Welt DEZEMBER - MÄRZ 2021 C 51 78 - Nordkirche weltweit

 
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welt      DEZEMBER – MÄRZ 2021     C 51 78
                                      Schwerpunkt

Geschichten
Was fasziniert uns so daran?                     weltbewegt   41
Welt DEZEMBER - MÄRZ 2021 C 51 78 - Nordkirche weltweit
Schwerpunkt

Geschichten                                                                                                                                                                             Aus dem Inhalt                                                                                                                     Editorial
                                                                                                                                                                                             Menschen brauchen                                    Ein Gott mit vielen
                                                                                                                                                                                             Geschichten                                          Geschichten
                                                                                                                                                                                        5                                                                                                  21
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           Liebe Leser*in,
                                                                                                                                                                                             Sie erörtern Grundfragen des                         Maiyupe Par schildert, was                                               wie gut das Thema „Geschichte“
                                                                                                                                                                                             Lebens und ermöglichen, uns                          geschieht, wenn sich neu-                                                zu einer Jubiläumsausgabe passt,
                                                                                                                                                                                             und andere besser zu verste-                         guineische und biblische Tra-                                            wurde uns erst im Nachhinein
                                                                                                                                                                                             hen, so Katharina Gralla.                            ditionen vermischen.                                                     klar. Sind es doch vor allem Ge-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           schichten, die eine immerhin 150–
                                                                                                                                                                                             Der Kraft von Erzäh-                                 „Wie war es denn so?“                                                    jährige Tradition prägen. In die-
                                                                                                                                                                                             lungen vertrauen                                                                                                              sem Heft soll es ganz generell um
                                                                                                                                                                                                                                                  Diese Frage wird Martin
                                                                                                                                                                                        8                                                                                                  24
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           die Bedeutung von Geschichten
                                                                                                                                                                                             Für Nora Steen haben bibli-                          Haasler nach Reisen oft ge-                                              gehen. Was fasziniert uns eigentlich so an Ihnen? Was bedeu-
                                                                                                                                                                                             sche Geschichten als Säulen                          stellt. Er weiß: Am besten                                               ten sie uns?
                                                                                                                                                                                             des Glaubens in der Ökume-                           sind Antworten, die zum Per-                                                 Was geschehen kann, wenn der Bezug auf gemeinsame
                                                                                                                                                                                             ne eine verbindende Kraft.                           spektivwechsel einladen.                                                 Geschichte(n) wegfällt, weil sich immer mehr Menschen auf
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           vereinzelte Informations-Blasen zurückziehen, zeigt sich
                                                                                                                                                                                             Die Hoffnung braucht                                 Für mich ist es mein                                                     nicht zuletzt in Krisen wie der Corona-Pandemie. Es bricht
                                                                                                                                                                                             Bilder                                               Leben                                                                    Verbindendes weg, wenn nur noch Erzählungen zugelassen

                                                                                                                                                                                        11 Vielen                                                                                         26
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           werden, die der eigenen Sicht der Dinge entsprechen. Wenn
                                                                                                                                                                                                  Frauen in Buenos Aires                          Geschichten können alte Wun-                                             Menschen nicht mehr bereit sind, sich irritieren zu lassen,
                                                                                                                                                                                           macht die Weihnachtsge-                                den bei Geflüchteten auch wie-                                           durch Geschichten, die einem fremd sind – und vielleicht
                                                                                                                                                                                             schichte Mut für das Leben zu                        der aufreißen, erfährt Dietrich                                          auch fremd bleiben.
Selber Geschichten erfinden
                                                                                                                                                                                             kämpfen, weiß Claudia Lohff.                         Gerstner von Brot & Rosen.                                                   Dazu gehören auch Erzählungen aus anderen Kulturen
                                                                                    Fotos: C. Plautz (1), U. Plautz (1), wikimedia (1), C. Wenn (3), M. Haalser (1), www.adpic.de (8)

Geschichten aus dem Stehgreif erzählen ist auch in                                                                                                                                                                                                                                                                         und Religionen. Erfordern sie doch die Bereitschaft, eigene
Form von Spielen möglich. Einige erinnern aus der                                                                                                                                            Geschichte wird leben-                               Unterschied zwischen                                                     Perspektiven zu hinterfragen. Was wiederum die Voraus-
Kindheit vielleicht das Spiel „Geschichtenball“: Man                                                                                                                                         dig durch Erzählen                                   Gesetz und Botschaft                                                     setzung für eine echte Begegnung ist.
wirft einen Ball fortlaufend an eine Hauswand und
fängt dabei an, eine Geschichte zu erzählen. Der Ball                                                                                                                                   12   Als Therapeut arbeitet
                                                                                                                                                                                             Raphael Pifko mit Geschich-
                                                                                                                                                                                                                                                  Welche Bedeutung haben Er-
                                                                                                                                                                                                                                                  zählungen im Koran heute für
                                                                                                                                                                                                                                                                                          28                                   Aber gerade die Auseinandersetzung mit dem bisher nicht
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           Gekannten, das Eintauchen in fremde Welten, machen ja die
darf nicht herunterfallen. Wenn das geschieht, ist das                                                                                                                                                                                                                                                                     Faszination von Geschichten aus. Besonders das „Unver-
                                                                                                                                                                                             ten und erzählt im Interview,                        den Islam? Ein Interview mit
nächste Kind dran und setzt die Geschichte fort.                                                                                                                                                                                                                                                                           ständliche und Abgründige“ ist es, was Menschen dazu
                                                                                                                                                                                             was er an ihnen so schätzt.                          Mojtaba Beidaghy.
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           bringt, sich zu hinterfragen. So sind Geschichten auch immer
Eine neuere Variante sind die neun sogenannten Ge-                                                                                                                                                                                                                                                                         „ein Spiegel der schwer zugänglichen Täler der Seele“, meint
schichtenwürfel (story cubes), die man im Kreis von                                                                                                                                          Medium für Erinne-                                   Wahrheit in Zeiten von                                                   die Theologin Katharina Gralla. Diese aufrüttelnde Kraft
Mitspieler*innen wirft und eine Geschichte mit den                                                                                                                                           rung, Moral, Religion                                Fake News                                                                haben vor allem auch die alten, religiösen Geschichten, mit

                                                                                                                                                                                        14
gewürfelten Bildern beginnt. Dabei spielt es keine Rolle,                                                                                                                                                                                                                                                                  ihrer manchmal sperrigen Fremdheit.
ob man mit dem ersten Würfel anfängt oder für den
Start das Bild wählt, mit dem man am meisten anfangen
                                                                                                                                                                                             Geschichten werden in Indi-
                                                                                                                                                                                             en geliebt, ob als Theater,
                                                                                                                                                                                                                                                  Was geschieht in Gesellschaf-
                                                                                                                                                                                                                                                  ten, wenn es keine gemein-              30                                   Doch auch so vertraute oft wiederholte Erzählungen wie
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           die Weihnachtsgeschichte haben ihre Kraft behalten. So schil-
kann. Es gibt keine festen Regeln                                                                                                                                                            Tanz, Musik oder Bollywood-                          same(n) Geschichte(n) gibt?                                              dern Mütter aus einem Armenviertel in Buenos Aires, dass
und alles kann variiert wer-                                                                                                                                                                 film, so Sophia Schäfer.                             fragt Jörg Ostermann-Ohno.                                               ihnen Maria gerade in diesen Zeiten ein Vorbild ist, wenn es
den. Dieses Spiel kann                                                                                                                                                                                                                                                                                                     darum geht, nicht aufzugeben. Ein Symbol dafür, dass es sich
auch mit einer App über                                                                                                                                                                      Beste Vorbereitung auf                               Hinterm Horizont                                                         lohnt zu hoffen – allen Widrigkeiten zum Trotz.
w w w.stor ycubes.com                                                                                                                                                                        das Leben                                            geht’s weiter                                                                In dem Sinne wünsche ich besonders in diesem Jahr hoff-

                                                                                                                                                                                        20                                                                                                33
auf dem Handy gespielt                                                                                                                                                                                                                                                                                                     nungsfrohe Weihnachstage.
werden.                                                                                                                                                                                      In Kenia geht es in Erzählun-                        Glückwunsch! Die Zeitschrift
                                                                                                                                                                                             gen darum, Lernstoff zu ver-                         weltbewegt blickt auf eine                                                   Ihre                               PS: Ihre Meinung interessiert
                                                                                                                                                                                             mitteln, erklärt die Lehrerin                        150-jährige Tradition zurück                                                                                    uns. Schreiben Sie uns gern!
           Christiane Wenn
                                                                                                                                                                                             Emmaculate Penschow.                                 und viele haben gratuliert.

    weltbewegt-Post-Anschrift: Zentrum für Mission und Ökumene – Nordkirche weltweit, Postfach                                                                                                                               52 03 54, 22593 Hamburg, Telefon 040 88181-0, Fax -210, E-Mail: info@nordkirche-weltweit.de
    IMPRESSUM: weltbewegt (breklumer sonntagsblatt fürs Haus) erscheint viermal jährlich. HERAUSGEBER UND ­V ERLEGER: ­Zentrum für Mission und Ökume-                                                                        DRUCK, VERTRIEB UND VERARBEITUNG: Druckzentrum Neumünster, JAHRESBEITRAG: 15,– Euro, SPENDENKONTO: IBAN DE77 5206 0410 0000 1113 33
    ne – Nordkirche weltweit, Breklum und ­Hamburg. Das Zentrum für Mission und Ökumene ist ein Werk der ­Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland.                                                                EVANGELISCHE BANK, BIC GENODEF1EK1. Mit Namen gekennzeichnete Artikel geben die Meinung des Autors/der Autorin und nicht unbedingt die Ansicht des
    DIREKTOR: Pastor Dr. Christian Wollmann (V.i.S.d.P.), REDAKTION: Ulrike Plautz, GESTALTUNG: Christiane Wenn, KONZEPT: Andreas Salomon-Prym, SCHLUSS­                                                                     ­herausgebenden Werkes wieder. Die Redaktion behält sich vor, Manuskripte redaktionell zu b­ earbeiten und gegebenenfalls zu kürzen. Gendergerechte Sprache
    KORREKTUR: Constanze Bandowski, ADRESSE: Agathe-Lasch-Weg 16, 22605 H          ­ amburg, Telefon 040 88181-0, Fax: 040 88181-210, w
                                                                                                                                      ­ ww.nordkirche-weltweit.de.                                                           wenden wir in dieser Publikation an, indem wir das sogenannte Gendersternchen (*) in einem Wort benutzen. Gedruckt auf TCF – total chlorfrei gebleichtem Papier.

