30 JAHRE SMZ LIEBENAU J - ZURÜCK ZU DEN ANFÄNGEN
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INHALT 06 1984: ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER GRUPPENPRAXIS 14 1986: DER SUPERGAU TSCHERNOBYL 18 1987: DIE AKTIVITÄTEN DES VEREINS FÜR PRAKTISCHE SOZIALMEDIZIN DEHNEN SICH AUF WEITERE PROJEKTE AUS 19 1987: RETTET DAS GRAZER PUCHWERK! 22 1990: UND DIE PRAXISGEMEINSCHAFT KOMMT NICHT ZUR RUHE ... 26 SEIT 1995: DIE GESUNDHEITSFÖRDERUNG ALS NEUER ARBEITSBEREICH 31 SEIT 1998: EIN WEITERES GESUNDHEITSFÖRDERUNGSPROJEKT LANGSAM LAUFEN LIEBENAU LLL 34 1999: SYMPOSIUM 15 JAHRE PRAXISGEMEINSCHAFT UND 10 JAHRE SMZ 38 INTERNATIONALER ÄRZTEKONGRESS WONCA 2000 39 SEIT 2000: GESUNDHEITSPLATTFORM LIEBENAU 40 2001: WIE GESUND IST LIEBENAU? 50 2000: SMZ-GESUNDHEITSPROJEKTE 54 2004: DAS ENDE DER SOZIALEN DIENSTE IM SMZ IST VORPROGRAMMIERT 56 SEIT 2004: SUCHT – AUSWEGE: SMZ WIRD ANERKANNTE EINRICHTUNG NACH DEM §15 SUCHTMITTELGESETZ 60 SEIT 2008: STADTTEILARBEIT IN LIEBENAU UND JAKOMINI 66 VERGESSENE OPFER, VERGESSENE TÄTER 70 SEIT 2000: ZWEI GESUNDHEITSZENTREN FINDEN SICH – MARBURG & LIEBENAU 74 SEIT 2011: BAUVORHABEN MURKRAFTWERK & DAS „VERDRÄNGTE“ NS-LAGER LIEBENAU 82 2013: SMZ ALS MODELL FÜR INTERDISZIPLINÄRE KOOPERATION 86 2015: GEGENWART & ZUKUNFT DES SOZIALMEDIZINISCHEN ZENTRUMS
1984: ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER GRUPPENPRAXIS 1984 die erste österreichische Gruppenpraxis zu gründen, gingen ganz persönliche An- liegen der Ärzte Diego Fritsch, Gustav Mittelbach und Rainer Possert voraus. Alle drei waren in der kritischen Studentenbewegung der Siebziger Jahre engagiert, in der Alter- nativen zur herrschenden Medizin lebhaft diskutiert wurden und die sich als Teil einer allgemeinen Kritik an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung verstand. Rainer Possert, 1984: „Servire il popolo – dem Volke dienen.“ Für mich als Medizinstudent in Innsbruck hieß das: Ich will als Experte, der ich einmal sein werde, mein Wissen der Bevölkerung zur Verfügung stellen und nicht auf die eigene Tasche schauen. Dazu kommen die frühe Öko- logiebewegung, die sich mit dem Smog in Innsbruck beschäftigt hat, Prixleg, eine Schmutzschleuder-Fabrik und der Kampf gegen das Atomkraftwerk Zwentendorf. Wir haben uns in der kritischen Studentenbewegung in Innsbruck gegen das medizinische Establishment – die Herren Professoren als Götter in Weiß – gewandt. Ich erinnere mich noch gut an die Karikatur eines Arztes auf einem Geldhaufen, und draußen warten die Patien- ten. Wir haben uns damals wie heute gefragt: Welche Rolle spielt der Arzt in der Gesellschaft? Er schreibt krank, schreibt gesund, er sichert vor allem die Arbeits- kraft, kontrolliert, wer eine Pension bekommt, ob der Krankenstand vom Chefarzt anerkannt wird oder nicht. 6 Damals in den Siebziger Jahren gab es ja auch noch Zwangseinweisungen in psychiatrische Anstalten!
Gustav Mittelbach, 1984: Ich stamme aus der kritischen Medizin in Graz, der Gruppe „Liste unabhängiger Mediziner“, die ich mit- begründet habe. Gesundheit und Krankheit als soma- tische und psychosoziale Phänomene waren für uns wichtige Themen! Ich wollte in meiner künftigen Praxis ein sicht- bares Signal für eine Gesprächsmedizin gegen die herrschende sprachlose Medizin, gegen Apparate- und Medikamentenmedizin setzen. Wie bei Rainer hat auch für mich die Kritik an der Psychiatrie eine we- sentliche Rolle gespielt. So konnte z.B. im Rahmen der Wehrmachtsausstellung in Graz der Massenmord an PatientInnen auf der Psychiatrie aufgedeckt werden. Die Kritik hat offenbar 20 Jahre gebraucht, bis sie in der Öffentlichkeit angekommen ist, denn hunderte steirische PatientInnen wurden ja von einem mörder- 7 ischen Medizinbetrieb in Graz ermordet!
D ie Gruppenpraxis in der Liebenauer Hauptstraße 104 besteht aus drei praktischen Ärzten. Gemeinsam wollte das Trio eine demokratische Zusammenarbeit auch mit anderen „GesundheitsarbeiterInnen“ aufbauen: Physikotherapie mit Heike Possert-Lachnit, bald darauf wurde der „Verein für praktische Sozialmedizin“ gegrün- det. Damit konnte eine Beratungsstelle ins Leben gerufen werden, in der neben den drei Ärzten nun auch Juristen, Psychologinnen und Sozialarbeiter im Team interdisziplinär zusammenarbeiteten. Possert und Mittelbach: „Die Widerstände gegen unser Projekt waren groß. In einem Protestschreiben vom März 1984 an die Ärztekammer drückten die sechs etablierten Allgemeinmediziner und zwei Internisten in Liebenau ihren Unmut über die neu gegründete Gruppenpraxis aus.“ Zitate daraus: „Die Ärzte in Liebenau erblicken in der Vorgangsweise der Ärztekammer Steiermark einen schweren Verstoß gegen die Verpflichtung der Kammer, nicht nur die berufli- chen und wirtschaftlichen Interessen ihrer langjährigen Mitarbeiter wahrzunehmen, sondern der schwerwiegenden Entscheidung, eine sorgfältige Prüfung der allfälligen Existenzgefährdung der betroffenen Kammerangehörigen vorangehen zu lassen. [...] [...] Die Errichtung der weiteren Planstellen für die Gruppenpraxis würde die Exis- tenzgrundlage der Ärzte erheblich gefährden, würde ferner zu einer eklatanten Wett- bewerbsverzerrung führen, denn jede auch nur berufsbedingte Abwesenheit eines Arztes von seiner Einzelpraxis würde eine Abwanderung von Patienten in die Grup- penpraxis zur Folge haben, weil eine derartige Praxis immer mit einem der Ärzte besetzt ist. Während für die Gruppenpraxis das Problem der Urlaubsvertretung keines ist, müsste sich z.B. Med.Rat. Dr. Fellinger [...] sehr überlegen, Urlaub zu machen, da dieser zu 8 Recht fürchten muss, dass ein Teil seiner Patienten nach seinem Urlaub nicht wie- derkehrt. Die Folge [...] wäre ein gesundheitlich „rascher Verschleiß des Mediziners“.
