Welt DEZEMBER - MÄRZ 2021 C 51 78 - Nordkirche weltweit
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
welt DEZEMBER – MÄRZ 2021 C 51 78
Schwerpunkt
Geschichten
Was fasziniert uns so daran? weltbewegt 41Schwerpunkt
Geschichten Aus dem Inhalt Editorial
Menschen brauchen Ein Gott mit vielen
Geschichten Geschichten
5 21
Liebe Leser*in,
Sie erörtern Grundfragen des Maiyupe Par schildert, was wie gut das Thema „Geschichte“
Lebens und ermöglichen, uns geschieht, wenn sich neu- zu einer Jubiläumsausgabe passt,
und andere besser zu verste- guineische und biblische Tra- wurde uns erst im Nachhinein
hen, so Katharina Gralla. ditionen vermischen. klar. Sind es doch vor allem Ge-
schichten, die eine immerhin 150–
Der Kraft von Erzäh- „Wie war es denn so?“ jährige Tradition prägen. In die-
lungen vertrauen sem Heft soll es ganz generell um
Diese Frage wird Martin
8 24
die Bedeutung von Geschichten
Für Nora Steen haben bibli- Haasler nach Reisen oft ge- gehen. Was fasziniert uns eigentlich so an Ihnen? Was bedeu-
sche Geschichten als Säulen stellt. Er weiß: Am besten ten sie uns?
des Glaubens in der Ökume- sind Antworten, die zum Per- Was geschehen kann, wenn der Bezug auf gemeinsame
ne eine verbindende Kraft. spektivwechsel einladen. Geschichte(n) wegfällt, weil sich immer mehr Menschen auf
vereinzelte Informations-Blasen zurückziehen, zeigt sich
Die Hoffnung braucht Für mich ist es mein nicht zuletzt in Krisen wie der Corona-Pandemie. Es bricht
Bilder Leben Verbindendes weg, wenn nur noch Erzählungen zugelassen
11 Vielen 26
werden, die der eigenen Sicht der Dinge entsprechen. Wenn
Frauen in Buenos Aires Geschichten können alte Wun- Menschen nicht mehr bereit sind, sich irritieren zu lassen,
macht die Weihnachtsge- den bei Geflüchteten auch wie- durch Geschichten, die einem fremd sind – und vielleicht
schichte Mut für das Leben zu der aufreißen, erfährt Dietrich auch fremd bleiben.
Selber Geschichten erfinden
kämpfen, weiß Claudia Lohff. Gerstner von Brot & Rosen. Dazu gehören auch Erzählungen aus anderen Kulturen
Fotos: C. Plautz (1), U. Plautz (1), wikimedia (1), C. Wenn (3), M. Haalser (1), www.adpic.de (8)
Geschichten aus dem Stehgreif erzählen ist auch in und Religionen. Erfordern sie doch die Bereitschaft, eigene
Form von Spielen möglich. Einige erinnern aus der Geschichte wird leben- Unterschied zwischen Perspektiven zu hinterfragen. Was wiederum die Voraus-
Kindheit vielleicht das Spiel „Geschichtenball“: Man dig durch Erzählen Gesetz und Botschaft setzung für eine echte Begegnung ist.
wirft einen Ball fortlaufend an eine Hauswand und
fängt dabei an, eine Geschichte zu erzählen. Der Ball 12 Als Therapeut arbeitet
Raphael Pifko mit Geschich-
Welche Bedeutung haben Er-
zählungen im Koran heute für
28 Aber gerade die Auseinandersetzung mit dem bisher nicht
Gekannten, das Eintauchen in fremde Welten, machen ja die
darf nicht herunterfallen. Wenn das geschieht, ist das Faszination von Geschichten aus. Besonders das „Unver-
ten und erzählt im Interview, den Islam? Ein Interview mit
nächste Kind dran und setzt die Geschichte fort. ständliche und Abgründige“ ist es, was Menschen dazu
was er an ihnen so schätzt. Mojtaba Beidaghy.
bringt, sich zu hinterfragen. So sind Geschichten auch immer
Eine neuere Variante sind die neun sogenannten Ge- „ein Spiegel der schwer zugänglichen Täler der Seele“, meint
schichtenwürfel (story cubes), die man im Kreis von Medium für Erinne- Wahrheit in Zeiten von die Theologin Katharina Gralla. Diese aufrüttelnde Kraft
Mitspieler*innen wirft und eine Geschichte mit den rung, Moral, Religion Fake News haben vor allem auch die alten, religiösen Geschichten, mit
14
gewürfelten Bildern beginnt. Dabei spielt es keine Rolle, ihrer manchmal sperrigen Fremdheit.
ob man mit dem ersten Würfel anfängt oder für den
Start das Bild wählt, mit dem man am meisten anfangen
Geschichten werden in Indi-
en geliebt, ob als Theater,
Was geschieht in Gesellschaf-
ten, wenn es keine gemein- 30 Doch auch so vertraute oft wiederholte Erzählungen wie
die Weihnachtsgeschichte haben ihre Kraft behalten. So schil-
kann. Es gibt keine festen Regeln Tanz, Musik oder Bollywood- same(n) Geschichte(n) gibt? dern Mütter aus einem Armenviertel in Buenos Aires, dass
und alles kann variiert wer- film, so Sophia Schäfer. fragt Jörg Ostermann-Ohno. ihnen Maria gerade in diesen Zeiten ein Vorbild ist, wenn es
den. Dieses Spiel kann darum geht, nicht aufzugeben. Ein Symbol dafür, dass es sich
auch mit einer App über Beste Vorbereitung auf Hinterm Horizont lohnt zu hoffen – allen Widrigkeiten zum Trotz.
w w w.stor ycubes.com das Leben geht’s weiter In dem Sinne wünsche ich besonders in diesem Jahr hoff-
20 33
auf dem Handy gespielt nungsfrohe Weihnachstage.
werden. In Kenia geht es in Erzählun- Glückwunsch! Die Zeitschrift
gen darum, Lernstoff zu ver- weltbewegt blickt auf eine Ihre PS: Ihre Meinung interessiert
mitteln, erklärt die Lehrerin 150-jährige Tradition zurück uns. Schreiben Sie uns gern!
Christiane Wenn
Emmaculate Penschow. und viele haben gratuliert.
weltbewegt-Post-Anschrift: Zentrum für Mission und Ökumene – Nordkirche weltweit, Postfach 52 03 54, 22593 Hamburg, Telefon 040 88181-0, Fax -210, E-Mail: info@nordkirche-weltweit.de
IMPRESSUM: weltbewegt (breklumer sonntagsblatt fürs Haus) erscheint viermal jährlich. HERAUSGEBER UND V ERLEGER: Zentrum für Mission und Ökume- DRUCK, VERTRIEB UND VERARBEITUNG: Druckzentrum Neumünster, JAHRESBEITRAG: 15,– Euro, SPENDENKONTO: IBAN DE77 5206 0410 0000 1113 33
ne – Nordkirche weltweit, Breklum und Hamburg. Das Zentrum für Mission und Ökumene ist ein Werk der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland. EVANGELISCHE BANK, BIC GENODEF1EK1. Mit Namen gekennzeichnete Artikel geben die Meinung des Autors/der Autorin und nicht unbedingt die Ansicht des
DIREKTOR: Pastor Dr. Christian Wollmann (V.i.S.d.P.), REDAKTION: Ulrike Plautz, GESTALTUNG: Christiane Wenn, KONZEPT: Andreas Salomon-Prym, SCHLUSS herausgebenden Werkes wieder. Die Redaktion behält sich vor, Manuskripte redaktionell zu b earbeiten und gegebenenfalls zu kürzen. Gendergerechte Sprache
KORREKTUR: Constanze Bandowski, ADRESSE: Agathe-Lasch-Weg 16, 22605 H amburg, Telefon 040 88181-0, Fax: 040 88181-210, w
ww.nordkirche-weltweit.de. wenden wir in dieser Publikation an, indem wir das sogenannte Gendersternchen (*) in einem Wort benutzen. Gedruckt auf TCF – total chlorfrei gebleichtem Papier.
