarbeit mit dem Studieren-               Neben dem Finanziellen gibt es aber
    denparlament deshalb ein klares Zeichen         auch andere Sorgen und Nöte: Mich ereil-
    der Solidarität gesetzt. Als erste Hochschu-    ten viele Anfragen von Studierenden, die
    le in Niedersachsen wurde ein Finanzpaket       beispielsweise pflegebedürftige oder im-
    über 5x 200€ verabschiedet, das durch die       munkompromittierte Eltern(-teile) zuhau-
    Mittel der Studierendenschaft finanziert        se pflegten. Es konnten glücklicherweise
    werden und in Not geratenen Studierenden        fast genauso viele individuelle Lösungen
    helfen sollte. Uns war dabei wichtig, keine     gefunden werden. Der Dank gilt hier vor
    Parallelstruktur zu staatlichen Fördergel-      allem den Dozierenden und Lehrverant-
    dern zu schaffen, sondern schnell und un-       wortlichen, die trotz des starren Korsetts
    kompliziert Gelder zu akquirieren, mit de-      unserer aktuellen Approbationsordnung
    nen z.B. die Miete einmalig bezahlt werden      oftmals sensibel auf das Thema eingegan-
    konnte, bis die Gelder von anderer Stelle       gen sind und flexible Lösung finden konn-
    angekommen sind. Zwei Studierende wur-          ten. Viele Universitäten, vor allem auch die
    den bislang auf diesem Wege unterstützt,        LUH, haben ihre Klausuren ausfallen lassen
    für die neue Legislaturperiode sind bereits     – nicht so bei uns: zwar mit Maske und zum
    die nächsten fünf Einmalauszahlungen            Teil neuen Terminen und Alternativ-Versio-
    beantragt, über die auf der jüngsten Stu-       nen, da nicht alle zeitgleich im Zwei-Kohor-
    Pa-Sitzung erfolgreich abgestimmt wurde.        ten-System coronakonform in die Hörsäle
    In anderen Fällen griff der Notfallsozial-      gepasst hätten, aber eine Verlängerung
    fonds der MHH, der von dem Alumni-Ver-          des Studiums konnte so in den meisten
    ein gedeckt ist. Hier können Studierende in     Fällen abgewendet werden. In der Pande-
    finanzieller Schieflage mit bis zu 1 000€ ge-   mie konnten wir auch endlich das Projekt
    fördert werden, zusätzliche Gelder können       „Student Counsellors“ final umsetzen: Seit
    zudem aus der Studienförderung Entwick-         Mitte letzten Jahres gibt es vier Studieren-
    lungshilfe ebenfalls mit bis zu 1 000€ aus      de, die uns niederschwellig bei Anliegen
    der bilateralen Entwicklungszusammenar-         jeglicher Art offen und anonym zur Seite
    beit genommen werden.                           stehen (s. Vorstellung S. 33).
       Erfreulicherweise konnten wir mit den           Arbeit und Nebenjob sind nicht nur
    Geldern aus den Studienqualitätsmitteln         Orte, um sich seinen Lebensunterhalt zu
    dieses Jahr auch erstmals die volle Anzahl      verdienen; sie bedeuten auch immer so-
    an 30 Ersti-Paketen für unser Erstsemester      ziale Kontakte und die Möglichkeit, neue
    finanzieren. Und auch die Mensa-Freitische      Freundschaften abseits des Unialltags zu
    konnten aufgrund eines Abbuchungsfeh-           schließen.
    lers aus den vergangenen Jahren einmalig
    für das Jahr 2020 verdoppelt werden.               Doch auch mit Freundschaften auf dem
                                                    Campus sieht es vor allem für unsere Stu-
      Es zeigt sich deutlich: Die zwei Impfsprit-   dienbeginner*innen mau aus; ein weiterer
8                                                                        Curare Ausgabe Nr. 125 06/2021
CORONA CAMPUS STUDIEREN IN DER PANDEMIE - ASTA DER MHH
Titelthema

negativer Aspekt, der mit den Online-Se-          ten, wozu auch das Gleichstellungsbüro
mestern einhergeht. (s. Artikel „Am Anfang        mit der Organisation von zehn Lernsams-
allein“).                                         tagen seinen Teil beigetragen hat.
   Einen Balanceakt bildet das Studieren
                                                   Infokasten: Sozialerhebung durch das Stu-
mit Kind(ern) schon in einer Nicht-Pande-          dentenwerk über die Studierenden in der
mie-Zeit – wie muss es einem da erst recht         BRD (vor Corona, Quelle: sozialerhebung.de)
jetzt ergehen, wenn auf einmal der An-              •   Durchschnittsalter 24,7 Jahre
spruch auf Kinderbetreuung wegfällt und             •   92% studieren in Vollzeit
                                                    •   86% bekommen finanzielle Unterstüt-
man sich trotzdem adäquat auf Prüfungen                 zung durch Eltern, durchschnittlich
vorbereiten will? In Zeiten von Online-Leh-             mit 541 Euro
re und Homeschooling war das aus Sicht              •   Durchschnittlich finanzielles Kapital
                                                        pro Monat: 918 Euro
der Behörden auf jeden Fall etwas, das ver-         •   Ausgabekosten im Durchschnitt:
einbar ist.                                             Wohnkosten (323 Euro), Ernährung
                                                        (168 Euro), Fortbewegung (94 Euro)
   Zum Glück konnten wir gemeinsam mit              •   61% sind erwerbstätig mit einem
                                                        durchschnittlichen Verdienst von 384
dem Dekanat hier Aufklärungsarbeit leis-                Euro
ten. Zwar bieten Online-Videos, gerade              •   18% erhalten BAföG mit durchschnitt-
wenn sie asynchron angeboten werden,                    lich 435 Euro im Monat
                                                    •   79% der Geförderten geben an, ohne
mehr Flexibilität für Eltern, das Ganze ist             BAföG nicht studieren zu können
aber zu kurz gesehen, stellt man sich vor,          •   73% der Studierenden nutzen regel-
                                                        mäßig die Mensa
wenn die oder der Partner*in berufstätig            •   6% haben eigene Kinder (131.000 El-
oder anderweitig beschäftigt ist. Mit einem             tern)
schreienden Baby im Arm, das Aufmerk-
samkeit braucht, lässt es sich nur schwierig         Kuriose und zugleich sehr tragische Si-
konzentriert lernen. Unsere Gesellschaft          tuationen galt es aber auch zu lösen: Zum
organisiert in aller Regel selbst, wer wie viel   Beispiel dann, wenn Studierende plötzlich
der unbezahlten Care-Arbeit übernimmt             nicht mehr nach Deutschland einreisen
– also jener Arbeit, die zumeist Frauen für       durften. Saßen diese in einem Nicht-EU-
Familie und Gesellschaft übernehmen, die          Land bei ihren Familien plötzlich fest, galt
aber nicht entgeltlich vergütet wird; häu-        es in Deutschland dafür zu sorgen, den Ne-
fig sind diese Modelle paarzentriert – zum        benjob aufgrund von Nichteinhalten der
Nachteil für die Frau, die mit dieser meist       Dienste nicht zu verlieren und das Studium
ungesehenen Arbeit die Sozialstruktur             trotzdem erfolgreich weiter voranzutrei-
weiter fördert. Insgesamt steigt aufgrund         ben.
der SARS-CoV2-Pandemie die unbezahlte               Vieles hiervon wird nicht gesehen. Coro-
Pflege- und Betreuungsarbeit stark an. Be-        na stellt uns vor neue Herausforderungen
sonders unter den Schul- und Kitaschlie-          und lässt an manchen Tagen den Alltag un-
ßungen leiden auch ca. 2,5 Millionen Allein-      bezwingbar aussehen. Ihr werdet gesehen
erziehende in Deutschland, wovon etwa             und gehört – auch an der MHH. Bei Proble-
85% Frauen sind. Umso erfreulicher, dass          men jeglicher Art findet Ihr hier vertrauens-
wir in Zusammenarbeit mit der Stadt Han-          volle Ansprechpartner*innen:
nover für viele unserer Studierenden mit
Kind(ern) Notfallplätze organisieren konn-
Mehr auf curare.mhh-asta.de.                                                                      9
CORONA CAMPUS STUDIEREN IN DER PANDEMIE - ASTA DER MHH
Titelthema