1986: Der erste Gesundheitsbericht für Liebenau P sychologin Dr. Hertha Scheucher verfasste 1986 neben ihrer Beratungsarbeit im Projekt die erste Studie zu den Lebensbedingungen der LiebenauerInnen. Nach ein- jähriger Forschungsarbeit lieferte die Studie den schriftlichen Beweis, dass sich die BewohnerInnen des Bezirks durch die große Verkehrsbelastung, den Lärm, die Mischung aus Nebel und Smog und den mangelnden Erholungsbereichen im Bezirk in ihrer Gesund- heit beeinträchtigt fühlten. Um gesund bleiben zu können, müssten also die Lebensbe- dingungen geändert und dazu notwendige Initiativen gesetzt werden. Rainer Possert: „Dieser erste Gesundheitsbericht des Bezirkes – er wurde unterstützt vom Sozialmi- nisterium und der Arbeitsmarktverwaltung – war die Grundlage für unsere künftigen Gesundheitsprojekte. Es war für uns klar: Die individuelle Arbeit mit PatientInnen und KlientInnen kann eine gesundheitspolitische Arbeit keinesfalls ersetzen.“ Gustav Mittelbach: „Die Bezirksstudie deckt neuralgische Probleme im Bezirk auf: Die Liebenauer Hauptstraße zählt zu den Grazer Straßen mit höchstem Verkehrsaufkommen, es geht um Lärm- und Luftverschmutzung, es geht um eine hohe Krankheitshäufigkeit im Bezirk und um Arbeitsprobleme – das Puch-Zweiradwerk stand ja vor dem Verkauf.“ Rainer Possert: „Und als das Grundwasser durch unkontrollierte Abwässer des Puch-Werkes mit Perchloräthylen verseucht war, haben wir natürlich eine Liebenauer Bürgerini- tiative unterstützt. Es mussten Hausbrunnen gesperrt werden, und wir Ärzte haben auf Bitten der BürgerInnen über das Gift und die gesundheitliche Gefährdung durch das Wasser informiert.“ In der Folge handelten sich die Ärzte ein Disziplinarver- fahren bei der Ärztekammer ein, weil sie das sogenannte „ärztegesetzliche Werbeverbot“ missachtet hatten. 9
Wirtschaftlicher Zwischenbericht nach drei Jahren Gruppenpraxis D ie Praxisgemeinschaft bezieht ihr Einkommen zu 90% aus kassenärztlicher Tätigkeit. Alle Einkünfte der Ärzte werden auf ein gemeinsames Konto über- wiesen. Die individuellen Auszahlungen errechnen sich nach einem Zeit- und Umsatzschlüssel. Davon werden je ein Drittel der gesamten Betriebskosten der gemieteten Räumlichkeiten abgezogen. Assistentinnen, Physiotherapeutin, medizinische Fachkraft und medizinisch technische Assistentin werden deutlich über dem Kollektivlohn bezahlt oder über die Arbeitsmarkt- verwaltung finanziert. Der Verein für praktische Sozialmedizin und die Beratungsstelle erhalten zweckgebun- dene Subventionsgelder vom Familienministerium, eine einmalige Subvention der Stadt Graz und personelle Förderung über die Arbeitsmarktverwaltung. Krankheiten fallen nicht vom Himmel I m November 1988 stellte Dr. Rainer Possert das Sozialmedizinische Zentrum Graz Liebe- nau in einem Vortrag an der Universität Innsbruck im Rahmen der Vortragsreihe „Wissen- schaft und Verantwortlichkeit“ vor und betonte vor allem die psychosoziale Komponente der ärztlichen Tätigkeit in der Gruppenpraxis. „Krankheiten fallen nicht vom Himmel, sondern haben Ursachen!“ Das gilt auch für die sogenannten psychosoma- tischen Erkrankungen wie Magengeschwüre, Kopfschmer- zen, Bluthochdruck, um nur einige zu nennen. Dabei handelt es sich häufig um ein Geschehen, das eine Überfor- derung des Betroffenen signalisiert. Er reagiert auf die zu- nehmende Belastung durch seine soziale Umwelt mit einer Flucht in die Krankheit. Es geht aber auch darum, wie ein Patient mit seiner Erkran- kung umgeht: Kann er nach dem anfänglichen Erschrecken gefasst eine Änderung seines Lebens beginnen oder reagiert er mit Angst, Verdrängung, Depression und begibt sich langfristig in einen Circulus-vitiosus! „Wir Ärzte in unserem Grazer Projekt stehen für eine emanzipatorische Medizin. Wir glauben, dass der Patient, die Patientin das Recht – nicht die Gnade – hat, ernst ge- 10 nommen zu werden, dass man für ihn oder sie Zeit hat und nicht mit dem Rezept- block abgefertigt wird. PatientInnen haben das Recht auf Informationen: Informa-
tion über die möglichen Ursachen ihrer Erkrankung, über Therapien und mögliche Nebenwirkungen. Emanzipatorische Medizin heißt für uns, dass wir uns auch mit den PatientInnen solidarisieren, indem wir ihre soziale Lage anerkennen und versuchen, die Welt auch aus ihrer Perspektive zu sehen und mithelfen, diese zu ihren Gunsten zu verändern!“ Gustav Mittelbach in einem Vortrag in Graz zum Verständnis seiner Rolle als Arzt im SMZ: „Allgemeinmedizin versteht sich auf Zusammenarbeit, in- dem sie auch in multidisziplinären Teams verankert wird. Sie ist familienorientiert, wendet sich den Menschen im Kontext ihrer familiären Lebensumstände zu – unter Berücksichtigung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Allgemeinmedizin soll- te gemeindeorientiert sein, sollte den Kontext der lokalen Gemeinschaft berücksichtigen und versuchen, positive Ver- änderungen für die Betroffenen zu erreichen. In diesem Sinne verstehen wir uns auch als Organisation im Sinne der WHO Europa! Heike Possert über ihre Arbeit im Zentrum als Physiotherapeutin (Ärztewoche, 1993) „Ich arbeite als Physikotherapeutin, sowohl im Rahmen der Praxisgemeinschaft, als auch freiberuflich. In meiner eigenen Praxis betreue ich ambulant SchmerzpatientInnen, ich ma- che auch Hausbesuche. Während die Zusammenarbeit mit den Ärzten geregelt ist, planen wir nun auch eine Koopera- tion mit der Hauskrankenpflege, sodass ich dann mit einer Schwester zum Patienten nach Hause gehe. Die Besonderheit des psychosozialen Zentrums liegt in der direkten und un- komplizierten Zusammenarbeit und der Möglichkeit, schnell auf Änderungen zu reagieren. Diese Kurzschaltung zwischen mir und den Ärzten ist bei anderen Institutionen und Ambu- latorien nicht gegeben. Zum Wohle der PatientInnen kann ich nicht nur mit den Ärzten, sondern auch mit Psychotherapeu- 11 ten und mit der Sozialarbeiterin zusammenarbeiten.“
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1986: DER SUPERGAU TSCHERNOBYL D as Jahr 1986 brachte dem Sozialmedizinischen Zentrum Liebenau mit der Reaktorkatastrophe Tschernobyl einen weiteren Aufgabenbereich. Nur sechs Jahre zuvor hatten die ÖsterreicherInnen ihre Bedenken gegen eine „fried- liche Nutzung der Atomkraft in Österreich“ erfolgreich in einer Volksabstimmung gegen Zwentendorf zum Ausdruck gebracht. Dazu zählte auch die steirische Arbeitsgemein- schaft „Mediziner gegen AKW“, (mitgegründet von MitarbeiterInnen der jetzigen Praxis- gemeinschaft) und unterstützt von 600 MedizinstudentInnen und 225 ÄrztInnen. Mittelbach und Possert: „1986 war unser Wissen also brandaktuell. Die Wolke von Tschernobyl, die sich nach der Explosion des geschmolzenen Reaktors über Europa verteilte, hatte Öster- reich im Vergleich zu anderen Ländern stark getroffen.“ Das kurzlebige Jod 131 machte in den ersten Tagen den Hauptanteil der radioaktiven Be- lastung aus. Cäsium 137 mit einer Halbwertszeit von 30 Jahren wird uns noch weit in das 21. Jahrhundert begleiten. Strontium 90 wird erst nach 50 Jahren aus unseren Knochen zur Hälfte ausgeschieden sein! Was musste damals im Frühsommer 1986 nicht alles beachtet werden? Kein Spielen der Kinder im Sandkasten (Entsorgung des verstrahlten Sandes), keinen Stra- ßenstaub in die Wohnung bringen, keine frische Milch trinken (Soja- oder Haltbarmilch als Alternative) Laub und Stroh aus dem Garten entfernen, denn 90% der Radioaktivität befanden sich in den obersten 5 cm Erde, es galt auch den Bagatellisierungen seitens der Behörden entgegenzutreten. Mittelbach und Possert: „In den Räumen der Praxisgemeinschaft hielten wir in den folgenden Wochen öffent- liche Vorträge, Beratungen für PatientInnen ab, wir organisierten Aktionen und Infor- mationen für Graz. Unsere „Initiative gegen atomare Bedrohung“ wurde von Umwelt- wissenschafterInnen, AtomphysikerInnen, BiologInnen, ÄrztInnen und Techniker- Innen steiermarkweit mitgetragen! Wir verfassten eigene „REM-Sparblätter“ als Botschaft an die KonsumentInnen, damit wir z.B. durch bewusstes „REM-Sparen“ 14 in der Nahrung so wenig wie möglich radioaktive Belastungen abbekamen.“