2 weltbewegt weltbewegt 3Schwerpunkt
Wir brauchen Geschichten, um Mensch
zu werden
Menschen lieben Geschichten. Durch sie können wir in einen Raum der Möglichkeiten
eintreten, der unsere Alltaggrenzen übersteigt. Geschichten ermöglichen, uns und andere
besser zu verstehen. Sie erörtern Grundfragen des Lebens, erweitern den Horizont und
können Menschen miteinander verbinden, selbst über eigene Kulturgrenzen hinaus.
Katharina Gralla
N un sitzen die Kinder. Die Gitarre spielt das Lied:
„Ich weiß, was jetzt kommt, eine neue Geschichte.
Seid leise, seid still, weil ich jetzt unbedingt zuhören will.
Geschichten erlauben, das Hier und Jetzt hinter sich
zu lassen, mein beschränktes Alltags-Ich zu verlassen. Sie
schaffen einen Raum der Möglichkeiten, der die realen
Pst, pssst.“ Erwartungsvolle Stille. Es geht weiter im Lebensmöglichkeiten übersteigt. In ihm kann ich die un-
Drama der Zwillingsbrüder Jacob und Esau. Heute: gelebten Seiten meines Ichs erforschen. Sie laden in eine
Jakob flieht vor der Rache seines betrogenen Bruders. „Als-ob-Welt“ ein. Ich kann mit dem Volk Israel durch
Große Augen und offene Ohren für die Hektik des Auf- die Wüste wandern, als Mose oder im Fußvolk. Ich kann
bruchs, die Einsamkeit in der Nacht, die Wut des Betro- mit den verzweifelten Jüngern in Jerusalem auf den Pfingst-
genen. Zehn Minuten gebannte Aufmerksamkeit für geist warten. Ich kann mit James Bond die Oberschurken
eine jahrtausend Jahre alte Geschichte, die – lebendig jagen, mit der Titanic untergehen, zum Widerstands-
erzählt – offenbar auch im Handy- und Computerzeital- kämpfer, zum Städtebauer oder zum Star werden.
ter noch konkurrieren kann. Während ich in diesen Welten wandle, erkenne ich in
Was ist – nicht nur für Kinder – so faszinierend an den handelnden Personen meine eigenen Erfahrungen
Geschichten? Die es ja in unendlicher Zahl und Form und Konflikte, aber eben auch etwas Neues. Ich entdecke,
gibt. Wobei die Geschichten aus der Bibel mit einigen wie andere Menschen denken, handeln und fühlen, wie
Mythen und Märchen zum kulturellen Urgestein eu- sie scheitern oder sich behaupten, wie sie lieben und
ropäischer Erzählkultur gehören. Warum hören nicht wüten. Ich verstehe sie oder verstehe sie nicht, bewundere
nur junge Menschen diese Geschichten nach wie vor sie oder ärgere mich, überlege, wie ich es machen würde.
gern? Warum gehört die Weihnachtsgeschichte für viele Hätte ich als Wirt*in mit vollem Haus das schwangere
zum unverzichtbaren Bestandteil des Festes? Warum Paar aus Nazareth aufgenommen? Möchte ich Geschich-
Abb: C. Wenn (1), Rose Ausländer, Gedichte, Verlag: Fischer Taschenbuch, 2015
möchten Kinder Bücher vorgelesen bekommen? Warum ten wie Momo erzählen können? Was wären meine drei
versinken Jugendliche in Computerspielen mit kom- freien Wünsche? Wieviel Mut habe ich im Verhältnis zu
plexen Handlungen, schauen Videoclips oder lesen Fan- meinem Avatar? Viele dieser Gedanken werden beim
tasy-Romane? Warum hören Erwachsene Hörbücher, Lesen, Hören oder Sehen gar nicht bewusst. Trotzdem
lesen Romane und gucken Spielfilme? wohnt in ihnen eine verändernde Kraft inne. Wenn ich
Warum meinen auch Marketingfachleute, dass sie mitverfolge, wie Mose sich das öffentliche Reden nicht
Produkte und Botschaften am besten in ein „Narrativ“, zutraut, wie er zögert und zaudert, den Auftrag Gottes,
also in eine Geschichte, verpacken sollten, egal, ob sie sein Volk zu retten, anzunehmen und es am Ende dann
Schokolade oder Bier verkaufen, einen Urlaubsort an- doch tut, dann ermutigt mich das möglicherweise, auch
preisen oder für das Tragen von Masken werben wollen? meine Ängstlichkeiten zu überwinden.
Geschichten helfen, Fragen nach Sinn, Abgrund Sie helfen innerlich zu wachsen und ein Ver-
und Schönheit des Lebens zu beantworten ständnis von sich und anderen zu entwickeln
Menschen lieben Geschichten. Sie brauchen Geschichten. Geschichten erweitern den Horizont. Sie helfen, inner-
Weil Geschichten das Leben deuten, bereichern, ver- lich zu wachsen, ein Verständnis von sich selbst und von
wurzeln, vertiefen, hinterfragen, verändern, trösten anderen Menschen zu entwickeln und zu verfeinern. Es
und heilen können. Weil sie helfen, Fragen nach Sinn gibt ja Menschen, die behaupten, man würde beim Lesen
und Ausrichtung, Abgrund und Schönheit des Lebens der Romane von Fjodor Dostojewski oder Honoré de
zu beantworten, was Informationen und Fakten nicht Balzac mehr über die menschliche Seele lernen als in Fortsetzung
können. vielen Psychologieseminaren. Seite 6
4 weltbewegt weltbewegt 5Schwerpunkt
Schwerpunkt
„Alte Geschichten
Die großen Menschheitsgeschichten, die in den heili- sind immer auch
gen Schriften der Völker und Religionen gesammelt ste- ein Spiegel der
hen, verbinden Menschen eines Kulturkreises miteinan- dunklen, schwer
der, weil sie ein gemeinsames Erbe darstellen, ein ge- zugänglichen
meinsames Gedächtnis. Sie sind Geschichte gewordene Täler der
Erzählung der eigenen Identität. Trotz aller individuel- Seele.“
len Unterschiede schaffen geteilte Geschichten die Basis
für Austausch und gegenseitiges Verständnis.
Manchmal gelingt das sogar über Kultur- und Reli-
gionsgrenzen hinweg, wenn sie etwa, wie Judentum,
Christentum und Islam, gemeinsame Traditionen rund
um Abraham und Mose teilen oder wenn über Konti-
nente hinweg Christinnen und Christen die gleichen
Bibelgeschichten kennen – auch wenn sie sie möglicher-
weise sehr unterschiedlich deuten.
Es ist auch diese Chance auf Austausch und Verbin-
dung, die es so wichtig macht, nicht müde zu werden,
den Schatz an Geschichten an die nächste Generation
weiterzugeben.
Oft irritieren alte Geschichten. Sie hinterfragen das
Denken und provozieren jede Generation neu
Nicht alle Geschichten ermöglichen das, manche
sind einfach zu seicht und zu stereotyp. Sie berühren Die Stärke dieser Geschichten liegt auch darin, dass sie
keine inneren Tiefen. Sie lassen keine Entwicklungen zu, die Grundfragen nicht abstrakt erörtern. Zum ewigen ten, die Gewalt, das Unverständliche und Abgründige,
sondern wiederholen die immer gleichen Handlungs- Thema Geschwisterrivalität wird von zehn Brüdern be- was Menschen dazu bringen kann, sich zu hinterfragen.
muster, in welchem Genre auch immer. Dann können richtet, die Josef in den Brunnen werfen und verkaufen Die alten Geschichten sind eben immer auch ein Spiegel
auch Geschichten einfach nur flacher Zeitvertreib sein, oder vom Erbbetrug mit einem Linsengericht. Die der dunklen, schwer zugänglichen Täler der Seele. Nach
der Geist und Seele ohne Erkenntniswert verstopft. Geschichten listen nicht die Eigenschaften Gottes auf, der einigermaßen heilen Welt im Stall von Bethlehem
Flache Geschichten stabilisieren und bestätigen das sprechen nicht vom „Sohn Gottes“ oder der Zwei-Natu- muss die junge Familie vor König Herodes nach Ägyp-
beschränkte Ich, fordern nicht und nichts. Das wirkt renlehre, sondern erzählen, wie im Stall von Bethlehem ten fliehen. Jesus überlebt. Was heißt das für unser Ver-
entspannend, weswegen ja auch Vorabendserien wie Gott ein einfacher Mensch wurde. Sie philosophieren ständnis von Flüchtlingsbewegungen im Jahr 2020?
etwa „Sturm der Liebe“, „Rote Rosen“, oder „In aller nicht über die verschiedenen Arten der Gerechtigkeit, Menschen brauchen Geschichten. Geschichten mit
Freundschaft“ recht beliebt sind. differenzieren nicht zwischen Leistungs- und Bedarfs- und aus dem rechten Geist. Zur Menschwerdung. Alle
gerechtigkeit, sondern erzählen, dass der letzte Arbeiter Jahre wieder. Und das ganze Jahr hindurch.