2       weltbewegt                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        weltbewegt            3
Welt DEZEMBER - MÄRZ 2021 C 51 78 - Nordkirche weltweit
Schwerpunkt

                                                                                                 Wir brauchen Geschichten, um Mensch
                                                                                                 zu werden
                                                                                                 Menschen lieben Geschichten. Durch sie können wir in einen Raum der Möglichkeiten
                                                                                                 eintreten, der unsere Alltaggrenzen übersteigt. Geschichten ermöglichen, uns und andere
                                                                                                 besser zu verstehen. Sie erörtern Grundfragen des Lebens, erweitern den Horizont und
                                                                                                 können Menschen miteinander verbinden, selbst über eigene Kulturgrenzen hinaus.
                                                                                                                                                                                                       Katharina Gralla

                                                                                                 N     un sitzen die Kinder. Die Gitarre spielt das Lied:
                                                                                                       „Ich weiß, was jetzt kommt, eine neue Geschichte.
                                                                                                 Seid leise, seid still, weil ich jetzt unbedingt zuhören will.
                                                                                                                                                                      Geschichten erlauben, das Hier und Jetzt hinter sich
                                                                                                                                                                  zu lassen, mein beschränktes Alltags-Ich zu verlassen. Sie
                                                                                                                                                                  schaffen einen Raum der Möglichkeiten, der die realen
                                                                                                 Pst, pssst.“ Erwartungsvolle Stille. Es geht weiter im           Lebensmöglichkeiten übersteigt. In ihm kann ich die un-
                                                                                                 Drama der Zwillingsbrüder Jacob und Esau. Heute:                 gelebten Seiten meines Ichs erforschen. Sie laden in eine
                                                                                                 Jakob flieht vor der Rache seines betrogenen Bruders.            „Als-ob-Welt“ ein. Ich kann mit dem Volk Israel durch
                                                                                                 Große Augen und offene Ohren für die Hektik des Auf-             die Wüste wandern, als Mose oder im Fußvolk. Ich kann
                                                                                                 bruchs, die Einsamkeit in der Nacht, die Wut des Betro-          mit den verzweifelten Jüngern in Jerusalem auf den Pfingst-
                                                                                                 genen. Zehn Minuten gebannte Aufmerksamkeit für                  geist warten. Ich kann mit James Bond die Oberschurken
                                                                                                 eine jahrtausend Jahre alte Geschichte, die – lebendig           jagen, mit der Titanic untergehen, zum Widerstands-
                                                                                                 erzählt – offenbar auch im Handy- und Computerzeital-            kämpfer, zum Städtebauer oder zum Star werden.
                                                                                                 ter noch konkurrieren kann.                                          Während ich in diesen Welten wandle, erkenne ich in
                                                                                                     Was ist – nicht nur für Kinder – so faszinierend an          den handelnden Personen meine eigenen Erfahrungen
                                                                                                 Geschichten? Die es ja in unendlicher Zahl und Form              und Konflikte, aber eben auch etwas Neues. Ich entdecke,
                                                                                                 gibt. Wobei die Geschichten aus der Bibel mit einigen            wie andere Menschen denken, handeln und fühlen, wie
                                                                                                 Mythen und Märchen zum kulturellen Urgestein eu-                 sie scheitern oder sich behaupten, wie sie lieben und
                                                                                                 ropäischer Erzählkultur gehören. Warum hören nicht               wüten. Ich verstehe sie oder verstehe sie nicht, bewundere
                                                                                                 nur junge Menschen diese Geschichten nach wie vor                sie oder ärgere mich, überlege, wie ich es machen würde.
                                                                                                 gern? Warum gehört die Weihnachtsgeschichte für viele            Hätte ich als Wirt*in mit vollem Haus das schwangere
                                                                                                 zum unverzichtbaren Bestandteil des Festes? Warum                Paar aus Nazareth aufgenommen? Möchte ich Geschich-

                 Abb: C. Wenn (1), Rose Ausländer, Gedichte, Verlag: Fischer Taschenbuch, 2015
                                                                                                 möchten Kinder Bücher vorgelesen bekommen? Warum                 ten wie Momo erzählen können? Was wären meine drei
                                                                                                 versinken Jugendliche in Computerspielen mit kom-                freien Wünsche? Wieviel Mut habe ich im Verhältnis zu
                                                                                                 plexen Handlungen, schauen Videoclips oder lesen Fan-            meinem Avatar? Viele dieser Gedanken werden beim
                                                                                                 tasy-Romane? Warum hören Erwachsene Hörbücher,                   Lesen, Hören oder Sehen gar nicht bewusst. Trotzdem
                                                                                                 lesen Romane und gucken Spielfilme?                              wohnt in ihnen eine verändernde Kraft inne. Wenn ich
                                                                                                     Warum meinen auch Marketingfachleute, dass sie               mitverfolge, wie Mose sich das öffentliche Reden nicht
                                                                                                 Produkte und Botschaften am besten in ein „Narrativ“,            zutraut, wie er zögert und zaudert, den Auftrag Gottes,
                                                                                                 also in eine Geschichte, verpacken sollten, egal, ob sie         sein Volk zu retten, anzunehmen und es am Ende dann
                                                                                                 Schokolade oder Bier verkaufen, einen Urlaubsort an-             doch tut, dann ermutigt mich das möglicherweise, auch
                                                                                                 preisen oder für das Tragen von Masken werben wollen?            meine Ängstlichkeiten zu überwinden.

                                                                                                 Geschichten helfen, Fragen nach Sinn, Abgrund                    Sie helfen innerlich zu wachsen und ein Ver-
                                                                                                 und Schönheit des Lebens zu beantworten                          ständnis von sich und anderen zu entwickeln
                                                                                                 Menschen lieben Geschichten. Sie brauchen Geschichten.           Geschichten erweitern den Horizont. Sie helfen, inner-
                                                                                                 Weil Geschichten das Leben deuten, bereichern, ver-              lich zu wachsen, ein Verständnis von sich selbst und von
                                                                                                 wurzeln, vertiefen, hinterfragen, verändern, trösten             anderen Menschen zu entwickeln und zu verfeinern. Es
                                                                                                 und heilen können. Weil sie helfen, Fragen nach Sinn             gibt ja Menschen, die behaupten, man würde beim Lesen
                                                                                                 und Ausrichtung, Abgrund und Schönheit des Lebens                der Romane von Fjodor Dostojewski oder Honoré de
                                                                                                 zu beantworten, was Informationen und Fakten nicht               Balzac mehr über die menschliche Seele lernen als in           Fortsetzung
                                                                                                 können.                                                          vielen Psychologieseminaren.                                   Seite 6

4   weltbewegt                                                                                                                                                                                                                  weltbewegt     5
Welt DEZEMBER - MÄRZ 2021 C 51 78 - Nordkirche weltweit
Schwerpunkt
                                                                                                                                                                                                                                       Schwerpunkt

                                                                                                                                                                                                                                                     „Alte Geschichten
                                                                               Die großen Menschheitsgeschichten, die in den heili-                                                                                                                   sind immer auch
                                                                            gen Schriften der Völker und Religionen gesammelt ste-                                                                                                                      ein Spiegel der
                                                                            hen, verbinden Menschen eines Kulturkreises miteinan-                                                                                                                      dunklen, schwer
                                                                            der, weil sie ein gemeinsames Erbe darstellen, ein ge-                                                                                                                        zugänglichen
                                                                            meinsames Gedächtnis. Sie sind Geschichte gewordene                                                                                                                               Täler der
                                                                            Erzählung der eigenen Identität. Trotz aller individuel-                                                                                                                            Seele.“
                                                                            len Unterschiede schaffen geteilte Geschichten die Basis
                                                                            für Austausch und gegenseitiges Verständnis.
                                                                               Manchmal gelingt das sogar über Kultur- und Reli-
                                                                            gionsgrenzen hinweg, wenn sie etwa, wie Judentum,
                                                                            Christentum und Islam, gemeinsame Traditionen rund
                                                                            um Abraham und Mose teilen oder wenn über Konti-
                                                                            nente hinweg Christinnen und Christen die gleichen
                                                                            Bibelgeschichten kennen – auch wenn sie sie möglicher-
                                                                            weise sehr unterschiedlich deuten.
                                                                               Es ist auch diese Chance auf Austausch und Verbin-
                                                                            dung, die es so wichtig macht, nicht müde zu werden,
                                                                            den Schatz an Geschichten an die nächste Generation
                                                                            weiterzugeben.