Heike Gremsl: „Ich habe ziemlich Angst gehabt. Und ich habe das unheimlich gefunden, weil man die Gefahr nicht sehen konnte. Obwohl man nichts merkte, durfte man nicht raus.“ Angela Huber: „Beunruhigend war die Sorge der Eltern. Ich selbst habe das nicht so verstanden, was da passiert ist. Im Sommer in den Bergen haben wir Mineralwasser getrunken. Kein Spielen im Freien und wir durften die Schulmilch nicht mehr trinken.“ Karin Sittinger: „Man musste die Schuhe vor der Haustür ausziehen. Unsere Katze hat uns vier Wochen lang gequält, da wir sie nicht rauslas- sen konnten. Wir hatten einen Brunnen und haben das Wasser nicht getrunken. Heute noch esse ich keine Schwammerln.“ Gudrun Ploder: „Wir durften nicht mehr barfuß laufen. Alles aus dem Gemüse- garten wurde vernichtet. Und es war ein Sommer ohne Sandkiste.“ Erika Lang: „Unsere Kinder waren damals 12 und 8 Jahre alt. Anfang Mai sind wir im Wald spazieren gegangen, da wussten wir noch nichts. Tage später die Meldung. Wir waren dann sehr nervös und aufgeregt. Alles hat sich verändert. Die Kinder durften nicht mehr in die Wiese. Das Gemüse war schädlich.“ Sonja Pichler: „Ich war damals in der Volksschule und eines Tages sagte die Lehrerin: Ihr ward zwar brav, aber ihr dürft heute und in den nächsten Wochen in der Hofpause nicht draußen spielen“. Ich hab das sooo gemein gefunden. Bestraft zu werden, obwohl wir brav waren. Und dann habe ich Angst gehabt, um meine Eltern, meine 15 Schwester, Angst, dass wir jetzt alle sterben müssen.“
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1987: DIE AKTIVITÄTEN DES VEREINS FÜR PRAKTISCHE SOZIALMEDIZIN DEHNEN SICH AUF WEITERE PROJEKTE AUS Personelle Zusammensetzung des Sozialmedizinischen Zentrums Liebenau 1987 Verein für Physikalische Praxisgemeinschaft praktische Sozialmedizin Therapie Ärzte: Heike Possert Dr. Diego Fritsch Dr. Gustav Mittelbach Dr. Rainer Possert Familienberatungs- Sprechstundenhilfe: stelle Krista Mittelbach Monika Krois die Ärzte der Praxisgemeinschaft Laborantin: Informationsstelle Psychologinnen: Erika Lang psychologische Dr. Nancy Lyon Beratung Dr. Herta Scheucher Gesundheitspolitische Dr. Herta Scheucher Juristen: Dr. Ulrike Krottmayer-Hoschka Dr. Peter Schaden Aktivitäten Dr. Wolfgang Sellitsch Obmann des Vereins: Sozialarbeiterinnen: Dr. Franz Piribauer Theresia Augustin sämtliche Vereinsmitglieder Margaretha Dremel Geburtsvorbereitung: Krista Mittelbach Seniorengruppe: Heike Possert ▪ Sexualerziehung und Schulangst-Bewältigung in der Hauptschule Engelsdorf, betreut vom Team der Familienberatungsstelle ▪ Sterbebegleitung: Ein Arzt begleitet mit einer Psychologin im Bedarfsfall Sterbende und ihre Familien in diesem schwierigen und traurigen Lebensabschnitt. ▪ Selbsthilfegruppe für PatientInnen mit Muskeldystrophie mit der Physikotherapeutin ▪ Soziale Betreuung von PatientInnen: Vermittelt werden Haushaltshilfen für alte oder kranke PatientInnen, damit sie 18 möglichst lange zu Hause wohnen können. Die Vermittlung von Hauskrankenpflege ergibt sich durch die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen.
1987: RETTET DAS GRAZER PUCHWERK! E in sehr wesentliches und politisch wirksames Engagement zeigte das Sozialmedi- zinische Zentrum in Sachen Puch-Zweirad-Werk in Thondorf. Es hat den Ärzten viel Energie und Kraft gekostet und auch vielen PatientInnen aus politischen Gründen schwer gemacht, in die Praxis zu kommen. Rund um den Verkauf des Werkes durch den damaligen Finanzminister Hannes Androsch an Piaggio hatte sich eine breite Protestbewegung der BürgerInnen entwickelt. Es gab Unter- schriftenlisten, Versammlungen in Gasthäusern und zuletzt eine Protestversammlung mit über 600 ArbeiterInnen am 19. Feber 1987 in der Grazer Herrengasse vor der Zentrale des Eigentümers Creditanstalt CA. Über eine Stunde wurde der gesamte Straßenbahn- verkehr lahmgelegt. Sprecher der Bürgerinitiative zur Rettung des Puch-Werkes waren Rainer Possert, Gustav Mittelbach und Puch-Abteilungsleiter Rudolf Kramer. ÖGB Graz und Graz-Umgebung, die Gewerkschaft Metall-Bergbau-Energie und die Ge- werkschaft der Privatangestellten unterstützten in einer Resolution die Forderung des Be- triebsrates der Grazer Puch-Werke, die notwendigen 400 Mill. Schilling an Fördermitteln zu bewilligen, um die rund 600 Arbeitsplätze in Graz zu erhalten. Kleine Zeitung, Johannes Kübeck, 19.2.1987: „Die Wortmeldungen bei der Kundgebung waren auch gekennzeichnet von scharfen Angriffen etwa des Sprechers der Bürgerinitiative, des Liebenauer Arztes Rainer Possert, auf die „Manager im Nadelstreif, die am grünen Tisch kühl über mensch- liche Existenzen entschieden. Im Mittelpunkt der Kritik Generaldirektor Hannes Androsch und die CA.“ 19
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UND DIE PRAXISGEMEINSCHAFT KOMMT NICHT ZUR RUHE ... N achdem Dr. Gustav Mittelbach wacker mit zehn BürgerInnen, darunter auch Bezirksvorsteherin Ingrid Heuberger, die Liebenauer Hauptstraße mit einem Transparent sperrte – ein Protest gegen die Trassenführung des Südgürtels und das große Verkehrsaufkommen, gab es ein erstes Köpferollen: Der 40-Stunden-Vertrag von Sozialarbeiter Mike Wratschko, finanziert von der Stadtverwaltung, wurde nicht mehr verlängert. Zu oft fühlten sich die politischen VertreterInnen von den Aktivitäten des Liebenauer Ärzteprojekts auf den Schlips getreten ... „Mit einer Unterschriftenaktion und hitzigen Diskussionsveranstaltungen (z.B. im ehemaligen Augartenkino) haben wir auch das 1978 gegründete Beratungszentrum in der Granatengasse am Griesplatz (als erster gemeindenaher, psychosozialer Dienst in Österreich, Leiter Dr. Gert Lyon) zum Thema Psychiatriereform unterstützt!“, erinnern sich Mittelbach und Possert. „Wir traten gemeinsam für eine rasche Durchführung der steirischen Psychiatriereform im Sinn einer Humanisierung und Demokratisierung ein. Wir sprachen uns strikt gegen die hohen Zwangsbehandlungs- und Entmündigungsraten in der Steiermark aus, waren für die Erhaltung des einzigen öffentlichen Beratungszen- trums am Griesplatz, die Wiederherstellung seiner ursprünglichen personellen Ausstat- tung sowie für die Errichtung weiterer ambulanter, psychosozialer Dienste.“ Dr. Gert Lyon: „In dieser Zeit der Konflikte, Kürzungen und der Gefahr des Zusperrens unseres Bera- tungszentrums für psychische und soziale Fragen in der Granatengasse hat die kollegiale Solidarität mit Euch wohlgetan. Damals habt Ihr wiederholt enorm wirksam tatkräf- tige, solidarische Hilfe geleistet, wofür ich gerne noch einmal Dank und Anerkennung aussprechen möchte!“ (August 1995, 20 Jahre Praxisgemeinschaft Liebenau) 22 Und worauf das SMZ besonders stolz sein konnte: die Gründung der Hauskrankenpflege 1990 im Rahmen der Sozialen Dienste!