Große Menschheitsgeschichten verbinden im Weinberg das gleiche Geld bekommt wie der erste.
Menschen, weil sie gemeinsames Erbe sind Die starken Bilder bleiben im (kollektiven) Gedächtnis Katharina Gralla
hängen, sie sind nie eindeutig und lassen immer Spiel- ist theologische
Es kennzeichnet wohl die großen Geschichten der räume für Interpretation und dem Eintrag zeitgenössi- Referentin im
Menschheit, die über viele Generationen überliefert scher Erfahrungen. Und das ist gut so: Sie fördern das Gottesdienstinstitut
wurden, die so viel große Literatur, Kunst, Filme Nachdenken, den Diskurs, die Auseinandersetzung. der Nordkirche und
und Spiele inspiriert haben, dass sie Oft irritieren diese alten Geschichten. Sie hinterfra- im Sommer Strand-
eine große innere Kraft und Tiefe gen das eigene Denken. Sie provozieren. Jede Generation pastorin in der
besitzen. Sie erzählen vom Mensch- neu. Wie kommt Abraham auf die wahnwitzige Idee, Lübecker Bucht.
sein in ferner Vergangenheit oder seinen Sohn opfern zu sollen? Oder wird möglicherwei- Sie weiß, dass
auch von einer fernen Zukunft, se genau das von manchem Topmanager mit Achtzig Sommergäste
Abb: Wenn (5), Foto: Gralla (1)
die aber durch das Erzählen Stunden-Woche auch verlangt? Wie kann es sein, dass jeden Alters gerne
gegenwärtig wird, weil sich die Gott alle ermorden lässt, die nicht zu seinem Fest kom- Geschichten hören,
Gefühle, Grundfragen und men wollen? Oder gibt es wirklich ein Zu-spät für dieje- alte und neue, vom
-konflikte durch die Jahrtausen- nigen, die konsequent an sich vorbei leben? Wie kann Meer, von Himmel
de kaum verändert haben – im ein Verräter, Petrus, zum Fels für die Kirche werden? und Erde und allem,
Gegensatz zu den konkreten Oder wie viel Angst muss man gehabt haben, um wirk- was dazwischen
Lebenswelten. lich mutig zu werden? Es sind diese Unbequemlichkei- liegt.
6 weltbewegt weltbewegt 7Schwerpunkt
Wir können der Kraft von Geschichten
vertrauen
Biblische Erzählungen haben eine starke Wirkung, noch immer. Deshalb ist es so wichtig
sie auch heute noch in der Kirche zu erzählen. Sie gehören nicht nur zu den wichtigen
Säulen unseres Glaubens, sie haben auch in der weltweiten Ökumene eine verbindende
Kraft. Und sie haben das Potenzial, große Veränderungen zu bewirken.
Nora Steen
m Anfang war das Wort. deshalb verlangen Kinder so häufig, dass dieselben
Und das Wort war bei Geschichten immer und immer wieder erzählt werden.
Gott. Und Gott war das Die Worte prägen sich ein und prägen uns – ein Leben
Wort“ (Johannes 1, 1). Der lang.
Prolog des Johannesevan- Wir leben vom Wort. Die Lyrikerin Rose Ausländer
geliums ist eindrücklich. hat den Wahrheitsgehalt der jahrtausendealten Sätze aus
Diese jahrtausendealten dem Prolog des Johannesevangeliums weitergeführt
Worte kleiden die Wahr- und sie greifbar gemacht. Sie schreibt:
heit in Sätze, dass wir nicht
Abb: wikimedida (1), shutterstock (1), Gedicht aus: Rose Ausländer, Gedichte, Verlag: Fischer Taschenbuch, 2015
im luftleeren Raum ent- Am Anfang war das Wort
standen sind, sondern von und das Wort mehr zwischen Gottes und meiner Geschichte. Dann ist Ebenbildlichkeit Gottes ganz wunderbar in dem Bild „Um die
Beginn an hineingestellt war bei Gott. mein Leben mehr als ein zufälliges Hineingeworfensein aus dem 2. Schöpfungsbericht plastisch vorstellbar: Gott Geschichte
sind in eine Geschichte, in eine Kultur, in eine Familie, in eine Welt, deren Sinn schuf den Menschen aus Staub von der Erde, blies ihm Gottes mit uns
die größer ist als wir selbst. Und Gott gab uns sich nicht immer gänzlich erschließt. Dann ist mein seinen Atem in die Nase – so dass er ein lebendiges Menschen zu
Die Worte sind damit das Wort Leben ein Teil von Gott. Dann ist Gott ein Teil von mir. Wesen wurde. verstehen,
mehr als ein Plädoyer für und wir wohnten Aber auch über die Erzählungen von der Erschaf- brauchen wir
das Wahrnehmen von Gottes Wirklichkeit, die als gänz- im Wort. Geschichten sind ein Medium, um die Be- fung der Welt hinaus sind biblische Geschichten ein Erzählungen.“
lich andere und neue Dimension unser Leben durch- ziehung zwischen Gott und Mensch zu klären wesentlicher Teil religiösen Lebens. Das gilt für das Foto: Die
zieht. In den Wortwelten der biblischen Erinnerung ver- Und das Wort Judentum genauso wie für das Christentum. Bei der Erschaffung
haftet, insbesondere des 1. Schöpfungsberichtes und der ist unser Traum Um dieses existenzielle Verflochtensein in eine größere freitagabendlichen Schabbatfeier erzählen sich jüdische Adams nach
Menschwerdung des göttlichen Wortes in Christus, und der Traum Geschichte, die Geschichte Gottes mit uns Menschen, zu Familien die Geschichte ihres Volkes und erinnern einem Fresko
umreißen diese aus wenigen Wörtern bestehenden Sätze ist unser Leben. verstehen, brauchen wir Erzählungen, die genau davon besonders an die Schöpfung und den Auszug aus Ägyp- Michelangelos
die Geschichte Gottes mit uns Menschen, in die wir mit berichten. Deshalb ist sie aus unserem Kulturschatz nicht ten. Wir Christen hören jedes Jahr wieder die immer- im Stil von
unserer Existenz hineingestellt sind. Rose Ausländer (1901-1988) wegzudenken, die Bibel. Sie ist das große Buch der vielen gleiche Weihnachtsgeschichte und an Ostern die Erzäh- Picasso
Deutlich macht der Prolog vor allem: Wir sind als Geschichten, die Gottes Geschichte mit uns Menschen in lung vom leeren Grab. Nicht ohne Grund erinnern wir
Gottes Geschöpfe in einen weiten Beziehungsraum Ausländer beschreibt hervorragend, welche Kraft Sprache gefasst hat. Alles ist in ihnen enthalten – Liebe, die religiösen Grundpfeiler unseres Glaubens in Form
gestellt. Beziehungen wiederum gründen sich auf Kom- das Wort und daraus folgend, welche Wirkmächtigkeit Herzschmerz, Verrat, tiefste Trauer und in allem immer von Geschichten. Denn Religion wäre nichts, wenn sie
munikation, verbale und nonverbale. Die Sprache aller- Wortkompositionen, denn nichts anderes sind Sätze, wieder das Wort Gottes, das in die ausweglosesten Situa- nur aus Wortformeln und behaupteten Wahrheiten
dings ist in all ihren Ausdrucksformen nicht aus unse- haben, die die einzelnen Wörter zusammenfügen, kon- tionen hineinspricht und Menschen ermutigt, weiterzu- bestünde. Eine Religion hat dann Bestand, wenn sie sich
rem Beziehungsgeflecht wegzudenken. Die ersten Worte textuell verorten und so zu Geschichten werden. gehen oder neue Wege einzuschlagen. als Teil tatsächlichen Lebens erweist. Und Leben besteht
eines Kleinkindes ändern auf einen Schlag die Art der Das Wort ist uns geschenkt. Es kommt von außen auf Nicht ohne Grund gibt es in allen Religionen Schöp- nun einmal aus Geschichten. Denn Leben bedeutet
Beziehung zu Vater und Mutter. Das Kind eignet sich die uns zu. Bekommen Kinder nicht genügend Ansprache, fungsmythen, die davon erzählen, wie die Welt und die Beziehung, die ein Gestern und ein Morgen hat.