     AStA Referat für Soziales und Gleich- Text und Bild: Marcel Borchert, AStA-Refe-
     stellung:                             rent für Soziales und Gleichstellung
     soziales@mhh-asta.de
     Student Counsellors:
     stud.beratung@mh-hannover.de

     Quellen
                                                                        die-Neu-Hannoveraner-und-alle,/Warum-Hannover-
     •    https://www.kfw.de/inlandsfoerderung/Privatpersonen/          eine-Messestadt-ist; 20.04.2021;
          Studieren-Qualifizieren/KfW-Studienkredit/KfW-
          Corona-Hilfe-f%C3%BCr-Studierende/; 21.04.2021; 20:13     •   https://taz.de/Medizinstudierende-stimmen-Minister-
          Uhr.                                                          um/!5757294/; 20.04.2021; 20:47.)

     •     https://www.spiegel.de/start/corona-studierende-         •   https://www.studentenwerke.de/de/content/
          leiden-unter-shutdowns-nebenjobs-dringend-                    sozialerhebung-des-deutschen-studentenwerks,
          gesucht-a-ad7bb843-3e24-4725-a550-5a75c415c0d8;               20.04.2021; 18:51 Uhr.)
          21.04.2021; 21:06 Uhr.)
                                                                    •   https://de.statista.com/statistik/daten/studie/318160/
     •    https://www.hannover.de/Kultur-Freizeit/Freizeit-Sport/       umfrage/alleinerziehende-in-deutschland-nach-
          Echt-hann%C3%B6versch/Zehn-Dinge/Zehn-Dinge,-                 geschlecht/ ; 22.04.2021; 20:27 Uhr.)
10                                                                                               Curare Ausgabe Nr. 125 06/2021
Titelthema

                               Arbeiten am Limit
        Im Gespräch mit Intensivmediziner Dr. Matthias Stoll

S   elten standen Infektiolog*innen so sehr
    im Blickpunkt wie in der Coronakrise. Dr.
Matthias Stoll, leitender Oberarzt der In-
                                                    nicht so viele langgreifende Behandlungs-
                                                    optionen gab. Ich fand die Vorstellung, dass
                                                    das Immunsystem sich gegen den eigenen
fektiologie an der MHH, gewährt Einblicke           Wirt richten kann, wahnsinnig faszinierend.
in seinen persönlichen Werdegang und sei-           Und so habe ich im Grunde dann schon in
ne neue Rolle in der Pandemie.                      meinem Studium Kontakt zu meinem heu-
                                                    tigen Fachgebiet aufgebaut. In Hannover
Herr Professor Stoll, mal ganz unter uns, was ha-   bin ich dann früh in die damalige Abteilung
ben Sie so im Arm? AstraZeneca, Biontech oder       für „Klinische Immunologie und Transfusi-
direkt Microsoft?                                   onsmedizin“ gekommen, wo ich bis heute
Also bei mir persönlich war es Biontech,            geblieben bin.
aber an der MHH hat man natürlich auch              Wenn Sie es mit früher vergleichen: Wie hat sich
sehr viel Erfahrung mit Microsoft. (lacht)          die Wahrnehmung der Infektiologie seither ver-
Zu Beginn eine kurze Vorstellung Ihrerseits: War-   ändert?
um haben Sie eigentlich Medizin studiert?           Die Infektiologie hat stark an Bedeutung
Ursprünglich wusste ich nicht wirklich, was         gewonnen, vor allem durch die Diskussi-
ich studieren sollte, obwohl ich Medizin            on über nosokomiale Infektionen. Dabei
schon immer ganz interessant fand. Ich              ist das ja eigentlich kein infektiologisches
fand vor allem spannend, dass man damit             Thema, sondern eine Frage der Kranken-
ein klares Berufsfeld hatte, etwas für Men-         haushygiene. Ein anderes sehr aktuelles
schen tun konnte. Daher habe ich in den             Beispiel ist SARS-CoV2: Durch unser zu-
70er-Jahren eine Einführungsveranstal-              nehmendes Eindringen in Biotope steigt
tung hier in Hörsaal F besucht, der damals          das Infektionsrisiko zwischen Mensch, Tier
rappelvoll war. Dort wurde meine Neugier            und Pflanze immer weiter an. Aufgrund ih-
weiter geweckt, sodass ich mich letzt-              rer zunehmenden Bedeutsamkeit wurde
endlich fürs Medizinstudium entschieden             die Infektiologie dann zunächst als Weiter-
habe.                                               bildungsfach für Internist*innen und Pädi-
                                                    ater*innen etabliert, wobei ich als Oberarzt
Und wie sind Sie konkret zur Infektiologie ge-
                                                    für dieses Fach zuständig war. Dabei hatte
kommen?
                                                    ich keinen eigenen Lehrstuhl. Dennoch war
Als ich dann studiert habe, habe ich ziem-          die MHH und ich als deren Weiterbildungs-
lich schnell gemerkt, dass die Innere meine         ermächtigter viele Jahre lang die ersten in
Fachrichtung sein würde. In einem Kran-             ganz Niedersachsen, die dann auch Infek-
kenhauspraktikum in Bremen bin ich da-              tiolog*innen klinisch weitergebildet haben.
mals erstmals mit Autoimmunerkrankun-
                                                    Wie hat sich Ihr Berufsalltag während der Coron-
gen und Infektionskrankheiten in Kontakt
                                                    apandemie verändert? Sie sind ja jetzt ein viel
gekommen. Viele Patient*innen sind daran
                                                    gefragter Mann für Interviews mit der Zeitung…
verstorben, weil es zur damaligen Zeit noch
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Titelthema