1990: Gründung der Hauskrankenpflege, Alten- und Heimhilfe als extramurale Versorgung „Jeder, der damals in der Pflege tätig war, weiß: Wo eine Kranken- schwester arbeitet, werden vier benötigt!“, erinnert sich Renate Schreiner, Diplomkrankenschwester und Pflegedienstleiterin der Hauskrankenpflege im Sozialmedizinischen Zentrum bei der 15-Jahres- feier zurück. „Aber die Hauskrankenpflege allein reichte nicht aus für die extramorale Versorgung. Der neue Berufsstand der Heimhilfe wurde – vorerst noch als „Nachbarschaftshilfe“ – einge- führt. Wir errichteten ein eigenes Heilbehelfsdepot zum Teil aus Spenden und mithilfe der Gruppenpraxis: Krankenpflegebetten mit Anti-Decubitusmatratzen, Gehhilfen, etc. In Liebenau ist uns das gelungen, was in anderen Regionen undenkbar war! Und so such- ten auch andere soziale Einrichtungen schnell Kontakt mit uns, wir arbeiteten ergänzend mit wertschätzender Akzeptanz: Die Caritas z.B. unterstützte uns mit einer Altenhelferin, die Lebenshilfe organisierte Essen auf Rädern und einen Wäschedienst (schmutzige Wä- sche von PatientInnen wurde abgeholt und gereinigt und gebügelt zurückgebracht.) Die Pfarre stellte bald darauf die ersten geringfügig beschäftigten Heimhilfen zur Verfügung.“ Von 1993 bis 1995 wurden schließlich Heimhilfen und PflegehelferInnen hauptamtlich in den sozialen Dienst des SMZ integriert. In dieser Zeit fand auch die gesetzliche Professi- onalisierung der Hilfen durch eine verpflichtende Ausbildung statt. 1993 unterzeichnete das SMZ den Hauskrankenpflege-Vertrag mit der Stadt Graz und versorgte nun nicht nur Liebenau, sondern auch Puntigam mit dem Hauskrankenpflege-Service. In monatlichen „Fallkonferenzen,“ für das gesamte interdisziplinäre Team, wurden nicht nur Krankengeschichte, Behandlungs- oder Betreuungsvorgang mit schwerkranken Patient- Innen besprochen, sondern auch Schwierigkeiten und Probleme mit den Angehörigen 23 oder innerhalb des Betreuungsteams.
1993 1999 2,8 Dienstposten mit 4,05 Dienstposten 7 Diplomkrankenschwestern für Diplomkrankenschwestern 2,75 Dienstposten 4,88 Dienstposten für 6 Heimhilfen für Heimhilfen stundenweise Anstellung 3,73 Dienstposten für Pflegehilfen der ersten Pflegehelferin macht: über 110.000 Betreuungsstunden /Jahr etwa 150 PatientInnen im Monat mit einem Durchschnittsalter von 81 Jahren Juristin Dr. Beatrix Hackhofer, auch in der Patienten-Rechtsberatung der Beratungsstelle des SMZ tätig (das Beratungsangebot umfasst Ehe,- Familien- und Scheidungsrecht, Schaden- ersatz- und Patientenrechte) führte die Geschäfte der Hauskrankenpflege. „Die Zahlungen der PatientInnen für Betreuungsleistungen der Haus- krankenpflege sind nach Einkommen gestaffelt. Unsere Mitarbeiter- Innen in der Pflege und Betreuung führen einen Leistungsbericht, ich rechne dann nach diesen Angaben mit den PatientInnen ab. Auf diese Weise verhindern wir die unangenehme Situation, dass eine Kranken- schwester nach vollbrachter Leistung beim Patienten kassieren muss!“ Schreiner: „Bei unseren MitarbeiterInnen haben wir immer Wert auf interne und externe Fortbildung gelegt. Es gibt regelmäßig Fallkonferenzen, Todesfallbesprechungen, Super- vision mit dem gesamten Team, 1999 werden wir nach ISO 9002 zertifiziert. Ich sehe dies als Krönung unseres langjährigen Bemühens um eine hohe Pflegequalität. Und das Schöne daran ist die multiprofessionelle Zusammenarbeit in unserem Zentrum – mit den Ärzten, Juristen, Psychologen, Psychotherapeuten, der Physiotherapeutin und den Sozialarbeitern. Die rasche Verfügbarkeit von Experten zum Wohle der Patienten ist somit garantiert. Ich denke, wir im SMZ Liebenau, arbeiten mit einem hohen Standard in der Betreuung und sind ein gutes Beispiel dafür, wie fruchtbar diese Zusammenarbeit sein kann!“ (Festrede beim Symposium 1999 „Lieber reich und gesund als arm und krank“) 1994 verlässt Dr. Diego Fritsch aus persönlichen und Krankheitsgründen die Gruppen- praxis. Sein Ausstieg hat zur Folge, dass sich nun die beiden Ärzte Possert und Mittel- bach die Miet- und Betriebskosten der Praxisräumlichkeiten in der Liebenauer Haupt- straße 104 zu teilen hatten, also die Kosten nicht mehr gedrittelt werden konnten. Fritsch behielt seinen Ärztevertrag, der eigentlich für die Gruppenpraxis vorgesehen war (es gab keine schriftliche Bindung des Vertrages an die Praxisgemeinschaft) und ließ 24 sich als Einzelpraktiker in unmittelbarer Nähe nieder. Einige Jahre später wurde Fritsch in seiner Ordination tot aufgefunden.