Sprachwelt der Eltern und seiner sozialen Umgebung an, können sich ihr Wortschatz und damit ihr Ausdrucks- Menschen entstanden sind. Darin verwoben sind immer
wird durch sie geformt. Ebenso prägen die Geschichten, vermögen nicht entwickeln. Die theologische Aussage die spezifische Stellung und der Auftrag, die wir Men- Bevor wir in den Dialog treten, müssen wir
die wir von Kindheit an erzählt bekommen haben. des Johannesevangeliums knüpft daran an und geht schen in dieser Welt haben. Geschichten sind in den weltweit unsere Geschichten austauschen
Abends, vor dem Schlafengehen, im Kindergottesdienst zugleich einen Schritt weiter. Wenn Gott das Wort ist, Religionen niemals Selbstzweck, sondern immer Medi-
oder als Erzählungen von früher – von Großeltern oder das in Jesus Christus Fleisch geworden ist und unter uns um, um die Beziehung zwischen Gott und Mensch zu Umso kostbarer ist es, dass uns ein solches Buch der Fortsetzung
Eltern. Diese Geschichten werden ein Teil unserer Selbst, wohnt, dann gibt es konsequenterweise keine Trennung klären. So ist im Christentum die Geschöpflichkeit und vielen Geschichten Gottes mit uns Menschen geschenkt Seite 10
8 weltbewegt weltbewegt 9Schwerpunkt
ist, das uns dazu animieren will, die Geschichte fortzu-
schreiben und uns selber mit hineinzustellen. Trotz eines
stellten wir fest, dass wir uns erst über unsere ganz unter-
schiedlichen Geschichten mit unserer Konfession aus- Die Hoffnung braucht Bilder – und eine Erzählung
langen exegetischen Studiums habe ich selber diese tauschen müssen, bevor wir in einen echten Diskurs ein-
große Wertschätzung für die Bibel erst in gemeinsamen treten können. Wir haben dann spontan zu einem Story- Vor allem die Weihnachtsgeschichte gehört für viele argentinische Frauen aus Quilmes zu den
Bibelarbeiten mit Theolog*innen aus dem globalen telling-Abend eingeladen, der für diejenigen, die daran
Süden erlangen dürfen. Wir konnten in unserem ökume- teilgenommen haben, zu dem eindrücklichsten Erlebnis
wichtigsten Erzählungen. Denn sie erzählt davon, dass es sich lohnt zu hoffen, allen widrigen
nischen Studiengang in Genf, genauer: im Ökumeni- der Konsultation geworden ist. Viele haben an diesem Umständen zum Trotz. Wie gegenwärtig die Kraft der Geschichte immer noch ist, erfährt
schen Institut Bossey, keine exegetische Übung an bibli- Abend ihre sehr persönlichen Geschichten erzählt. Es Claudia Lohff beim gemeinsamen Bibellesen mit Müttern in der Kindertagesstätte.
schen Texten durchführen, ohne dass jemand der Anwe- flossen Tränen und zugleich war viel Dankbarkeit im
senden eine eigene Geschichte zum entsprechenden Text Raum. Es war eine Gemeinschaft entstanden, die uns tief
zu erzählen hatte. Ich erinnere mich etwa an das Gleich-
nis vom Verlorenen Schaf und einen aufgeregten ägypti-
schen Kommilitonen, der aufsprang und uns erzählte,
bewegt und zugleich ermutigt hat, an dem gemeinsamen
Wunsch festzuhalten, Gottes Wort in unserer Welt in
vielfältigster Weise zur Sprache zu bringen.
F ür viele Mütter aus Quilmes ist
sie zentral: Die biblische Ge-
schichte, die von einer Frau erzählt,
Situation also, in der zweifelhaft ist,
ob es gut ausgehen wird. Und dann
kommt die ebenso klare wie mutige
sung, die eins zu eins auf ihr Leben
übertragbar ist. Für sie ist diese
Geschichte eine Symbolgeschich-
wie sein Vater tagelang im Nildelta unterwegs war, um die unter schwierigsten Bedingun- Entscheidung: Ja, ich werde mich te. Eine, die die Hoffnung nährt,
das eine verlorene Zicklein zu finden. Und schon war Wir dürfen der Kraft von Geschichten zu- gen ein Kind zur Welt bringen wird. nicht unterkriegen lassen, auch nicht dass neues Leben, ob konkret oder
das, was wissenschaftlich als „Sitz im Leben“ bezeichnet trauen, die Welt transformieren zu können Die nicht aufgibt, als sie durch äu- von diesen widrigen Umständen. im übertragenen Sinne, entstehen
wird, bei allen Studierenden ins Herz gerutscht. Wir sa- ßere Umstände gezwungen wurde, Trotzdem soll neues Leben entstehen kann, allen Umständen zum Trotz.
hen vor unserem inneren Auge den hartnäckig Suchen- Das Wort ist uns geschenkt. Darin liegt zugleich eine ihre sichere Umgebung zu verlas- können. Eine, die Mut macht, dafür zu
den und nicht aufgeben Wollenden und das Gleichnis Verantwortung: Das Wort will versprachlicht und erzählt sen, sondern hartnäckig, mit all ihr kämpfen. Die die Botschaft hat,
wird seitdem für alle, die dabei gewesen sind, im ägyp- werden. Wir müssen das Wort weitertragen. Wir dürfen zur Verfügung stehenden Energie, Eine Geschichte, die Mut dass es sich lohnt, zu hoffen, auch
tischen Nildelta spielen. nicht aufhören, Gottes und unsere Geschichten zu erzäh- nach einem Platz für ihre werdende macht und von dem großen wenn es keine Beweise dafür gibt,
Daran habe ich gelernt, dass wir viel mehr Ermuti- len und dürfen ihnen zuzutrauen, diese Welt zu transfor- Familie sucht und schließlich sogar Trotzdem erzählt dass alles gut ausgeht. Diese Ge-
gung brauchen, das Geschichtenerzählen nicht nur als mieren. einen Ort findet, nicht optimal zwar, schichte, in der sich so viele dieser
eine Fertigkeit zu sehen, die für die Arbeit mit Kindern Dabei kann es ein guter Anfang sein, die biblischen aber gerade gut genug, damit das So oder so ähnlich haben Frauen Mütter wiederfinden, stärkt das
sinnvoll ist. Aus diesem Grund bin ich der Überzeugung, Geschichten immer wieder ins Gespräch zu bringen. Kind gesund auf die Welt kommen aus Quilmes diese Geschichte für Vertrauen in die Zukunft. Sie er-
dass es heute für unsere Kirche zentral ist, dass wir das Denn was dann geschieht, ist wunderbar. Menschen kann. sich interpretiert, wenn sie zusam- zählt von dem großen Trotzdem.