                                                                            Oft irritieren alte Geschichten. Sie hinterfragen das
                                                                            Denken und provozieren jede Generation neu
                    Nicht alle Geschichten ermöglichen das, manche
                 sind einfach zu seicht und zu stereotyp. Sie berühren      Die Stärke dieser Geschichten liegt auch darin, dass sie
                 keine inneren Tiefen. Sie lassen keine Entwicklungen zu,   die Grundfragen nicht abstrakt erörtern. Zum ewigen                                            ten, die Gewalt, das Unverständliche und Abgründige,
                 sondern wiederholen die immer gleichen Handlungs-          Thema Geschwisterrivalität wird von zehn Brüdern be-                                           was Menschen dazu bringen kann, sich zu hinterfragen.
                 muster, in welchem Genre auch immer. Dann können           richtet, die Josef in den Brunnen werfen und verkaufen                                         Die alten Geschichten sind eben immer auch ein Spiegel
                 auch Geschichten einfach nur flacher Zeitvertreib sein,    oder vom Erbbetrug mit einem Linsengericht. Die                                                der dunklen, schwer zugänglichen Täler der Seele. Nach
                 der Geist und Seele ohne Erkenntniswert verstopft.         Geschichten listen nicht die Eigenschaften Gottes auf,                                         der einigermaßen heilen Welt im Stall von Bethlehem
                 Flache Geschichten stabilisieren und bestätigen das        sprechen nicht vom „Sohn Gottes“ oder der Zwei-Natu-                                           muss die junge Familie vor König Herodes nach Ägyp-
                 beschränkte Ich, fordern nicht und nichts. Das wirkt       renlehre, sondern erzählen, wie im Stall von Bethlehem                                         ten fliehen. Jesus überlebt. Was heißt das für unser Ver-
                 entspannend, weswegen ja auch Vorabendserien wie           Gott ein einfacher Mensch wurde. Sie philosophieren                                            ständnis von Flüchtlingsbewegungen im Jahr 2020?
                 etwa „Sturm der Liebe“, „Rote Rosen“, oder „In aller       nicht über die verschiedenen Arten der Gerechtigkeit,                                             Menschen brauchen Geschichten. Geschichten mit
                 Freundschaft“ recht beliebt sind.                          differenzieren nicht zwischen Leistungs- und Bedarfs-                                          und aus dem rechten Geist. Zur Menschwerdung. Alle
                                                                            gerechtigkeit, sondern erzählen, dass der letzte Arbeiter                                      Jahre wieder. Und das ganze Jahr hindurch.
                 Große Menschheitsgeschichten verbinden                     im Weinberg das gleiche Geld bekommt wie der erste.
                 Menschen, weil sie gemeinsames Erbe sind                   Die starken Bilder bleiben im (kollektiven) Gedächtnis                                                                                                                     Katharina Gralla
                                                                            hängen, sie sind nie eindeutig und lassen immer Spiel-                                                                                                                     ist theologische
                   Es kennzeichnet wohl die großen Geschichten der          räume für Interpretation und dem Eintrag zeitgenössi-                                                                                                                      Referentin im
                    Menschheit, die über viele Generationen überliefert     scher Erfahrungen. Und das ist gut so: Sie fördern das                                                                                                                     Gottesdienstinstitut
                     wurden, die so viel große Literatur, Kunst, Filme      Nachdenken, den Diskurs, die Auseinandersetzung.                                                                                                                           der Nordkirche und
                                 und Spiele inspiriert haben, dass sie          Oft irritieren diese alten Geschichten. Sie hinterfra-                                                                                                                 im Sommer Strand-
                                   eine große innere Kraft und Tiefe        gen das eigene Denken. Sie provozieren. Jede Generation                                                                                                                    pastorin in der
                                   besitzen. Sie erzählen vom Mensch-       neu. Wie kommt Abraham auf die wahnwitzige Idee,                                                                                                                           Lübecker Bucht.
                                    sein in ferner Vergangenheit oder       seinen Sohn opfern zu sollen? Oder wird möglicherwei-                                                                                                                      Sie weiß, dass
                                       auch von einer fernen Zukunft,       se genau das von manchem Topmanager mit Achtzig                                                                                                                            Sommergäste
                                                                                                                                         Abb: Wenn (5), Foto: Gralla (1)

                                         die aber durch das Erzählen        Stunden-Woche auch verlangt? Wie kann es sein, dass                                                                                                                        jeden Alters gerne
                                         gegenwärtig wird, weil sich die    Gott alle ermorden lässt, die nicht zu seinem Fest kom-                                                                                                                    Geschichten hören,
                                         Gefühle, Grundfragen und           men wollen? Oder gibt es wirklich ein Zu-spät für dieje-                                                                                                                   alte und neue, vom
                                        -konflikte durch die Jahrtausen-    nigen, die konsequent an sich vorbei leben? Wie kann                                                                                                                       Meer, von Himmel
                                        de kaum verändert haben – im        ein Verräter, Petrus, zum Fels für die Kirche werden?                                                                                                                      und Erde und allem,
                                       Gegensatz zu den konkreten           Oder wie viel Angst muss man gehabt haben, um wirk-                                                                                                                        was dazwischen
                                   Lebenswelten.                            lich mutig zu werden? Es sind diese Unbequemlichkei-                                                                                                                       liegt.

6   weltbewegt                                                                                                                                                                                                                                       weltbewegt      7
Welt DEZEMBER - MÄRZ 2021 C 51 78 - Nordkirche weltweit
Schwerpunkt

                 Wir können der Kraft von Geschichten
                 vertrauen
                 Biblische Erzählungen haben eine starke Wirkung, noch immer. Deshalb ist es so wichtig
                 sie auch heute noch in der Kirche zu erzählen. Sie gehören nicht nur zu den wichtigen
                 Säulen unseres Glaubens, sie haben auch in der weltweiten Ökumene eine verbindende
                 Kraft. Und sie haben das Potenzial, große Veränderungen zu bewirken.

                                                                                                                         Nora Steen

                                               m Anfang war das Wort.           deshalb verlangen Kinder so häufig, dass dieselben
                                               Und das Wort war bei             Geschichten immer und immer wieder erzählt werden.
                                               Gott. Und Gott war das           Die Worte prägen sich ein und prägen uns – ein Leben
                                               Wort“ (Johannes 1, 1). Der       lang.
                                               Prolog des Johannesevan-            Wir leben vom Wort. Die Lyrikerin Rose Ausländer
                                               geliums ist eindrücklich.        hat den Wahrheitsgehalt der jahrtausendealten Sätze aus
                                               Diese jahrtausendealten          dem Prolog des Johannesevangeliums weitergeführt
                                               Worte kleiden die Wahr-          und sie greifbar gemacht. Sie schreibt:
                                               heit in Sätze, dass wir nicht