     Das ist in der Tat bisweilen recht anstren-     handelt.
     gend, da ich mich darauf gut vorberei-          Das klingt wirklich hart. Was empfehlen Sie im
     ten muss und nie genau weiß, was genau          Umgang mit solchen Menschen?
     die Presse am Ende aus meinem Auftritt
     macht. Dennoch finde ich es wichtig, zu         Eine ganz einfache Devise: „Don´t feed the
     den aufkommenden Fragen Stellung zu be-         Troll“. Sie können diese Menschen nicht
     ziehen, damit Sachverhalte auch so erklärt      überzeugen. Sie treffen immer mal auf
     werden, dass Laien sie verstehen können.        Leute, die irrational beeinflusst werden.
     Denn es nützt insbesondere Patient*innen        Teilweise sogar im näheren Familien- und
     aus bildungsferneren Schichten herzlich         Freundeskreis. Das sind oft solche, die den
     wenig, wenn Expert*innen sich missver-          Gedanken der Aufklärung, Reflexion und
     ständlich äußern oder mit virologischen         kritischen Diskussion in der Wissenschaft
     Fachausdrücken um sich schmeißen.               einfach zerstören und durch eigennützig
                                                     geleitete Motive mit ihren Regeln ersetzen
     Sind Sie denn auch mit Kritik von Coronaleug-   wollen. Es ist wie bei einer psychischen Er-
     nern in Kontakt gekommen? Und wie haben Sie     krankung, wo einer in einem Wahnsystem
     darauf reagiert?                                lebt.
     Ja, das bin ich, und das trifft mich auch       Begünstigt werden derlei Entwicklungen
     schwer. Herr Drosten ist da ja regelrecht       durch „Studienergebnisse“, die Ausgangs-
     gestalkt und bedroht worden. Und mir ist        punkt obstruser Verschwörungstheorien
     es auch so gegangen: Ich erhalte auch eher      darstellen: So z.B. die These, die Wellenlän-
     diffuse Mails und Anfragen, die ich gar nicht   ge von 5G-Wellen wäre genauso groß wie
     so mag. Manchmal kann das auch bis ins          ein Coronavirus, was beweise, dass es sich
     Stalking ausarten, teilweise sogar aus Kol-     um ein und dasselbe handele. Nur heißt das
     legenkreisen. Dann erreichen mich manch-        5G-Netz auch Millimeternetz: Hätte das
     mal vollkommen konfuse Ideen in einem           Coronavirus also Millimetergröße, wäre es
     aggressiven, sogar drohenden Ton, die mich      leichter, es mittels einer Fliegenklatsche zu
     zur Richtigstellung von Inhalten auffordern,    bekämpfen. Man muss solche Äußerungen
     die ihnen nicht in den Kram passen. Ich weiß    klar demaskieren und sie als das darstellen,
     nicht, was diese Leute umtreibt. Bisher er-     was sie sind: Totaler Quatsch! Der Weg der
     lebte ich Fälle von Diskriminierung über-       Überzeugung ist da nicht der richtige. Denn
     wiegend aus Patientengeschichten, die im        umgekehrt wird rücksichtslos gegen die
     Zusammenhang mit Infektionskrankheiten          Werte der Aufklärung vorgegangen, ohne
     an mich herangetragen wurden. Doch auch         Übernahme von Verantwortung. Präventi-
     als Arzt war ich selbst davon betroffen, ein-   onsmaßnahmen werden verhöhnt, Opfer
     schließlich meiner Familie. Das ist daran       bagatellisiert, das politische System desta-
     gegipfelt, dass Eltern aus der Kita eine Ini-   bilisiert. Aber falls doch was passiert, wird
     tiative starteten, um meine Kinder von dort     Anspruch auf vollumfängliche Krankenver-
     zu verweisen. Mit der fadenscheinigen „Be-      sorgung erhoben. Das ist einfach keine Ba-
     gründung“, ihnen wäre unwohl dabei, wenn        sis, um auf Augenhöhe zu reden.
     ihre Sprösslinge mit Kindern zu tun hätten,
     deren Vater Menschen mit ansteckenden           Sehen Sie die Wissenschaft und insbesondere
     Erkrankungen auf der Infektionsstation be-      die evidenzbasierte Medizin angesichts eines
12                                                                         Curare Ausgabe Nr. 125 06/2021
Titelthema

solchen Verhaltens als gefährdet an?                alles lesen, geschweige denn reviewen? Da
Die ist ja immer in Gefahr. Das ist ein zar-        muss man auch aufpassen, dass man das
tes Pflänzchen, das man regelmäßig gie-             System nicht überreizt.
ßen und pflegen muss. Wissenschaft lebt             Welchen Einfluss hat die Pandemie auf Ihren Sta-
davon, dass wir um den richtigen Weg in             tionsalltag?
einer zivilisierten Form streiten. Wenn es
                                                    Einen erheblichen. Nehmen wir den gest-
aber primär um Impactfaktor und presti-
                                                    rigen Tag als Beispiel: Ich hatte den ganzen
geträchtige Publikationen geht, stehen wir
                                                    Tag über mit vielen schwerkranken Pati-
uns aber aus reiner Eitelkeit manchmal sel-
                                                    ent*innen zu tun, die weiterverlegt werden
ber im Weg. Wenn Forschungsergebnisse
                                                    mussten, war allein mit dem ganzen orga-
weniger an der Qualität denn an der Höhe
                                                    nisatorischen Kram mehr als ausreichend
der Forschungsgelder gemessen werden,
                                                    ausgelastet. Ich war für zehn Patient*innen
die an ihnen hängen. Wenn Sie so etwas
                                                    zuständig, doch am Abend waren nur noch
kritisieren, dann gilt das leicht als Nestbe-
                                                    drei Betten belegt. Solch eine niedrige Be-
schmutzung. Erfreulicherweise geschieht
                                                    legungsquote hätte ich mir vor der Pande-
uns das hier an der MHH erstaunlich selten.
                                                    mie nie getraut, schließlich mussten ja alle
Aber diese Kultur muss man sich bewahren
                                                    Betten belegt werden, denn belegte Betten
auch dort, wo Wissenschaft nicht so unab-
                                                    bringen Geld. Jetzt gerade verändert sich
hängig ist wie hier.
                                                    diese Logik ein Stück weit dahingehend,
Aber machen wir uns doch nichts vor: Forschung      dass freie Intensivbetten auch als gutes
ohne Geld funktioniert nun mal nicht - auch nicht   Zeichen wahrgenommen werden, was sie
an der MHH.                                         ja eigentlich auch sind.
Das stimmt, aber hier sind Sie noch zu einer        Wir würden gern noch auf die Lehre zu sprechen
gewissen Neutralität verpflichtet. Wenn             kommen: Wir Studierende an der MHH konn-
Sie beispielsweise bei Biontech arbei-              ten ja trotz Pandemie im Gegensatz zu anderen
ten und feststellen, dass das Konzept von           Hochschulen im Wesentlichen ohne Zeitverlust
Moderna prinzipiell besser ist, kriegen Sie         weiterstudieren. Wie sehen Sie in diesem Zusam-
höchstwahrscheinlich ein Problem, wenn              menhang den Zwiespalt zwischen Infektionsrisi-
Sie das publizieren möchten. Dann sollten           ko und regulärem Studienverlauf?
sie vorher kündigen. (lacht) Und hier kön-
                                                    Mein persönliches Credo ist, dass man bei
nen Sie das machen, sogar ohne großen
                                                    Infektionskrankheiten vor allem nicht vor
Gesichtsverlust. Denn niemand kann uns
                                                    Angst erstarren sollte. Doch das genau
verbieten klüger zu werden. Fehlannah-
                                                    passiert, wenn Sie ein absolutes Nullrisiko
men und widerlegbare Thesen begünsti-
                                                    in der Pandemie anstreben. Natürlich ver-
gen den wissenschaftlichen Fortschritt;
                                                    spürt Jede*r irgendwo ein gewisses Gefühl
vielmehr ermöglichen sie ihn gerade erst.
                                                    der Beklemmung und Unsicherheit, wenn
Das wird jedoch erschwert durch den zu-
                                                    es um dieses Thema geht, auch ich. Das
nehmenden Publikationsdruck, der eine
                                                    macht auch einen Teil des Reizes aus, den
wahnwitzige Inflation an wissenschaftli-
                                                    der Beruf ausübt. Sie haben als Arzt, auch
chen Publikationen zur Folge hat, gerade
                                                    in der Ausbildung, immer mit potentiell in-
jetzt in Corona-Zeiten. Wer soll das noch
                                                    fektiösem Material zu tun, weil prinzipiell
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Titelthema