Geschichtenerzählen als konstitutives Element unseres trauen sich, eigene Erlebnisse einzutragen und von sich Das ist eine Erzählung, in der sich men sitzen und nach dem Vorbild Trotz aller schweren Lebensum-
Glaubens begreifen und pflegen. Die Bibel gibt uns das zu erzählen. Auf einmal wird deutlich, dass Gott nicht die Mütter in unserer Kindertages- der Basisgemeinden gemeinsam stände richtet sich der Blick nicht
Handwerkszeug dafür vor und es ist wunderbar, dass es abstrakt und fern ist, sondern mir ganz nah kommt. Weil stätte in Quilmes wiederfinden kön- die Bibel lesen, um herauszufinden, nur auf das, was Angst macht, auf
viele Methoden – wie etwa den Bibliolog oder das Biblio- er sich in nichts anderem als in alltäglichen Geschichten nen, die jeder jungen Frau sofort was denn die Geschichte mit ihrer das, wofür man noch kämpfen muss
drama – gibt, die uns einen neuen und kreativeren Um- offenbart hat und Fleisch geworden ist. etwas zu sagen hat, die ein Kind Lebensrealität mit all ihren Proble- oder auf das, was traurig macht
gang mit den biblischen Geschichten eröffnen. Vor einigen Wochen habe ich mit Mitarbeitenden unter schwierigen Lebensbedingun- men, Ängsten oder Hoffnungen zu oder Schmerzen bereitet. Der Blick
Geschichten sind aber nicht nur für unser Glaubens- einer Kirchenverwaltung unserer Landeskirche gearbei- gen erwartet. Eine unerwartete, oft tun hat. Dabei verstehen sie die Ge- geht nach vorn: auf das Leben, das
leben notwendig. Wir brauchen sie auch, um unser Mit- tet. Großer Frust über die gegenwärtige kirchliche Situa- ungewollte Schwangerschaft, das ge- schichte nicht als Handlungsanwei- entstehen soll.
einander als weltweite Gemeinschaft in Christus zu tion war im Raum und das Gefühl, zu wenig von den schieht im Alltag vieler Frauen im-
leben und zu gestalten. Im vergangenen Jahr habe ich an Ortsgemeinden wertgeschätzt zu werden. Kurzerhand mer wieder. Als ob das nicht heraus- Protokoll:
einer internationalen Konsultation des Lutherischen habe ich das Programm umgestellt und den Mitarbeiten- fordernd genug wäre, müssen sich Ulrike Plautz
Weltbundes in Äthiopien teilgenommen. Dabei ging es den zugemutet, sich in eine biblische Geschichte hinein- manche dann zusätzlich noch vor-
um die Frage, ob und was Lutherische Identität eigent- zuversetzen. Es ging um die Speisung der 5000. Und auf wurfsvolle Fragen gefallen lassen: ob
lich sei. Es wurde schnell deutlich, dass das Austauschen einmal war alles im Raum: Die Angst, einem Wunder zu das denn gerade jetzt sein müsse mit
unserer Geschichten der erste Schritt sein muss, wenn vertrauen. Die Skepsis, dass da jemand etwas Unvorstell- der Schwangerschaft, in diesen Ver-
sich Christ*innen aus ehemaligen Kolonialstaaten mit bares vollbringt. Der Blick auf den Jungen, der mit fünf hältnissen und unter diesen Umstän-
Fotos: N. Steen (1), U. Plautz (1), C. Lohff (1)
denen austauschen, die von ihren Vorfahren das Chris- Broten und zwei Fischen vorbeikommt und damit zum den? Wie Maria befinden sie sich
tentum erklärt bekommen haben. Beginn einer großen Transformation wird. Am Ende plötzlich in einer Ausnahmesitua-
Es wurde uns während der Konsultation vor Augen stand die Erkenntnis, dass diese alte biblische Geschichte tion, die vollkommen verunsi- Claudia Lohff
Nora Steen geführt: Wir haben allein im weltweiten Luthertum ganz dazu ermutigt, die Augen für die kleinen und großen chert. Alles ist in Umwälzung. Es ist Leiterin der
ist theologische unterschiedliche Geschichten! Es gibt die, die aus dem Wunder offenzuhalten, die Gott uns mitten im Alltag gibt keine Planungssicherheit, für evangelischen
Leiterin des Land Martin Luthers kommen und sowohl mit der Last schenkt. Der Blick weg von aktuellen und manchmal un- nichts. Viele befinden sich, wie Kindertagesstätte
Christian Jensen als auch der besonderen Verantwortung dieser Geschich- überwindlich scheinenden Herausforderungen hin auf die damals Maria, in einer Lebenslage, in Quilmes/
Kollegs der te zu tun haben. Es gibt jene, die davon erzählt bekom- Perspektive Gottes auf unsere ganze Welt kann befreien. die stark von außen bestimmt ist Buenos Aires,
Evangelisch-Luthe- men haben – von Missionarinnen und Missionaren –, Der Kraft der Geschichten vertrauen, sowohl unserer und in der sie nicht über die die Familien aus
rischen Kirche in die teilweise Jahrzehnte brauchten um festzustellen, dass eigenen als auch Gottes Geschichte mit uns. Das wäre ein Umstände entscheiden können, den umliegenden
Norddeutschland es jenseits dieser Erzählungen noch eine ganz andere Anfang. „Und das Wort ist unser Traum und der Traum in der ein Kind zur Welt kom- Armenvierteln
in Breklum. Botschaft für sie geben kann. Während der Konsultation ist unser Leben.“ men soll. Alles in allem eine unterstützt.
10 weltbewegt Die Weihnachtsgeschichte in latein- weltbewegt 11
amerikanischen FarbenSchwerpunkt
„Geschichte wird lebendig
durch das Erzählen von Geschichten“
Gute Geschichten können vieles: Sie können die eigene Geschichte vergegenwärtigen,
Geborgenheit vermitteln und heilsam wirken. Als Psychotherapeut arbeitet Raphael Pifko
mit Geschichten und erzählt, was er an ihnen so schätzt.
Viele betrachten das Judentum als eine Religion, die die die Tiefe menschlichen Lebens widerspiegeln.
im Vergleich zu anderen besonders auf dem Erzählen Welche Wirkung kann das haben?
von Geschichten basiert und von ihnen geprägt wird. Für mich sind diese Psalmen wie ein Link zwischen der Welt
Würden Sie dem zustimmen? der Worte, dem menschlichen Erleben und den Emotionen.
Raphael Pifko: Grundsätzlich ja. Andererseits lässt sich Durch sie erfahren Menschen: diese Emotion, die ich gerade
das Judentum nicht auf die Geschichte mit den Geschichten durchlebe oder erleide, ist nicht neu. Schon vor tausend
reduzieren. Wenn man so will, steht das Judentum auf drei Jahren haben Menschen ähnliche Emotionen gehabt, haben
Säulen: Es gibt den religiösen Aspekt, den ethnischen Teil sich mit diesem oder jenem herumgeschlagen. Nun bin ich
und die Kultur, die auch über Geschichten tradiert wird. Zum eben ein Mensch mehr, der sich damit auseinandersetzten
Wesen dieser Geschichten gehört, dass es sich nicht immer muss. Sobald man sich das vor Augen führt, ist man weniger „Gute Geschichten
um etwas Festgeschriebenes handeln muss. Demnach isoliert. Man ist eingebunden in ein großes Ganzes. Auch die geben der Seele
wird unterschieden zwischen einer schriftlichen Lehre, also Passagen der Psalmen, die von Zorn und Hass sprechen, Raum.“
der Bibel, und der mündlichen Lehre. Beides hat Vor- und vermitteln etwas von dem Gefühl des Eingebettetseins:
Nachteile: Die schriftliche Lehre ist buchstäblich in Stein Indem der Mensch seinen Zorn ausspricht, übergibt er ihn
gemeißelt und die mündliche Überlieferung hat den Vorzug, Gott. Er richtet nicht selbst. Der Zorn wird dadurch sub-
dass sie sich im Lauf der Zeit und der Umstände verändern limiert und auf eine andere geistige Ebene gehoben. haben, die mir von meinem Gegenüber erzählt wird. Sie Haben Sie eine Lieblingsgeschichte?
kann und im Fluss bleibt. sind ein Angebot: Du Klientin und Klient kannst dir aus der Ja, das Gleichnis vom vergifteten Korn.
Worte und Geschichten können also auch Geborgenheit Geschichte so viel mitnehmen, wie du brauchen kannst.