                                                                                                                                           Abb: wikimedida (1), shutterstock (1), Gedicht aus: Rose Ausländer, Gedichte, Verlag: Fischer Taschenbuch, 2015
                                               im luftleeren Raum ent-          Am Anfang war das Wort
                                               standen sind, sondern von        und das Wort                                                                                                                                                                 mehr zwischen Gottes und meiner Geschichte. Dann ist         Ebenbildlichkeit Gottes ganz wunderbar in dem Bild          „Um die
                                               Beginn an hineingestellt         war bei Gott.                                                                                                                                                                mein Leben mehr als ein zufälliges Hineingeworfensein        aus dem 2. Schöpfungsbericht plastisch vorstellbar: Gott    Geschichte
                                               sind in eine Geschichte,                                                                                                                                                                                      in eine Kultur, in eine Familie, in eine Welt, deren Sinn    schuf den Menschen aus Staub von der Erde, blies ihm        Gottes mit uns
                                               die größer ist als wir selbst.   Und Gott gab uns                                                                                                                                                             sich nicht immer gänzlich erschließt. Dann ist mein          seinen Atem in die Nase – so dass er ein lebendiges         Menschen zu
                                               Die Worte sind damit             das Wort                                                                                                                                                                     Leben ein Teil von Gott. Dann ist Gott ein Teil von mir.     Wesen wurde.                                                verstehen,
                                               mehr als ein Plädoyer für        und wir wohnten                                                                                                                                                                                                                               Aber auch über die Erzählungen von der Erschaf-         brauchen wir
                 das Wahrnehmen von Gottes Wirklichkeit, die als gänz-          im Wort.                                                                                                                                                                     Geschichten sind ein Medium, um die Be-                      fung der Welt hinaus sind biblische Geschichten ein         Erzählungen.“
                 lich andere und neue Dimension unser Leben durch-                                                                                                                                                                                           ziehung zwischen Gott und Mensch zu klären                   wesentlicher Teil religiösen Lebens. Das gilt für das       Foto: Die
                 zieht. In den Wortwelten der biblischen Erinnerung ver-        Und das Wort                                                                                                                                                                                                                              Judentum genauso wie für das Christentum. Bei der           Erschaffung
                 haftet, insbesondere des 1. Schöpfungsberichtes und der        ist unser Traum                                                                                                                                                              Um dieses existenzielle Verflochtensein in eine größere      freitagabendlichen Schabbatfeier erzählen sich jüdische     Adams nach
                 Menschwerdung des göttlichen Wortes in Christus,               und der Traum                                                                                                                                                                Geschichte, die Geschichte Gottes mit uns Menschen, zu       Familien die Geschichte ihres Volkes und erinnern           einem Fresko
                 umreißen diese aus wenigen Wörtern bestehenden Sätze           ist unser Leben.                                                                                                                                                             verstehen, brauchen wir Erzählungen, die genau davon         besonders an die Schöpfung und den Auszug aus Ägyp-         Michelangelos
                 die Geschichte Gottes mit uns Menschen, in die wir mit                                                                                                                                                                                      berichten. Deshalb ist sie aus unserem Kulturschatz nicht    ten. Wir Christen hören jedes Jahr wieder die immer-        im Stil von
                 unserer Existenz hineingestellt sind.                                                   Rose Ausländer (1901-1988)                                                                                                                          wegzudenken, die Bibel. Sie ist das große Buch der vielen    gleiche Weihnachtsgeschichte und an Ostern die Erzäh-       Picasso
                     Deutlich macht der Prolog vor allem: Wir sind als                                                                                                                                                                                       Geschichten, die Gottes Geschichte mit uns Menschen in       lung vom leeren Grab. Nicht ohne Grund erinnern wir
                 Gottes Geschöpfe in einen weiten Beziehungsraum                   Ausländer beschreibt hervorragend, welche Kraft                                                                                                                           Sprache gefasst hat. Alles ist in ihnen enthalten – Liebe,   die religiösen Grundpfeiler unseres Glaubens in Form
                 gestellt. Beziehungen wiederum gründen sich auf Kom-           das Wort und daraus folgend, welche Wirkmächtigkeit                                                                                                                          Herzschmerz, Verrat, tiefste Trauer und in allem immer       von Geschichten. Denn Religion wäre nichts, wenn sie
                 munikation, verbale und nonverbale. Die Sprache aller-         Wortkompositionen, denn nichts anderes sind Sätze,                                                                                                                           wieder das Wort Gottes, das in die ausweglosesten Situa-     nur aus Wortformeln und behaupteten Wahrheiten
                 dings ist in all ihren Ausdrucksformen nicht aus unse-         haben, die die einzelnen Wörter zusammenfügen, kon-                                                                                                                          tionen hineinspricht und Menschen ermutigt, weiterzu-        bestünde. Eine Religion hat dann Bestand, wenn sie sich
                 rem Beziehungsgeflecht wegzudenken. Die ersten Worte           textuell verorten und so zu Geschichten werden.                                                                                                                              gehen oder neue Wege einzuschlagen.                          als Teil tatsächlichen Lebens erweist. Und Leben besteht
                 eines Kleinkindes ändern auf einen Schlag die Art der             Das Wort ist uns geschenkt. Es kommt von außen auf                                                                                                                           Nicht ohne Grund gibt es in allen Religionen Schöp-       nun einmal aus Geschichten. Denn Leben bedeutet
                 Beziehung zu Vater und Mutter. Das Kind eignet sich die        uns zu. Bekommen Kinder nicht genügend Ansprache,                                                                                                                            fungsmythen, die davon erzählen, wie die Welt und die        Beziehung, die ein Gestern und ein Morgen hat.
                 Sprachwelt der Eltern und seiner sozialen Umgebung an,         können sich ihr Wortschatz und damit ihr Ausdrucks-                                                                                                                          Menschen entstanden sind. Darin verwoben sind immer
                 wird durch sie geformt. Ebenso prägen die Geschichten,         vermögen nicht entwickeln. Die theologische Aussage                                                                                                                          die spezifische Stellung und der Auftrag, die wir Men-       Bevor wir in den Dialog treten, müssen wir
                 die wir von Kindheit an erzählt bekommen haben.                des Johannesevangeliums knüpft daran an und geht                                                                                                                             schen in dieser Welt haben. Geschichten sind in den          weltweit unsere Geschichten austauschen
                 Abends, vor dem Schlafengehen, im Kindergottesdienst           zugleich einen Schritt weiter. Wenn Gott das Wort ist,                                                                                                                       Religionen niemals Selbstzweck, sondern immer Medi-
                 oder als Erzählungen von früher – von Großeltern oder          das in Jesus Christus Fleisch geworden ist und unter uns                                                                                                                     um, um die Beziehung zwischen Gott und Mensch zu             Umso kostbarer ist es, dass uns ein solches Buch der        Fortsetzung
                 Eltern. Diese Geschichten werden ein Teil unserer Selbst,      wohnt, dann gibt es konsequenterweise keine Trennung                                                                                                                         klären. So ist im Christentum die Geschöpflichkeit und       vielen Geschichten Gottes mit uns Menschen geschenkt        Seite 10

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Welt DEZEMBER - MÄRZ 2021 C 51 78 - Nordkirche weltweit
Schwerpunkt

                        ist, das uns dazu animieren will, die Geschichte fortzu-
                        schreiben und uns selber mit hineinzustellen. Trotz eines
                                                                                    stellten wir fest, dass wir uns erst über unsere ganz unter-
                                                                                    schiedlichen Geschichten mit unserer Konfession aus-                                                              Die Hoffnung braucht Bilder – und eine Erzählung
                        langen exegetischen Studiums habe ich selber diese          tauschen müssen, bevor wir in einen echten Diskurs ein-
                        große Wertschätzung für die Bibel erst in gemeinsamen       treten können. Wir haben dann spontan zu einem Story-                                                             Vor allem die Weihnachtsgeschichte gehört für viele argentinische Frauen aus Quilmes zu den
                        Bibelarbeiten mit Theolog*innen aus dem globalen            telling-Abend eingeladen, der für diejenigen, die daran
                        Süden erlangen dürfen. Wir konnten in unserem ökume-        teilgenommen haben, zu dem eindrücklichsten Erlebnis
                                                                                                                                                                                                      wichtigsten Erzählungen. Denn sie erzählt davon, dass es sich lohnt zu hoffen, allen widrigen
                        nischen Studiengang in Genf, genauer: im Ökumeni-           der Konsultation geworden ist. Viele haben an diesem                                                              Umständen zum Trotz. Wie gegenwärtig die Kraft der Geschichte immer noch ist, erfährt
                        schen Institut Bossey, keine exegetische Übung an bibli-    Abend ihre sehr persönlichen Geschichten erzählt. Es                                                              Claudia Lohff beim gemeinsamen Bibellesen mit Müttern in der Kindertagesstätte.
                        schen Texten durchführen, ohne dass jemand der Anwe-        flossen Tränen und zugleich war viel Dankbarkeit im
                        senden eine eigene Geschichte zum entsprechenden Text       Raum. Es war eine Gemeinschaft entstanden, die uns tief
                        zu erzählen hatte. Ich erinnere mich etwa an das Gleich-
                        nis vom Verlorenen Schaf und einen aufgeregten ägypti-
                        schen Kommilitonen, der aufsprang und uns erzählte,
                                                                                    bewegt und zugleich ermutigt hat, an dem gemeinsamen
                                                                                    Wunsch festzuhalten, Gottes Wort in unserer Welt in
                                                                                    vielfältigster Weise zur Sprache zu bringen.
                                                                                                                                                                                                      F    ür viele Mütter aus Quilmes ist
                                                                                                                                                                                                           sie zentral: Die biblische Ge-
                                                                                                                                                                                                      schichte, die von einer Frau erzählt,
                                                                                                                                                                                                                                                Situation also, in der zweifelhaft ist,
                                                                                                                                                                                                                                                ob es gut ausgehen wird. Und dann
                                                                                                                                                                                                                                                kommt die ebenso klare wie mutige
                                                                                                                                                                                                                                                                                          sung, die eins zu eins auf ihr Leben
                                                                                                                                                                                                                                                                                          übertragbar ist. Für sie ist diese
                                                                                                                                                                                                                                                                                          Geschichte eine Symbolgeschich-
                        wie sein Vater tagelang im Nildelta unterwegs war, um                                                                                                                         die unter schwierigsten Bedingun-         Entscheidung: Ja, ich werde mich          te. Eine, die die Hoffnung nährt,
                        das eine verlorene Zicklein zu finden. Und schon war        Wir dürfen der Kraft von Geschichten zu-                                                                          gen ein Kind zur Welt bringen wird.       nicht unterkriegen lassen, auch nicht     dass neues Leben, ob konkret oder
                        das, was wissenschaftlich als „Sitz im Leben“ bezeichnet    trauen, die Welt transformieren zu können                                                                         Die nicht aufgibt, als sie durch äu-      von diesen widrigen Umständen.            im übertragenen Sinne, entstehen
                        wird, bei allen Studierenden ins Herz gerutscht. Wir sa-                                                                                                                      ßere Umstände gezwungen wurde,            Trotzdem soll neues Leben entstehen       kann, allen Umständen zum Trotz.
                        hen vor unserem inneren Auge den hartnäckig Suchen-         Das Wort ist uns geschenkt. Darin liegt zugleich eine                                                             ihre sichere Umgebung zu verlas-          können.                                   Eine, die Mut macht, dafür zu
                        den und nicht aufgeben Wollenden und das Gleichnis          Verantwortung: Das Wort will versprachlicht und erzählt                                                           sen, sondern hartnäckig, mit all ihr                                                kämpfen. Die die Botschaft hat,
                        wird seitdem für alle, die dabei gewesen sind, im ägyp-     werden. Wir müssen das Wort weitertragen. Wir dürfen                                                              zur Verfügung stehenden Energie,          Eine Geschichte, die Mut                  dass es sich lohnt, zu hoffen, auch
                        tischen Nildelta spielen.                                   nicht aufhören, Gottes und unsere Geschichten zu erzäh-                                                           nach einem Platz für ihre werdende        macht und von dem großen                  wenn es keine Beweise dafür gibt,
                            Daran habe ich gelernt, dass wir viel mehr Ermuti-      len und dürfen ihnen zuzutrauen, diese Welt zu transfor-                                                          Familie sucht und schließlich sogar       Trotzdem erzählt                          dass alles gut ausgeht. Diese Ge-
                        gung brauchen, das Geschichtenerzählen nicht nur als        mieren.                                                                                                           einen Ort findet, nicht optimal zwar,                                               schichte, in der sich so viele dieser
                        eine Fertigkeit zu sehen, die für die Arbeit mit Kindern        Dabei kann es ein guter Anfang sein, die biblischen                                                           aber gerade gut genug, damit das          So oder so ähnlich haben Frauen           Mütter wiederfinden, stärkt das
                        sinnvoll ist. Aus diesem Grund bin ich der Überzeugung,     Geschichten immer wieder ins Gespräch zu bringen.                                                                 Kind gesund auf die Welt kommen           aus Quilmes diese Geschichte für          Vertrauen in die Zukunft. Sie er-
                        dass es heute für unsere Kirche zentral ist, dass wir das   Denn was dann geschieht, ist wunderbar. Menschen                                                                  kann.                                     sich interpretiert, wenn sie zusam-       zählt von dem großen Trotzdem.
                        Geschichtenerzählen als konstitutives Element unseres       trauen sich, eigene Erlebnisse einzutragen und von sich                                                               Das ist eine Erzählung, in der sich   men sitzen und nach dem Vorbild           Trotz aller schweren Lebensum-
                        Glaubens begreifen und pflegen. Die Bibel gibt uns das      zu erzählen. Auf einmal wird deutlich, dass Gott nicht                                                            die Mütter in unserer Kindertages-        der Basisgemeinden gemeinsam              stände richtet sich der Blick nicht
                        Handwerkszeug dafür vor und es ist wunderbar, dass es       abstrakt und fern ist, sondern mir ganz nah kommt. Weil                                                           stätte in Quilmes wiederfinden kön-       die Bibel lesen, um herauszufinden,       nur auf das, was Angst macht, auf
                        viele Methoden – wie etwa den Bibliolog oder das Biblio-    er sich in nichts anderem als in alltäglichen Geschichten                                                         nen, die jeder jungen Frau sofort         was denn die Geschichte mit ihrer         das, wofür man noch kämpfen muss
                        drama – gibt, die uns einen neuen und kreativeren Um-       offenbart hat und Fleisch geworden ist.                                                                           etwas zu sagen hat, die ein Kind          Lebensrealität mit all ihren Proble-      oder auf das, was traurig macht
                        gang mit den biblischen Geschichten eröffnen.                   Vor einigen Wochen habe ich mit Mitarbeitenden                                                                unter schwierigen Lebensbedingun-         men, Ängsten oder Hoffnungen zu           oder Schmerzen bereitet. Der Blick
                            Geschichten sind aber nicht nur für unser Glaubens-     einer Kirchenverwaltung unserer Landeskirche gearbei-                                                             gen erwartet. Eine unerwartete, oft       tun hat. Dabei verstehen sie die Ge-      geht nach vorn: auf das Leben, das
                        leben notwendig. Wir brauchen sie auch, um unser Mit-       tet. Großer Frust über die gegenwärtige kirchliche Situa-                                                         ungewollte Schwangerschaft, das ge-       schichte nicht als Handlungsanwei-        entstehen soll.
                        einander als weltweite Gemeinschaft in Christus zu          tion war im Raum und das Gefühl, zu wenig von den                                                                 schieht im Alltag vieler Frauen im-
                        leben und zu gestalten. Im vergangenen Jahr habe ich an     Ortsgemeinden wertgeschätzt zu werden. Kurzerhand                                                                 mer wieder. Als ob das nicht heraus-                                                                            Protokoll:
                        einer internationalen Konsultation des Lutherischen         habe ich das Programm umgestellt und den Mitarbeiten-                                                             fordernd genug wäre, müssen sich                                                                             Ulrike Plautz
                        Weltbundes in Äthiopien teilgenommen. Dabei ging es         den zugemutet, sich in eine biblische Geschichte hinein-                                                          manche dann zusätzlich noch vor-
                        um die Frage, ob und was Lutherische Identität eigent-      zuversetzen. Es ging um die Speisung der 5000. Und auf                                                            wurfsvolle Fragen gefallen lassen: ob
                        lich sei. Es wurde schnell deutlich, dass das Austauschen   einmal war alles im Raum: Die Angst, einem Wunder zu                                                              das denn gerade jetzt sein müsse mit
                        unserer Geschichten der erste Schritt sein muss, wenn       vertrauen. Die Skepsis, dass da jemand etwas Unvorstell-                                                          der Schwangerschaft, in diesen Ver-
                        sich Christ*innen aus ehemaligen Kolonialstaaten mit        bares vollbringt. Der Blick auf den Jungen, der mit fünf                                                          hältnissen und unter diesen Umstän-
                                                                                                                                                   Fotos: N. Steen (1), U. Plautz (1), C. Lohff (1)