     jeder Mensch andere infizieren kann. Infek-        Vorlesung ersetzen: Die persönliche Inter-
     tionskrankheiten gehören zu unserem Le-            aktion fehlt einfach, die ich für sehr wichtig
     bensrisiko und gerade bei Sars-CoV2 war            erachte. Das kennen Sie von Besuchen in
     ja von Anfang an klar, dass junge Menschen         Fußballstadien, bei denen es um weit mehr
     ein vergleichsweise geringes Risiko haben.         geht als nur um das reine Spiel, das man
     Sinnvoll ist es, mit diesen Ängsten rational       sich auch im Fernsehen anschauen könn-
     umzugehen und sie zu überwinden, wes-              te. Ich hoffe, wir finden nach Corona zu ei-
     halb ich es sehr begrüßt habe, dass das De-        ner guten Mischung zurück. Dass, was sich
     kanat um einen möglichst ungehinderten             bewährt und Dinge vereinfacht hat, auch
     Studienverlauf bemüht war.                         nach der Krise beibehalten wird.
     In diesem Zusammenhang spielt natürlich auch       Um zum Anfang zurückzukehren: Wenn Sie noch-
     das Thema „Digitalisierung“ eine große Rolle:      mal studieren würden, was würden Sie anders
     Wie sehen Sie das Ganze - als Arzt und als Hoch-   machen?
     schullehrer?                                       Im jetzigen Abschnitt meines Lebens habe
     Als Arzt sehe ich persönlich viele Aspekte         ich mich das auch schon gefragt. Grund-
     der Digitalisierung nicht ohne Sorge. Das          sätzlich bin ich in der Vergangenheit ganz
     Missbrauchspotential ist aus meiner Sicht          gut damit gefahren, vieles offen auf mich
     enorm, was zu Vertrauensverlusten der              zukommen zu lassen und mich dann bei
     Bevölkerung in unseren Berufsstand füh-            Bedarf immer weiter in etwas hineinzufuch-
     ren kann. Außerdem lebt die Medizin von            sen. Grundsätzlich empfehle ich Jedem*r,
     ihrer Interaktion mit den Patienten, vom           auf sich selber hören und zu schauen, was
     Aufeinanderzugehen. Durch eine zuneh-              passt und was eben nicht. Manche wissen
     mende digitale Überwachung befürchte               das schon am Anfang ihres Studiums, an-
     ich daher, dass wir uns schrittweise im-           dere finden später ihren Weg. Das ist der
     mer mehr von den Patienten entfremden.             Vorteil an einem Beruf, der Raum für ganz
     Mittlerweile haben wir die Monitorüberwa-          viele verschiedene Möglichkeiten lässt.
     chung für Pulsoxymetrie und EKG irgend-            Wo sehen Sie uns als Medizinstudierende wäh-
     wo mitten im Stationsraum, wodurch der             rend der Pandemie in der Verantwortung? Stich-
     Patientenkontakt weiter abnimmt. Bei aller         wort: Nichteinhaltung der Maskenpflicht auf
     Fortschrittlichkeit, die wir der Digitalisie-      dem Campusgelände.
     rung verdanken, sollten wir daher meiner
     Ansicht nach immer auch darauf achten,             Ich kann verstehen, dass man oft den Re-
     unsere Kommunikation nicht allein daran            flex hat, das Stück Stoff vor der Nase los-
     auszurichten.                                      werden zu wollen, das geht mir auch so.
                                                        Aber wir haben hier eine Verpflichtung, und
     Und als Hochschullehrer?                           das in verschiedener Hinsicht: Denn wir
     Als Dozierender sehe ich auch eine gewis-          sind unmittelbar von einer vulnerablen Po-
     se Ambivalenz. Es gibt bestimmte Module            pulation umgeben, unseren Patienten.
     und Inhalte, die man digital sicherlich gut        Das sehen wir auch an den verschiedenen
     kommunizieren kann - vielleicht sogar noch         Ausbrüchen in der Klinik, die die MHH in
     besser als analog. Auf der anderen Seite           der Pandemie zu bewältigen hatte. Wenn
     kann ein Foliensatz niemals eine richtige          man diese genauer untersucht, stellt man
14                                                                            Curare Ausgabe Nr. 125 06/2021
Titelthema

fest, dass man immer irgendetwas hätte          bisschen hart zu sich selbst sein.
besser machen können. Zum Beispiel beim         Wagen wir zum Abschluss nochmal den Blick in
Frühstück, wo man anfangs lange noch ge-        die Glaskugel: Diesen Oktober wird wieder die
meinsam ohne Maske zusammensaß und              Ersti-Woche stattfinden, werden da Partys und
aß, wobei es nachweislich zu Infektionen        geselliges Beisammensein endlich wieder mög-
gekommen ist. Außerdem sind (werdende)          lich sein?
Ärzt*innen auch noch in einer anderen Rol-
le gefordert.                                   Naja, dann vielleicht schon wieder nicht
                                                mehr, schließlich hat die Bundestagswahl
In welcher?                                     zu dem Zeitpunkt bereits stattgefunden.
Als Vorbilder. Und diese Rolle sollten wir      (lacht) Abgesehen davon glaube ich aber
nicht unterschätzen. Nehmen Sie unseren         schon, dass es bis dahin wohl interessante
Bundesgesundheitsminister als Beispiel:         Konzepte der Lockerung geben wird. Mal
Mit seiner Party hat er gegen das versto-       gucken, wie es ausgeht
ßen, was er vorleben sollte, und sich dabei     Interview: Lennart Simon, Milan Speth
infiziert. Er hat eine Vorbildfunktion zu er-
füllen und wir Ärzt*innen genauso, da wir
vom Fach sind und die Bevölkerung uns
vertraut. Da muss man manchmal auch ein

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Titelthema

                    Kultur, Spiegel der Gesellschaft?
                                 Eine Bestandsaufnahme