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1995: DIE GESUNDHEITSFÖRDERUNG ALS NEUER ARBEITSBEREICH „Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. (Ottawa Charta 1986) Diese erste internationale Konferenz zur Gesundheitsförderung vom 21. November 1986 ruft damit zum aktiven Handeln für das Ziel „Gesundheit für alle“ bis zum Jahr 2000 und darüber hinaus auf. Das SMZ verfolgt dabei folgende Grundsätze, die im Laufe der nächsten Jahre in den ver- schiedensten Projekten umgesetzt werden: ▪ Chancengleichheit in der Gesundheit fördern – Armut macht krank! ▪ Selbstbewusstsein und Handlungskompetenz stärken, im Sinne von „enabling und empowering.“ Gesundheit wird als eine Kombination individueller und gesellschaft- licher Umstände definiert. ▪ Projekte mit Nachhaltigkeit fördern. Durch Gesundheitsförderung wollen wir in folgenden Bereichen Einfluss nehmen: Umwelt: Wohnverhältnisse (in benachteiligten Gegenden wie Grünanger oder Eichbachgasse 900), Lärmbekämpfung und Tempolimit auf der Autobahn, Förderung sozialer Netzwerke (Schulen, Senioren, Alleinerzieher, etc.) Medizinische Faktoren: Angebot an medizinischen Leistungen wie Gruppenpraxis, Soziale Dienste im SMZ, Physiotherapie, Psychotherapie, Logopädie, Sozialarbeit, Angebote der Beratungsstelle Sozioökonomischer Bereich: Mitarbeiterfortbildung, Supervision, Multiplikatoren- Bildung, Informationen für die Bevölkerung Individuelle Faktoren: Gesundheitsbewusstsein, Gesundheitswissen, Gesundheitsverhalten, Lebensgewohnheiten Wir wollen Netzwerke herstellen, Kooperationen fördern und Empowerment be- treiben: das heißt, die BewohnerInnen im Bezirk dazu befähigen, ihr Leben stärker selbst in die Hand zu nehmen und sich zu trauen, Einfluss auf gesundheitsschädi- 26 gende Faktoren zu nehmen.
Gesundheitsförderung am Beispiel „Grünanger“ D as Wohngebiet Grünanger liegt im Nordwesten des Bezirkes an der Mur und be- steht aus einer Ansammlung von ca. 50 Baracken, die während des Zweiten Welt- kriegs als Zwangsarbeiterlager dienten. Umgeben ist das Gebiet von Siedlungen mit Gemeinde- und Eigentumswohnungen, die Baracken selbst werden vom Wohnungs- und Sozialamt der Stadt Graz an sozial schwache Personen vergeben. Bekannte Problema- tik des Grünangers: schlechte Bausubstanz der „Kremserhäuser“, häufiger Alkohol- und Drogenmissbrauch, Arbeitslosigkeit und Verwahrlosung der BewohnerInnen. 1998 waren die Baracken durch Abrisspläne seitens der Stadt Graz bedroht. Das SMZ verfügte schon in den neunziger Jahren über eine langjährige Erfahrung in der Arbeit am Grünanger durch die Sozialen Dienste, psychosoziale und medizinische Betreuung von DrogenpatientInnen und fungierte als Impulsgeber und Koordinationsstelle mit regelmä- ßig veranstalteten „Round-Table-Grünanger-Gesprächen“. Auszug aus dem Vortrag von Dr. Rainer Possert in Wien beim Fond Gesundes Österreich zum Thema Lebensraum Grünanger: In diesen Vernetzungstreffen mit den Liebenauer Apotheken, der Siegmund Freud Klinik Graz, Jugendbetreuungseinrichtungen, dem Bezirksvorsteher, Polizei, Architekten und professionellen HelferInnen gelang es uns schließlich, auch zuständige ReferentInnen des Wohnungsamtes einzubinden. Gemeinsam mit dem Sozialkreis Liebenau und Be- wohnerInnen des Grünangers erarbeiteten wir wichtige Strategien, die schließlich den Abriss der Baracken verhindern konnten. 27
In einer Befragung der Grünanger-BewohnerInnen äußerten sie folgende Wünsche: Einrichtung von Werkstätten für althergebrachte Handwerkstechniken Einrichtung einer diesbezüglichen Biblio-/Videothek Fotoclub und Fotolabor Musikforum Grünanger Aktivitäten zu Ernährungsfragen Gemeinsame Pflege der Grünflächen für Ziegen/Schafe „Aktivierende Gemeinwesenarbeit“ haben wir das genannt – Empowerment – Einbezug der BewohnerInnen in die Proteste, das Auflisten ihrer Wünsche, etc., alles hat zum Erhalt des Grünangers geführt“, so Dr. Saskia Dyk, Soziologin im SMZ, die eine sozio- logische Begleitstudie über die Wohn- und Lebensqualität marginalisierter Bevölkerungs- gruppen am Grünanger verfasst hat. Die Betreuungsarbeit am Grünanger für das SMZ und die Praxisgemeinschaft bedeutete, so Rainer Possert: „Einzelfallhilfe, Delogierungsprävention, Krisenintervention, Mietzuzahlungen, Jugend- arbeit, Schulprojekte, Gesundheitsinformation, Hygienemaßnahmen, Ökologie (Müll, Autowracks, Heizen).“ Für das Jahr 2001 konnte erreicht werden, dass für die Sanierung der Hütten Mittel im Budget der Stadt Graz (Büro Kaltenegger, Sozialamt) zur Verfügung gestellt und der Neubau von 35 Wohneinheiten, alles Sozialwohnungen, geplant vom Architekturbüro DI Herbert Riess, genehmigt wurden. 2003 ergänzte schließlich Soziologin Dr. Saskia Dyk ihre Wohn- und Lebensqualitäts- studie vom Grünanger mit ihrer Dissertation zum Thema „Raumpotentiale am Grünanger – Ansatzpunkte für Gesundheitsförderung“. Sie stellt dabei Segregation und den „Milieu“- Begriff in den Mittelpunkt, widmet sich Wohnqualität und Gestaltungsspielräumen der Grünanger-Bewohner und weist auch den kleinen Hausgärten als individueller Sozial- und Lebensraum einen wichtigen Stellenwert zu. 2006 erfolgte die Fertigstellung der neuen Wohnungen, den Mietern konnten im Juli die 28 Schlüssel übergeben werden. Die Bruttomieten beliefen sich damals auf € 152,- für 33 m2 oder € 277,- für eine 62 m2 Wohnung.
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Brunch am Grünanger Im neuen SMZ – Stadtteilzentrum am Grünanger, seit 2009 in der Andersengasse 32, wird alle Jahre wieder ab Frühling im Gartenbereich zum wöchentlichen Brunch eingeladen. Dort treffen sich BewohnerInnen zum Plaudern, gesund Essen, Informationsaustausch oder um persönliche Anliegen zu besprechen. Horst S. zum Beispiel, will nicht so oft allein sein. Jeden Donnerstag Vormittag kommt er zum Brunch: „Hier gibt´s keinen Egoismus, sondern Herzlichkeit, wir verstehen uns auf Augenhöhe“, nickt er. „Hier sind alle tolerant und großzügig!“ „Oft beginnt alles mit einem einzigen Schritt!“, meint Edeltraud T. „Meine Probleme führ- ten mich ins SMZ. Zum Grünanger-Brunch komme ich gerne, weil ich dort unterschied- liche Menschen kennenlerne und einen Einblick in andere Kulturen habe. Das finde ich interessant und bereichernd!“ Frau Hermine: „Der Brunch ist auch ein Treffpunkt für ausländische Frauen, die Deutsch sprechen wollen.“ 1998 hat Univ. Prof. Horst Noack, Sozialmedizin der Universität Graz, im Rahmen der Gesundheitsförderung auch die Ausbildung „Gesundheitsförderung im SMZ“ übernom- men. Im Mittelpunkt der regelmäßigen Fortbildungsveranstaltungen bis Juni 1999 stand die Vermittlung von Basiswissen in Public Health, also die theoretische und praktische Auseinandersetzung in diesem Themenbereich. In der zweitägigen Gesundheitsförderungs-Konferenz im Oktober 1998, organisiert vom SMZ, gelang erstmals die bezirksweite Vernetzung von maßgeblichen Institutionen und 30 Einzelpersonen, um Gesundheitsförderungsinformationen gezielt auszutauschen und Ak- tivitäten in Liebenau zu erleichtern.