                        denen austauschen, die von ihren Vorfahren das Chris-       Broten und zwei Fischen vorbeikommt und damit zum                                                                 den? Wie Maria befinden sie sich
                        tentum erklärt bekommen haben.                              Beginn einer großen Transformation wird. Am Ende                                                                  plötzlich in einer Ausnahmesitua-
                            Es wurde uns während der Konsultation vor Augen         stand die Erkenntnis, dass diese alte biblische Geschichte                                                        tion, die vollkommen verunsi-                                                                                                  Claudia Lohff
        Nora Steen      geführt: Wir haben allein im weltweiten Luthertum ganz      dazu ermutigt, die Augen für die kleinen und großen                                                               chert. Alles ist in Umwälzung. Es                                                                                              ist Leiterin der
   ist theologische     unterschiedliche Geschichten! Es gibt die, die aus dem      Wunder offenzuhalten, die Gott uns mitten im Alltag                                                               gibt keine Planungssicherheit, für                                                                                             evangelischen
        Leiterin des    Land Martin Luthers kommen und sowohl mit der Last          schenkt. Der Blick weg von aktuellen und manchmal un-                                                             nichts. Viele befinden sich, wie                                                                                               Kindertagesstätte
  Christian Jensen      als auch der besonderen Verantwortung dieser Geschich-      überwindlich scheinenden Herausforderungen hin auf die                                                            damals Maria, in einer Lebenslage,                                                                                             in Quilmes/
         Kollegs der    te zu tun haben. Es gibt jene, die davon erzählt bekom-     Perspektive Gottes auf unsere ganze Welt kann befreien.                                                           die stark von außen bestimmt ist                                                                                               Buenos Aires,
Evangelisch-Luthe-      men haben – von Missionarinnen und Missionaren –,               Der Kraft der Geschichten vertrauen, sowohl unserer                                                           und in der sie nicht über die                                                                                                  die Familien aus
  rischen Kirche in     die teilweise Jahrzehnte brauchten um festzustellen, dass   eigenen als auch Gottes Geschichte mit uns. Das wäre ein                                                          Umstände entscheiden können,                                                                                                   den umliegenden
  Norddeutschland       es jenseits dieser Erzählungen noch eine ganz andere        Anfang. „Und das Wort ist unser Traum und der Traum                                                               in der ein Kind zur Welt kom-                                                                                                  Armenvierteln
         in Breklum.    Botschaft für sie geben kann. Während der Konsultation      ist unser Leben.“                                                                                                 men soll. Alles in allem eine                                                                                                  unterstützt.

    10     weltbewegt                                                                                                                                                                                   Die Weihnachtsgeschichte in latein-                                                                                        weltbewegt   11
                                                                                                                                                                                                                            amerikanischen Farben
Welt DEZEMBER - MÄRZ 2021 C 51 78 - Nordkirche weltweit
Schwerpunkt

                         „Geschichte wird lebendig
                         durch das Erzählen von Geschichten“
                         Gute Geschichten können vieles: Sie können die eigene Geschichte vergegenwärtigen,
                         Geborgenheit vermitteln und heilsam wirken. Als Psychotherapeut arbeitet Raphael Pifko
                         mit Geschichten und erzählt, was er an ihnen so schätzt.