     K  aum eine Branche muss sich in diesen
        Zeiten so sehr existenziellen Fragen
     stellen wie die Kultur. Systemrelevant - ja
                                                       aus meist Idealist*innen, die auch in Zei-
                                                       ten von Einschränkungen und Entbehrun-
                                                       gen dazu bereit sind, neue und innovative
     oder nein? Eine Branche, die von ihrem            Wege zu gehen.
     Publikum lebt, muss nun ohne die direkte             So bietet beispielsweise das Staatsthe-
     Nähe zu diesem überleben. Wie also hat            ater Hannover ein vielfältiges Programm
     sich die Lage der Kultur seit Ausbruch der        aus Podcasts, Tanzworkouts, Zoom-Ver-
     Pandemie gewandelt?                               anstaltungen, Streams und digitalen Pre-
        Die Zeit, sich nicht zu engagieren, ist ver-   mieren an. Im April wurde - für Studierende
     mutlich vorbei, wie uns die Pandemie klar         kostenfrei - die Online-Premiere der Oper
     vor Augen führt. Und mit ihr stehen auch          „The Turn oft the Screw“ sowie „STIMMEN:
     Kunst und Kultur vor neuen Herausforde-           Liebeslieder“ ausgestrahlt. Und auch der
     rungen und Fragen: Die Kultur als Spiegel         Mai hatte einiges zu bieten: Neben der
     der Gesellschaft - Ist dieses Selbstver-          Premiere der Oper „Greek“ wurde zudem
     ständnis in Corona-Zeiten noch zeitge-            im Rahmen einer vielversprechenden Ko-
     mäß? Doch Kulturstiftende sind von Natur          operation mit der Villa Seligman, dem Haus
16                                                                           Curare Ausgabe Nr. 125 06/2021
Titelthema

für jüdische Musik Hannover, eine Podi-       züberwindungen oder beschwerlichen lan-
umsdiskussion veranstaltet, an der unter      gen Anfahrten; vielmehr ermöglichen sie
anderem Max Czollek teilnahm. Außer-          erst internationale Kooperationen wie z.B.
dem fand am 20. Mai eine Veranstaltung        den Podcast „VOICE STORIES“, welcher
zu jüdischen Klangbildern des 20. Jahr-       Künstler*innen aus der ganzen Welt zu-
hunderts mit Musik von Korngold, Bern-        sammenbringt. Auf diese Weise kann sich
stein, Weil, Milhaud und weiteren statt.      die Kulturbranche auch in Bereichen ent-
Darüber hinaus wird derzeit aktiv am Spiel-   falten, die ihr vorher verschlossen ge-
zeitheft 2021/22 gearbeitet. Dort erwarten    blieben sind, und sich so -wenn auch
uns spannende Produktionen wie „Swee-         aus der Not heraus- fortlaufend wei-
ney Todd“, dann hoffentlich wieder vor        terentwickeln.
Publikum. Ferner werden auch viele digi-         Wie würde die Welt wohl morgen
tale Formate längerfristig fortgesetzt und    aussehen, wenn Corona plötzlich
durch geplante Open Air-Veranstaltungen       vorbei wäre? Wenn beispielsweise              Henriette
ergänzt.                                      Forscher*innen herausfinden wür- Humanmedizin  Günther

   Abgesehen davon entstehen interes-         den, dass Hafermilch (und nicht Klo-     3. Studienjahr

sante Kooperationen zum Beispiel mit          papier!) jede Coronainfektion heilen kann?
dem deutschen Taubblindenwerk, wobei          Mit Sicherheit wäre dann Hafermilch in
mithilfe eines inklusiven Kunstprojektes      allen Supermärkten restlos ausverkauft,
auf das Thema „Taubblindheit“ aufmerk-        die Leute würden sich auf der ganzen Welt
sam gemacht werden soll. An drei Aktions-     um eine Packung Hafermilch prügeln und
tagen im Juni wurden hierfür die Säulen       auf den Straßen würden sich zahllose De-
des Opernhauses Hannover mit Wolle um-        monstrierende versammeln und brüllen:
garnt, um Nichtbetroffenen einen Zugang       „Gleiche Milch für Alle!“
zur Lebensrealität taubblinder Menschen          Und sonst? Vermutlich wären die Kon-
zu schaffen. Dieses taktile Kunstwerk soll    zerte überfüllt, die Theaterprogramme
zudem dabei helfen, die Kunst und Kul-        restlos ausverkauft und Galerien beliebter
turszene Hannovers auch für Menschen          denn je. Und zwar nicht nur aus Sehnsucht.
mit Taublindheit zugänglicher zu gestalten.   Sondern auch aus Idealismus. Einem Idea-
Diversität und Internationalität prägen den   lismus, der Kulturstiftenden auch in Zeiten
gesamten Spielplan von Schauspielhaus         der Krise offensichtlich nicht abhandenge-
und Oper maßgeblich. Dabei sind sowohl        kommen ist. Es geht nicht um Geld, nich-
zeitgemäße als auch klassische Inszenie-      tum Macht, nicht um Erfolg. Es geht allein
rungen zu sehen, sowie Genregrenzen           um die Entfaltung seiner*ihrer selbst, die
überschreitende musikalische Exkurse          Verwirklichung von Idealen, für die sie zu
und Formate für junge Zuschauer*innen.        kämpfen bereit sind. Komme, was da wolle.
   Die Kulturformate sind also auch in Co-
rona-Zeiten keineswegs verschwunden;          Text: Henriette Günther, AStA-Referentin
sie mussten sich allerdings verändern und     für Kultur
der Situation anpassen. Das muss nicht        Bild: Nifoto, Commons, CC BY SA 3.0
unbedingt ein Nachteil sein: So haben digi-
tale Formate keinerlei Probleme mit Gren-
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Titelthema

                                               „Die ersten Male Präppen waren fürch-
     Erstis in der Pandemie                    terlich: Ich kannte niemanden, wuss-
                                               te nicht wirklich, was ich machen soll,
                                               dazu noch die ohnehin schon bedrü-
                                               ckende Stimmung in der Gegenwart ei-
                                               nes Verstorbenen. Eine gespenstische
     „Ich habe keine Ahnung, wie viel ich Atmosphäre!“
     lernen muss und wie viel die Anderen
     lernen. Ich habe ja keinen Vergleich.
     Aus Angst, zu wenig zu machen und
     schlechter als die Anderen zu sein, lerne „Die einzigen Bekanntschaften, die ich
     ich einfach gefühlt ohne Pause.“          bisher gemacht habe, machte ich in mei-
                                               ner Präpgruppe - im ständigen Beisein
                                               einer Leiche. Der Rest des Studienjah-
     „Keine*r möchte so ihr*sein Studium res ist für mich wie eine Art Black Box.“
     beginnen, es führt zu einer großen Ein-
     samkeit und Verunsicherung und vielen
     offenen Fragen bei mir.“                  „Ich bin fürs Studium aus Bayern hier-
                                               hergezogen und kannte erstmal nie-
                                               manden. Nach über einem Semester
                                               kann ich sagen: Es ist fast noch genau-
     „Mein Zustand in einem Wort: Über- so.“
     forderung. Ob es den Anderen ähnlich
     geht? Keine Ahnung, denn in der Ano-
     nymität bleibt ja jede*r mit ihren* sei-
     nen Sorgen für sich allein.“              „Das richtige Unileben, auf das ich mich
                                               lange gefreut habe, habe ich bisher nie
                                               kennengelernt. Lernen, zocken, schla-
                                               fen - das bestimmt im Wesentlichen
                                               meinen Tagesablauf.“