Auch im Judentum gibt es Geschichten, die anlässlich vermitteln? Das andere kannst du liegen lassen. Gute Geschichten Mögen Sie erzählen?
von religiösen Feiertagen wiederholt werden, wie et- Ja, sie haben diese Qualität. Ich habe einmal beim Erzählen sind immer vielschichtig. Sie bieten der Seele Raum und „Es war einmal ein König. Er sagte eines Tages zu seinem
wa die Exodusgeschichte. Was ist der Sinn dieser des Märchens von Schneewittchen eine Variation eingebaut, erreichen Menschen nicht nur auf der kognitiven Ebene. Das besten Freund, dem Vizekönig: Als Astrologe sehe ich, dass
Erzählrituale? und einen Zwerg fragen lassen: Wer hat meine Pizza wirkt manchmal stärker, als wenn man ein Problem direkt alles Getreide, das dieses Jahr wachsen wird, jeden, der
Bei der Exodusgeschichte handelt es sich ja quasi um den weggefressen? Meine damals kleine Tochter protestierte ansprechen würde. davon isst, verrückt machen wird. Wir müssen beraten, was
Gründungsmythos des Judentums. Wenn dieser Bericht sofort. Ich solle das doch richtig erzählen. Das ist genau der in dieser Lage zu tun ist. Der Vizekönig gab den Rat: Wir
alljährlich zum Pessahfest erzählt wird, geht es darum, Aspekt bei Geschichten, der Geborgenheit gibt: Man freut Inwiefern wirken Geschichten heilsam? können Getreide vorbereiten, damit wir nicht vom vergifteten
das Bewusstsein der Gemeinschaft zu fördern. Das ist sich auf das, was kommt. Wenn sich etwas ändert, dann Wenn man Worte für etwas findet, kann es für Menschen sehr Korn essen müssen. Der König antwortete: Das wird zur Folge
etwas, das immer wieder neu erlebt und genährt werden sind die Freude weg und das Gefühl des Sich-Geborgen- entlastend sein zu wissen, dass es dafür eine Geschichte haben, dass wir die einzigen Nichtverrückten sein werden,
Raphael Pifko muss. Gemeinsame Geschichte wird erst lebendig durch Fühlens im Bekannten. oder Worte gibt. Zum Beispiel leiden Kranke stärker, wenn während alle anderen verrückt sind. Dann wird sich das
studierte Talmud das gemeinsame Erzählen von Geschichten. sie nicht wissen, was ihnen Schmerzen bereitet, als wenn Gegenteil ergeben, dass nämlich wir die Verrückten sein wer-
und Psychologie. Geschichten werden von Menschen ausgedacht, um- sie eine Diagnose haben. Sowie etwas einen Namen hat, den. Daher müssen wir vielmehr selbst auch von diesem
Der Psycho- Umgekehrt heißt das: Wenn sich immer mehr Menschen gekehrt werden sie durch Geschichten geprägt . . . ist es keine grau wabernde Wolke mehr. Das, was mich Getreide essen. Aber wir müssen auf unseren Stirnen ein
therapeut war auf verschiedene Narrative berufen, dann kann das eine Ich würde es als interaktive Beziehung verstehen, man lebt beschäftigt oder belastet, wird fassbar, es hat Konturen und Zeichen anbringen, damit wir uns daran erinnern, dass wir
Projektleiter an der Gesellschaft schwächen? in beide Richtungen. Mein Außen verändert mein Innen und Grenzen. Damit lässt sich leichter leben. verrückt sind. Wenn ich auf deine Stirne schaue und du auf
Eidgenössischen Ja. Das sich Vergegenwärtigen gemeinsamer Geschichten mein Innen hat einen Einfluss auf die Welt. In dem Sinne meine, werden wir am Zeichen erkennen, dass wir ebenfalls
Technischen und das dadurch entstehende Bewusstsein des Sich- wirken Geschichten immer interaktiv. Sie haben ein Buch über Rabbi Nachman von Breslow verrückt sind.“
Hochschule in verbunden-Fühlens, das ist das, was Gesellschaften stärkt. herausgegeben. Was interessiert Sie an diesen chassi- Für mich geht es bei dieser Geschichte um die Relativierung
Fotos: Pifko (1), adpic (1)
Zürich (ETH) und ist Was geschieht, wenn dies auseinanderbricht oder fehlt, Als Therapeut arbeiten Sie auch mit Geschichten. Und dischen Geschichten? von Realität. Was gestern verrückt war ist heute normal und
heute u. a. tätig als erleben wir gerade in vielen Gesellschaften. zwar nicht nur mit denen, die diejenigen erzählen, die zu Im Vergleich zu anderen chassidischen Geschichten sind umgekehrt. Normal ist nicht das, was richtig ist, sondern
Dozent in verschie- Ihnen kommen, sondern Sie erzählen selbst Geschichten. dies keine Geschichten über rabbinische Meister, in denen als normal gilt das, was alle tun. Ich finde, diese Geschichte
denen Bildungs- Noch einmal zur Bedeutung biblischer Erzählungen Natürlich sind erst einmal die Geschichten wichtig, die mir Respekt vor ihnen tradiert oder moralische Werte überliefert passt gut zu diesen Zeiten, in denen so vieles im Umbruch
häusern und und Bilder: In den Psalmen finden sich Worte, die seit die Klientinnen und Klienten erzählen. Aber ich erzähle werden sollen. Rabbi Nachman erzählt selbst Geschichten ist.
Hochschulen. Jahrhunderten schon immer gesprochen wurden und auch selbst Geschichten, die eine Ähnlichkeit zur Situation und formuliert in ihnen seine philosophischen Betrachtungen. Das Gespräch führte Ulrike Plautz.
12 weltbewegt weltbewegt 13Schwerpunkt
Ein Medium für Erinnerung,
Moral und Religion
nommen, verinnerlicht und als nor- Das gemeinsame „Weißt du zählt, werden sie zum Stabilisator ei-
mal betrachtet werden. noch... ?“ stärkt die christ- ner religiösen Minderheit. Lediglich
Wer selbst einmal einen Bolly- liche Minderheit 2,3 Prozent der Inder*innen sind
Geschichten werden in Indien geliebt: ob als Theater, Tanz, woodfilm oder eine indische Serie christlich, in Koraput sind es etwas
gesehen hat, dem wird aufgefallen Geschichten sind bilderreich, repro- über 9 Prozent und damit etwas mehr
Musik, Erzählung oder in Gestalt opulenter Bollywoodfilme. sein, dass fast alle Schauspieler*- duzierbar und lehrreich. Die meist als im Landesdurchschnitt. Trotzdem
In einer Gesellschaft, in der die Analphabetenrate hoch ist, innen hellhäutig sind. Die helle Haut kleinen Episoden enthalten bedeu- fühlen sie sich auch hier ausgegrenzt
sind sie für viele das einzige Mittel, um sich über religiöse, gilt in Indien als erstrebenswert, tende Fragen des Lebens und Glau- und fürchten die hindu-nationalisti-
schön und als ein Zeichen von Rein- bens, die sich in Indien viele Men- sche Politik der aktuellen indischen
soziale und gesellschaftliche Werte zu verständigen. heit, Status, damit Bildung und schen stellen. Durch das Erzählen, Regierung. Deren radikale Gruppie-
Reichtum. Obgleich der Großteil der das Reproduzieren und das Erinnern rungen waren 2008 im nahe gelege-
heutigen Bevölkerung nicht hellhäu- von Geschichten bilden sich Gemein- nen Kandhamal für den Tod hun-
Sophia Schäfer tig ist, sind die indischen Medien schaften. Die frühe Christenheit fand derter Menschen, die Zerstörung und
vom hellhäutigen Schönheitsideal sich auch durch das Erzählen der Verwüstung Dutzender Kirchen so-
geprägt. Aber auch die gesellschaftli- Wunder Jesu, seiner Gleichnisse und wie der Verunsicherung einer ganzen
Stundenlanges
Eintauchen in
andere Welten –
V iele Menschen haben beim Ge-
danken an Indien sofort Bilder
im Kopf: die vielen Farben, wunder-
Worte in falsche Hände gerieten. Nur
den Brahmanen als reinen, gebildeten
und mit gutem Karma geborenen
fluss von Filmen, Theater, Konzerten,
Fernsehen, aber auch von Erzäh-
lungen älterer Familienmitglieder,
che Rolle der Frau (als Mutter, Haus-
frau, für Religion und Kultur in der
Familie zuständig) und des Mannes
Geschichten über das Reich Gottes
sowie der Umstände seines Todes
und der Auferstehung zusammen. Bis
Region verantwortlich. „Weißt du
noch, …?“, sagen sie sich und erin-
nern sich daran, wie sie zusammen-
Fotos: S. Schäfer (1), wikimedia (1)
Bollywood macht bar gewebte Sari-Stoffe mit schil- Geistlichen stand das heilige Wissen Gurus und Prediger*innen hoch. Sie (stark, herrschend, machtvoll, für das heute werden in Gottesdiensten Texte hielten und die Hoffnung nicht auf-