                         Viele betrachten das Judentum als eine Religion, die           die die Tiefe menschlichen Lebens widerspiegeln.
                         im Vergleich zu anderen besonders auf dem Erzählen             Welche Wirkung kann das haben?
                         von Geschichten basiert und von ihnen geprägt wird.            Für mich sind diese Psalmen wie ein Link zwischen der Welt
                         Würden Sie dem zustimmen?                                      der Worte, dem menschlichen Erleben und den Emotionen.
                         Raphael Pifko: Grundsätzlich ja. Andererseits lässt sich       Durch sie erfahren Menschen: diese Emotion, die ich gerade
                         das Judentum nicht auf die Geschichte mit den Geschichten      durchlebe oder erleide, ist nicht neu. Schon vor tausend
                         reduzieren. Wenn man so will, steht das Judentum auf drei      Jahren haben Menschen ähnliche Emotionen gehabt, haben
                         Säulen: Es gibt den religiösen Aspekt, den ethnischen Teil     sich mit diesem oder jenem herumgeschlagen. Nun bin ich
                         und die Kultur, die auch über Geschichten tradiert wird. Zum   eben ein Mensch mehr, der sich damit auseinandersetzten
                         Wesen dieser Geschichten gehört, dass es sich nicht immer      muss. Sobald man sich das vor Augen führt, ist man weniger                                                                                                                                                                       „Gute Geschichten
                         um etwas Festgeschriebenes handeln muss. Demnach               isoliert. Man ist eingebunden in ein großes Ganzes. Auch die                                                                                                                                                                     geben der Seele
                         wird unterschieden zwischen einer schriftlichen Lehre, also    Passagen der Psalmen, die von Zorn und Hass sprechen,                                                                                                                                                                            Raum.“
                         der Bibel, und der mündlichen Lehre. Beides hat Vor- und       vermitteln etwas von dem Gefühl des Eingebettetseins:
                         Nachteile: Die schriftliche Lehre ist buchstäblich in Stein    Indem der Mensch seinen Zorn ausspricht, übergibt er ihn
                         gemeißelt und die mündliche Überlieferung hat den Vorzug,      Gott. Er richtet nicht selbst. Der Zorn wird dadurch sub-
                         dass sie sich im Lauf der Zeit und der Umstände verändern      limiert und auf eine andere geistige Ebene gehoben.                                            haben, die mir von meinem Gegenüber erzählt wird. Sie          Haben Sie eine Lieblingsgeschichte?
                         kann und im Fluss bleibt.                                                                                                                                     sind ein Angebot: Du Klientin und Klient kannst dir aus der    Ja, das Gleichnis vom vergifteten Korn.
                                                                                        Worte und Geschichten können also auch Geborgenheit                                            Geschichte so viel mitnehmen, wie du brauchen kannst.
                         Auch im Judentum gibt es Geschichten, die anlässlich           vermitteln?                                                                                    Das andere kannst du liegen lassen. Gute Geschichten           Mögen Sie erzählen?
                         von religiösen Feiertagen wiederholt werden, wie et-           Ja, sie haben diese Qualität. Ich habe einmal beim Erzählen                                    sind immer vielschichtig. Sie bieten der Seele Raum und        „Es war einmal ein König. Er sagte eines Tages zu seinem
                         wa die Exodusgeschichte. Was ist der Sinn dieser               des Märchens von Schneewittchen eine Variation eingebaut,                                      erreichen Menschen nicht nur auf der kognitiven Ebene. Das     besten Freund, dem Vizekönig: Als Astrologe sehe ich, dass
                         Erzählrituale?                                                 und einen Zwerg fragen lassen: Wer hat meine Pizza                                             wirkt manchmal stärker, als wenn man ein Problem direkt        alles Getreide, das dieses Jahr wachsen wird, jeden, der
                         Bei der Exodusgeschichte handelt es sich ja quasi um den       weggefressen? Meine damals kleine Tochter protestierte                                         ansprechen würde.                                              davon isst, verrückt machen wird. Wir müssen beraten, was
                         Gründungsmythos des Judentums. Wenn dieser Bericht             sofort. Ich solle das doch richtig erzählen. Das ist genau der                                                                                                in dieser Lage zu tun ist. Der Vizekönig gab den Rat: Wir
                         alljährlich zum Pessahfest erzählt wird, geht es darum,        Aspekt bei Geschichten, der Geborgenheit gibt: Man freut                                       Inwiefern wirken Geschichten heilsam?                          können Getreide vorbereiten, damit wir nicht vom vergifteten
                         das Bewusstsein der Gemeinschaft zu fördern. Das ist           sich auf das, was kommt. Wenn sich etwas ändert, dann                                          Wenn man Worte für etwas findet, kann es für Menschen sehr     Korn essen müssen. Der König antwortete: Das wird zur Folge
                         etwas, das immer wieder neu erlebt und genährt werden          sind die Freude weg und das Gefühl des Sich-Geborgen-                                          entlastend sein zu wissen, dass es dafür eine Geschichte       haben, dass wir die einzigen Nichtverrückten sein werden,
     Raphael Pifko       muss. Gemeinsame Geschichte wird erst lebendig durch           Fühlens im Bekannten.                                                                          oder Worte gibt. Zum Beispiel leiden Kranke stärker, wenn      während alle anderen verrückt sind. Dann wird sich das
   studierte Talmud      das gemeinsame Erzählen von Geschichten.                                                                                                                      sie nicht wissen, was ihnen Schmerzen bereitet, als wenn       Gegenteil ergeben, dass nämlich wir die Verrückten sein wer-
  und Psychologie.                                                                      Geschichten werden von Menschen ausgedacht, um-                                                sie eine Diagnose haben. Sowie etwas einen Namen hat,          den. Daher müssen wir vielmehr selbst auch von diesem
        Der Psycho-      Umgekehrt heißt das: Wenn sich immer mehr Menschen             gekehrt werden sie durch Geschichten geprägt . . .                                             ist es keine grau wabernde Wolke mehr. Das, was mich           Getreide essen. Aber wir müssen auf unseren Stirnen ein
      therapeut war      auf verschiedene Narrative berufen, dann kann das eine         Ich würde es als interaktive Beziehung verstehen, man lebt                                     beschäftigt oder belastet, wird fassbar, es hat Konturen und   Zeichen anbringen, damit wir uns daran erinnern, dass wir
 Projektleiter an der    Gesellschaft schwächen?                                        in beide Richtungen. Mein Außen verändert mein Innen und                                       Grenzen. Damit lässt sich leichter leben.                      verrückt sind. Wenn ich auf deine Stirne schaue und du auf
   Eidgenössischen       Ja. Das sich Vergegenwärtigen gemeinsamer Geschichten          mein Innen hat einen Einfluss auf die Welt. In dem Sinne                                                                                                      meine, werden wir am Zeichen erkennen, dass wir ebenfalls
       Technischen       und das dadurch entstehende Bewusstsein des Sich-              wirken Geschichten immer interaktiv.                                                           Sie haben ein Buch über Rabbi Nachman von Breslow              verrückt sind.“
      Hochschule in      verbunden-Fühlens, das ist das, was Gesellschaften stärkt.                                                                                                    herausgegeben. Was interessiert Sie an diesen chassi-          Für mich geht es bei dieser Geschichte um die Relativierung
                                                                                                                                                         Fotos: Pifko (1), adpic (1)

Zürich (ETH) und ist     Was geschieht, wenn dies auseinanderbricht oder fehlt,         Als Therapeut arbeiten Sie auch mit Geschichten. Und                                           dischen Geschichten?                                           von Realität. Was gestern verrückt war ist heute normal und
 heute u. a. tätig als   erleben wir gerade in vielen Gesellschaften.                   zwar nicht nur mit denen, die diejenigen erzählen, die zu                                      Im Vergleich zu anderen chassidischen Geschichten sind         umgekehrt. Normal ist nicht das, was richtig ist, sondern
Dozent in verschie-                                                                     Ihnen kommen, sondern Sie erzählen selbst Geschichten.                                         dies keine Geschichten über rabbinische Meister, in denen      als normal gilt das, was alle tun. Ich finde, diese Geschichte
   denen Bildungs-       Noch einmal zur Bedeutung biblischer Erzählungen               Natürlich sind erst einmal die Geschichten wichtig, die mir                                    Respekt vor ihnen tradiert oder moralische Werte überliefert   passt gut zu diesen Zeiten, in denen so vieles im Umbruch
        häusern und      und Bilder: In den Psalmen finden sich Worte, die seit         die Klientinnen und Klienten erzählen. Aber ich erzähle                                        werden sollen. Rabbi Nachman erzählt selbst Geschichten        ist.
      Hochschulen.       Jahrhunderten schon immer gesprochen wurden und                auch selbst Geschichten, die eine Ähnlichkeit zur Situation                                    und formuliert in ihnen seine philosophischen Betrachtungen.                          Das Gespräch führte Ulrike Plautz.

     12     weltbewegt                                                                                                                                                                                                                                                                                                 weltbewegt   13
Welt DEZEMBER - MÄRZ 2021 C 51 78 - Nordkirche weltweit
Schwerpunkt

                                                               Ein Medium für Erinnerung,
                                                               Moral und Religion
                                                                                                                                                                                        nommen, verinnerlicht und als nor-       Das gemeinsame „Weißt du                zählt, werden sie zum Stabilisator ei-
                                                                                                                                                                                        mal betrachtet werden.                   noch... ?“ stärkt die christ-           ner religiösen Minderheit. Lediglich
                                                                                                                                                                                            Wer selbst einmal einen Bolly-       liche Minderheit                        2,3 Prozent der Inder*innen sind
                                                               Geschichten werden in Indien geliebt: ob als Theater, Tanz,                                                              woodfilm oder eine indische Serie                                                christlich, in Koraput sind es etwas
                                                                                                                                                                                        gesehen hat, dem wird aufgefallen        Geschichten sind bilderreich, repro-    über 9 Prozent und damit etwas mehr
                                                               Musik, Erzählung oder in Gestalt opulenter Bollywoodfilme.                                                               sein, dass fast alle Schauspieler*-      duzierbar und lehrreich. Die meist      als im Landesdurchschnitt. Trotzdem
                                                               In einer Gesellschaft, in der die Analphabetenrate hoch ist,                                                             innen hellhäutig sind. Die helle Haut    kleinen Episoden enthalten bedeu-       fühlen sie sich auch hier ausgegrenzt
                                                               sind sie für viele das einzige Mittel, um sich über religiöse,                                                           gilt in Indien als erstrebenswert,       tende Fragen des Lebens und Glau-       und fürchten die hindu-nationalisti-
                                                                                                                                                                                        schön und als ein Zeichen von Rein-      bens, die sich in Indien viele Men-     sche Politik der aktuellen indischen
                                                               soziale und gesellschaftliche Werte zu verständigen.                                                                     heit, Status, damit Bildung und          schen stellen. Durch das Erzählen,      Regierung. Deren radikale Gruppie-
                                                                                                                                                                                        Reichtum. Obgleich der Großteil der      das Reproduzieren und das Erinnern      rungen waren 2008 im nahe gelege-
                                                                                                                                                                                        heutigen Bevölkerung nicht hellhäu-      von Geschichten bilden sich Gemein-     nen Kandhamal für den Tod hun-
                                                                                                                         Sophia Schäfer                                                 tig ist, sind die indischen Medien       schaften. Die frühe Christenheit fand   derter Menschen, die Zerstörung und
                                                                                                                                                                                        vom hellhäutigen Schönheitsideal         sich auch durch das Erzählen der        Verwüstung Dutzender Kirchen so-
                                                                                                                                                                                        geprägt. Aber auch die gesellschaftli-   Wunder Jesu, seiner Gleichnisse und     wie der Verunsicherung einer ganzen
   Stundenlanges
    Eintauchen in
 andere Welten –
                       V    iele Menschen haben beim Ge-
                            danken an Indien sofort Bilder
                       im Kopf: die vielen Farben, wunder-
                                                               Worte in falsche Hände gerieten. Nur
                                                               den Brahmanen als reinen, gebildeten
                                                               und mit gutem Karma geborenen
                                                                                                        fluss von Filmen, Theater, Konzerten,
                                                                                                        Fernsehen, aber auch von Erzäh-
                                                                                                        lungen älterer Familienmitglieder,
                                                                                                                                                                                        che Rolle der Frau (als Mutter, Haus-
                                                                                                                                                                                        frau, für Religion und Kultur in der
                                                                                                                                                                                        Familie zuständig) und des Mannes
                                                                                                                                                                                                                                 Geschichten über das Reich Gottes
                                                                                                                                                                                                                                 sowie der Umstände seines Todes
                                                                                                                                                                                                                                 und der Auferstehung zusammen. Bis
                                                                                                                                                                                                                                                                         Region verantwortlich. „Weißt du
                                                                                                                                                                                                                                                                         noch, …?“, sagen sie sich und erin-
                                                                                                                                                                                                                                                                         nern sich daran, wie sie zusammen-