18                                                                Curare Ausgabe Nr. 125 06/2021
Titelthema

Insbesondere Studierende aus dem ers-
 ten Studienjahr leiden unter den Be-
schränkungen der Pandemie. Der Start in
                                                und Problemen darstellt.
                                                   Das wirkt sich mitunter auch auf deren
                                                mentale Gesundheit aus. Dr. Peter Schulte,
einen neuen Lebensabschnitt wird so zur         Leiter der psychosozialen Beratungsstel-
besonders großen Herausforderung.               le für Studierende der MHH, berichtet von
   Woran erinnern sich die meisten Stu-         einer überdurchschnittlich hohen Inan-
dierenden höherer Jahrgänge, wenn sie           spruchnahme seiner Beratung. „Mehr als
an ihre ersten Wochen und Monate an der         2/3 aller Kontaktanfragen kommen
Uni zurückdenken? Die ersten feuchtfröhli-      aktuell von Studierenden aus dem
chen Begegnungen während des Kneipen-           ersten Studienjahr, verteilt über alle
abends? Die vielen teilweise durchgeknall-      Geschlechter und Altersklassen.“, so
ten Aktionen der GEA auf dem Campus, bei        Schulte. „Die Erstsemester lernen ge-
denen man komische Dinge tun und dabei          rade nur die eher oft als unangenehm
einander richtig kennenlernen konnte?           empfundenen lernintensiven Seiten                Robert
Oder doch die vielen ermutigenden und           ihres Studiums kennen, nicht aber die Humanmedizin
                                                                                           Hämmerlein

beruhigenden Gespräche mit der Tutoren-         angenehmen, die sich vor allem durch      4. Studienjahr

gruppe, die einem beim Glas Bier sagt, man      soziale Kontakte und vielseitige Freizeit-
solle sich nicht so verrückt machen?            gestaltung auszeichnen.“ Dies trage zu ei-
   Wer 2020 sein Studium an der MHH be-         ner Verschärfung der sonst auch üblichen
gonnen hat, konnte all das nicht erleben.       Überforderung bei Erstsemestern bei und
Statt der besonderen Atmosphäre in Hör-         könne oft zu mehr Stress und empfunde-
sälen voller übermotivierter und erwar-         ner Perspektivlosigkeit führen, ergänzt der
tungsvoller Erstis gab es Videovorlesungen      Allgemeinmediziner und Psychotherapeut.
zuhause im Pyjama; statt Präppen in selbst
gewählten größeren Gruppen über viele            Wer in Zeiten von Corona vermehrt Ein-
                                                 samkeit,Überforderung,Erschöpfung und
Stunden nur zusammengewürfelte Drei-             Ängste verspürt und nach Unterstützung
ergruppen für den Schnelldurchlauf. Und          sucht, kann die Psychosoziale Beratung
                                                 der MHH in Anspruch nehmen.
ausgehen und feiern, um auch mal Leute
außerhalb der Uni-Blase kennenzulernen?          Dort haben Studierende aller Jahrgänge
                                                 und Fachrichtungen die Möglichkeit, mit
Fehlanzeige. Die gleiche Riesenmenge an          einer neutralen Person über sich, ihre Si-
Lernstoff, die gleiche anfängliche Unsicher-     tuation und ihre Probleme zu sprechen.
heit und Überforderung wie vor Corona,           Die Vertraulichkeit der Gespräche ist ge-
                                                 währleistet, da Herr Dr. Schulte an die
doch ohne wirklichen Austausch mit Kom-          Schweigepflicht gebunden ist.
militon*innen und höheren Semestern.             Das Angebot ist kostenfrei. Bei Bedarf
Und ohne den wichtigen sozialen Ausgleich.       könnt Ihr zwecks Terminvereinbarung ein-
„Ein richtiges Kennenlernen der neuen            fach eine Mail schreiben an: schulte.pe-
                                                 ter@mh-hannover.de.
Umgebung und der Leute hier ist für die
Erstis derzeit nicht möglich. Soziale Kon-
takte kommen - wenn überhaupt - nur in-         Auch das Studiendekanat weiß um die
nerhalb des Unialltags zustande“, weiß AS-      Probleme und Sorgen der Uni-Neulinge.
tA-Ersti-Referent Jonas, der für viele Erstis   Um sie etwas zu unterstützen, wurde im
eine der wenigen Anlaufstellen bei Fragen       Wintersemester mit der „Lernwerkstatt“
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Titelthema

     erstmalig ein Workshop für einen guten           technisch im Vergleich zu den vorherigen
     Studieneinstieg angeboten. Die sehr gute         Jahrgängen trotz Pandemiebedingungen
     Resonanz hat dazu geführt, dass dieser           keineswegs schlechter, betont Mühlfeld;
     auch im Sommersemester wiederholt                die Prüfungsergebnisse seien im Durch-
     wird, um möglichst viele Studierende des         schnitt vergleichbar mit denen aus den
     ersten Studienjahres zu erreichen. Zudem         Vorjahren. Dennoch vermisse er natürlich
     wird die Sprechstunde der psychosozialen         die Vorlesungen und den Kontakt zu den
     Beratung in Kooperation mit dem Institut         Studierenden, der sich aktuell hauptsäch-
     für Allgemeinmedizin ausgebaut, um mög-          lich auf die Zeit im Präpsaal beschränkt.
     lichst allen Studierenden, die Beratungs-        Sein Ratschlag an alle Studierenden in Co-
     bedarf haben, ein Gespräch anbieten zu           rona-Zeiten: „Versuchen Sie, zuhause ei-
     können.                                          nen geregelten Tagesablauf zu etablieren
        Doch nicht nur die Studierenden sind          und verbringen Sie nicht jede freie Minute
     gezwungen, sich an die neuen Umstände            mit Lernen. Nehmen Sie sich auch bewusst
     anzupassen. Auch die Lehre musste sich           Zeit für Dinge, die Ihnen guttun!“
     erheblich verändern. Wo es sonst oft vor            Und wie sehen die Erstis selbst ihre
     lauter Vorlesungen und Pflichtveranstal-         Lage? „Es ist für uns alle sicher nicht ein-
     tungen in Präsenz nur so wimmelt, hat sich       fach und viele von uns haben wirklich hart
     jetzt das meiste Geschehen in den virtuel-       mit der gesamten Situation zu kämpfen;
     len Raum verlagert. So gibt es beispielswei-     gerade diejenigen, die beispielsweise von
     se im ersten Studienjahr Humanmedizin            weiter weg hier herkommen und keinen
     Vorlesungen - außer in Physiologie - nur         richtigen Anschluss finden.“, sagt Orkide
     noch in asynchroner Form, mikroskopiert          Taghawi, Jahrgangssprecherin des ersten
     wird mithilfe des Onlineatlas zuhause am         Studienjahres Humanmedizin. „Doch wir
     PC, Seminare laufen über Videokonfe-             wissen auch, dass die anderen Jahrgänge
     renzen. Physiologie- und Chemiepraktika          und die Dozierenden genauso mit der Si-
     laufen in Präsenz vor Ort in abgespeckter        tuation hadern und unglücklich sind. Umso
     Form, wobei es nicht selten auch zu Über-        mehr wissen wir aber die Bemühungen der
     schneidungen zwischen den einzelnen              Dozierenden sowie der GEA und des AStAs
     Veranstaltungen kommt. Der Präparier-            um uns sehr zu schätzen und sind ihnen al-
     kurs erstreckt sich jetzt über zwei statt vier   len sehr dankbar.“
     Stunden, die Gruppengröße hat sich von
     sechs auf drei halbiert, Tutor*innen gibt es     Text: Robert Hämmerlein
     zwei pro Saal. Doch die kürzere Arbeitszeit      Foto: Moritz Werthschulte
     und die kleineren Gruppen haben nicht nur
     Nachteile. „Es ist zu beobachten, dass oft
     konzentrierter und fokussierter präpariert
     wird, wodurch die Qualität im Vergleich
     zur Zeit vor Corona zugenommen hat.“,
     berichtet Prof. Dr. Mühlfeld, Modulver-
     antwortlicher für das Fach Anatomie. Ge-
     nerell sei der aktuelle Jahrgang leistungs-
20                                                                         Curare Ausgabe Nr. 125 06/2021
Titelthema