es möglich. lernden Verzierungen, die Bolly- zu. Sie verfügen über die Tempel und alle begeistern mit Geschichten auf Auskommen der Familie und die aus diesen antiken Zeiten gelesen. gaben, bis sich die Konflikte beruhi-
Foto: (l.) Schau- woodfilme, deren reiche Bildwelt die Texte, die zum Hören gedacht ihre eigene, anschauliche und häufig Abwehr von Feinden zuständig) wer- Ihre Anschaulichkeit, Kürze und gten. Seitdem grenzt sich die christ-
spielerin Kareena schier endlose Geschichten illustrie- sind. Hindus glauben, nur wenn vedi- emotionale Weise. den durch diese Geschichten verfes- Möglichkeit zur Deutung auf aktuelle liche Community noch stärker von
Kapoor Khan mit ren. Diese Filme, die Geschichten sche Verse als Mantra laut und sin- Viele dieser Geschichten und die tigt. Dabei wird vor allem das Bild Kontexte machen sie zeitlos. Indem der indischen Gesellschaft ab und
Lokesh Sharma erzählen zum Verzaubern und Weg- gend auf korrekte Weise rezitiert wer- Art, wie sie erzählt werden, enthalten einer in der Öffentlichkeit eher stil- man sich in Koraput und der Region distanziert sich von gesamt-indischen
träumen, die ablenken und entführen den, entwickeln sie ihren heiligen kulturelle wie soziale Normen und len, schönen Frau geprägt, die hinter im südwestlichen Odisha diese bibli- Narrativen, kulturellen Angeboten
aus einem weniger schillernden All- Klang und damit ihre Kraft und gött- Werte, die (bewusst oder unbewusst) ihrem Mann steht und die Familie schen Geschichten sowie die von der und Treffpunkten der lokalen Öffent-
tagsleben, das häufig geprägt ist liche Macht – sie nur zu lesen genügt von den Konsument*innen wahrge- organisiert. Entstehung der Kirchengemeinde er- lichkeit. Sie hören ihre eigene
durch viel harte Arbeit, komplexe dazu nicht. Um die Geschichten des christliche Pop- und Kirchenmusik,
Familiensysteme und -hierarchien Mahabharata, des großen Epos mit schauen christliche TV-Sender und
in durchschnittlich eher beengten Auftritt der wichtigsten Gottheiten bewegen sich in ihren Vierteln, wo
Wohnverhältnissen, Regeln und und ihrer Funktionen, besser zu ver- Mitglieder anderer Communities nicht
Macht des Patriarchats. Inder*innen stehen, hat sich eine ganze Kultur des hingehen. Und sie erzählen sich
lieben Geschichten, die voll sind von Geschichtenerzählens entwickelt. Die Geschichten mit ihren eigenen Motiven,
Musik und Tanz, die emotional Sanskriterzählungen, die Nicht-Geist- Interpretationen und Hoffnungen.
berühren. Sie ermutigen ihr Publi- liche kaum verstehen, werden in Tän-
kum, zwischen den Zeilen zu lesen zen und Theateraufführungen im Inderinnen nutzen Theater-
und nicht nur Schönheit und Genuss ganzen Land von Laien und Professi- stücke als Ventil zur Bewäl-
darin zu erkennen. onellen dargeboten, zum Beispiel in tigung ihres Alltags
Indien pflegt seit Jahrtausenden Form des berühmten Kathakali, all-
eine orale Kultur, in der über das gemeiner heißt das Katha Kalak Geschichten und das Erzählen kön-
gesprochene Wort, aber auch Darstel- Chebam (Religious Storytelling). nen aber auch frei machen. Besonders
lungsformen wie Tanz, Theater und Aufwändig geschminkt und verklei- gilt das in Kontexten, in denen kaum
Musik besonders religiöse, soziale det tanzen, taumeln und stürmen die offen geredet werden kann. Auch
und gesellschaftliche Werte und Schauspieler*innen ohne Worte, wenn Christ*innen sich von der indi-
Inhalte vermittelt und ausgehandelt dafür mit lauter Musik und veran- schen Mehrheit abgrenzen, leben sie
werden. Die ältesten heiligen Schrif- schaulichenden Klängen über die doch im selben sozio-kulturellen
ten des Hinduismus, die Veden, wur- Bühne. Kontext und sind tief mit dessen Tra-
den durch das Hören (śruti) empfan- Da in Indien bis heute Millionen ditionen und Werten verwoben. In
gen, mündlich weitergegeben, von von Menschen nicht lesen können Indien gibt es viele gesellschaftliche Fortsetzung
auserwählten Schülern gehört und (laut Census 2011 sind 25 Prozent der Tabus und hierarchische Gesell- Seite 16
auswendig gelernt. So konnte zum Bevölkerung Analphabet*innen), neh- schaftsprinzipien, die es besonders
einen ihr Wortlaut fehlerfrei und men Bücher und Texte im Alltagsl- den unteren Gliedern in Familien,
delokalisiert konserviert, aber auch eben weniger Raum ein als in ande- Kasten oder Institutionen nicht er-
verhindert werden, dass die heiligen ren Kulturen. Dadurch ist der Ein- möglicht, zu sagen, was sie denken
14 weltbewegt „Viele Frauen teilen ihre Wahrheiten und Verständnisse über Geschichten und Tänze mit“, weltbewegt 15
wie diese Frauen der Frauenhilfe der lutherischen KirchengemeindeSchwerpunkt
oder was sie beschäftigt. Besonders ihren Geschichten nicht mehr um sie ten, landesweite TV-Sender gründe- spüren von Wundern und Heilungen In einem solchen Testimony er- chen Macht und ihrer Rolle als Pro-
Frauen, Dalits und Adivasi (Indigene) selbst, sondern um die Frauen der ten und Prediger*innen wie Mis- im Alltag sei wichtiger, als die Befol- zählt mir eine Frau mittleren Alters phetin unverzichtbar macht, gibt es
gehören zu jenen marginalisierten, Region im Allgemeinen geht – und sionar*innen ausbildeten, um ihre gung von Regeln und der korrekten in Koraput, wie sie einmal in einem ähnliche Geschichten auch von ihren
von Unterdrückung und Gewalt ge- keine*r durch die Veröffentlichung Alternative des Verstehens und Ge- Liturgie. Der Angriff auf die tradi- Bus saß und sich nach einer Weile Anhänger*innen. So enden viele je-
fährdeten Personengruppen. Weil der eigenen Geschichte peinlich staltens christlicher Gemeinschaft zu tionellen Kirchen, die besonders begann unwohl zu fühlen. Sie spürte, ner Geschichten damit, dass sie auf
sich zum Beispiel Frauen kaum gegen berührt die Veranstaltung verlassen etablieren. durch Bildungseinrichtungen, karita- dass etwas mit dem Bus nicht in Ord- einen Rat einer dieser religiösen Au-
die strukturelle Gewalt ihrer Schwie- muss. Während der Aufführungen Hunderttausende nehmen heute tive Angebote und Gemeinschaftser- nung zu sein schien. Nach einer Weile toritäten gehört haben, der sie geret-
gereltern wehren können, in deren wird viel gelacht und auf leichte an den großen „Revival Meetings“ fahrungen im Gottesdienst ihre Mit- wurde ihr Gefühl stärker, sie sagte tet, ihnen Glück gebracht oder ihnen
Haus sie nach der Hochzeit traditio- Weise der so schwere Alltag vieler teil und genießen die Atmosphäre in glieder binden konnten, ist unüber- dem Busfahrer Bescheid, der sie zu- in einer Not geholfen haben. Die
nell einziehen müssen und den Kon- Frauen dargestellt. Geschichtenerzäh- einer Masse Gleichgesinnter zu sein, sehbar und artet nicht selten in offene nächst abwimmelte. Als sie nicht auf- Geschichten selbst, von authentischen
takt zu ihrer Herkunftsfamilie fast len wird so für viele Frauen zum Ven- die sich einstellt und den Minderhei- Konkurrenz der verschiedenen Deno- hörte mit ihren Warnungen und der und als ebenbürtig empfundenen Per-
gänzlich verlieren, verstummen sie til für Frustration, Angst, Einsamkeit tenstatus und vielleicht Verfolgungs- minationen aus. Bus für eine Pause anhielt, begann sonen der Gemeinschaften erzählt,
häufig und fügen sich ihrem Schick- und Schmerz. Durch das Teilen von und Ausgrenzungserfahrungen ver- Persönliche und emotionale Ge- sich kurz vor Stillstand des Fahrzeugs werden zum starken Beweis göttlicher
sal. Lediglich in der Begegnung mit Erfahrung, das Erzählen und Spielen gessen lässt. Wunder und Heilungen schichten werden zum wichtigsten eines der Räder zu lösen. Geradeso Macht und menschlicher Autorität.