                                                                                                                                                 Fotos: S. Schäfer (1), wikimedia (1)
Bollywood macht        bar gewebte Sari-Stoffe mit schil-      Geistlichen stand das heilige Wissen     Gurus und Prediger*innen hoch. Sie                                              (stark, herrschend, machtvoll, für das   heute werden in Gottesdiensten Texte    hielten und die Hoffnung nicht auf-
      es möglich.      lernden Verzierungen, die Bolly-        zu. Sie verfügen über die Tempel und     alle begeistern mit Geschichten auf                                             Auskommen der Familie und die            aus diesen antiken Zeiten gelesen.      gaben, bis sich die Konflikte beruhi-
  Foto: (l.) Schau-    woodfilme, deren reiche Bildwelt        die Texte, die zum Hören gedacht         ihre eigene, anschauliche und häufig                                            Abwehr von Feinden zuständig) wer-       Ihre Anschaulichkeit, Kürze und         gten. Seitdem grenzt sich die christ-
spielerin Kareena      schier endlose Geschichten illustrie-   sind. Hindus glauben, nur wenn vedi-     emotionale Weise.                                                               den durch diese Geschichten verfes-      Möglichkeit zur Deutung auf aktuelle    liche Community noch stärker von
 Kapoor Khan mit       ren. Diese Filme, die Geschichten       sche Verse als Mantra laut und sin-          Viele dieser Geschichten und die                                            tigt. Dabei wird vor allem das Bild      Kontexte machen sie zeitlos. Indem      der indischen Gesellschaft ab und
  Lokesh Sharma        erzählen zum Verzaubern und Weg-        gend auf korrekte Weise rezitiert wer-   Art, wie sie erzählt werden, enthalten                                          einer in der Öffentlichkeit eher stil-   man sich in Koraput und der Region      distanziert sich von gesamt-indischen
                       träumen, die ablenken und entführen     den, entwickeln sie ihren heiligen       kulturelle wie soziale Normen und                                               len, schönen Frau geprägt, die hinter    im südwestlichen Odisha diese bibli-    Narrativen, kulturellen Angeboten
                       aus einem weniger schillernden All-     Klang und damit ihre Kraft und gött-     Werte, die (bewusst oder unbewusst)                                             ihrem Mann steht und die Familie         schen Geschichten sowie die von der     und Treffpunkten der lokalen Öffent-
                       tagsleben, das häufig geprägt ist       liche Macht – sie nur zu lesen genügt    von den Konsument*innen wahrge-                                                 organisiert.                             Entstehung der Kirchengemeinde er-      lichkeit. Sie hören ihre eigene
                       durch viel harte Arbeit, komplexe       dazu nicht. Um die Geschichten des                                                                                                                                                                        christliche Pop- und Kirchenmusik,
                       Familiensysteme und -hierarchien        Mahabharata, des großen Epos mit                                                                                                                                                                          schauen christliche TV-Sender und
                       in durchschnittlich eher beengten       Auftritt der wichtigsten Gottheiten                                                                                                                                                                       bewegen sich in ihren Vierteln, wo
                       Wohnverhältnissen, Regeln und           und ihrer Funktionen, besser zu ver-                                                                                                                                                                      Mitglieder anderer Communities nicht
                       Macht des Patriarchats. Inder*innen     stehen, hat sich eine ganze Kultur des                                                                                                                                                                    hingehen. Und sie erzählen sich
                       lieben Geschichten, die voll sind von   Geschichtenerzählens entwickelt. Die                                                                                                                                                                      Geschichten mit ihren eigenen Motiven,
                       Musik und Tanz, die emotional           Sanskriterzählungen, die Nicht-Geist-                                                                                                                                                                     Interpretationen und Hoffnungen.
                       berühren. Sie ermutigen ihr Publi-      liche kaum verstehen, werden in Tän-
                       kum, zwischen den Zeilen zu lesen       zen und Theateraufführungen im                                                                                                                                                                            Inderinnen nutzen Theater-
                       und nicht nur Schönheit und Genuss      ganzen Land von Laien und Professi-                                                                                                                                                                       stücke als Ventil zur Bewäl-
                       darin zu erkennen.                      onellen dargeboten, zum Beispiel in                                                                                                                                                                       tigung ihres Alltags
                           Indien pflegt seit Jahrtausenden    Form des berühmten Kathakali, all-
                       eine orale Kultur, in der über das      gemeiner heißt das Katha Kalak                                                                                                                                                                            Geschichten und das Erzählen kön-
                       gesprochene Wort, aber auch Darstel-    Chebam (Religious Storytelling).                                                                                                                                                                          nen aber auch frei machen. Besonders
                       lungsformen wie Tanz, Theater und       Aufwändig geschminkt und verklei-                                                                                                                                                                         gilt das in Kontexten, in denen kaum
                       Musik besonders religiöse, soziale      det tanzen, taumeln und stürmen die                                                                                                                                                                       offen geredet werden kann. Auch
                       und gesellschaftliche Werte und         Schauspieler*innen ohne Worte,                                                                                                                                                                            wenn Christ*innen sich von der indi-
                       Inhalte vermittelt und ausgehandelt     dafür mit lauter Musik und veran-                                                                                                                                                                         schen Mehrheit abgrenzen, leben sie
                       werden. Die ältesten heiligen Schrif-   schaulichenden Klängen über die                                                                                                                                                                           doch im selben sozio-kulturellen
                       ten des Hinduismus, die Veden, wur-     Bühne.                                                                                                                                                                                                    Kontext und sind tief mit dessen Tra-
                       den durch das Hören (śruti) empfan-         Da in Indien bis heute Millionen                                                                                                                                                                      ditionen und Werten verwoben. In
                       gen, mündlich weitergegeben, von        von Menschen nicht lesen können                                                                                                                                                                           Indien gibt es viele gesellschaftliche     Fortsetzung
                       auserwählten Schülern gehört und        (laut Census 2011 sind 25 Prozent der                                                                                                                                                                     Tabus und hierarchische Gesell-            Seite 16
                       auswendig gelernt. So konnte zum        Bevölkerung Analphabet*innen), neh-                                                                                                                                                                       schaftsprinzipien, die es besonders
                       einen ihr Wortlaut fehlerfrei und       men Bücher und Texte im Alltagsl-                                                                                                                                                                         den unteren Gliedern in Familien,
                       delokalisiert konserviert, aber auch    eben weniger Raum ein als in ande-                                                                                                                                                                        Kasten oder Institutionen nicht er-
                       verhindert werden, dass die heiligen    ren Kulturen. Dadurch ist der Ein-                                                                                                                                                                        möglicht, zu sagen, was sie denken

  14      weltbewegt                                                                                                                                                                    „Viele Frauen teilen ihre Wahrheiten und Verständnisse über Geschichten und Tänze mit“,                                   weltbewegt      15
                                                                                                                                                                                        wie diese Frauen der Frauenhilfe der lutherischen Kirchengemeinde
Welt DEZEMBER - MÄRZ 2021 C 51 78 - Nordkirche weltweit
Schwerpunkt