   „In einer Demokratie ist nichts alternativlos“

D    er Zeithistoriker und Publizist Dr. René
     Schlott ordnet die Corona-Pandemie
historisch ein und geht auf Chancen und
                                                Hilberg und schreibt als freier Autor u.a. für
                                                Spiegel Online, FAZ und Süddeutsche Zei-
                                                tung.
Risiken der Krise ein.                          Herr Dr. Schlott, seit über einem Jahr leben wir
   René Schlott (*1977) ist Historiker und      nun schon in der Pandemie. Die Bundeskanzlerin
Publizist in Berlin. Nach einer kaufmän-        sprach zu Beginn von der größten Krise seit dem
nischen Berufsausbildung studierte er           Zweiten Weltkrieg. Würden Sie ihr da als Histori-
Geschichte, Politik und Kommunikations-         ker zustimmen?
wissenschaften in Berlin und Genf, bevor        Ehrlich gesagt, halte ich von diesem Ver-
er 2011 an der Universität Gießen mit einer     gleich nichts, denn die Ausgangsbedin-
kultur- und medienhistorischen Arbeit pro-      gungen waren damals ganz andere als
moviert wurde. Er arbeitet zur Zeit an einer    heute: Am Ende des Zweiten Weltkrie-
Biographie des Holocaustforschers Raul
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Titelthema

            ges lag halb Deutschland in Schutt und          Zum einen verstehe ich vollkommen, dass
            Asche, Millionen Menschen waren getötet         der Staat vor dem Hintergrund einer un-
            worden. Deutschland musste nach dem             bekannten hochinfektiösen Erkrankung
            Ende des Nationalsozialismus unter der          das Gesundheitssystem vor Überlastung
            Aufsicht der Alliierten komplett neu auf-       schützen und dafür, begründet und zeit-
            gebaut werden, nicht nur infrastrukturell,      lich befristet, bestimmte Grundrechte ein-
            sondern auch politisch und wirtschaftlich.      schränken muss. Zum anderen möchte ich
                 Und überhaupt: Was soll dieser Ver-        aber auch davor warnen, eine Art „Tunnel-
                 gleich bezwecken? Ich sehe es auch         blick“ zu bekommen.
                 kritisch, wenn Politiker in Fernsehan-     Was meinen Sie genau damit?
                 sprachen vom „Krieg gegen das Virus“
                 sprechen. In unserer Alltagssprache        Damit meine ich, sich auf eine Sache, in
                 ist zunehmend ein unguter Trend zur        diesem Falle die Sars-CoV2- Pandemie-
                 Militarisierung zu beobachten, wes-        bekämpfung, besonders zu fokussieren
Robert
Hämmerlein       halb ich im wahrsten Sinne des Wor-        und dieser alles andere prioritär unterzu-
Humanmedizin
                 tes zur rhetorischen „Abrüstung“ rate.     ordnen. Wir müssen, bei aller berechtigter
4. Studienjahr
                                                            Sorge vor dem Virus, darauf achten, die ge-
        Das Virus hat unseren Lebensalltag verändert,       sellschaftliche Gesamtheit im Blick zu be-
        und das weltweit. Wir tragen Masken, halten Ab-     halten und Nutzen und Risiken bestimmter
        stand, reduzieren Kontakte. Gab es schon mal        Maßnahmen der Pandemiebekämpfung
        vergleichbare Zustände in der Geschichte?           abzuwägen. Wenn wir den Großteil des öf-
        In der globalisierten Welt in diesem Aus-           fentlichen Lebens herunterfahren, mag
        maß sicher noch nicht, doch tatsächlich             das unter Umständen zwar dem Infekti-
        gab es viele der Maßnahmen, die wir heute           onsschutz dienen, doch kann dies zugleich
        gegen das Virus ergreifen, auch schon im            auch den gesellschaftlichen Zusammen-
        Mittelalter zu Zeiten der Pest. Masken aus          halt gefährden, da Schulen, Theater, Re-
        Tüchern, Kontaktbeschränkungen, Isolati-            staurants und Konzerte eben auch so-
        on und Quarantäne wurden auch damals                ziale Orte sind, die für den Menschen als
        schon angewandt, wenn auch natürlich                gemeinschaftsbildendes Wesen von im-
        nicht in identischer Art und Weise. Das fin-        menser Bedeutung sind. Gleiches gilt auch
        de ich ziemlich erstaunlich, wenn man be-           für insolvente Unternehmen im Einzelhan-
        denkt, wie lang das her ist und wie sich un-        del oder größere psychische Probleme bei
        sere Welt seither verändert hat.                    Kindern und Jugendlichen, die durch die
        Als Historiker haben Sie sich sehr stark mit der    pandemiebedingten Schulausfälle und
        Entstehung und den Hintergründen unseres            Kontaktbeschränkungen nun gehäuft auf-
        Grundgesetzes beschäftigt, das in diesem Jahr       treten.
        schon seinen 72. Geburtstag feiert. In der Pande-   Sie sehen also, man darf Freiheit und Si-
        mie wurden einige seiner Grundrechte zugunsten      cherheit nicht als Gegensätze betrachten
        des Infektionsschutzes eingeschränkt. Wie be-       und diese gegeneinander ausspielen. Es
        werten Sie diesen schwierigen Spagat zwischen       gibt nicht nur schwarz oder weiß. Daher
        Freiheit und Sicherheit?                            muss man bei allen Entscheidungen den
        Das ist in der Tat keine einfache Frage.            Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wah-