anderen Frauen können sie ihren von eigenen und anderer Frauen geschehen hier, sagen viele, von Mittel, die pfingstkirchlichen Pre- konnte ein Unfall abgewendet und Sie sind für die Hörenden aus dem
Gefühlen und Sorgen Raum geben. Geschichten bei gleichzeitiger Identi- Reichtum und großen Versprechun- diger*innen und Heiler*innen zu zahlreiche Menschenleben gerettet Leben gegriffen, wahr und damit
Dafür gibt es in den Regionen spezifi- fikation mit den gespielten Figuren gen sei die Rede – und viele lassen legitimieren und als religiöse Autori- werden. Die göttliche Eingebung, so hochgradig ermutigend für die Suche
sche kulturelle und religiöse Formen. entsteht Empathie. Es entsteht Soli- sich motivieren, anstecken und füh- täten zu stabilisieren. Sogenannte die Frau, habe allen das Leben geret- nach eigenen ähnlichen Erfahrungen
Wie in der Region um Koraput, darität und Erleichterung, schambe- len ein starkes „Empowerment“. Testimony-Geschichten sollen in na- tet und durch sie habe Gott zu den und dadurch besonders einprägsam.
die im sogenannten „Tribal Belt“ haftete Themen endlich in eine Form Wohlstand rufen viele dieser Predi- hezu jeder religiösen Veranstaltung Menschen gesprochen. Der Kontakt mit diesen Personen,
Indiens liegt und mit hoher Arbeits- der Kommunikation zu überführen ger*innen und Heiler*innen aus, der beweisen, dass die Arbeit jener neuen Seit diesem Tag bete sie täglich aber auch den neuen Prediger*innen,
losigkeit, Korruption und wenig An- und aussprechen zu können, was sich einstelle, wenn man nur fest und häufig ungebildeten Geistlichen stundenlang und habe schon viele wird durch diese Geschichten beson-
schluss an den Reichtum der großen wirklich passiert. Diese Frauen sind genug an Gott glaube und sein ganzes Wunder hervorbrachte, die Gottes Menschen heilen oder vor Unheil ders attraktiv, die neuen Zentren boo-
Fotos: S. Schäfer (2)
Städte an der Küste zu kämpfen hat. stets die Heldinnen ihrer Geschich- Leben nach Ihm ausrichte, weshalb Macht so eindrücklich sichtbar wer- bewahren können. Während sich men.
Dort leben besonders viele Adivasi ten, meist zugleich auch Opfer und ihre Theologie auch häufig als Wohl- den ließen. Sie, die Geschichten, aber diese Frau durch ihre Geschichte, ihr Geschichtenerzählen hat in Indi-
mit ihren indigenen Kulturen und Leidtragende. In ihren Aufführungen standsevangelium („prosperity gos- auch ihre Protagonist*innen werden Testimony selbst als Medium insze- en lange Tradition und wird auch in
Religionen. Viele von ihnen lernen nie- wird das Verhalten der betrunkenen, pel“) bezeichnet wird. Eine persönli- zu Medien von Gottes unendlicher niert und durch die anschauliche Zukunft ein wichtiger Teil gesell-
mals lesen und schreiben, sie teilen kontrollverlustigten Männer als lä- che Gottesbeziehung und dem Nach- Macht. Illustration einen Beweis der göttli- schaftlichen, familiären wie kirchli-
ihre religiösen Geheimnisse, Wahr- cherlich und verachtenswert gebrand- chen Lebens bleiben. Die Formen
heiten und Verständnisse öffentlich markt. Dadurch wird der Wert eines ändern sich dabei und auch ihr
in ihrer Gesellschaft meist über Ge- nüchternen, respektvollen und ver- Inhalt bleibt nicht immer gleich, aber Sophia Schäfer
schichten und Tänze. antwortungsvollen Handelns in der die emotionalen, stark ausge- (33) ist evangeli-
So auch in dieser Region, in der Familie gestärkt und in der gesamten schmückten und häufig schönen Ge- sche Theologin
die christlichen Kirchen von kultu- Gemeinschaft verankert. Geschich- schichten voller verschiedener Be- und wissenschaft-
rellen Einflüssen aus der Umgebung ten werden so neben Entertainment deutungsebenen faszinieren Men- liche Mitarbeiterin
stark geprägt wurden. Hier führen und Belustigung bei Großveran- schen weit über den indischen Sub- an der Universität
Frauen und Mädchen zu allen größe- staltungen auch zu Medien der Ge- kontinent hinaus. Ich kann nur Tübingen. Derzeit
ren Veranstaltungen der Kirchenge- meinschaftsstiftung, Wertevermitt- ermutigen, einmal einen (renom- promoviert sie an
meinde in Koraput sogenannte „Cul- lung, Kritik und Heilung. mierten) zwei- bis dreistündigen Bol- der Humboldt-
tural Events“ auf, besonders Tänze lywoodfilm zu schauen und einzu- Universität zu
und Theaterstücke, die sie selbst er- „Testimony-Storys“ werden tauchen in eine andere Welt. Oder Berlin. Für ihre
dacht und ausgearbeitet haben. Häu- in Pfingstkirchen zu Medien in ein indisches Theater zu gehen, Feldforschung
fig geht es in den Theaterstücken der göttlicher Macht einen indischen Tanz anzuschauen lebte sie 2018 und
Frauengruppe der lutherischen Kir- und dabei ein wenig zu versuchen zu 2019 zehn Monate
chengemeinde (Stree Samaj) um ihre Seit einigen Jahrzehnten gibt es in verstehen, was er sagen will und ihn in der Koraputer
betrunkenen Ehemänner, die sich in Koraput und Umgebung auch andere nicht nur schön zu finden. Sie wer- Gemeinde der
karikaturhaften Geschichten lächer- Formen christlichen Lebens als das den in einer solchen Offenheit und Evangelisch-
lich machen und auf groteske Weise Lutherische. So haben sich auch in Neugier Ihre eigene Familie, mög- Lutherischen
gewalttätig gegenüber ihren Frauen Indien zahlreiche Pfingstkirchen un- licherweise gesellschaftliche Werte, Jeyporekirche
und Kindern werden, während sie ter Einfluss amerikanischer, austra- religiöse Gefühle und ästhetische (JELC).
beispielsweise dabei umfallen und lischer und indischer Missionar*in- Vorlieben, reflektieren und sich viel-
einschlafen. Die Frauen, die diese nen und Prediger*innen aus anderen leicht davon beeinflussen lassen.
Stücke aufführen, verkleiden sich Regionen des Landes gebildet, die vor Sicherlich werden Sie verändert her-
selbst als Ehemänner, sodass es in Ort „Revival Meetings“ veranstalte- ausgehen.
16 weltbewegt „Geschichtenerzählen hat in Indien eine lange Tradition und wird auch in weltbewegt 17
Zukunft wichtiger Teil gesellschaftlichen wie kirchlichen Lebens bleiben.“Sie können auch lesen