                  oder was sie beschäftigt. Besonders       ihren Geschichten nicht mehr um sie      ten, landesweite TV-Sender gründe-                              spüren von Wundern und Heilungen              In einem solchen Testimony er-       chen Macht und ihrer Rolle als Pro-
                  Frauen, Dalits und Adivasi (Indigene)     selbst, sondern um die Frauen der        ten und Prediger*innen wie Mis-                                 im Alltag sei wichtiger, als die Befol-   zählt mir eine Frau mittleren Alters     phetin unverzichtbar macht, gibt es
                  gehören zu jenen marginalisierten,        Region im Allgemeinen geht – und         sionar*innen ausbildeten, um ihre                               gung von Regeln und der korrekten         in Koraput, wie sie einmal in einem      ähnliche Geschichten auch von ihren
                  von Unterdrückung und Gewalt ge-          keine*r durch die Veröffentlichung       Alternative des Verstehens und Ge-                              Liturgie. Der Angriff auf die tradi-      Bus saß und sich nach einer Weile        Anhänger*innen. So enden viele je-
                  fährdeten Personengruppen. Weil           der eigenen Geschichte peinlich          staltens christlicher Gemeinschaft zu                           tionellen Kirchen, die besonders          begann unwohl zu fühlen. Sie spürte,     ner Geschichten damit, dass sie auf
                  sich zum Beispiel Frauen kaum gegen       berührt die Veranstaltung verlassen      etablieren.                                                     durch Bildungseinrichtungen, karita-      dass etwas mit dem Bus nicht in Ord-     einen Rat einer dieser religiösen Au-
                  die strukturelle Gewalt ihrer Schwie-     muss. Während der Aufführungen               Hunderttausende nehmen heute                                tive Angebote und Gemeinschaftser-        nung zu sein schien. Nach einer Weile    toritäten gehört haben, der sie geret-
                  gereltern wehren können, in deren         wird viel gelacht und auf leichte        an den großen „Revival Meetings“                                fahrungen im Gottesdienst ihre Mit-       wurde ihr Gefühl stärker, sie sagte      tet, ihnen Glück gebracht oder ihnen
                  Haus sie nach der Hochzeit traditio-      Weise der so schwere Alltag vieler       teil und genießen die Atmosphäre in                             glieder binden konnten, ist unüber-       dem Busfahrer Bescheid, der sie zu-      in einer Not geholfen haben. Die
                  nell einziehen müssen und den Kon-        Frauen dargestellt. Geschichtenerzäh-    einer Masse Gleichgesinnter zu sein,                            sehbar und artet nicht selten in offene   nächst abwimmelte. Als sie nicht auf-    Geschichten selbst, von authentischen
                  takt zu ihrer Herkunftsfamilie fast       len wird so für viele Frauen zum Ven-    die sich einstellt und den Minderhei-                           Konkurrenz der verschiedenen Deno-        hörte mit ihren Warnungen und der        und als ebenbürtig empfundenen Per-
                  gänzlich verlieren, verstummen sie        til für Frustration, Angst, Einsamkeit   tenstatus und vielleicht Verfolgungs-                           minationen aus.                           Bus für eine Pause anhielt, begann       sonen der Gemeinschaften erzählt,
                  häufig und fügen sich ihrem Schick-       und Schmerz. Durch das Teilen von        und Ausgrenzungserfahrungen ver-                                    Persönliche und emotionale Ge-        sich kurz vor Stillstand des Fahrzeugs   werden zum starken Beweis göttlicher
                  sal. Lediglich in der Begegnung mit       Erfahrung, das Erzählen und Spielen      gessen lässt. Wunder und Heilungen                              schichten werden zum wichtigsten          eines der Räder zu lösen. Geradeso       Macht und menschlicher Autorität.
                  anderen Frauen können sie ihren           von eigenen und anderer Frauen           geschehen hier, sagen viele, von                                Mittel, die pfingstkirchlichen Pre-       konnte ein Unfall abgewendet und         Sie sind für die Hörenden aus dem
                  Gefühlen und Sorgen Raum geben.           Geschichten bei gleichzeitiger Identi-   Reichtum und großen Versprechun-                                diger*innen und Heiler*innen zu           zahlreiche Menschenleben gerettet        Leben gegriffen, wahr und damit
                  Dafür gibt es in den Regionen spezifi-    fikation mit den gespielten Figuren      gen sei die Rede – und viele lassen                             legitimieren und als religiöse Autori-    werden. Die göttliche Eingebung, so      hochgradig ermutigend für die Suche
                  sche kulturelle und religiöse Formen.     entsteht Empathie. Es entsteht Soli-     sich motivieren, anstecken und füh-                             täten zu stabilisieren. Sogenannte        die Frau, habe allen das Leben geret-    nach eigenen ähnlichen Erfahrungen
                      Wie in der Region um Koraput,         darität und Erleichterung, schambe-      len ein starkes „Empowerment“.                                  Testimony-Geschichten sollen in na-       tet und durch sie habe Gott zu den       und dadurch besonders einprägsam.
                  die im sogenannten „Tribal Belt“          haftete Themen endlich in eine Form      Wohlstand rufen viele dieser Predi-                             hezu jeder religiösen Veranstaltung       Menschen gesprochen.                     Der Kontakt mit diesen Personen,
                  Indiens liegt und mit hoher Arbeits-      der Kommunikation zu überführen          ger*innen und Heiler*innen aus, der                             beweisen, dass die Arbeit jener neuen         Seit diesem Tag bete sie täglich     aber auch den neuen Prediger*innen,
                  losigkeit, Korruption und wenig An-       und aussprechen zu können, was           sich einstelle, wenn man nur fest                               und häufig ungebildeten Geistlichen       stundenlang und habe schon viele         wird durch diese Geschichten beson-
                  schluss an den Reichtum der großen        wirklich passiert. Diese Frauen sind     genug an Gott glaube und sein ganzes                            Wunder hervorbrachte, die Gottes          Menschen heilen oder vor Unheil          ders attraktiv, die neuen Zentren boo-

                                                                                                                                             Fotos: S. Schäfer (2)
                  Städte an der Küste zu kämpfen hat.       stets die Heldinnen ihrer Geschich-      Leben nach Ihm ausrichte, weshalb                               Macht so eindrücklich sichtbar wer-       bewahren können. Während sich            men.
                  Dort leben besonders viele Adivasi        ten, meist zugleich auch Opfer und       ihre Theologie auch häufig als Wohl-                            den ließen. Sie, die Geschichten, aber    diese Frau durch ihre Geschichte, ihr        Geschichtenerzählen hat in Indi-
                  mit ihren indigenen Kulturen und          Leidtragende. In ihren Aufführungen      standsevangelium („prosperity gos-                              auch ihre Protagonist*innen werden        Testimony selbst als Medium insze-       en lange Tradition und wird auch in
                  Religionen. Viele von ihnen lernen nie-   wird das Verhalten der betrunkenen,      pel“) bezeichnet wird. Eine persönli-                           zu Medien von Gottes unendlicher          niert und durch die anschauliche         Zukunft ein wichtiger Teil gesell-
                  mals lesen und schreiben, sie teilen      kontrollverlustigten Männer als lä-      che Gottesbeziehung und dem Nach-                               Macht.                                    Illustration einen Beweis der göttli-    schaftlichen, familiären wie kirchli-
                  ihre religiösen Geheimnisse, Wahr-        cherlich und verachtenswert gebrand-                                                                                                                                                        chen Lebens bleiben. Die Formen
                  heiten und Verständnisse öffentlich       markt. Dadurch wird der Wert eines                                                                                                                                                          ändern sich dabei und auch ihr
                  in ihrer Gesellschaft meist über Ge-      nüchternen, respektvollen und ver-                                                                                                                                                          Inhalt bleibt nicht immer gleich, aber     Sophia Schäfer
                  schichten und Tänze.                      antwortungsvollen Handelns in der                                                                                                                                                           die emotionalen, stark ausge-              (33) ist evangeli-
                      So auch in dieser Region, in der      Familie gestärkt und in der gesamten                                                                                                                                                        schmückten und häufig schönen Ge-          sche Theologin
                  die christlichen Kirchen von kultu-       Gemeinschaft verankert. Geschich-                                                                                                                                                           schichten voller verschiedener Be-         und wissenschaft-
                  rellen Einflüssen aus der Umgebung        ten werden so neben Entertainment                                                                                                                                                           deutungsebenen faszinieren Men-            liche Mitarbeiterin
                  stark geprägt wurden. Hier führen         und Belustigung bei Großveran-                                                                                                                                                              schen weit über den indischen Sub-         an der Universität
                  Frauen und Mädchen zu allen größe-        staltungen auch zu Medien der Ge-                                                                                                                                                           kontinent hinaus. Ich kann nur             Tübingen. Derzeit
                  ren Veranstaltungen der Kirchenge-        meinschaftsstiftung, Wertevermitt-                                                                                                                                                          ermutigen, einmal einen (renom-            promoviert sie an
                  meinde in Koraput sogenannte „Cul-        lung, Kritik und Heilung.                                                                                                                                                                   mierten) zwei- bis dreistündigen Bol-      der Humboldt-
                  tural Events“ auf, besonders Tänze                                                                                                                                                                                                    lywoodfilm zu schauen und einzu-           Universität zu
                  und Theaterstücke, die sie selbst er-     „Testimony-Storys“ werden                                                                                                                                                                   tauchen in eine andere Welt. Oder          Berlin. Für ihre
                  dacht und ausgearbeitet haben. Häu-       in Pfingstkirchen zu Medien                                                                                                                                                                 in ein indisches Theater zu gehen,         Feldforschung
                  fig geht es in den Theaterstücken der     göttlicher Macht                                                                                                                                                                            einen indischen Tanz anzuschauen           lebte sie 2018 und
                  Frauengruppe der lutherischen Kir-                                                                                                                                                                                                    und dabei ein wenig zu versuchen zu        2019 zehn Monate
                  chengemeinde (Stree Samaj) um ihre        Seit einigen Jahrzehnten gibt es in                                                                                                                                                         verstehen, was er sagen will und ihn       in der Koraputer
                  betrunkenen Ehemänner, die sich in        Koraput und Umgebung auch andere                                                                                                                                                            nicht nur schön zu finden. Sie wer-        Gemeinde der
                  karikaturhaften Geschichten lächer-       Formen christlichen Lebens als das                                                                                                                                                          den in einer solchen Offenheit und         Evangelisch-
                  lich machen und auf groteske Weise        Lutherische. So haben sich auch in                                                                                                                                                          Neugier Ihre eigene Familie, mög-          Lutherischen
                  gewalttätig gegenüber ihren Frauen        Indien zahlreiche Pfingstkirchen un-                                                                                                                                                        licherweise gesellschaftliche Werte,       Jeyporekirche
                  und Kindern werden, während sie           ter Einfluss amerikanischer, austra-                                                                                                                                                        religiöse Gefühle und ästhetische          (JELC).
                  beispielsweise dabei umfallen und         lischer und indischer Missionar*in-                                                                                                                                                         Vorlieben, reflektieren und sich viel-
                  einschlafen. Die Frauen, die diese        nen und Prediger*innen aus anderen                                                                                                                                                          leicht davon beeinflussen lassen.
                  Stücke aufführen, verkleiden sich         Regionen des Landes gebildet, die vor                                                                                                                                                       Sicherlich werden Sie verändert her-
                  selbst als Ehemänner, sodass es in        Ort „Revival Meetings“ veranstalte-                                                                                                                                                         ausgehen.

16   weltbewegt                                                                                                                                                      „Geschichtenerzählen hat in Indien eine lange Tradition und wird auch in                                                    weltbewegt    17
                                                                                                                                                                     Zukunft wichtiger Teil gesellschaftlichen wie kirchlichen Lebens bleiben.“
Welt DEZEMBER - MÄRZ 2021 C 51 78 - Nordkirche weltweit
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