SEIT 1998: EIN WEITERES GESUNDHEITSFÖRDERUNGSPROJEKT LANGSAM LAUFEN LIEBENAU LLL Ich weiß, ich sollte mich mehr bewegen, aber wie? Bei meinem Gewicht, bei meinem Alter, bei meinem hohen Blutdruck? Lebensfreude durch Bewegung für Jung und Alt: LLL sollte von Anfang an eine offene Trainingsgruppe einmal pro Woche sein, wo die TeilnehmerInnen unter fachlicher Anleitung mit einem Arzt und der Physio- therapeutin ihre Möglichkeiten von körperlicher Bewegung entdecken können. Ein biss- chen Dehnen und Selbstmobilisieren „mit hineinverpackt“ animiert schon im Vorfeld zur Selbsthilfe bei Verspannungen und Gelenksblockaden. Es gibt keine Anmeldung, niemand muss sich festlegen und durch finanzielle Zwänge selbst überlisten, die Schwelle zum Mit- machen soll möglichst klein sein. In fünf Jahren haben 83 Menschen an LLL teilgenommen. Das Durchschnittsalter lag bei 49 Jahren, der Jüngste war sechs, der Älteste 87 Jahre alt. Eine Patientin erzählt, sie sehe die Gruppe regelmäßig am Heimweg von ihrer Arbeit. Nei- disch schaue sie auf die vorbeitrabenden Menschen, vor allem deshalb, weil „ihr ja offen- sichtlich so viel Spaß dabei habt.“ Und auch das ist gelungen: Der große Schulpark der HIB-Liebenau wurde speziell für dieses Bewegungsprojekt geöffnet! 2007 wurde aus LLL „Walken im Park“, damit kam das SMZ dem Wunsch neuer Teilnehmer- Innen nach, die das „Gehen mit Stöcken“ ausprobieren wollten. Das Durchschnitts- alter stieg auf 58 Jahre, die älteste Teilnehmerin war 84 Jahre alt. Das Walking-Projekt wird bis heute durchgeführt und auf „Walken an der Mur“ erweitert. Walkingstöcke können im SMZ ausgeborgt werden. 31
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1999: SYMPOSIUM 15 JAHRE PRAXISGEMEINSCHAFT UND 10 JAHRE SMZ „Lieber reich und gesund als arm und krank – „Soziale Ungleichheit und Gesundheit“ G esundheit kann man nicht kaufen!“ Eine je nach Standort mehr oder weniger tröstliche Binsenweisheit, genauso wie „Geld macht nicht glück- lich!“ Aber: Es schützt zumindest vor Krankheit und frühzeitigem Tod. Schon in der berühmten „Whitehall-Studie“, in der 1990 rund 17.000 britische Beamte befragt wurden, fand man heraus, dass Menschen in höheren beruflichen Positionen durch- schnittlich später sterben als ihre weniger erfolgreichen KollegInnen. Rund drei Jahre macht der Unterschied aus, mehr als zwei Jahre verlieren durchschnittlich Frauen, die sozial ärmer dran sind. „Und eine positive Veränderung dieser Situation ist auch am Ende unseres fortschritts- frohen Jahrhunderts nicht in Sicht. Ganz im Gegenteil – die Schere der gesundheitlichen Ungleichheit klafft gemeinsam mit der wirtschaftlichen immer weiter auseinander!“, betonte auch Sozialmediziner Wolfgang Freidl, der gemeinsam mit dem Sozialmedizini- schen Zentrum den Gesundheitssurvey Liebenau 2000 konzipierte, in dem 500 Liebenaue- rInnen über ihren Gesundheitszustand, ihr Gesundheitsverhalten, Netzwerke und Wohlbe- finden im Bezirk befragt wurden. Ziel des Symposiums zu 15 Jahre Praxisgemeinschaft und 10 Jahre SMZ am 19. November 1999 war die Sensibilisierung der TeilnehmerInnen für den Zusammenhang zwischen sozi- aler Lage, sozialen Ungerechtigkeiten und Gesundheit. Hochrangige ReferentInnen wie Prof. Dr. Ivan Forgacs, Haynal Imre Universität für Gesundheitswissenschaften in Budapest, Prof. Dr. Andreas Mielck, Institut für Medizinische Informatik und Systemforschung in München, Monika Riedel, Institut für Höhere Studien in Wien/Universität Klagenfurt, 34 Prof. Dr. Dieter Filsinger, Hochschule Saarbrücken und Dr. Michaela Moritz, Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheitswesen
Das Besondere am SMZ: es bietet nicht nur die übliche allgemeinmedizinische Versorgung des Stadtteils, sondern auch Physio- und Psychotherapie, Sozialarbeit, Hauskrankenpflege, Altenpflege und Heimhilfe, logo- pädische Unterstützung sowie eine Beratungsstelle. fassten die Auswirkungen des Neoliberalismus auf die Gesundheit der BürgerInnen und das Gesundheitswesen zusammen, analysierten soziale Ungleichheit im Zusammenhang mit Gesundheit im europäischen Ost-Westvergleich, verglichen Lebenserwartungsdaten und soziale Schichtung und warfen einen Blick auf bewährte Modelle der Primärversorgung im Sinne einer solidarischen Gesundheitsversorgung. Im „Korso“ schrieb Doris Griesser über 15 Jahre Gruppenpraxis und 10 Jahre SMZ: „Aus der kleinen Pionier-Gruppe entwickelte sich nach fünf Jahren das SMZ Liebenau, das mit mittlerweile 32 MitarbeiterInnen seinen 15-jährigen Geburtstag feierte – mit einem Symposium unter dem ironisch-programmatischen Motto „Lieber reich und gesund als arm und krank.“ Die UTOPIE lebt! Das Besondere am SMZ: Es bietet nicht nur die übli- che allgemeinmedizinische Versorgung des Stadtteils, sondern auch Physio- und Psycho- therapie, Sozialarbeit, Hauskrankenpflege, Altenpflege und Heimhilfe, logopädische Un- terstützung sowie eine Beratungsstelle. Diese dicht vernetzten Betreuungs- und Beratungs- angebote bauen auf einem Verständnis von Gesundheit auf, das weit über das traditionelle biomedizinische Krankheitskonzept hinausgeht und psychische, soziale und gesellschafts- politische Aspekte sowohl in die Diagnose als auch in die Behandlung mit einbezieht.“ 35
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WONCA 2000 I m Juli 2000 präsentierten Gustav Mittelbach und Rainer Possert das Sozialmedizi- nische Zentrum Graz beim Europäischen Kongress für Allgemeinmedizin und Familien- medizin WONCA in der Wiener Hofburg vor rund 2.200 TeilnehmerInnen. Ein Schwerpunkt des internationalen Kongresses war auch den „Gruppenpraxen“ gewid- met, etabliert vor allem in England. So war man sich mit dem Referenten BD. M. Fleming einig, dass die europaweite Entwicklung weg vom Hausarzt als Einzelkämpfer hin zum Betreuungsteam gehen müsste. In England, so Fleming, sei ein Arzt für die Betreuung einer bestimmten Anzahl von BewohnerInnen, meist 1.500 – 1.800, verantwortlich. Vor- teile für die PatientInnen seien ein breiteres Leistungsspektrum und keine Sperren durch Urlaub, etc. Für die Ärzte böten Gruppenpraxen den Vorteil geringerer Betriebskosten, besserer Vertretungs- und Fortbildungsmöglichkeiten, Reduzierung der Belastung des Einzelnen durch Teamarbeit, Möglichkeiten zu vermehrter wissenschaftlicher Arbeit und besserer Umsetzung von Maßnahmen der Qualitätssicherung. Das SMZ vertrat seine Arbeitsgrundsätze, Menschen – und nicht Krankheiten – in den Mittelpunkt einer vernetzten Gesundheitswelt zu stellen: „Medizinische Behandlung, Beratung, Prävention, Pflege und kommunale Gesundheitsförderung sind die integralen und eng vernetzten Schwerpunkte der täglichen Arbeit im SMZ, in dem 15 verschiedene Berufsgruppen PatientInnen/KlientInnen in allen Lebensphasen begleiten und beraten. Damit verwirklichen wir seit 1984 das von der WHO geforderte Modell der „Primary Health Care“, so Possert und Mittelbach beim WONCA-Kongress 2000. Ein eigenes 38 Referat der beiden Ärzte war auch dem Thema „Substitutionsbehandlung von Drogen- kranken“ gewidmet.