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Titelthema

ren, indem der Staat die gesundheitliche             Das heißt, dass neben Virolog*innen und
Bedrohungslage ernst nimmt, aber zu-                 Epidemiolog*innen, die sich in Bezug auf
gleich auch darauf achtet, dass das System           Lockdowns auch untereinander nicht im-
nicht anderweitig kollabiert. Denn schließ-          mer einig sind, eben auch z.B. Jurist*innen,
lich muss man ja auch an die Zeit nach Co-           Psycholog*innen und Kinderärzt*innen an-
rona denken.                                         gehört werden, um auch der Tragweite der
Nun gut, aber angesichts steigender Inzidenzen,      Auswirkungen gerecht zu werden.
unberechenbarer Virusmutationen und stetig           Außerdem müssen die Entscheidungsträ-
abnehmender Kapazitäten auf Intensivstationen        ger*innen dazu bereit sein, ihre eigenen
brauchte es doch offensichtlich einen harten         Entscheidungen im Nachhinein selbstkri-
Lockdown, um der Lage der Herr zu werden. Der        tisch zu reflektieren und aus Fehlern zu ler-
Lockdown war in dieser Hinsicht sozusagen „al-       nen.
ternativlos“, wie es unsere Bundeskanzlerin gern     Glauben Sie, dass Corona unsere Gesellschaft
auszudrücken pflegt...                               nachhaltig verändern wird? Und wenn ja, wie?
Und genau diese Formulierung sehe ich zu-            Die Geschichte lehrt uns, dass es oftmals
tiefst kritisch. In einer Demokratie ist nichts      besonders die kleinen, im ersten Augen-
alternativlos, denn sie lebt wie keine zweite        blick banal wirkenden Entscheidungen
Regierungsform vom Ideenaustausch. Die               sind, die eine Gesellschaft über lange Zeit
Pandemie ist ein gesamtgesellschaftliches            verändern können. Ich persönlich glaube,
Problem mit großer Komplexität, das nur in           dass Themen wie Gesundheit und Hygi-
differenzierter und multiperspektivischer            ene, die in dieser Zeit eine zentrale Rolle
Form angegangen werden kann. Ärzt*innen              spielen, nach Corona deutlich bedeutsa-
und Pfleger*innen sind von der Pandemie              mer sein werden als davor. Das werden wir
ebenso betroffen wie Einzelhändler*innen,            sicherlich bei den künftigen Influenzawel-
Künstler*innen und Studierende. Daher                len im Herbst und Winter auch beobachten
kann man nicht einfach eine Handlungsop-             können. Vielleicht werden auch einige Leu-
tion als einzig wahre Lösung in den Raum             te in Zukunft erwarten, dass der Staat dann
stellen, denn dann bräuchte es ja auch kei-          ähnlich eingreift wie bei Corona.
ne Demokratie, die darüber noch diskutie-
ren und abstimmen müsste.                            Was können wir als Gesellschaft Ihrer Meinung
                                                     nach an Positivem wie Negativem aus der Coron-
Sie meinen also, es gebe trotz allem eine Alterna-   akrise mitnehmen?
tive zum Lockdown?
                                                     Ich persönlich hoffe, dass uns in dieser
Es gibt immer Alternativen. Ich will es mir          Zeit nochmal deutlich geworden ist, wie
nicht anmaßen, die gesamte Regierungs-               wichtig und mitnichten selbstverständ-
politik schlechtzureden und neunmal-                 lich unsere Grundrechte sind. Unsere
kluge Ratschläge zu geben, das liegt mir             Vorfahren haben über Jahrhunderte hin-
fern. Entscheidend ist lediglich, dass sich          weg, teilweise unter Aufopferung ihres
die verantwortlichen Politiker vor solch             Lebens, für die Freiheitsrechte gekämpft
einschneidenden Entscheidungen mög-                  und wir sollten daher sehr achtsam mit ih-
lichst vielseitig beraten lassen sollten, weil       nen umgehen. Dazu gehört auch, jedwe-
es die Wissenschaften nur im Plural gibt.            de Grundrechtsbeschränkung kritisch zu
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Titelthema

     hinterfragen und auf ihre Verhältnismä-       dieses Bewusstsein zu erlangen.
     ßigkeit und zeitliche Befristung zu prüfen.   Noch eine abschließende Frage an Sie, die wahr-
     Außerdem braucht es einen offenen und         scheinlich wichtigste überhaupt, die Sie mit Ihrer
     konstruktiven Dialog zwischen verschie-       Expertise als Historiker sicherlich beantworten
     denen Standpunkten, ohne den einen oder       können: Wann ist die Coronakrise endlich vor-
     anderen für seine Meinung zu diffamieren      bei?
     oder pauschal irgendeinem Lager zuzuord-
     nen. Berechtigte Kritik muss auch immer       Ich hatte eigentlich gehofft, dass Sie
     als solche anerkannt und geschätzt wer-       mir als angehender Arzt diese Fra-
     den, denn davon lebt die demokratische        ge    beantworten     könnten.      (lacht)
     Meinungsbildung. Freiheit ist nicht nur ir-   Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht, aber ich
     gendein beliebiger Wert; es ist der zentra-   hoffe im Sinne von uns allen, lieber heute
     le Wert, auf dem unsere Gesellschaft auf-     als morgen…
     baut. Ich wünschte nur, es hätte die Krise    Interview: Robert Hämmerlein
     mit all ihren Opfern nicht gebraucht, um      Foto: Angela Ankner

        Promovieren unter besonderen Umständen
                                 KlinStrucMed 2020/21

     A   ls am 12.03.20 die Auswahlgespräche
         für das KlinStrucMed-Programm noch
     von Angesicht zu Angesicht stattfinden
                                                   des Projekt finden.
                                                      Im Juli ging es dann los für uns. Es zeigte
                                                   sich, dass sich Corona sehr unterschiedlich
     konnten, bahnte sich die Corona-Pande-        auf unsere Projekte auswirkte: Während ei-
     mie bereits an. Kurz darauf veranlasste die   nige Projekte durch die Pandemie nahezu
     Bundesregierung Maßnahmen zur Kon-            komplett unberührt blieben, hatten ande-
     taktbeschränkung und bei uns frisch aus-      re mit ihren Problemchen zu kämpfen. So
     gewählten KlinStrucMed-Kollegiat*innen        lernte Lale Bayir, Doktorandin in der Immu-
     machten sich erste Sorgen breit: Wie sollte   nologie, ihre Betreuer aufgrund der strikten
     es mit dem Programm weitergehen? Doch         Hygienemaßnahmen erst nach vielen Wo-
     diese Sorgen blieben unbegründet.             chen persönlich kennen. Auswirkungen auf
        Die Projektvorstellung wurde kurzer-       ihr Projekt hat dies jedoch glücklicherweise
     hand als Online-Meeting abgehalten. Die       nicht. Lea Stubbe betreut als Doktorandin
     Projektleiter*innen konnten sich online       einen Hebammen-Austausch mit einem
     einwählen und ihre Präsentationen vom         Krankenhaus in Uganda. Für den Herbst
     eigenen Schreibtisch aus halten. Danach       geplante Flüge dorthin musste sie leider
     wurden wir Kollegiat*innen vor die Qual der   auf das kommende Jahr verschieben. Der
     Wahl gestellt. Es standen 22 Projekte zur     Austausch findet nun zunächst in Form
     Auswahl und auch der ungewisse Verlauf        von Online-Seminaren statt. Dieses erwies
     der Pandemie und deren Auswirkungen auf       sich sogar als Vorteil, da das Projekt nun
     die Projekte mussten abgewogen werden.        auf weitere interessierte Krankenhäuser in
     Letztendlich konnten aber alle ein passen-    Uganda ausgeweitet werden kann. Hannah
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