2000: GESUNDHEITSPLATTFORM LIEBENAU Was hat die 4. Internationale Gesundheitsförderungs-Konferenz in Jakarta mit der Gesundheitsplattform in Liebenau zu tun? V iel – denn genau ein Jahr nach der Jakarta-Erklärung für das 21. Jahrhundert, welche die Wichtigkeit gesundheitsbezogener Gemeinschaftsaktionen, also kol- lektiver Bürgerbeteiligung, unterstrich, wurde 2000 im kleinen Graz die Gesund- heitsplattform Liebenau vom SMZ aus der Taufe geholt. Denn gerade Gesundheitsförderung im Bezirk oder Stadtteil bietet gute Möglichkeiten, Strategien zur Gesundheitsentwicklung praktisch umzusetzen. „Aber dies kann nur von den Menschen selbst kommen und mit ihnen verwirklicht werden“, betont Gustav Mittel- bach, „Gesundheit kann nicht von oben verordnet werden! Daher brauchten wir Netz- werke und MultiplikatorInnen.“ Ein solches Netzwerk sollte die Gesundheitsplattform Liebenau werden. Das SMZ stellte also einen Antrag an die Bezirksversammlung von Liebenau, um die Platt- form als wesentliches Anliegen der Bezirkspolitik zu institutionalisieren. Liebenauer Ver- eine und Organisationen (Parteifraktionen, BezirksvorsteherInnen, BezirksrätInnen, Ge- meinderätInnen, Pfarren, Schulen, Seniorenvereine, BürgerInneninitiativen, etc.) erklärten sich bereit, an der Gründung und Weiterführung der Plattform mitzuarbeiten. Die von allen Beteiligten gemeinsam verfasste Resolution der Gesundheitsplattform lautete: Die Gesundheitsplattform Liebenau ist eine Initiative aktiver BürgerInnen des Bezirks, die sich zum Ziel gesetzt hat, gesundheitsrelevante Themen öffentlich zu diskutieren und gesundheitsförderliche, öffentlichkeitswirksame Aktionen im Sinne der Resolutionen der WHO zu ermöglichen. Dabei stützt sich die Gesundheitsplattform Liebenau auch auf das von der Stadt Graz angenommene Programm „Gesunde Städte“ des Regionalbüros Kopenhagen der WHO. Inhaltliche Schwerpunkte für die kommenden Jahre: 1. Probleme des Bezirkes: Informationsmangel untereinander und kaum gesundheitsbe- zogene Angebote. Ziel der Plattform: Gesundheitsrelevante Infos den BewohnerInnen zu- kommen zu lassen und den Kontakt mit den Medien zu fördern. Außerdem sollte eine bessere Identifikation mit dem eigenen Wohnumfeld geschaffen werden. 2. Gesundheit von Kindern und Jugendlichen fördern. Diese fänden in Liebenau kaum Freizeit- und Erholungsangebote und würden an Bewegungsmangel, fehlender Motivation, sowie an Alkohol- und Nikotinmissbrauch leiden. Ziel der Gesundheitsplattform: einerseits Lust auf Bewegung zu machen, Gesundheitsinformationen an Kinder, Jugendliche und Eltern weitergeben und andererseits die Schaffung eines kinder- und jugend- gerechten Umfeldes im Bezirk. 39 3. Als dritter Schwerpunkt wurde die Förderung sozial benachteiligter Gruppen genannt.
2001: WIE GESUND IST LIEBENAU? I m April 1999 fand erstmals eine Diskussion über die gesundheitlichen Belastungen im Bezirk Liebenau statt. An erster Stelle standen hier erhöhte Staubbelastung und Luft- verschmutzung, verursacht durch Verkehr und Industrie. Liebenau, als Grazer Rand- bezirk, hat besonders mit dem Durchzugs-Schwerverkehr zu kämpfen. Auch der Flächen- widmungsplan war von Anfang an immer wieder Thema in der Gesundheitsplattform. Befürchtet wurde eine massive „Umwidmungswelle“ von landwirtschaftlichen Grün- flächen zu Industriegebiet. Liebenauer BürgerInnen bemängelten dabei das kaum vorhandene Engagement eines Groß- teils der BezirksbewohnerInnen. Viele von ihnen hätten das Gefühl, als BürgerInnen keinen Einfluss auf die Entscheidungen der Politik zu haben. Für das SMZ und die Gesundheitsplattform bot sich hier ein wichtiges Aufgabenfeld, nämlich konsequent einen Empowerment-Ansatz zu verfolgen, der den Menschen die Möglichkeit gäbe, dieses Gefühl der Machtlosigkeit zu überwinden. Außerdem wurde beschlossen, aktuelle Daten über die Gesundheit der BürgerInnen in Liebenau zu erheben. Die Liebenauer Gesundheitsstudie sollte der Gesundheitsplattform als Grundlage dienen, weitere gezielte Aktionen und Projekte zu planen. Die wichtigsten Ergebnisse des Berichtes unter der wissenschaftlichen Begleitung von Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Freidl und der Projektleitung der SMZ-Ärzte unterstützten in- ternationale Forschungsresultate, wonach es einen deutlichen Zusammenhang zwischen Krankheit und Schichtzugehörigkeit und auch schichtspezifische Unterschiede in der Selbsteinschätzung des Gesundheitszustands gibt. Die wichtigsten Ergebnisse in Kürze: Menschen mit niedriger Schulbildung fühlen sich kränker, klagen häufiger über Beschwerden und suchen öfter einen Arzt auf. Liebenauer Frauen haben weniger Selbstvertrauen und leiden weit häufiger an stressbedingten Schmerzen wie Kopfweh oder Rückenproblemen. Aber Frauen le- ben weit gesünder als Männer, sie achten mehr auf ihre Essgewohnheiten, machen mehr Sport und sind weniger übergewichtig. Dennoch sind die Liebenauer Frauen öfter krank, öfter im Krankenstand und Krankenhaus als Männer. Die häufigsten Schmerzen sind Rücken- und Kreuzschmerzen, gefolgt von Nacken- und Schulterschmerzen, aber auch Müdigkeit tagsüber. Der Liebenauer Verkehr wird von den 40 BewohnerInnen als sehr belastend empfunden.
in % Beinahe tägliche Rückenschmerzen Ab Maturaniveau Fachschule Lehre PflichtschulabsolventInnen 21,3 13,6 9,4 2,4 in % Verteilung der Bildungskategorien unter jenen, die beinahe täglich über Rückenschmerzen klagen Ab Maturaniveau Fachschule Lehre PflichtschulabsolventInnen 54,3 35,7 7,1 2,9 in % Beinahe tägliche Kopfschmerzen Ab Maturaniveau Fachschule Lehre PflichtschulabsolventInnen 17 9,3 3,8 7 in % Sehr guter Gesundheitszustand Ab Maturaniveau Fachschule Lehre PflichtschulabsolventInnen 41 7,3 20,8 17 34,9
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Empowerment-Prozess durch die Gesundheitsplattform – Entwicklung der Liebenauer Bürgerinitiativen: I m Juni 1999 fand der „Liebenauer Naturspaziergang“ mit dem Ziel einer Bestands- aufnahme der Grünflächen im Bezirk statt. Das Interesse der Bevölkerung war sehr groß und die fotografischen Eindrücke dieses Spazierganges wurden öffentlich bei einem Info-Abend präsentiert. Im Juli 1999 Verkehrszählung durch die BürgerInnen von Liebenau in der Liebe- nauer Hauptstraße: 17.000 Autos täglich machen das Radfahren und zu Fußgehen in dieser Straße beinahe unmöglich. Wegen bekannt hoher Feinstaubwerte verlangten die TeilnehmerInnen der Platt- form mehr Messstationen und eine Reduktion des Verkehrs in den Wohnstraßen. Man fordert den Ausbau von Freizeitangeboten und Grünflächen. Einen großen inhaltlichen Schwerpunkt der Plattformtreffen bildete ab dem Jahr 2000 das Stadtentwicklungskonzept (STEK). Die Hauptkritikpunkte der Plattform-TeilnehmerInnen kreisten um die geplante Umwid- mung von Grünflächen in Industriezonen. Da die BürgerInnenbeteiligung bei der Erstel- lung des STEK sträflich vernachlässigt worden war, wurden die Plattform-TeilnehmerInnen selbst initiativ und verfassten eine Resolution, unterstützt von den Bezirksvorstehern. Darin wurde von der Stadt Graz offiziell gefordert, den öffentlichen Verkehr als Gegen- leistung dafür auszubauen, dass die geplanten Betriebsansiedelungen in Liebenau zusätz- liche Kommunalsteuern für die Stadt einbringen. 44 Nachdem das STEK im Jahr 2001 beschlossen wurde, jedoch die Forderungen der Bürger- Innen nach einer Erweiterung der Grünflächen und einer Verringerung der Industriezonen nicht berücksichtigt worden waren, begannen sich BürgerInneninitiativen zu formieren.
Adelheid Mayr, Sprecherin der Liebenauer Union der BürgerInneninitiativen, LUBI: „Als ich vor 10 Jahren nach Liebenau zog, wollte ich für meine Kinder eine gute, gesunde Um- gebung. 2001, mit dem Entwurf des Flächenwidmungsplans, kam der Schock: Landwirt- schaftlich ausgewiesene Flächen sollten umgewidmet werden, Bauern und Bäuerinnen wussten nicht Bescheid! Wir begannen, Unterschriften gegen diesen Plan zu sammeln.“ Dass mehr als 1.000 Menschen in Liebenau unterzeichneten, war ein großer Erfolg und bewirkte die Rücknahme eines Großteils der als Industriezone ausgewiesenen Flächen. LUBI vereinte mittlerweile 11 Einzelinitiativen, deren SprecherInnen in der Gesundheits- plattform vertreten waren, wie z.B. ▪ die BürgerInneninitiative Neufeldweg, ▪ BI Engelsdorf/Neudorf, ▪ die Initiative Anschluss Styriastraße, ▪ Initiative Esserweg, ▪ der Verein „Nachbar Anrainer Schutz Allianz – NASA“ ▪ BI „Verkehr Eichbachgasse“, etc. Sie alle forderten die Trennung von Wohngebieten, Industrie und Gewerbe, ausreichende Pufferzonen dazwischen, regelmäßige Lärmpegel-Messungen, Lärmschutzwände, Stopp des Wirtschaftsverkehrs in den Wohnsiedlungen, Maßnahmen gegen die starke Geruchs- belästigung der Lackiererei der Fa. Magna, Tempo 30 in Wohngebieten, Tempo 60 oder 80 auf dem Autobahnzubringer Graz-Ost bei Tag und bei Nacht, Maßnahmen gegen die hohe Feinstaubbelastung in Liebenau. Gründungsziel der LUBI war es, die Anliegen und Forderungen aller LiebenauerInnen zu vertreten, das SMZ sah seine Aufgabe darin, Zusammenkünfte der Initiativen zu bündeln und Informationen an die Bevölkerung, Presse und politischen Vertreter weiterzugeben. Um ihren Interessen verstärkt Gehör zu verschaffen, griff die Union der BürgerInneninitia- 45 tiven auch zu drastischen Mitteln wie einer Straßenblockade.
Leitbild für einen „gesunden Bezirk“ A nlässlich des fünfjährigen Bestehens der Gesundheitsplattform wurde eine Art Zwi- schenevaluierung durchgeführt. Wichtig war allen Beteiligten, dass diese „Gesund- heitscharta“ konkrete Forderungen an die PolitikerInnen und Ziele enthalten sollte. Die Kategorien im Leitbild: ▪ Verkehr ▪ Industrie und Gewerbe ▪ Wohnen ▪ Natur ▪ Infrastruktur und Angebote im Bezirk ▪ Soziales ▪ Kinder und Jugendliche ▪ BürgerInnenbeteiligung Im Juli 2006 konnte das Leitbild der Öffentlichkeit präsentiert werden: Der Obmann des SMZ, Dr. Rainer Possert, verwies anlässlich der Präsentationsveran- staltung darauf, dass „das Leitbild ‚Gesundes Liebenau‘ als Ergebnis einer langen und intensiven Arbeit engagierter Bürgerinnen und Bürger des Bezirkes Liebenau betrachtet werden kann“. Dr. Gustav Mittelbach betonte, dass das Leitbild kein geistiges Produkt des SMZ Liebenau sei: „Wir verstehen uns in der Rolle der Mediatoren, die zwischen BürgerInnen und PolitikerInnen vermitteln. Wir haben die Ziele und Forderungen der BürgerInnen gesammelt und zusammengefasst“. Das Leitbild wurde an die anwesenden Stadt- und Bezirksräte übergeben und von der zu- ständigen Gesundheitsstadträtin als Maßnahme gewürdigt, die „unbedingt in die Grazer Stadtplanung einfließen sollte“. Doch die Mühlen der Politik mahlen langsam. Einige Forderungen wurden in den letzten Jahren umgesetzt, wie etwa: ▪ die Schaffung und der Ausbau von sicheren Radwegen im Bezirk, ▪ eine bessere Anbindung an den öffentlichen Verkehr durch Straßenbahn und S-Bahn, ▪ die Errichtung einer Park & Ride Anlage, ▪ die Nutzbarmachung der Murauen für Gehwege und Freizeitgestaltung, ▪ die Errichtung eines Rad- und Fußweges entlang des Petersbaches, ▪ die Renaturierung dieses Baches, ▪ die Gestaltung eines Sport-, Spiel- und Skaterparks für Kinder und Jugendliche und die Ausweitung des Jugendzentrums im Bezirk auf neue, wintertaugliche Räumlichkeiten. ▪ Die Murauen südlich der Autobahn sind mittlerweile ein Freizeitpark. 46 ▪ Der Grünanger bekam eine SMZ-Beratungs-Aussenstelle und einen „Gemeinschaftsgarten“.
Eine der wichtigsten Auswirkungen der Interventionen durch die Gesundheitsplattform Liebenau ist sicherlich die Stärkung der BürgerInnenbeteiligung im Bezirk. Veranstaltungen zu medizinischen Themen dienen der Patienteninformation, die Themen selbst werden dabei auch von den TeilnehmerInnen der Plattform eingefordert und können in der Zeitschrift „SMZ-Info“ nachgelesen werden. Die Zeitschrift wird kostenlos an ca. 1.300 Interessierte versandt. Viele, viele kleine und große Schritte wurden gesetzt, viele Forderungen der „befähigten BürgerInnen“ müssen aber noch umgesetzt werden. Es ist zu wünschen, dass sich der Elan und Kampfgeist der Liebenauer Bevölkerung in den nächsten Jahren fortsetzt, wenn es darum geht, die eigene Gesundheit und Lebensqualität zu verbessern! Wir verstehen uns in der Rolle der Mediatoren, die zwischen BürgerInnen und PolitikerInnen vermitteln. Wir haben die Ziele und Forderungen der BürgerInnen gesammelt und zusammengefasst. 47
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